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MARXISTISCHE BLÄTTER/630: €U - Europa der Konzerne und Generäle


Marxistische Blätter Heft 6-16

€U - Europa der Konzerne und Generäle

von Gerald Oberansmayr


Der Österreichische Nationalökonom Friedrich August von Hayek war einer der radikalsten und kompromisslosesten Vordenker des Neoliberalismus. Man könnte Hayek auch als Vordenker der Europäischen Union bezeichnen.

Getrieben von der Angst vor und dem Hass auf den Aufstieg von Massendemokratie und Sozialstaat entwickelte Hayek bereits in den 1930er Jahren ein politisches Modell, wie dem Aufstieg von Demokratie und Sozialstaat ein Ende bereitet werden kann, indem die Souveränität der Nationalstaaten in Europa gebrochen wird. Ich zitiere Peter Gowan: Nach Hayeks Auffassung "gründeten die Probleme Europas im Aufstieg der Volkssouveränität und demokratischer Kontrolle über die Wirtschaftspolitik. Seine Lösung war eine Europäische Föderation, (in der) die europäischen Staaten vertragliche Verpflichtungen zur Beendigung öffentlicher Kontrolle über die Wirtschafts- und Sozialpolitik eingehen. Seine brillante Erkenntnis war; dass unter internationalem Vertragsrecht die normalen parlamentarischen Gesetze und Politiken einzelner Staaten unterlaufen werden können. Somit kann ein Vertrag, der innerstaatliche Angelegenheiten betrifft, demokratische Politikgestaltung blockieren."(1) Unschwer ist hier die Blaupause der EU zu erkennen. Auch die EU-Staaten binden sich über Verträge, die das neoliberale Modell in Verfassungsrang heben. Veränderungen sind nur mehr möglich, wenn alle gleichzeitig das mit Verfassungsmehrheit wollen. Das ist faktisch unmöglich. Mit der Souveränität werden damit auch Demokratie und Sozialstaat erstickt.


"Und sie taten es"

Der politische und ökonomische Druck, um diese Hayek'schen Ideen zu verwirklichen, stammte von Anfang an direkt aus den Konzernzentralen. Motoren für die Verwirklichung der beiden zentralen Pfeiler der EU - Binnenmarkt und Währungsunion - war der "European Round Table (of Industrialists)" (ERT), die Versammlung von einigen Dutzend Chefs der führenden europäischen Industriekonzerne. Das EU-Binnenmarktprogramm geht unmittelbar auf ein Papier des ERT zurück. Das Weißbuch zur Vollendung des Binnenmarktes wurde 1985 von der Kommission dem Rat vorgelegt wurde. Unmittelbar vor der Unterzeichnung der Einheitlichen Europäischen Akte übermittelte der damalige ERT-Chef Wisse Dekker (Chef von Philips) den EG-Staatschefs in einem Telegramm eine knappe Botschaft: "Wir wissen nicht, was Sie vorhaben, jedoch wollen wir, dass Sie handeln! Sie können das in die eine oder in die andere Richtung tun. Jedoch entschließen Sie sich, keinen Binnenmarkt einzurichten, dann lassen Sie uns keine andere Wahl als unser Unternehmen möglicherweise woanders anzusiedeln!"(2) Die Drohung saß. Der Binnenmarkt wurde aus der Taufe gehoben. Die Erinnerungen von Keith Richardson, dem damaligen ERT-Generalsekretär, belegen die Macht der Großindustriellen bei der Durchsetzung der Währungsunion ein Jahrzehnt später im Dezember 1995: "Wir schrieben einen formellen Brief an alle Regierungschefs mit der Aufforderung: Wenn Ihr bei dem Gipfel in Madrid zusammenkommt, wollt Ihr dann, bitte, ein für alle Mal entscheiden, dass die EWU an dem Tag beginnt der in Maastricht festgelegt wurde und nach den in Maastricht beschlossenen Kriterien. Wir schrieben ihnen und sagten, sie sollten das tun. Und sie taten es."(3)

Binnenmarkt und Währungsunion zementieren die EU-Verträge das Europa des Friedrich August von Hayek ein. Nach innen hin ist die Wirtschafts- und Währungspolitik "dem Grundsatz der offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb verpflichtet". Und nach außen hin verpflichtet der EU-Vertrag zum "Abbau internationaler Handelshemmnisse" und zur "Beseitigung der Beschränkung bei ausländischen Direktinvestitionen". TTIP, CETA oder die Freihandelsabkommen mit den AKP-Staaten sind Ausdruck dieser aggressiven Freihandelsagenda, die im EU-Primärrecht verankert ist. Als ein breites Netzwerk eine sog. "Europäische Bürgerinitiative" gegen TTIP und CETA an die EU-Kommission starten wollte, gab diese folgende Antwort: "Ihre geplante Bürgerinitiative liegt offenkundig außerhalb des Rahmens, in dem die Kommission befugt ist, einen Vorschlag für einen Rechtsakt der Union vorzulegen, um die Verträge umzusetzen."(4) Eine Abkehr von diesem neoliberalen Freihandelsdogma darf in EU-Europa nicht einmal erbeten werden.

Auch die Währungsunion ist neoliberal maßgeschneidert: Die Europäische Zentralbank wurde per EU-Vertrag von jeder politischen Einflussnahme ausgespart. Sie ist auf den absoluten Vorrang von Preisstabilität vor allen anderen wirtschaftspolitischen Zielen (z.B. Bekämpfung der Arbeitslosigkeit) verpflichtet. Durch das Verbot von zins- bzw. tilgungsfreien Notenbankkrediten werden die Staaten gezwungen, sich mit teurem Geld auf den internationalen Finanzmärkten zu refinanzieren Der Stabilitäts- und Wachstumspakt übte von Anfang Druck in Richtung der Einschränkung Öffentlicher Budgets aus.


"Darwinistische Währung"

Diese neoliberale Korsett erzwang die schrittweise Entdemokratisierung der Wirtschaftspolitik, da wichtige wirtschaftspolitische Handlungsfelder - Außenwirtschafts-, Geld-, Währungs- und Industriepolitik - den gewählten Organen faktisch entzogen wurden. Die Budgetpolitik blieb zwar zunächst noch in der Hoheit der Parlamente, geriet aber zunehmend in die neoliberalen Mühlen von Binnenmarkt und Währungsunion, da der Verlust demokratischer Instrumente zur Abfederung der gewaltigen Produktivitätsunterschiede weitreichende Konsequenzen hatte. Spätestens aber mit der Einführung der Währungsunion entbrannte ein Wirtschaftskrieg innerhalb der EU, denn wo die Möglichkeiten zum Schutz eigener Märkte und zur Stimulierung der Binnennachfrage ausgehöhlt werden, verbleibt nur mehr die "innere Abwertung" - ein vornehmer Ausdruck für Lohndumping und Sozialabbau - um die eigenen Märkte zu behaupten bzw. auf die Exportmärkte der anderen EU-Staaten zu drängen. Wer diese Umverteilung von Arbeit zu Kapital am härtesten durchsetzen konnte, hatte eindeutig die besseren Karten um die EU-"Partner" niederzukonkurrieren. Dass die deutschen Machteliten als Sieger aus diesem Wirtschaftskrieg hervorgingen, ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass ihnen mit Hilfe der Agenda 2010 diese Umverteilung von Arbeit zu Kapital am "erfolgreichsten" gelang. Zwischen 2001 und 2007 sank die Lohnquote in Deutschland um 9%, in allen Euro-Staaten ohne Deutschland dagegen nur um 1 %.

Der (damalige) finnische Außenhandelsminister Alexander Stubbe brachte den Zusammenhang von Währungsunion und EU-Wirtschaftskrieg auf eine präzise Formel: "Der Euro ist im Grunde eine darwinistische Währung geworden. Es gilt das Prinzip vom Überleben des Stärkeren."(5) Deutschland erzielte Rekordwerte beim Leistungsbilanzüberschuss, spiegelbildlich türmten die Niederkonkurrierten - insbesondere die Länder in Südosteuropa - enorme Leistungsbilanzdefizite auf. Während von Deutschland aus die Warenströme in den Süden der Eurozone flossen, strömten in der Gegenrichtung griechische, spanische und portugiesische Wertpapiere in die Banktresore deutscher Finanzinstitute - seien es Staatsanleihen oder Konsumentenkredite. Mit der Finanzkrise 2008 kam es zum Knick in diesem Kreislauf - die internationalen Finanzmärkte wurden nervös und verlangten hohe Zinsaufschläge. Aus der Verschuldung wurde rasch eine Überschuldung, da eine Verschuldung in eigener Währung im Euro-Regime nicht mehr möglich war. Der ökonomischen Erpressung durch die Finanzmärkte folgte die politische Erpressung durch die EU-Institutionen, angetrieben durch die deutschen Machteliten. Den Konzernen wurden die risikoreichen Wertpapiere, mit denen sie bereits gute Geschäfte betrieben haben, zu glänzenden Konditionen abgelöst. Die Haftung dafür übernahmen die Steuerzahler der EU-Staaten über die sog. "EU-Rettungsschirme". Im Gegenzug wurden und werden Länder wie Griechenland unter Kuratel der "Troika" aus EU-Kommission, EZB und IWF gestellt - mit verheerenden sozialen Folgen für breite Teile der Bevölkerung.


Von der Radikalisierung des Neoliberalismus ...

Weil aber die Schulden in allen EU-Staaten im Zuge der Krise stark angestiegen sind, nicht zuletzt um die Folgen der Krise abzufedern, wurden die demokratisch gewählten Parlamente aller EU-Staaten in ihrem letzten noch verbliebenen großen Entscheidungsbereich - der Budgetpolitik - Schritt für Schritt entmachtet. Diese autoritäre Radikalisierung des Neoliberalismus trägt so harmlose Namen: Six-Pack, Two-Pack-Verordnungen, Fiskalpakt, Euro-Plus-Pakt, Europäisches Semester. Diese ermöglichen der EU-Technokratie den direkten Durchgriff auf die Wirtschafts- und Budgetpolitik - mit dem Ziel, den "Sozialstaat zu einem Auslaufmodell (zu) machen" (EZB-Chef Draghi)(6). Die EU-Vorgaben sind immer die gleichen: Kürzungen bei Renten, Gesundheit und Löhnen, Privatisierung der Filetstücke des öffentlichen Eigentums, Abbau von gewerkschaftlichen Errungenschaften.

In manchen EU-Staaten wurden die Kollektivvertragssysteme regelrecht zerschlagen. In Spanien etwa sank die Anzahl der insgesamt abgeschlossenen Tarifverträge von knapp 6.000 im Jahr 2008 auf etwas mehr als 2.400 im Jahr 2013. Guglielmo Meardi, Professor für industrielle Arbeitsbeziehungen an der Universität Warwick kommt daher zum Schluss: In Spanien und Italien wären die Reformen von 2011-12 ohne die direkte institutionelle Intervention der EU nicht denkbar gewesen. In wenigen Monaten haben die Europäische Kommission und die Europäische Zentralbank das erreicht, was sich die spanischen und italienischen Arbeitgeber und rechtsgerichtete Regierungen nicht einmal zu fordern trauten."(7) Auch die jüngsten "Arbeitsmarktreformen" in Frankreich, die die Tarifverträge aushöhlen und die 60-Stunden-Arbeitswoche ermöglichen, gehen auf den Druck der EU-Kommission im Rahmen des EU-Defizitverfahrens bzw. des "Europäischen Semesters" zurück.


... zur beschleunigten Militarisierung der EU

Das deutsche Modell der Exportweltmeisterschaft durch Produktivitätspeitsche und Niedriglohnpolitik soll damit allen EU-Staaten vorgegeben werden. Auf dieselbe Weise wie Deutschland seit Einführung der Währungsunion die anderen europäischen Staaten durch permanente Exportüberschüsse niederkonkurriert und schließlich zur politischen Unterwerfung zwang, so wollen die EU-Mächtigen offensichtlich auf erweiterter Stufenleiter im globalen Maßstab gegenüber dem Rest der Welt vorgehen. Jeder weiß, dass sich nicht alle über Exportüberschüsse sanieren können, denn die Exportüberschüsse des einen sind die Importüberschüsse des anderen. Das ist kein Programm zur Überwindung der Krise, sondern ihrer Ausweitung zum Weltwirtschaftskrieg.

Es ist daher kein Zufall, dass der wachsende autoritäre Durchgriff nach innen Hand in Hand geht mit der zunehmend aggressiveren Außenorientierung der Europäischen Union. Denn diese ökonomische Außenexpansion trifft nicht notwendigerweise auf Gegenliebe. Vier Staaten in der sog. "europäischen Nachbarschaft" versuchten bisher, sich der bedingungslosen Unterordnung unter Freihandelsverträge mit der EU, die die eigenen Märkte und Rohstoffe für EU-Konzerne öffnen sollten, entgegenzustellen: Jugoslawien bis 1999, Libyen unter Gadaffi, Syrien unter Assad und die Ukraine bis zum prowestlichen Staatsstreich. Monatelange Bombenkriege, Unterstützung von Jihad-Kämpfern bzw. Neonazis wurden und werden in diesen Staaten als "Türöffner" für die "offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb" eingesetzt. Friedrich August von Hayek hätte seine Freude gehabt. Auch ihm imponierte, wie der chilenische General Pinochet den Neoliberalismus mit Panzern und Bajonetten blutig durchsetzte.


"Postmoderner Imperialismus"

Ein gewisser Robert Cooper profilierte sich 2002 als Ideologe dieser Kriegspolitik: "Der postmoderne Imperialismus hat zwei Komponenten. Zunächst gibt es den freiwilligen Imperialismus der globalen Ökonomie. Dieser wird üblicherweise von einem internationalen Konsortium durch internationale Finanzinstitutionen wie den International Währungsfonds oder die Weltbank betrieben - charakteristisch an dieser Spielart des neuen Imperialismus ist, dass er multilateral ist. Die genannten Institutionen stellen Unterstützung für Staaten zur Verfügung, die ihren Weg zurück in die globale Ökonomie und den tugendhaften Zirkel von Investment und Prosperität finden wollen."

Cooper erklärt auch, was mit jenen zu geschehen habe, die sich diesem "tugendhaften Zirkel" zu verweigern gedächten: "Die Herausforderung der postmodernen Welt ist es, mit der Idee doppelter Standards klarzukommen. Unter uns gehen wir auf der Basis von Gesetzen und offener kooperativer Sicherheit um. Aber wenn es um traditionellere Staaten außerhalb des postmodernen Kontinents Europa geht, müssen wir auf die raueren Methoden einer vergangenen Ära zurückgreifen - Gewalt, präventive Angriffe, Irreführung, was auch immer nötig ist, um mit denen klarzukommen, die immer noch im 19. Jahrhundert leben, in dem jeder Staat für sich selber stand. Unter uns halten wir uns an das Gesetz, aber wenn wir im Dschungel operieren, müssen wir ebenfalls das Gesetz des Dschungels anwenden. ... Die Chance, ja vielleicht sogar die Notwendigkeit für Kolonialisierung ist genau so groß wie im 19. Jahrhundert"(8)

Als Cooper das schrieb, war er noch britischer Afghanistan-Beauftragter der Regierung von Tony Blair. Mit seinen Ansichten muss er mächtig Eindruck auf das EU-Establishment ausgeübt haben. Cooper stieg bald zu einem der einflussreichsten EU-Spitzenbeamten im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik auf, zunächst als Generaldirektor für außenpolitische Angelegenheit der EU-Kommission und als Büroleiter des EU-Außenbeauftragten Javier Solana. Danach zog er als "Sonderbeauftragter" der "Hohen Vertreterin für die EU-Außen- und Sicherheitspolitik", der Baroness Cathrine Ashton, die außenpolitischen Fäden auf oberster EU-Ebene.


Superstaat - Supernation - Supermacht

Mittlerweile hat sich die Stimmung im Establishment freilich etwas verändert, der Tonfall ist nervöser geworden; Abstiegsängste schwingen mit, da die Vorherrschaft des globalen Westens nicht mehr ganz so unangefochten ist. Russland ist auf die globale Bühne zurückgekehrt, China zu einer Großmacht aufgestiegen und die EU in eine tiefe Krise geschlittert. Imperialismus ohne "postmoderne" Schnörkel kommt wieder auf die Tagesordnung. James Rogers - Direkter der "Group on a Grand Strategy", eines höchst einflussreichen sicherheitspolitischen Think Tanks auf EU-Ebene - artikuliert offen dieses Programm: "Die alten europäischen Nationalstaaten sind nicht mehr länger groß genug, um ihrer Stimme in einer sich schnell verändernden Welt Gehör zu verschaffen. Der beste Weg, um die Werte, die diesen Nationen wichtig sind, zu beschützen, besteht in größeren und mächtigeren Zusammenschlüssen. [...] Kurz gesagt, die Europäische Union muss ein Superstaat und eine Supernation werden, was sie dann wiederum in die Lage versetzt, eine Supermacht zu werden."(9)

Der Schlüssel für diese EU-Supermacht ist - so Rogers - die politische, wirtschaftliche und militärische Kontrolle über eine "Grand Area". Das heißt - so Rogers - "uneingeschränkter Zugang zu einer weiten, angrenzenden Zone, die die östlichen Nachbarschaft und das westliche Russland, den Kaukasus und große Teile Zentralafrikas, die arktische Region, die nördliche Hälfte von Afrika, den gesamten Nahen und Mittleren Osten, genauso den Indischen Ozean und Südost-Asien umfasst. Diese 'Grand Area' beinhaltet die meisten Rohstoffe, die von der europäischen Wirtschaft benötigt werden; alle zentralen Schifffahrtsrouten von Asien, Australien, Afrika und den Nahen und Mittleren Osten; alle Energiepipelines - gegenwärtige und zukünftige - von Russland, Zentralasien und Nordafrika ..."

Die Zentralisierung der EU-Militärmacht, insbesondere Schaffung einer zentralen EU-Armee unter einem einheitlichen EU-Oberkommando seien - so Rogers - notwendig, um "ausländischen Regierungen das Fürchten zu lehren und sie gegenüber europäischen Präferenzen aufgeschlossener zu machen".(10)

Auch Rogers beeindruckte die obersten Kreise des EU-Machtapparats. Er wurde bald darauf mit der Erstellung des Strategiepapiers zur Vorbereitung des EU-Rüstungsgipfels im Dezember 2013 betraut, der den Startschuss für eine Reihe neuer Aufrüstungsprojekte, z.B. ein europäischen Drohnenprogramm, gab.


Militarisierung als Rezept gegen "existenzielle Krise"

Freilich kann man aktuell fragen: Hat sich diese Option einer militärischen EU-Weltmacht mit dem Brexit nicht zerschlagen? Immerhin ist Großbritannien die militärisch - neben Frankreich - potenteste Militärmacht innerhalb der EU. Andererseits war Großbritannien aufgrund seiner NATO- und US-Orientierung auch jene Kraft, die am nachhaltigsten das Voranschreiten einer eigenständigen EU-Militärmacht blockierte. Vor allem die deutschen und französischen Machteliten wittern daher mit dem Brexit die Chance, einen Durchbruch in Richtung einer eigenständigen EU-Militarisierung bis hin zum Aufbau einer eigenen EU-Armee zu schaffen. Bereits unmittelbar nach dem Brexit-Referendum beschlossen die EU-Staatschefs eine neue "EU-Globalstrategie".(11) Die Generallinie: Rüsten, rüsten, rüsten:

Erstens: Bekenntnis zur Aufrüstung aller Waffengattungen

Wörtlich heißt es dazu in der EU-Globalstrategie: "In Bezug auf militärische Spitzenfähigkeiten braucht Europa alle zentralen Kapazitäten, um auf äußere Krisen zu reagieren und Europa sicher zu machen, also das gesamte Spektrum der Rüstungskapazitäten zu Land-, See, Luft und im Weltraum ..." Die Rüstungsindustrie darf sich trotz klammer öffentlicher Budgets auf volle Auftragsbücher freuen: "Die EU wird die Zusammenarbeit in Verteidigungsangelegenheiten systematisch ermutigen und eine schlagkräftige europäische Rüstungsindustrie schufen, die ausschlaggebend dafür ist, dass Europa eigenständig entscheiden und handeln kann."

Zweitens: "Europäisches Semester für Aufrüstung"

Da das EU-Establishment aber offensichtlich Angst hat, dass die einzelnen Nationalstaaten immer noch eine demokratische Verfasstheit aufweisen und Menschen nicht so ohne weiteres weitere Aufrüstung akzeptieren, während bei Sozialem gekürzt wird, greift die EU-Globalstrategie eine Idee auf, die bereits im Vorjahr aus dem Umfeld des EU-Kommissionspräsidenten ventiliert wurde: ein "Europäisches Semester" speziell für Aufrüstung. Ein anderes "Europäisches Semester" gibt es nämlich bereits jetzt: Es dient der EU-Kommission dazu, einen mit Sanktionen verbundenen Druck auf die EU-Staaten auszuüben, harte Sparpolitik zu exekutieren. Damit diese Sparpolitik den Sozialbereich trifft und die Rüstungsetats verschont, dafür soll das Europäische Semester" für Aufrüstung dienen. EU auf eine knappe Formel gebracht: Soziales runter, Rüstung auf.

Drittens: Krieg für Konzernmacht

Auch die Frage, wofür aufgerüstet werden soll, wird in diesem Strategiedokument klar beantwortet: Sicherstellung "offener Märkte" und "offener Schifffahrtsrouten", "Zugang zu natürlichen Rohstoffen". Der "unsichtbaren Hand" des Marktes, soll die sichtbare Faust der EU-Militärmacht zur Seite gestellt werden. Neben dem Bekenntnis zu Freihandel im Allgemeinen wird ein besonderes Bekenntnis zu den transatlantischen Freihandelsabkommen TTIP und CETA abgelegt.

Viertens: EU-Battlegroups an die Front

Die EU-Globalstrategie drängt darauf, EU-Truppen rascher zum Einsatz bei globalen Militärmissionen bringen zu können: Insbesondere gelte es "die politischen, finanziellen und organisatorische Hindernisse, die bislang den Einsatz der EU-Battlegroups verhindert haben, zu überwinden." Für Österreich ist das von größter Brisanz: Denn die österreichische Regierung will offensichtlich zum Battlegroupschampion aufsteigen. Im 2. Halbjahr 2016, im 1. Halbjahr 2017, im 1. und 2. Halbjahr 2018 und voraussichtlich auch im 2. Halbjahr 2020 sind bereits österreichische SoldatInnen für diese Kampftruppen eingemeldet. Um nur ja bei allen möglichen Militärmissionen dabei sein zu können, hat Österreich mit Frankreich ein Abkommen getroffen, dass österreichische Soldaten in Französisch-Guyana für den Dschungel- und Wüstenkrieg ausgebildet werden können.


Fünftens: Militärisches Kerneuropa

Die bereits im EU-Lissabon-Vertrag angelegte Möglichkeit, ein militärisches Kerneuropa ("Ständige Strukturierte Zusammenarbeit") zu begründen, soll erstmals im Bereich der EU-Battlegroups in Form einer "verstärkten Zusammenarbeit" ausprobiert werden. "Wenn sich das als erfolgreich erweist und des öfteren wiederholt wurde, könnte das zu einer Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit führen, die das Potential des Lissabon-Vertrags voll ausschöpft." Die Herausbildung eines solchen "Kerneuropas" dient dazu, den Grundstein für eine EU-Armee zu legen und die Aufrüstungsambitionen der EU-Mitgliedsstaaten zu beflügeln. Denn ein solches "Kerneuropa" würde rasch einen inneren Machtzirkel der EU bilden. Motto: Wer nicht brav rüstet bzw. nicht bereit ist, seine SoldatInnen ins Feuer zu schicken, hat in EU-Europa am Katzentisch der Macht teilzunehmen.

EU-Kommissionspräsident Jean Claude Juncker schärft in seiner "Rede zur Lage der EU" Mitte September 2016 nach. Als Rezept gegen die "zumindest teilweise existenziellen Krise" der EU beschwört er die Forderung der EU-Militarisierung. Dazu gehören für ihn:

  • Militarisierung der Außengrenzen durch eine "Europäische Grenz- und Küstenwache";
  • Schaffung eines gemeinsamen Hauptquartiers für Militärmissionen;
  • Einrichtung eines "Europäischen Verteidigungsfonds", der der Rüstungsforschung "einen kräftigen Schub verleiht;
  • Militärisches Kerneuropa: "Der Vertrag von Lissabon gibt den Mitgliedstaaten die Möglichkeit, ihre Verteidigungsfähigkeiten in Form einer ständigen strukturierten Zusammenarbeit zu bündeln, so sie dies wollen. Ich denke, jetzt ist der richtige Zeitpunkt, diese Möglichkeit zu nutzen."

Juncker abschließend: "Europa muss mehr Härte zeigen. Dies gilt vor allem in unserer Verteidigungspolitik. Europa kann es sich nicht mehr leisten, militärisch im Windschatten anderer Mächte zu segeln oder Frankreich in Mali allein zu lassen."(12) Die EU wird also in Zukunft in Mali verteidigt.

Jyrki Katainen, Vizepräsident der EU-Kommission, legt mit einer weiteren Idee nach: Um die Aufrüstung zu finanzieren, sollen EU-Kriegsanleihen - pardon: "Europäische Verteidigungsbonds" (European Defence Bonds) - emittiert werden, um die Kapitalmärkte für neue Rüstungsgüter wie Drohnen, Kriegsschiffe, Cybertechnologie und die Militarisierung der Außengrenzen anzuzapfen. Die solcherart finanzierten Rüstungsgüter sollen in "EU-Besitz" übergehen. Während also Investitionen in Gesundheit, Bildung und Soziales den strengen Vorgaben des Fiskalpaktes unterworfen bleiben, soll bei der Rüstung endlich geklotzt werden. Rückendeckung findet diese Privilegierung von Rüstungsausgaben im Artikel 42 des Vertrages über die EU (EUV), der alle EU-Staaten dazu verpflichtet, "ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern".


Gestaltungsraum zurückgewinnen!

Abschließende Bemerkung: Ich halte die Illusion vieler Linker und Friedensbewegter, die EU in Richtung eines sozialen, friedlichen und demokratischen Gebildes transformieren zu können, für einen der folgenschwersten Fehler, der viel zum Aufstieg der extremen Rechten beigetragen hat. Die EU ist das Europa der Konzerne und Generäle. Das ist keine Entgleisung, sondern die eigentliche Zielbestimmung dieses Herrschaftsprojekts, einzementiert in EU-Verträgen und Institutionen. Die entscheidende Herausforderung für fortschrittliche und friedensbewegte Kräfte besteht daher darin, die Frage des EU-Austritts Österreichs zu enttabuisieren, und die konkreten tagespolitischen Kämpfe mit dem Ringen um den Austritt aus diesem "Europa der Konzerne und Generäle" zu verknüpfen. Der EU-Austritt löst nicht die Probleme, aber der Ausstieg aus dieser Hayek'schen Zwangsjacke ist die Voraussetzung, um wieder einen demokratisch umkämpfbaren Gestaltungsraum zurückzugewinnen.


Gerald Oberansmayr, Linz, Aktivist der Solidarwerkstatt Österreich


Anmerkungen

(1) Gowan, Peter: "The State of the Union - the global context", paper presented on the 11th workshop on Alternative Economic Policy in Europe, Brussels 2005, zitiert nach: Andreas Wehr, in: Junge Welt, 18.9.2012.

(2) Zit. nach Friedrich Moser und Matthieu Lietaert, The Brussels Business, Film, Österreich/Belgien 2012.

(3) Zit. nach Belen Balanya, Ann Doherty, Olivier Hoedeman, Adam Ma'anit & Erik Wesselius: EUROPE INC: Regional & Global Restructuring and the Rise of Corporate Power. Plutopress, London, 2000.

(4) EU-Kommission, 10.9.2014, sh.
http://lec.europa.eu/citizens-initiative/public/initiatives/non-registered/details/2041?lg=de

(5) Rede am Europa College in Brügge, zit. nach Süddeutsche Zeitung, 19.11.2011).

(6) Interview im Wallstreet-Journal, 23.2.2012.

(7) Meardi, Guglielmo (2012), Employment relations under external pressure: Italian and Spanishreforms in 2010-12. International Labour Process Conference, Stockholm 27-29 March.

(8) Robert Cooper: The new liberal imperialism, in: Observer, 7.4.2002.

(9) James Rogers/Simón Luis, The new 'long telegram' Group on a Grand Strategy, Nr.1, 2011.

(10) James Rogers, A new Geography of European Power?, Egmont Paper Nr. 42, 2011.

(11) Gemeinsame Vision, gemeinsames Handeln: Ein stärkeres Europa. Eine Globale Strategie für die Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union, Brüssel, 28.6.2016.

(12) Rede zur Lage der Union: Hin zu einem besseren Europa - Einem Europa, das schützt, stärkt und verteidigt, Straßburg, 14. September 2016.

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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 6-16, 54. Jahrgang, S. 108-115
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. März 2017

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