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MARXISTISCHE BLÄTTER/625: Global Brutal - Freihandel als Fluchtursache


Marxistische Blätter Heft 5-16

Global Brutal - Freihandel als Fluchtursache*

Von Wolfgang Reinicke-Abel


Michel Chossudovsky[1] schrieb in seinem Buch über Welthandel, Krieg und Armut, "Global Brutal" bereits 1997: "Seit den frühen 1980er Jahren zwingen IWF und Weltbank den Entwicklungsländern als Bedingung für Umschuldungsverhandlungen und neue Kredite Programme zur 'makroökonomischen Stabilisierung' und 'Strukturanpassung' auf. Diese Programme haben zur Verarmung Hunderter Millionen von Menschen geführt."

Privatisierungen und Freihandelsabkommen jeder Couleur haben in den betreffenden Ländern die Währungen destabilisiert, die Binnenkaufkraft vernichtet, Bildungs- und Gesundheitswesen zerstört, die Versorgung mit Strom und Wasser verteuert und damit eine enorme Massenarmut geschaffen. Chossudovsky zählt eine Unmenge Beispiele aus Südamerika, Asien und Afrika auf, wo Freihandel tötete. Kamerun, wo durch solche EU-Verträge der gesamte Hähnchenmarkt zusammenbrach, 80.000 Betriebe durch billige, hoch subventionierte Importware ruiniert und über 2 Millionen Menschen arbeitslos ins Elend gestoßen wurden. Senegal, wo die EU zum eigenen Segen Erdnussplantagen mit Krediten förderte, ein Landraub einsetzte und als der Markt einbrach, hockte der Senegal auf Millionen Tonnen von Nüssen, die Landwirtschaft lag am Boden. Die Menschen flohen.

Im Kongo wird seit Jahrzehnten ein blutiger Bürgerkrieg am Leben gehalten, damit westliche Monopolkonzerne mit Kindersklaven die wertvollen Ressourcen des riesigen Landes ausplündern können. Um damit immer mehr Elektroschrott herzustellen.

Es gibt der Beispiele viele und letztendlich wird ja auch Europa mit diesem Wirtschaftsterror überzogen, den Heilmitteln neoliberaler Raffsäcke. Und ihr Instrument ist das Dreigestirn aus Weltbank, Weltwährungsfond (IWF) und Welthandelsorganisation (WTO). Chossudovsky nennt sie das Dreieck der Macht, der ehemalige UN-Kommissar für Ernährung, der Schweizer Jean Ziegler nennt sie "Die drei apokalyptischen Reiter".

Einer der Hauptgründe für Flucht ist neben dem Krieg der Hunger. Weltweit gelten derzeit rund 1 Milliarde Menschen als dauerhaft unterernährt, dazu kommen noch Hunderte Millionen mangelernährter Menschen. Über 80 % davon leben in Asien und Schwarzafrika, rund 2% in den entwickelten Ländern. Auch Jean Ziegler schildert uns in seinem 2011 erschienenem Buch "Wir lassen sie verhungern - Die Massenvernichtung in der Dritten Welt" wie der Freihandel tötet:

Auf der 2005 in Hongkong wiederbelebten, 2001 in Doha begonnenen Doha-Entwicklungsrunde, wandte sich die WTO entschieden gegen die unentgeltliche Lebensmittelhilfe. Es verstoße gegen alle heiligen Regeln des Marktes, wenn das WEP,[2] das ist das Welternährungsprogramm der UNO, aus Agrarüberschüssen der Geberländer, Reis, Mehlpaste, Fladenbrote und Milch umsonst in Flüchtlingslagern, Dörfern und Krankenhäusern verteile. Das pervertiere den Markt, jede Ware müsse ihren Wert haben!

Das WEP wehrte sich gegen dieses Ansinnen und konterte: "Die Weltgesundheits-Organisation lehrt uns, dass auf unserer Erde Unterernährung und Hunger die größten Gesundheitsrisiken darstellen. Jedes Jahr sterben mehr Menschen an Hunger, als an Aids, Tuberkulose, Malaria und all den anderen Epidemien zusammen ... Die WTO ist ein Club für Reiche ... Die Debatte, die sie führt, ist keine Debatte über den Hunger, sondern eine Debatte über Handelsvorteile ... Ist es hinnehmbar, dass die Lebensmittelhilfen für die hungernden Mütter und Kinder, die auf dem Weltmarkt keine Rolle spielen, im Namen des Wirtschaftsliberalismus gekürzt werden?"

In Hongkong lehnten sich vor allem die südlichen Länder gegen die Mächte des Freihandels auf. Der Antrag auf Besteuerung der Nahrungsmittelhilfe wurde mit großer Mehrheit abgelehnt.

Auch Indien mit seinen 1,2 Milliarden Menschen beschied die Doharunde mit der Forderung nach Abschaffung seines Programms "public distribution system" PDS. Nachdem 1943 in Bengalen mehr als 3 Millionen Menschen verhungert waren und die englischen Besatzer sogar die Kornspeicher geleert hatten, machte Gandhi den Kampf gegen den Hunger zum wichtigsten Aspekt indischer Politik. Seit Nehru, dem ersten Premierminister des souveränen Indien, schützt dieses staatliche und aus ganz verschiedenen Quellen gespeiste Nahrungsverteilungsprogramm Abermillionen von Indem vor dem Verhungern. Zudem gibt es 900.000 Zentren zur Kinderernährung. Die konservative Modi-Regierung konnte nicht anders, sie musste den Angriff von WTO, IWF und Weltbank abwehren.

Für die Länder Afrikas, wo dies nicht gelang und der Freihandel, nebst Landgrabbing,[3] Nahrungsmittelspekulation ungehindert Einzug hielt, nennt Jean Ziegler zwei Beispiele: Sambia, an den Ufern des Sambesi, ist durchaus nicht unfruchtbar. Grundnahrungsmittel ist der Mais. In den 1980er Jahren wurde der Maisverbrauch zu 70% vom Staat subventioniert, ebenso die Landwirtschaft. Diese Subventionen machten ungefähr 20% des Haushaltes aus und die Ernährung aller wurde gesichert durch eine Behörde, das Marketing Board.

Der IWF verordnete über die Kreditvergabe zunächst die Verringerung, dann die völlige Abschaffung dieser Subventionen. Er verbot auch die staatlichen Zuschüsse für den Kauf von Dünger, Saatgut und Pestiziden. Ebenso wurden die Schulen und Krankenhäuser kostenpflichtig. Im Ergebnis stieg der Zahl der Kranken und Mangelernährten rapide an, viele Bauern mussten ihr Land verlassen, der Maisverbrauch sank um 25 %, die Kindersterblichkeit explodierte. 2010 lebten 86 % der sambischen Bevölkerung unter der nationalen Armutsschwelle, 72,6 % mussten sich mit weniger als einem Dollar am Tag begnügen, 45% gelten als schwer und permanent mangelernährt.

Ghana hat bereits 1957 seine Unabhängigkeit erstritten. Der erste Präsident, Kwame Nkrumah gründete 1960 in Addis Abeba zusammen mit Gamal Abdel Nasser und anderen die Organisation der Afrikanischen Einheit, OAE, Vorläufer der Afrikanischen Union. Hauptnahrungsmittel der Ghanesen ist der Reis. 1970 wurde von rund 800.000 einheimischen Bauern die gesamte Menge des Reisbedarfs produziert. 1980 schlug der IWF zu: Der Schutzzoll für Reis musste um 20 % herabgesetzt und sollte weiter reduziert werden. Ebenso fielen, wie in Sambia, alle Subventionen für die Bauern dem Markt zum Opfer. Heute importiert Ghana 70 % des benötigten Reises. Die staatliche Behörde zum Vertrieb von Nahrungsmitteln wurde abgeschafft. Um die Exporte (Kakao und Kaffee) kümmern sich ausländische Konzerne. 2010 zahlte Ghana über 400 Mio. Dollar für Nahrungsmitteleinfuhren.

WTO, IWF und Weltbank haben zu allem Überfluss noch einen vierten Reiter der Apokalypse in petto: die Nato. Widerborstige "Hitlers", wie Milosewitsch, Ghaddafi oder Assad werden mit dem Schwert der Menschenrechte, sprich, dem Recht sich zu bereichern, geschlagen, ihre Länder von NATO Bomben verwüstet. In Afghanistan, in Libyen, im Irak, im Sudan, in Syrien sind die Menschen durchweg durch diese Sippschaft in Not und Verzweiflung gestürzt werden. Die Folgen von wirtschaftlicher und militärischer Einmischung, die Erpressung durch Kredite, Embargos, das Zerschlagen sozialer Staatlichkeit, die totale Abhängigmachung vom westlichen Markt sind zu offensichtlich, als das man unseren Herrschenden ihren Katzenjammer und ihre einfachen Schuldzuweisungen noch abkaufen kann. Ihre Politik exekutiert die Vorgaben der apokalyptischen Reiter und ihrer Hintermänner.

Und diese Politik ist auch in Europa angekommen. Griechenland, Kosovo, Serbien, Bulgarien usw. ... und weiter gedacht: das Ruhrgebiet und der Osten Deutschlands.

Fassen wir kurz zusammen und lassen wir die sich weltweit verschärfende Krise des Kapitalismus, die Umweltzerstörung und den Klimawandel einmal als zusätzliche Ursachen außen vor, dann ergibt sich folgende Systematik der Fluchtgründe:

  • Schaffung abhängiger Märkte in Ländern der Peripherie, Kontrolle durch Kredite,
  • Überschuldung der betreffenden Länder, Strukturanpassungsprogramme durch den IWF,
  • Freihandels- und Schutzzollabbauabkommen mit den betreffenden Ländern,
  • Privatisierungswelle, weitere Überschuldung der Staatshaushalte, ausufernde Armut,
  • Machtübertragung an transatlantische Monopolkonzerne, Landraub, Ausverkauf von Bildung und Gesundheit sowie der Ressourcen, Erhöhung der Warenimporte in die betroffenen Länder, Hunger,
  • Offen oder verdeckt geführte Kriege der NATO, offen oder verdeckte Kolonial-, Stellvertreter- und Bürger- oder Bandenkriege; länderübergreifender Zerfall staatlicher Strukturen, Flucht und Vertreibung.


Fluchtursache Freihandel: Europa Plündert Afrika (EPA)[4]

Die öffentliche Kritik an TTIP und CETA, den geplanten Investitionsschutz- und Freihandelsabkommen der Europäischen Union mit den USA und Kanada, ist mittlerweile groß. Was die meisten Menschen hierzulande nicht wissen: Die EU zwingt auch vielen anderen Ländern derartige Verträge auf.

Seit 2004 drängt die EU afrikanische Staaten zum Abschluss dieser Freihandelsabkommen Teil dieser Politik ist eine sogenannte EU-Rohstoffstrategie.[5] Diese Abkommen kommen Knebelverträgen gleich und behindern die Entwicklung der jeweiligen Länder massiv. Aber der Widerstand gegen die EPAs wächst ...

In diesem Herbst werden sich die Auseinandersetzungen um die Ratifizierung des EPA mit der Wirtschaftsgemeinschaft der Westafrikanischen Staaten (ECOWAS), zu der Ghana gehört, zuspitzen. Zivilgesellschaftliche Organisationen und Kirchen schlagen Alarm gegen die Ratifizierung. Sie kritisieren: der Kompromiss vernachlässigt Schutz- und Entwicklungsbedürfnisse verwundbarer Volkswirtschaften. Sie fordern: Nachbesserung des Abkommens, oder die konsequente Nicht-Ratifizierung durch die jeweiligen Parlamente!

Seit vielen Jahren werden zahlreichen afrikanischen Staaten zollfreie Marktzugänge in die EU, wie auch die Erhebung von Schutzzöllen oder Importquoten für die eigene Wirtschaft gewährt, damit sie eine lebensfähige und stabile Ökonomie aufbauen können. Mit letzterem soll nun endgültig Schluss sein! Es wird Freihandel gefordert, bevor sich stabile Wirtschaftsgefüge in afrikanischen Staaten tatsächlich etablieren können.

"Nur mit der Pistole auf der Brust", so heißt es beispielsweise in Kenia, wenn man fragt, warum die EPAS nach langem Widerstand letztlich doch unterschrieben wurden.

Die afrikanischen Staaten wissen um die Folgen und haben sich lange gegen die EPAs gewehrt, bis man sie erpresste, indem man mit dem Entzug der Zollfreiheit drohte, falls sie nicht unterzeichnen. Strafzölle wurden erhoben und haben bereits sichtbaren Schaden angerichtet, Bauern, Händler und Futtermittelhersteller gingen Pleite - schließlich hat sich auch Kenia gebeugt, genauso wie die westafrikanischen Staaten, mit Ausnahme von Nigeria. Nigeria weigert sich weiter, ein Abkommen zu unterzeichnen, allerdings sind seine Ölexporte von dem Abkommen auch nicht betroffen.

In Folge der EPAS werden unseren Waren die fragilen afrikanischen Märkte überschwemmen, Bestehendes zerstören und neue Unternehmungen im Keim ersticken. Die Verluste aus den Zolleinnahmen werden die Löcher in den Staatshaushalten drastisch anwachsen lassen.

Aber nicht nur die EPAS, auch TTIP und CETA werden Auswirkungen auf die Bevölkerungen in Afrika haben. Wenn die EU und die USA ihr Handelsvolumen ausbauen wollen, bedeutet dies im Umkehrschluss weniger Importe in beide Regionen aus anderen Kontinenten. Zudem bedeutet eine stärkere Allianz zwischen EU und USA automatisch auch Machtkontrolle und die Möglichkeit, anderen Staaten später ihre untereinander gemachten Handelsregeln aufzuzwingen.

Alle diese sogenannten Freihandelsverträge dienen letztlich dazu, die Märkte maximal zu deregulieren und zu privatisieren und die Macht des Marktes endgültig über die Gestaltungsmöglichkeiten politischen Handelns zu stellen.

Flucht und Migration sind derzeit täglich in den Schlagzeilen, aber selten wird nach tiefer liegenden Ursachen für Flucht gefragt. Warum sehen Menschen, abgesehen von Kriegen, in ihren eigenen Ländern keine Zukunft für sich und was trägt die Wirtschafts- und Handelspolitik der EU dazu bei? Bienen doch die von der EU verhandelten Partnerschaftsabkommen viel mehr dem EU-Interesse an freiem Zugang zu afrikanischen Rohstoffen und Zugang europäischer Konzerne zu afrikanischen Märkten als den Interessen der Menschen in den afrikanischen Ländern. Das eigene Gewissen versucht die EU hingegen mit einer "Almosenpolitik", der Entwicklungshilfe, zu beruhigen.


Freihandelsabkommen nach dem Muster der EPAs bewirken die weitere Verarmung Afrikas. Sie werden damit auch die Zahl der Flüchtlinge in die EU vergrößern.

Diese Abkommen sind Teil einer neokolonialen Politik die auf Erpressung, Konzerndiktatur und Missachtung der Menschen und der Menschenrechte basieren. Statt dies weiter hinzunehmen ist es notwendig die aktuell erkämpfte öffentliche Aufmerksamkeit im Kampf um TTIP und CETA zu nutzen um diese globalen Ungerechtigkeiten zu thematisieren und in die öffentliche Debatte zu führen. Genauso nötig wie das deutliche Nein zu TTIP und Co. ist es notwendig gegen eine Ratifizierung der EPAs auf EU-Ebene bzw. deutscher Ebene einzutreten.

Da im Anschluss an eine Ratifizierung im Europäischen Parlament üblicherweise auch alle nationalen Parlamente in Europa ein solches Abkommen ratifizieren müssen, käme dieses zur Abstimmung eben auch in den Bundestag. Die Bundesregierung hat allerdings den Versuch gestartet, die Ratifizierung dieses Abkommens an sich zu ziehen und das Parlament außen vor zu lassen. Das Abkommen zwingt die afrikanischen Staaten zu einer radikalen Marktöffnung für EU-Importe. Konzerne kommen leichter an Rohstoffe, weil Exportsteuern abgebaut werden.

Die Situation der Kleinbauern und Kleinbäuerinnen in Afrika ist schon lange verzweifelt. Die neoliberalen Rezepte von Weltbank und G8, mit Intensivlandwirtschaft und Agrarexporten die Armut auf dem Lande zu reduzieren, sind gescheitert. Auch deswegen entscheiden sich immer mehr Menschen aus Afrika, nach Europa zu migrieren.


TTIP, CETA und Flüchtlinge - Freihandel zwingt zur Flucht

Die Flüchtlingsbewegungen und die Freihandelsabkommen TTIP und CETA scheinen nichts miteinander zu tun zu haben. Aber das ist nur der erste Blick. Der Freihandel lässt die Schwellen- und Entwicklungsländer verarmen und kostet Menschenleben.

Natürlich sind die Zusammenhänge nicht so platt, dass jede Flucht ökonomische Gründe hätte. Die Syrer wollen dem "Islamischen Staat" entkommen, sie fliehen vor Fassbomben und Granatsplittern. Aber es sind längst nicht nur Kriegsflüchtlinge nach Europa unterwegs. Viele Menschen verlassen ihr Land, weil sie keine Perspektive sehen.

Seitdem über eine Million Flüchtlinge die deutsche Grenze erreicht haben, ist es modern, ihnen zu versprechen, "ihre Lebenschancen in der Heimat zu verbessern" (Merkel). Diese Idee ist richtig, bleibt aber vage. Daher zwei Vorschläge: Die Freihandelsabkommen mit ärmeren Ländern werden ausgesetzt - und Steueroasen sofort geschlossen.

Um zunächst beim Freihandel zu bleiben: TTIP und CETA berührt die Schwellen- und Entwicklungsländer zwar nicht direkt, weil es als Abkommen zwischen den USA und Europa konzipiert ist. Doch die Ambitionen reichen weiter. TTIP und CETA sollen "weltweite Maßstäbe" setzen, wie Wirtschaftsminister Gabriel gern betont. Für den Handel zwischen den USA, Kanada und Europa würde nämlich gar kein Freihandelsabkommen benötigt - der Güteraustausch funktioniert längst. Jeden Tag schippern Waren im Wert von 1,8 Milliarden Dollar über den Atlantik.

An TTIP und CETA wird nur so verbissen festgehalten, damit es zu einem ideologischen Denkmal für den Freihandel wird. Denn der Widerstand gegen den bedingungslosen Warenverkehr wächst in den Entwicklungs- und Schwellenländern - zu Recht.

Die heutigen Industrieländer sind nicht durch Freihandel reich geworden, sondern durch Protektionismus. Besonders hoch waren die Zölle in den USA, die im Durchschnitt zwischen 35 und so Prozent lagen, und zwar von 1820 bis zum Zweiten Weltkrieg. Erst ab 1950 sanken die amerikanischen Zölle kontinuierlich.

Es ist also Geschichtsklitterung, wenn sich die USA heute als die obersten Advokaten des Freihandels aufspielen. Die Amerikaner bauten ihre Zölle erst ab, als sie die ökonomische Supermacht waren. Dieses Muster lässt sich übrigens stets beobachten: Zölle werden erst abgeschafft, wenn die eigene Industrie zu den Weltmarktführern gehört und die Konkurrenz nicht mehr fürchten muss.


Entwicklungsländer in der Falle

Doch die Entwicklungsländer sollen ohne Schutzzölle auskommen. Dabei ist es für die armen Staaten sowieso schwer, eine eigene Industrie aufzubauen. Denn durch den technologischen Fortschritt steigt die Mindestgröße ständig, die eine Fabrik haben muss.

Ein Beispiel: Selbst große Länder wie Argentinien sind zu klein, um eine Autoindustrie zu starten. Die Pkw-Produktion ist so teuer, dass sie sich nur lohnt, wenn ein riesiger interner Markt vorhanden ist.

Kleinere Entwicklungsländer sitzen in der Falle. Sie sind auf den Freihandel angewiesen, um für ihre Produkte einen Markt zu finden, der hinreichend groß ist. Gleichzeitig begünstigt aber genau dieser Freihandel die etablierten Industrieländer, die technologisch überlegen sind.

Der südkoreanische Ökonom Ha-Joon Chang hat vorgerechnet, dass sich die technologische Kluft zwischen reichen Staaten wie den USA oder Deutschland und den ärmsten Ländern wie Äthiopien oder Tansania auf etwa 60:1 ausgeweitet hat. Selbst Schwellenländer wie Brasilien hinken 5:1 hinterher, wenn es um die Produktivität ihrer Wirtschaft geht.

Dies bedeutet: Wenn sich ein Land wie Brasilien gegen die Übermacht der Industrieländer wehren will, reichen Zölle von 40 Prozent nicht, wie sie die USA im 19. Jahrhundert erhoben haben - sondern es müssten Zölle von weit über 100 Prozent sein. Doch stattdessen werden die Entwicklungs- und Schwellenländer gezwungen, Freihandelsabkommen und WTO-Verträge abzuschließen, die sinkende Zölle versehen. So produziert man Verarmung - und Flüchtlinge. Die internationalen Abkommen müssten den Entwicklungsländern gestatten, ihre Produkte zollfrei zu exportieren. Gleichzeitig dürften sie jeden Importzoll erheben, den sie für sinnvoll halten. Nur dann haben die armen Länder eine Chance, ihre jungen Branchen gegen die Konkurrenz der Industrieländer zu schützen.


Was dem Willkommen folgt

Wichtig ist es daher jetzt, die Aufnahmebereitschaft der Bürgerinnen und Bürger weiterhin zu fördern. Über die Frage, wie viele Menschen willkommen sind, entscheidet keine Regierung, sondern letztendlich die Bevölkerung. Die Politik ist gefordert, Ressentiments nicht aufkommen zu lassen. Daher müssen wir jetzt konkrete Angebote für diejenigen, die arbeitslos sind, zu geringe Löhne haben oder eine Wohnung suchen schaffen - sonst droht eine Situation wie Anfang der 1990er Jahre, als noch mehr Asylbewerber-Heime als heute brannten. Zuwanderung darf nicht zu Lohndrückerei führen und soziale Ängste verstärken. Wenn die Politik dagegen nichts tut, dann werden rechtsextreme Parteien weiter Zulauf haben.

Deshalb wäre es das richtige Signal, den Mindestlohn auf mindestens zehn Euro die Stunde anzuheben und die Einführung der 30-Stunden-Woche zu forcieren. Außerdem sollte der Harz-IV-Regelsatz auf 500 Euro im Monat erhöht und der soziale Wohnungsbau verstärkt werden. Das Land mit der stärksten Wirtschaftskraft in Europa ist dazu in der Lage. Bezahlt werden kann dies durch eine angemessene Besteuerung von Millionen-Einkommen, -Vermögen und -Erbschaften, bei gleichzeitiger Entlastung von Normal- und Geringverdienern. Der Tisch kann schließlich nicht von denen gedeckt werden, die wenig haben. Er muss von denjenigen gedeckt werden, die im Reichtum schwelgen.

Die Fluchtursachen dürfen dabei nicht aus dem Blick geraten. Waffenexporte und Interventionskriege sind mitverantwortlich für die Flüchtlingsbewegungen und müssen daher umgehend beendet werden. Es ist eine Schande, dass Deutschland im ersten Halbjahr 2015 die Waffenexporte in den Nahen Osten gesteigert hat. Völlig verkommen ist die Reaktion der US-Regierung auf die Flüchtlingswelle in Europa. Die Aussage des Regierungssprechers, es sei ein Problem der Europäer, ist blanker Zynismus. Die USA haben den Nahen Osten in Brand gesetzt, vor allem in Afghanistan, im Irak, in Libyen und in Syrien. Unter Bombenteppichen wächst kein Frieden.


(*) Der Beitrag entstand unter Verwendung des Artikels "Faustrecht des Stärkeren" v. Klaus Wagener (UZ v. 9.10.2015) und des Referates von Walter Stehling "Freihandel, Armut, Krieg und Vertreibung: Fluchtursachen und Fluchtwege" (DKP Köln v. 16.9.2015). Er wurde anlässlich der Veranstaltung der Marx-Engels-Stiftung "Antworten auf die Migration"am 11.6.2016 in Essen vom Autor aktualisiert.


Von Wolfgang Reinicke-Abel, M.A. phil.päd., Liége/Köln


Anmerkungen

[1] Professor Michel Evgenij Chossudovsky (* 1946) lehrt Wirtschaftswissenschaften an der Universität Ottawa. Internationale Bekanntheit erlangte er durch seine globalisierungskritischen Publikationen, die in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt werden sind.

[2] Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (englisch UN World Food Programme, WFP) ist eine gemeinsam von der Generalversammlung der Vereinten Nationen und der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen getragene humanitäre Einrichtung und die wichtigste Institution der Vereinten Nationen im Kampf gegen den globalen Hunger.

[3] Als "Land Grabbing" wurden in den vergangenen Jahren im deutschen Sprachraum geschäftliche Transaktionen kritisiert, bei denen Regierungen oder Unternehmen auf fremden Staatsgebieten - v.a. in Entwicklungs- oder Schwellenländern - große Ländereien erwerben.

[4] Economic Partnership Agreements

[5] Die Europäische Union verschärft mit der Rohstoffinitiative ihren ohnehin radikalen handels- und investitionspolitischen Kurs, um europäischen Unternehmen und Investoren den Zugang zu Rohstoffen in Entwicklungsländern zu erleichtern. Sie drängt Entwicklungsländer, ihre Märkte zu öffnen und verlangt zugleich Investitionsschutz für europäische Unternehmen.

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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 5-16, 54. Jahrgang, S. 39-46
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Dezember 2016

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