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MARXISTISCHE BLÄTTER/644: Liam O'Flaherty und der irische Freistaat


Marxistische Blätter Heft 1-2022

Liam O'Flaherty und der irische Freistaat

von Jenny Farrell


Anlässlich des 100. Jahrestages der unvollständigen Unabhängigkeit Irlands soll es in diesem Artikel um die Widerspiegelung der Zeit im Werk Liam O'Flahertys gehen. Liam O'Flaherty ist einer der bedeutendsten irischen Romanautoren des 20. Jahrhunderts. Seine größte Schaffensperiode erstreckte sich über die 15 Jahre zwischen 1922 und 1937, die Jahre zwischen der Erteilung des Dominion-Status an 26 von 32 irischen Grafschaften (1921) und der Ablegung dieses Status (1937) in eben diesen 26 Grafschaften.

Wie kein anderer kommentierte er das Zeitgeschehen in seinen Romanen Thy Neighbour's Wife (1923), Mr. Gilhooley (1926, Josephine Sternemann: Herr Gilhooley, S. Fischer Verlag, 1931), The Wilderness (1927), The Assassin (1928, Franz Fein: Der Mörder, Th. Knaur Nachfolger, Berlin 1928) über die Ermordung des irischen Regierungsministers Kevin Higgins 1927, The House of Gold (1929), The Ecstasy of Angus (1931), The Puritan (1932). Darüber hinaus gelang Liam O'Flaherty der internationale Durchbruch mit The Informer (1925, Heinrich Hauser: Die Nacht nach dem Verrat, Th. Knaur Nachfolger, Berlin 1928, 1984 unter dem Titel Der Denunziant im Diogenes Verlag, Zürich), einem Roman, der während des Unabhängigkeitskrieges spielt, zuerst ins Russische und danach in viele andere Sprachen übersetzt wurde.

Vor allem dieser Roman brachte O'Flaherty mit der aufstrebenden Filmindustrie in Verbindung. The Informer wurde zweimal verfilmt, zuerst 1929 von dem deutschen Regisseur Arthur Robison, einige Jahre später von John Ford in Hollywood. Auch die französische Filmindustrie interessierte sich für O'Flahertys Romane und verfilmte Mr. Gilhooley und The Puritan.

Darüber hinaus führte O'Flahertys Interesse an irischer Geschichte zum ersten irischen Antikriegsroman Return of the Brute (1929, Die Bestie erwacht, S. Fischer Verlag, 1930), dem Bürgerkriegsroman The Martyr (1933) sowie Famine (1937, Herbert Roch: Das braune Segel, Safari-Verlag, 1942, Das schwarze Tal, Dulk, 1952, 1965 Hungersnot, 1987 Zornige grüne Insel, Diogenes-Verlag), Irlands erster ernsthafter künstlerischer Auseinandersetzung mit diesem irischen Holocaust, in dem er die Nutznießer, britische Großgrundbesitzer und irische Ladenbesitzer, bloßstellt. Diese Entlarvung und O'Flahertys Interesse am Widerstand des Volkes finden ihre Fortsetzung in seinem 1946 erschienenen Roman Land, der den Aufstieg der Land League schildert. In seinem letzten Roman Insurrection von 1950 blickt O'Flaherty auf die einfachen Menschen zurück, die im Osteraufstand von 1916 kämpften.

O'Flaherty wurde auf der größten der irischsprachigen Aran-Inseln, Inis Mór, in der Bucht von Galway geboren. Im Alter von zwölf Jahren, 1908, musste er die Insel verlassen, um ein Gymnasium besuchen zu können. Im Februar 1916 trat O'Flaherty in die Irish Guards der britischen Armee ein und wurde an die Westfront geschickt. Er erlitt eine schwere Kriegsneurose, von der er sich nie völlig erholte.

In Irland fand indessen Ende April 1916 der Osteraufstand statt. Es war der erste von mehreren revolutionären Umwälzungen jener Jahre in Europa. Der Aufstand wurde niedergeschlagen und die Anführer hingerichtet. In ihrer Osterproklamation erklärten die Führer des Aufstands wichtige Ziele für ein unabhängiges Irland:

  • Wir erklären das Recht des irischen Volkes auf das Eigentum an Irland und auf die uneingeschränkte Kontrolle der irischen Geschicke als souverän und unantastbar.
  • Wir rufen hiermit die Irische Republik als souveränen unabhängigen Staat aus.
  • Die Republik garantiert allen ihren Bürgern Religions- und Bürgerrechte, Gleichberechtigung und Chancengleichheit.

Nur wenn man diese grundlegenden Forderungen kennt, kann man die Enttäuschung O'Flahertys mit dem Staat verstehen, der nach 1922 entstand.

Der Kampf um die Unabhängigkeit der ältesten britischen Kolonie war 1916 nicht abgeschlossen, und die auf den Osteraufstand folgende britische Gewalt führte zu breiterer Unterstützung des Kampfes durch das irische Volk. Bei den Wahlen im Dezember 1918 errang die Partei für die Republik, Sinn Féin [Wir Selbst], einen überwältigenden Sieg, und am 21. Januar 1919 rief das erste Parlament, Dáil Éireann, die irische Unabhängigkeit aus.

Großbritannien verbot jedoch das Parlament und Sinn Féin, was die Krise weiter verschärfte und in den Unabhängigkeitskrieg von 1919 bis 1921 zwischen der IRA, der Armee der irischen Republik, und der britischen Armee mündete. Die IRA begann eine militärische Kampagne, und die britische Regierung reagierte mit der Entsendung weiterer Truppen, der für ihre Gewalttätigkeit berüchtigten Black and Tans. Mitte 1920 übernahmen die Republikaner zunehmend die Kontrolle und die britische Herrschaft brach in großen Teilen des Südens und Westens zusammen.

Im Mai 1921 wurde Irland durch den Government of Ireland Act geteilt. Nordirland entstand. Ein Waffenstillstand und Gespräche führten zum anglo-irischen Vertrag vom 6. Dezember 1921, der die britische Herrschaft in 26 der 32 Grafschaften beendete.

Ein Jahr später, am 6. Dezember 1922, wurde der irische Freistaat gegründet, der britisches Herrschaftsgebiet [Dominion] blieb. Die wesentlichen Punkte des Vertrags waren, dass die Republik aufgelöst und durch den irischen Freistaat ersetzt werden sollte und dass dies mit einem Treueeid auf den britischen Monarchen verbunden war. Dieser Vertrag, der eine Teilung des Landes statt Freiheit und Unabhängigkeit einer Republik herbeiführte, löste einen Bürgerkrieg aus.

Der Bürgerkrieg wurde zwischen den Kräften der provisorischen Regierung, die für den Vertrag war - später die Regierung des Freistaats - und der Freiwilligenarmee (IRA), die gegen den Vertrag war und eine eigene Exekutive hatte, ausgetragen. Darin spiegelte sich eine Spaltung innerhalb der Befreiungsbewegung wider, die auch in anderen Ländern und Zeiten immer wieder zu beobachten ist: die Spaltung einer Einheitsfront für die Befreiung in die Kräfte, die Geld und oft auch Religion hinter sich haben, auf der einen Seite und die Besitzlosen auf der anderen Seite, die eine neue Gesellschaft anstreben, die ihre Ausbeutung abschafft. Diese Klassenspaltung innerhalb der Bewegung wurde im Bürgerkrieg und in der Regierung des Freistaats sehr deutlich und ist das Thema des Romans The Martyr. Die politische und gesellschaftliche Realität nach dem Bürgerkrieg wird in The House of Gold dargestellt.

Aus der nationalen Befreiungsbewegung Sinn Féin gingen nach dem Bürgerkrieg zwei Parteien hervor, die noch heute eine wichtige Rolle in der irischen Politik spielen: Fine Gael (FG) und Fianna Fáil (FF). Die vertragsbefürwortende Partei Curnann na nGaedheal, später FG, verbündete sich von Anfang an mit dem Großkapital und im Laufe der Zeit auch international mit den europäischen Faschisten. Sie wurde von der katholischen Hierarchie unterstützt. FF, die vertragsfeindliche Partei, hatte ihre Basis in der Arbeiterklasse und bei den Kleinbauern. Sie bildete im März 1932 ihre erste Regierung und begann mit der Einführung einer für die damalige Zeit fortschrittlichen Sozialgesetzgebung, die ein Ende der Zahlung von Landrenten oder Pacht an britische Großgrundbesitzer, Landreformen, Urlaub für Arbeiter, Kindergeld und umfangreiche öffentliche Wohnungsbauprojekte vorsah. Im Laufe der Zeit schrumpfte der Unterschied zwischen diesen beiden Bürgerkriegsgegnern jedoch auf praktisch nichts, und sie haben Irland in den letzten 100 Jahren entweder nacheinander oder gemeinsam regiert.

O'Flahertys Erfahrungen im Ersten Weltkrieg machten ihn zu einem entschiedenen Kriegsgegner und überzeugten Sozialisten. Zwei Anti-Kriegstexte sind Return of the Brute, der 1929, im selben Jahr wie Remarques Im Westen nichts Neues veröffentlicht, und eine kürzlich entdeckte Kurzgeschichte "The Discarded Soldier" [Der entsorgte Soldat]. Nach dem Krieg reiste O'Flaherty innerhalb und außerhalb Europas, nach Amerika, nach Kuba. In Kanada wurde er Mitglied der Industrial Workers of the World, und in New York trat er der Kommunistischen Partei der USA bei, in der sein Bruder Tom ein führendes Mitglied war. Ende 1921 kehrte O'Flaherty nach Irland zurück, wurde im November 1921 Gründungsmitglied der ersten Kommunistischen Partei Irlands und Redakteur ihrer Wochenzeitung, der "Workers' Republic". Am 18. Januar 1922 besetzte eine Gruppe arbeitsloser Dubliner Arbeiter vier Tage lang das Rotunda-Konzerthaus. O'Flaherty, als Vorsitzender des Arbeitslosenrates, gehörte zu den Anführern. Eine rote Fahne wurde gehisst, doch die Truppen des Freistaats erzwangen eine Kapitulation.

Der Bürgerkrieg begann im Mai 1922, und O'Flaherty kehrte im Juni nach Dublin zurück. Er war unmittelbar an den Militäraktionen im Stadtzentrum von Dublin beteiligt. Dass er so kurz nach dem Ersten Weltkrieg und seinem Kriegstrauma zur Waffe griff, muss als Zeichen gewertet werden, wie sehr er für die Unabhängigkeit der gesamten irischen Insel und ihre vollständige Loslösung von Großbritannien als wirklich unabhängige Republik eintrat. Nach der Niederlage der republikanischen Seite in der Schlacht von Dublin floh O'Flaherty am 9. Juli 1922 nach London. In London begann er zu schreiben. Er wurde ein enger Freund des deutschen Sozialisten Carl Lahr und seiner Frau Esther Archer, die den Progressive Bookshop leiteten. Der linke Kreis um diese Buchhandlung wurde zu O'Flahertys politischer Heimat. Lahr unterstützte O'Flaherty und gab sogar einige seiner Werke heraus. In London lernte er die expressionistische Bewegung aus erster Hand kennen, und fast alle Romane von Liam O'Flaherty aus den 1920er Jahren sind expressionistisch geprägt. Als O'Flaherty 1924 nach Dublin zurückkehrte, war er an der Gründung des Radical Club beteiligt, der viele progressive Künstler anzog, darunter Harry Kernoff und O'Flahertys Freund aus Galway, Pádraic Ó Conaire, ein bedeutender irischer Schriftsteller und Kommunist.

Doch zurück zum Bürgerkrieg und seinen Auswirkungen, da dies für das Verständnis von O'Flahertys Werk in den 1920er Jahren von Bedeutung ist, das sich durchweg mit dem neuen Freistaat befasst. Ein Führer des Osteraufstandes, Liam Mellows, der während des Bürgerkriegs von den Vertragsbefürwortern inhaftiert und hingerichtet wurde, schrieb in einem Gefängnisbrief vom 25. August 1922:

In unseren Bemühungen, die Unterstützung der breiten Öffentlichkeit für die Republik zurückzugewinnen, müssen wir wohl oder übel zur Kenntnis nehmen, dass die kommerziellen Interessen, das Geld und die Gombeen[1]-Männer den Vertrag unterstützen, denn dieser Vertrag bedeutet Imperialismus und England. Da sind wir wieder bei Tone [2] - und das ist auch gut so - und verlassen uns auf diese große Gruppe, die "Besitzlosen". Die Leute mit Aktien im Land waren nie auf der Seite der Republik.

So auch die Auffassung von Liam O'Flaherty, wie sein Bürgerkriegsroman The Martyr verdeutlicht. Mellows Analyse erwies sich als richtig, und die Kräfte, die im neuen irischen Staat die Macht ergriffen, bestätigten dies aufs Wort. Dieser Verrat an den Idealen von 1916, der Verrat an den Idealen des Unabhängigkeitskrieges, wird zu einem zentralen Thema in Liam O'Flahertys Romanen der 1920er Jahre, am deutlichsten vielleicht in The House of Gold. Die Vision der Osterproklamation von 1916 war dem Geld und der Macht geopfert worden. Die wichtigsten Forderungen - die Errichtung einer souveränen Republik, das Recht des irischen Volkes auf Eigentum an Irland, Religionsfreiheit und Bürgerrechte, Chancengleichheit - all das wurde mit einem Schlag abgeschafft.

Die katholische Kirche beteiligte sich aktiv an diesem Verrat, und bald wurde der Freistaat ein katholischer Staat für ein katholisches Volk. Alle Aspekte der Gesellschaft im irischen Freistaat wurden von der katholischen Kirche kontrolliert. Dazu gehörten die berüchtigten, von der Kirche betriebenen "Mother & Baby Homes" und "Magdalen Laundries" [Magdalenenwäschereien] für unverheiratete Mütter, in denen die Mütter von ihren Kindern getrennt, die Kinder von den Nonnen zur Adoption freigegeben wurden und es eine unsagbar hohe Kindersterblichkeitsrate gab. In den letzten Jahren wurden die sterblichen Überreste von 796 Säuglingen und Kleinkindern im Abwassersystem einer dieser Einrichtungen in Tuam, in der Grafschaft Galway, entdeckt.

1929 wurde auf Empfehlung des Committee on Evil Literature [Ausschuss für Böse Literatur] mit dem Censorship of Publications Act eine Zensurbehörde eingerichtet, die alle Veröffentlichungen verbieten sollte, die sie als obszön einstufte. Damit wurde der Kauf, Verkauf oder Vertrieb solcher zensierten Veröffentlichungen in Irland verboten. Das erste Buch auf dem Index war The House of Gold, O'Flahertys Galway-Roman, in dem die gombeen men - geldgierige skrupellose Geschäftsleute -, die nach der Unabhängigkeit die Macht im irischen Freistaat übernommen hatten, aufs Korn genommen wurden. Weitere verbotenen Werke von O'Flaherty waren: The Puritan (1932), The Martyr (1933), Shame the Devil (1934), Hollywood Cemetery (1937) [3]. Es ist daher kaum verwunderlich, dass alle Romane von O'Flaherty zuerst außerhalb Irlands gedruckt wurden. Die Atmosphäre im Irland der 1920er Jahre, die zur Einrichtung der Zensurbehörde führte, inspirierte ihn 1929 zu seiner bitteren politischen Satire A Tourist's Guide To Ireland. Der Index umfasste Hunderte von Büchern irischer und internationaler Autoren.

Das sind also die beiden übergreifenden Themen, mit denen sich Liam O'Flaherty in seinen Romanen und einigen Kurzgeschichten beschäftigt: (1) Der Verrat der irischen Bourgeoisie an den Idealen der Unabhängigkeit und (2) die schockierende Lähmung des irischen Volkes durch die katholische Kirche.

The House of Gold spielt in der fiktiven Stadt Barra, leicht als Galway zu erkennen, die Stadt unweit O'Flahertys Heimat auf den Aran-Inseln. Die Bedeutung des Romans liegt darin, dass er beispielhaft für Irland und damit auch für andere postkoloniale Länder zeigt, wie die neu an die Macht gelangte, korrupte einheimische Bourgeoisie, angeführt von dem geld- und machthungrigen Ramon Mor Costello und seinen klerikalen Helfershelfern, die britische herrschende Klasse ersetzt hat.

The House of Gold ist der einzige O'Flaherty-Roman, in dem ein Gombeen-Mann eine zentrale Rolle spielt. Obwohl diese Figur von einem bestimmten Geschäftsmann aus Galway inspiriert wurde, sagt O'Flaherty im Roman unmissverständlich: "In jeder kleinen Stadt in Irland findet man einen Mann wie Ramon Mor". Ramon Mor ist ein Cumann na nGaedheal-Politiker, der seinen Reichtum aus dem überwiegend ländlichen Proletariat zieht und die Stadt Barra und ihre Umgebung um ihren Reichtum und ihre Hoffnungen für die Zukunft bringt. Die Romanhandlung erstreckt sich über 24 Stunden. Sie folgt einer Reihe von Hauptfiguren: Ramon Mor Costello, seine unglückliche, schöne Frau Nora, ihr Liebhaber Francis O'Neill, der einige Züge mit Liam O'Flaherty teilt, der Arzt Jim Fitzgerald sowie eine ganze Reihe von Personen, die mit ihnen in Verbindung stehen, darunter auch die Polizei. Die Handlung beginnt um Mitternacht mit einem Rendezvous zwischen Francis O'Neill und Nora. Es folgen Noras mutmaßliche Vergewaltigung durch einen Priester, ihre Versuche, sich von Ramon und seiner Familie zu lösen, Ramons Geschäfte, eine öffentliche Versammlung, ein Raubüberfall und mindestens zwei Todesfälle. Das klingt nach einem Thriller, doch der Roman konzentriert sich in seinen 21 Kapiteln weniger auf die Hintergrundhandlung als auf die Personen, ihre Beweggründe und ihre Beziehung zu Ramon Mor. Die verschiedenen Begegnungen finden an diversen Orten statt: in Ramons Haus, in seinem Büro, draußen auf dem Hügel, auf dem Fischmarkt, in der Kirche, im Haus des Arztes, in der Kneipe und bei einer öffentlichen Versammlung im Stadtzentrum. Die Szenen, die Menschen aus allen Gesellschaftsschichten zeigen, sind voller Gespräche und Energie, sie sind individuell, plastisch und dramatisch.

Das soziale Panorama der Stadt entfaltet sich, indem alle in ihrer Abhängigkeit vom Tyrannen Ramon Mor gezeigt werden. Diese Abhängigkeit führt bei einigen der Figuren, wie z. B. bei Pater Considine, zu Verzweiflung, ja fast zum Wahnsinn. Andere Figuren leiden unter ihrer Schwäche, ihrer Unfähigkeit, sich gegen Ramon Mor zu behaupten. Dazu gehören außer Pater Considine der Arzt, Ramons Schwester und Nora.

Die Ereignisse folgen keinem streng chronologischen Handlungsverlauf, sondern treten hinter den Beziehungen zurück, die sich im Laufe des Romans entwickeln. Hier, wie auch in anderen Romanen von O'Flaherty, gibt es keine Helden, keine Figuren, mit denen sich der Leser identifizieren soll - stattdessen wird der Leser in Brechts Sinne auf emotionale Distanz gehalten, die ihn ermutigt, die Szenen mit einer Distanz zu betrachten, die kritisches Denken und Reflexion ermöglicht. Der Leser sieht die Figuren und ihre Beziehungen wie sie sind - unbeeindruckt von emotionaler Identifikation. O'Flaherty erweist sich hier, wie auch in anderen Romanen der 1920er Jahre, als Teil der europäischen Avantgarde der Moderne und ist im Zusammenhang mit Brecht und anderen linken modernen Literaten dieser Zeit zu sehen.

Das Wesen des irischen Freistaats nach der Unabhängigkeit bestand für O'Flaherty darin, dass die neue irische Bourgeoisie einfach in die Fußstapfen der englischen und anglo-irischen Großgrundbesitzer getreten ist. Sie sind buchstäblich in deren Herrenhäuser eingezogen und beuten die arbeitende Bevölkerung nach wie vor wie aus. Francis O'Neill sagt:

Das Haus, in dem du jetzt wohnst, gehörte einst Sir Michael de Burgo. Er war der Grundbesitzer hier in der Gegend. (...) Er war ein Tyrann und ein Feind des Volkes. (...) aber er war siebenmal besser als der Mann, der jetzt dort ist, denn schließlich war es nicht seine eigene Klasse oder sein eigenes Fleisch, das er verschlang, so wie es Ramon Mor tut. (...) Im letzten Aufstand haben meinesgleichen und ich dann der Klasse der Grundbesitzer den Garaus gemacht, indem wir das ganze Land gegen uns aufbrachten, während Ramon Mor sich zurückhielt und abwartete, wie die Katze aus dem Sack gelassen würde, und gleichzeitig mit unserem Blut Geld machte, indem er den Soldaten, die wir bekämpften, Rationen verkaufte. Und als alles vorbei war und wir gesiegt hatten, stahl er sich in das leere Haus und nahm sich das Land, für das wir gekämpft hatten.

Ramon Mor Costello und viele seiner Mitstreiter sind durch die Zeiten, die sie selbst geschaffen haben, geschädigt, auf unterschiedliche Weise ihrer Menschlichkeit beraubt und haben den Kontakt zu sich selbst und ihren Mitmenschen verloren. (Ramon selbst leidet an den Symptomen eines Schlaganfalls, an dem er schließlich stirbt). Auf dieser metaphorischen Ebene zeigt O'Flaherty also, dass die Unabhängigkeit nicht zu einer freieren Gesellschaft geführt hat. Ja, Ramon Mor hat Geld und Macht im neuen Staat, aber selbst sein Reichtum ist heruntergekommen. Seine politische Macht dient nur dazu, seine Macht über sein Volk zu vergrößern und es unglücklich zu machen. Ihr Leben ist nicht anders als vorher, nur wenig hat sich verändert oder verbessert.

Darüber hinaus geht es um den Einfluss der katholischen Kirche, die nie weit von Ramon Mor entfernt oder unabhängig von ihm ist. Der Arzt kommentiert,

"Die Kirche ist heiliger als das Gesetz, und der Bürger hat nur wenige Rechte, wenn es um den Klerus geht."

Und Pater Considine sagt zu Costello:

"Ich war es, der Ihnen vorgeschlagen hat, in die Politik zu gehen. Ich habe Ihren Wahlkampf für Sie geplant. Ich habe Sie während der Revolution beschützt. Ich wurde sogar Ihr Komplize bei einem Mord (...) als das Schiff im Sande versank (...) haben Sie das Wrack gekauft. Es hatte eine Ladung Getreide an Bord. Sie haben das verfaulte Getreide verkauft und damit Tausende Pfund verdient. (...) Zwanzig Menschen starben im Fischerviertel. Ich habe Sie bei der Untersuchung verteidigt. Ich habe einen Meineid geleistet. Es war Meineid. Es war Mord. Mord!"

Viele der verarmten einfachen Leute, die in den Bergen leben, wandern aus. Das sind die Leute von Francis O'Neill. Er begegnet ihnen auf ihrem Weg in die Stadt, unter ihnen ein großer Mann, der alles durchschaut:

"Wer würde auf diesen Felsen bleiben, wenn nicht ein Verrückter, der für Ramon Mor Costello arbeitet? (...) Sicher können sie nirgendwo anders hin als nach Amerika. Fliehen sie nicht jeden Tag, als gäbe es eine Seuche im Land? Bald wird niemand mehr übrig sein. Und dieser Geizhals da unten, dieser Grabscher Ramon Mor, ist die Ursache dafür. Er hat das Land ruiniert. Mein Fluch über ihn."

Diese Dorfbewohner sehen die kleinen Boote von den Aran-Inseln kommen, die in den Hafen von Galway einlaufen. Das sind die Leute von Ramon Mor. Es gibt eine weitere Begegnung, diesmal zwischen Ramon und seinen eigenen Leuten. Die Parallelfigur zum großen Mann in der vorigen Szene ist Tommy Derrane, "ein in der Gegend bekannter Kerl wegen seiner seltsamen Konversation und seines verrückten Witzes. Seine wilden, unruhigen Augen, sein blasses Gesicht, sein plötzliches Grinsen, seine hochgezogenen Schultern, sein wippendes Kinn und das Zucken seiner Gliedmaßen machten ihm Angst. Er war in eine Inseltracht gekleidet. Er war groß, großknochig, hager; furchtbar vital, ein typischer Inselhewohner".

Derrane sagt: "Gott erhört die Gebete der Reichen. Alle Macht der Welt steht im Dienst des reichen Mannes. (...) Der reiche Mann macht alles zu Gold, denn er ist weise und hat kein Mitleid mit dem Hunger eines leeren Magens. Er hat kein Gewissen. Er sieht das Elend der Armen nicht, denn er hat einen magischen Schleier über seinen Augen. Er ist taub und blind wie Gott, der sowohl die Hölle als auch den Himmel geschaffen hat."

Es ist das einfache Volk, das Ramon Mor völlig durchschaut, sein Wesen versteht und weiß, dass es ihm weder vertrauen darf noch erwarten kann, besser behandelt zu werden als unter de Burgo. Derrane und der große Mann in der Szene davor stehen für das Potenzial des Volkes, Ramon zu erkennen. Beide haben Energie und Einsicht, sind unerschrocken und doch isoliert. Beide werden als Außenseiter betrachtet, und die Mehrheit der Menschen um sie herum ist Ramon untertan.

In der Stadtbevölkerung scheint es kaum vergleichbare Einsichten zu geben. Die Stadt ist verarmt, verwahrlost, die Bewohner erliegen einem Gefühl der Macht- und Hoffnungslosigkeit. Von der Energie und der Wut, die wir bei den Menschen in den ländlichen Außenposten sehen, ist nichts zu spüren. Die Figuren aus der Mittelschicht des Romans sind ineffektiv und haben oft zu viel Angst vor Ramon und seiner Macht, um entschlossen zu handeln. Diese Angst wirkt sich in einem latenten Groll aus, der jedoch nicht zur Rebellion führt.

Auf einer öffentlichen Versammlung werden die Vorschläge für Veränderungen und die Reaktionen verschiedener Personen aus der Mittelschicht vorgestellt. Der Anwalt Fitzpatrick sagt, dass die Einwohner von Barra "das Krebsgeschwür ausrotten müssen, das sich in das Herz ihres sozialen Lebens frisst". Fitzpatrick beweist hier zwar Einsicht, aber der Leser hat keine Anhaltspunkte dafür, dass diese zu etwas führen wird.

Bob Finnerty, der Gewerkschaftsorganisator, stellt sich gegen ihn und sagt: "Es sind nicht Leute wie Sie, die die Menschen von der Unterdrückung befreien werden. Es ist die Aufgabe der Arbeiterklasse ... ".

Der Arzt kommt zum Schluss, dass er "eigentlich dafür gemacht ist, ein analytisches Leben zu führen, die Realität zu akzeptieren und seine Mitmenschen zum Streben nach Schönheit zu führen, indem man sich auf die eigene Seele besinnt". Von all diesen Menschen geht wenig Hoffnung auf wirkliche Veränderungen aus. Auch die Polizei, so wird suggeriert, ist in der Hand von Ramon Mor.

Zu groß ist die kombinierte Macht von Kirche und Staat. Als der Arzt vorschlägt, eine Bibliothek einzurichten, reagieren die Einwohner:

"Wie wollt ihr eine Bibliothek haben, wenn Pater Considine kommt und die Bücher verbrennt? Nicht, dass ich eine Bibliothek wollte. Dieser Ramon Mor hat die Stadt ausgesaugt. Er hat nicht nur das Geld der Leute genommen, sondern auch ihre Herzen."

Die Herzen, die für die Unabhängigkeit kämpften, wurden von dieser unheiligen Allianz zerstört. Und weil es keine sichtbare Veränderung zur Kolonialzeit gibt, geben die Menschen die Hoffnung auf. Die Ideale von 1916, die Ideale von 1921 wurden verraten. Stattdessen ist der Freistaat zu einem neokolonialen Morast geworden, der von den Gombeen beherrscht wird, und ein System geschaffen hat, in dem sogar der Zugang zu Literatur und Ideen zensiert wird. So finden wir in The House of Gold ein komplexes soziales Panorama der irischen Gesellschaft in den ersten Jahren des irischen Freistaats mit vielen Anklängen, die bis in die heutige Zeit hineinreichen. Um aus Tomás Mac Síomóns Einleitung zu seiner Neuauflage von The House of Gold 80 Jahre nach seiner ersten und einzigen Veröffentlichung zu zitieren:

"Diese Neuauflage von The House of Gold von Nuascéalta, die erste seit 1929, sollte im heutigen Irland, in dem der Gombeen durch die Troika ersetzt wurde, besondere Resonanz finden. Ein ängstliches, unterwürfiges und verschuldetes Volk, das ausländischen Gläubigern verpflichtet ist, nimmt nun den Platz der verschuldeten Bürger des Barra von 1920 ein, die sich unter dem bedrohlichen Blick von Ramon Mor Costello beugten.

Da dieses Virus inzwischen die gesamte Welt des zeitgenössischen Kapitalismus erfasst hat, ist das Grundthema dieses außergewöhnlichen Romans wahrhaft universell. Allein schon wegen seiner meisterhaften Darstellung einer Bevölkerung, die keine wirkliche Macht, keine alternativen Führer und keinen Orientierungssinn hat, verdient Liam O'Flahertys The House of Gold einen Ehrenplatz im Weltkanon sozial engagierter Literatur."

Es ist typisch für O'Flahertys Romane dieser Zeit, dass es keinen Helden gibt, keine Person, die die Situation wirklich begreift und versucht, sie zu ändern. Die zentrale Figur ist ein Schurke. Alle anderen wichtigen Figuren gehören zur Mittelklasse und sind schwache, höchst unwahrscheinliche Anführer. Diese müssen im Volk gesucht werden - Francis O'Neills eigene Leute, die er aus den Bergen kommend trifft, und Tommy Derrane aus Aran, der Ramon Mor direkt herausfordert. Sie sind jedoch sehr marginal. Die Mehrheit der Menschen, denen wir begegnen, scheint traumatisiert durch den Verlust der Ideale einer Gesellschaft, in der "alle Kinder der Nation gleich behandelt werden", wie es in der Osterproklamation verkündet worden war.

Das Fehlen einer geeinten Kraft, die Veränderung herbeiführen könnte, bestimmt auch den Realismus von O'Flahertys Werk. Es herrscht ein Gefühl der Versteinerung. O'Flaherty hat diese Zeit in seinem Werk festgehalten wie kein zweiter.


Anmerkungen:

[1] Das Wort leitet sich vom irischen Wort "gaimbín", Wucher, ab. Der Begriff wurde auf jene Ladenbesitzer und Händler angewendet, die den (Ver-)Hungernden während der Hungersnot enorm überteuert Lebensmittel und Waren verkauften. Im Hiberno-Englischen bezeichnet man als Gombeen Geschäftsleute oder Politiker, die gnadenlos auf Kosten anderer profitieren. Durch den Hintergrund der Hungersnot ist der Begriff im Volksgedächtnis sehr pejorativ.

[2] Irischer Revolutionär und Gründungsmitglied der United Irishmen gegen die britische Kolonialherrschaft in Irland. Tone spielte 1798 eine führende Rolle im Aufstand dieser Organisation, die Protestanten und Katholiken vereinigte.

[3] Eine Auswirkung dieses Verbots ist, das keiner dieser Romane ins Deutsche übersetzt wurde.


Jenny Farrel, Galway/Irland, Literaturwissenschaftlerin i.R.

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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 1-2022, 60. Jahrgang, S. 116-122
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veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 12. März 2022

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