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OSSIETZKY/669: Der schönste Kriegsvorwand


Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft
Nr. 18 vom 3. September 2011

Der schönste Kriegsvorwand

von Ralph Hartmann


In den NATO-Stäben ist nach längerer Pause wieder einmal Siegesfreude und Selbstvertrauen eingezogen. Was in Afghanistan gegen die Taliban nach zehn Jahren noch immer nicht erreicht wurde, gelang in Libyen anscheinend nach fünf Monaten. Der Ex-Freund und neuerdings Erzfeind Muammar al-Gaddafi ist geschlagen, mit seinen Gegnern, der bunten Meute der Rebellen, hofft man sich zu einigen, und die unter dem nun gestürzten Diktator verstaatlichten Ölquellen werden bald wieder zu Profitquellen der Erdölräuber werden. Und das Besondere ist: Die Welt hat, abgesehen von Vermittlungsversuchen Südafrikas im Namen der Afrikanischen Union und Venezuelas, mehr oder weniger froschblütig zugeschaut - die Russen, die Chinesen, die UNO, die Arabische Liga und letztlich auch die Union afrikanischer Staaten. Im Unterschied zu den Aggressionen gegen Vietnam, Jugoslawien, Irak und Afghanistan hat es keine breite internationale Protestbewegung gegen den von außen entfachten Bürgerkrieg, die brutale völkerrechtwidrige Einmischung in die inneren Angelegenheiten Libyens und den verbrecherischen Krieg gegen das nordafrikanische Land gegeben.

Den Zweck der militärischen Intervention benannte die NATO harmlos, menschenfreundlich: "no-flight zone", "Flugverbotszone zum Schutz der Zivilbevölkerung" vor den angeblich mörderischen Terrorangriffen der Luftwaffe Gaddafis gegen das aufbegehrende eigene Volk. Bald war es geschafft: Die übermächtigen Luftstreitkräfte der NATO errangen die Luftherrschaft und schossen den Aufständischen mit mehr als 20.000 Einsätzen den Weg nach Tripolis frei. Die Zahl der Opfer unter den Armeeangehörigen und der Zivilbevölkerung wird geheimgehalten, das Ausmaß der Zerstörungen aber ist so gewaltig, daß sich selbst die deutsche Bundesregierung bereit erklärte, beim "Wiederaufbau des Landes" zu helfen, natürlich mit dem Geld aus den Auslandsguthaben des überfallenen Staates. Wie nobel!

Die Geschichte kennt unendlich viele Vorwände, mit denen Kriege begonnen wurden. Keiner klang so selbstlos, human, ja philanthropisch wie dieser: Man müsse aufständische Revolutionäre vor dem barbarischen Wüten eines Unholdes und seiner Bluthunde schützen. Wie schwach wirken dagegen die in früheren Zeiten ersonnenen Scheingründe für militärischen Massenmord.

So hat beispielsweise der Raub der schönen Helena, Ehefrau des Königs von Sparta, durch den Prinzen von Troja angeblich zum Trojanischen Krieg geführt, aber die kriegerische Auseinandersetzung zwischen den beiden damaligen Machtzentren war seit langem vorbereitet worden. Fast drei Jahrtausende später war der "Prager Fenstersturz" - böhmisch-protestantische Adlige hatten zwei verhaßte Statthalter des katholischen Kaisers aus einem Fenster der Prager Burg geworfen - angeblich der Grund, in Wahrheit aber allenfalls der Auslöser des Dreißigjährigen Krieges, der, religiös verbrämt, um die Vormacht in Deutschland und Europa geführt wurde.

Besonders reich an Kriegsvorwänden war das zurückliegende Jahrhundert wie auch das erste Jahrzehnt des neuen. Glaubte man den Kriegstreibern und -lügnern, dann spielte sich die Geschichte so ab: In Sarajewo ermordeten die bösen Serben 1914 den österreichisch-ungarischen Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand sowie dessen Gemahlin und weigerten sich danach stur, ein Ultimatum zu akzeptieren. Der erste Weltkrieg wurde unvermeidlich. Der zweite begann, als polnische Soldaten 1939 den deutschen Sender Gleiwitz heimtückisch überfielen und das Deutsche Reich unter Reichskanzler Hitler ab 5 Uhr 45 zurückschießen mußte. Die USA sahen sich im August 1964 wider bester Friedensabsicht gezwungen, Vietnam mit Krieg zu überziehen, als vietnamesische Schnellbote in der Bucht von Tonkin die US-Navy angriffen. Als die Mörderbande des "Schlächters des Balkans", Slobodan Milosevic, 1999 im Dorfe Racak im Kosovo Dutzende von friedlichen Zivilisten umbrachte, mußte die NATO einen vernichtenden Luftkrieg gegen Jugoslawien beginnen. In einer ähnlichen Zwangslage befanden sich die USA 2003, nachdem sie aus zuverlässigen Quellen erfahren hatten, daß der irakische Diktator Saddam Hussein Massenvernichtungsmittel angehäuft hatte und damit nicht nur seine Nachbarn, sondern die ganze Welt bedrohte. Wie riesengroß die Gefahr aus dieser vom Islam beherrschten Region war, zeigte sich spätestens am 11. September 2001, als es Osama bin Laden innerhalb weniger Stunden unter höchst mysteriösen, bis heute nicht aufgeklärten Umständen gelang, gleichzeitig vier Passagierflugzeuge in seine Gewalt zu bringen, Symbole der Weltmacht USA zu zerstören und Tausende ihrer Bürger zu ermorden. Der "Krieg gegen den Terror" war unvermeidlich und Afghanistan zwangsläufig sein erstes Opfer.

Jeder Aggressionskrieg der USA und ihrer NATO-Alliierten löste Massenproteste unterschiedlicher Stärke und Dauer aus. Im Falle des Überfalls auf Libyen, der Terrorangriffe und gezielten Luftschläge auf militärische Stellungen, auf Regierungs- und Verwaltungszentren sowie auf die Infrastruktur und Wohngebiete blieben sie aus. Das Zauberwort "Flugverbotszone zum Schutz der Zivilbevölkerung" verfehlte seine Wirkung nicht, und wie sollten Kriegsgegner in Massen auf die Straße gehen, wenn die NATO gegen einen brutalen Selbstherrscher vorging und den Aufstand gegen ihn mit modernster Kriegstechnik unterstützte, wenn also das Kriegsbündnis zum Geburtshelfer der Revolution wurde?

So ging der Krieg von Protesten weitgehend ungestört über die Runden und führte zum verdienten Sieg, von dem man allerdings noch nicht weiß, ob es nicht einer von der Pyrrhus-Sorte ist; zu unterschiedlich und undurchschaubar sind die Führungsfiguren, Gruppen und Stämme der siegreichen Revolution. Aber insgesamt war es ein fabelhafter Krieg und Sieg. Schade bloß, daß die deutsche Bundesrepublik aus wahltaktischen Überlegungen nur geheimdienstlich, propagandistisch, waffentechnisch, finanziell beteiligt war und bei der Zielplanung mitwirken konnte.

Aber das nächste Mal kann es besser werden. Das Flugverbotszonen-Prinzip hat sich prächtig bewährt. Mit ein wenig Glück und etwas Geschick läßt es sich auch anderswo anwenden - selbstverständlich nur, wenn es die Gebote der Menschlichkeit und der Schutz der Menschenrechte erfordern, beispielsweise gegen Nordkorea, Syrien, Iran, Kuba, Venezuela, Bolivien und überall da, wo befreundete Revolutionäre der Hilfe bedürfen. Warten wir es ab, was heute noch undenkbar scheint, kann morgen schon schönste Realität sein. Siehe Libyen!


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Quelle:
Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft
Vierzehnter Jahrgang, Nr. 18 vom 3. September 2011, Seite 671-673
Herausgeber: Dr. Rolf Gössner, Ulla Jelpke, Prof. Arno Klönne,
Otto Köhler, Eckart Spoo
Redaktion: Eckart Spoo (verantw.)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. September 2011