Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

ROTFUCHS/097: Tribüne für Kommunisten und Sozialisten Nr. 143 - Dezember 2009


ROTFUCHS

Tribüne für Kommunisten und Sozialisten in Deutschland

12. Jahrgang, Nr. 143, Dezember 2009



Inhalt
2009 - ein tolles Jahr!
Die Gretchenfrage
Kalter Krieg gegen das Gedächtnis
Goebbels stünde Pate
Peter Lorf: Kein Alibi-Zeuge
Was man den Linken nicht in die Schuhe schieben kann
"Heimatschutz" nach USA-Muster
Die mit der Brandfackel kamen ...
Spezialist für Völkerrechtsbruch: Hans-Dietrich Genscher
Guido Westerwelle: "Ich muß es richten"
Ernst Thälmann, wie er nicht war
Zur Denkmalspolitik schwarz-gelber Stadtoberer in Plauen
Hans Paasches Afrikaner-Briefe
Nur ein Lapsus?
Präsidialamt geht auf Distanz
Vom Anarcho-Syndikalisten zum disziplinierten "Parteisoldaten"
Das große Poststerben
Ein letztes Halali
Böse Überraschung
Eingebildete Trendwende
RF-Extra Für unsere und eure Freiheit!
RF-Extra Das Prager-Haus
Kuba: Internationalisten der Sonderklasse
VDRJ: Belastende Stammesfehden
Heldenepos des Partisanenkampfes: Soja Kosmodemjanskaja
Irak: Abschiedskuß für einen Hund
Kinderraub in Franco-Spanien
Merkels Nahostpolitik: Einseitig, US-hörig, ignorant
Was geschah 1956 in Poznán?
Schrille Töne aus Budapest
Schiller wäre entsetzt geflohen
Klassenkämpfer mit der Feder: Jan Koplowitz
Alfred Wellm: Ein Stiller, dessen Bücher bleiben
Die Botschaft der Manuela Ballester
Archie: Die Story vom qualmenden Opel
Leserbriefe
Grafik des Monats

Raute

Am Scheideweg

Über fünf Millionen Stimmen für die Linkspartei waren ein echter Paukenschlag. Zum ersten Mal in der Geschichte der BRD ist eine linke, antifaschistisch-demokratische Partei mit einem solchen Wählerrückhalt in den Bundestag eingezogen. Das ist ein Grund zu Freude und Genugtuung, nicht aber zu Selbstzufriedenheit oder gar zum Abdriften in das seichte Gewässer politischer Beliebigkeit.

Man erinnert sich noch an die tristen Zeiten unter Schröder, als lediglich zwei "fraktionslose" PDS-Abgeordnete - darunter die beherzte Gesine Lötzsch - auf einer "Strafbank" im Bundestag saßen. Oder - um auch ein negatives Beispiel zu nennen - an jene schmachvolle Szene, als sich Roland Claus ausgerechnet bei einem Kriegsverbrecher aus Texas für das von mutigen Abgeordneten seiner eigenen Fraktion im Plenarsaal emporgehaltene Transparent "No more wars, Mr. Bush!" entschuldigte.

Vor genau 20 Jahren trat in der Berliner Dynamohalle der sogenannte SED-Sonderparteitag zusammen, wo dramatische Weichenstellungen erfolgten. Dort wurde die SED-PDS ausgerufen. Das Ergebnis der Beratungen war indes nicht das Gelbe vom Ei. Es warf Licht und Schatten. Ich selbst habe als einer der ND-Berichterstatter an dem zwiespältigen Ereignis teilgenommen. Während Altes und Verkrustetes mit einem großen Besen hinweggefegt werden sollte, erfaßte das grobe Gerät außer Ballast leider auch ganz wesentliche Teile der Substanz einer revolutionären Klassenpartei. Kurzerhand entsorgte man Lenin, den man wenig später als "Erfinder Stalins" etikettierte. Aus alter Gewohnheit hielt man vorerst noch an den beiden anderen Klassikern fest. Indes wurde der Erzrevisionist Eduard Bernstein bereits unter die Vorväter der neuen Partei eingereiht, die - auf Vorschlag Gregor Gysis - den Bernstein und dem Godesberger Programm der SPD entlehnten Namen Partei des demokratischen Sozialismus tragen sollte. Während Wolkenkuckucksheime bauende junge Trotzkisten an den Türen der Halle ihre Zeitung "Spartakist" mit der atemberaubenden Schlagzeile "Für ein rotes Sowjetdeutschland in einem roten Sowjeteuropa!" verkauften, hielten drinnen Bald-Aussteiger wie Berghofer salbungsvolle Reden über "Erneuerung". Gysi machte vor, wie man Konsequenz durch Eloquenz ersetzt.

20 Jahre danach kann man es als gesicherte Erkenntnis betrachten, daß im Zeichen des proklamierten "Bruchs mit dem Stalinismus" in Wirklichkeit mit dem Marxismus-Leninismus gebrochen wurde. Den Regisseuren des Sonderparteitags ging es darum, die weltanschaulichen Grundlagen von DDR und SED, welche nun verteufelt wurden, zu zerschlagen. Deshalb sprachen nicht wenige Genossen von einem Parteiputsch. Unter dem Vorwand des "Aufbrechens überlebter Strukturen" und bei Einführung eines brandneuen Pluralismus wollte man dem bewahrenswerten Erbe der im April 1946 formierten und jahrzehntelang erfolgreichen SED den Garaus machen. "Die DDR ist verdientermaßen zugrunde gegangen, es ist nicht schade um sie", erklärte später ein PDS-Spitzenpolitiker.

Oft wird gesagt, durch die Akteure in der Dynamohalle sei die bereits im freien Fall befindliche Partei aufgefangen und gerettet worden. Jene, welche das ZK der SED gestürzt und selbst das Ruder übernommen hatten, seien so zu Bewahrern der sozialistischen Bewegung in Deutschland geworden. Das trifft nur in formeller Hinsicht zu. Inhaltlich erfolgte ein Wertetausch. Obwohl viele Genossen der Linkspartei dem Marxismus bis heute die Treue bewahren oder zumindest an Grundpositionen festhalten, ist an die Stelle der marxistisch-leninistischen SED inzwischen eine Partei getreten, deren Führung mehrheitlich auf Vorstellungen der Godesberger SPD-Linie Kurs nimmt. Diese Tendenz wird sich durch die gemeinsame Oppositionsrolle beider Parteien sicher noch stärker ausprägen. Nicht zufällig deutete Gysi bereits am Abend des Wahltages an, er wünsche sich eine SPD, "die wenigstens wieder sozialdemokratisch" ist.

Nach den Bundestags- und Landtagswahlen ist in der BRD eine neue Kräftekonstellation entstanden. Der schwarz-gelbe Block aus rechtskonservativen Politikern im Dienste des Kapitals dürfte für längere Zeit das Zepter schwingen. Die SPD und mit ihr die Gewerkschaften sind von den Koalitionsfesseln, die sie sich selbst angelegt hatten, befreit worden. Das könnte sich positiv auswirken.

Und was die Linkspartei betrifft, so steht sie an einem Scheideweg: Entweder rechtfertigt sie das Vertrauen ihrer über fünf Millionen Wähler und stellt den Kragen für eine geharnischte Systemopposition hoch - oder sie knickt ein und mauschelt mit der geprügelten und sich daher wieder "sozialdemokratischer" gebenden SPD. Das würde die Linke strategisch entwaffnen und ihre gewachsenen Möglichkeiten rasch wieder schrumpfen lassen. Wir drücken den PDL-Wählern beide Daumen, daß ihre großen Hoffnungen nicht enttäuscht werden.

Klaus Steiniger

Raute

Worüber ein "alter Ossi" ins Grübeln kommt

2009 - ein tolles Jahr!

2009 war einfach ein tolles Jahr! Wir erlebten 60 Jahre BRD, 60 Jahre NATO, 20 Jahre "Mauerfall", drei Landtagswahlen und dann auch noch das Großereignis der Wahlen zum Deutschen Bundestag.

Alte "Ossis" - Rentner wie ich - haben dazu so manches in petto, was einfach unbezahlbar ist. Immerhin kennen wir nicht nur die Theorie fürs mögliche bessere Morgen, sondern dummerweise auch noch die Praxis des ersten Anlaufs, es zum Heute zu machen. Wir wissen also recht gut, was war, was in Zukunft möglich ist und was beim nächsten Mal besser gemacht werden soll. Außerdem sind wir kaum noch irgendwelchen Zwängen unterworfen, wie sie sonst aus Angst um den Arbeitsplatz, vor der Kürzung von Hartz IV oder der Streichung einer Kurzarbeiterstelle recht nachhaltig in den Alltag vieler hineinwirken. Uns kann da kaum noch etwas passieren, denn wir sind ja schon "entlassen", und unsere "Mindestlöhne Ost" in Form geringerer Renten als im Westen beziehen wir ohnehin. Und schließlich will ich nicht verhehlen, daß meine Generation ohne alle Werbung und Reklame unaufhörlich wächst. Insbesondere der Osten wird ganz offiziell zum "Altersruheland" ausgebaut.

So darf ich doch ungehindert grübeln und einfach Fragen stellen. Zum Beispiel diese:

Erstens sollten wir "60 Jahre BRD" feierlich begehen. Warum eigentlich? Abgesehen davon, daß ich das als erst 19 Jahre "Einverleibter" gar nicht kann, frage ich mich mit Blick zurück auf diese sechs Jahrzehnte, was es da eigentlich zu feiern gibt. Als einstiger DDR-Bürger läßt mich angesichts all der Steine, die man uns von Anbeginn in den Weg legte, mein Erinnerungsvermögen in bezug auf die "guten Seiten der BRD" einfach im Stich.

Zweitens sollten wir "20 Jahre Mauerfall" als "Fest der Einheit" begehen. Ja, aber was ist denn nach 19 Jahren Annexion in Deutschland tatsächlich einheitlich? Weder Löhne noch Renten, weder Bildung noch die Zahl an Arbeitsplätzen, weder Denken noch Wollen!

Für mich ist zudem unbegreiflich, daß 1989 eine "friedliche Revolution" stattgefunden haben soll. Die damals demonstrierten, wollten doch lediglich eine bessere DDR, in der Volkes Wille tatsächlich entscheidendes Gewicht besitzt. Deshalb wurde auch ihre Losung "Wir sind das Volk!" durch Konterrevolutionäre aus dem Westen sehr schnell in einem völlig entgegengesetzten Sinne umgeschrieben. "Wir sind ein Volk!" hieß es über Nacht.

Drittens will man uns glauben machen, wir wären in einer Diktatur großgeworden, hätten von früh bis spät gelitten und turmhohe Schuld auf uns geladen. Ja, unsere "Diktatur" sei sogar noch weit schlimmer als die der Faschisten gewesen.

Nehmen wir dieses Geschwafel mal kurz auseinander: Ja, wir hatten eine Diktatur des Proletariats - die politische Herrschaft der Arbeiterklasse und der übrigen Werktätigen, zu der wir uns offen bekannten. Hätten wir ohne sie die Faschisten und deren kapitalistische Züchter enteignen und unser Volkseigentum schaffen können? Hätten wir etwa das, was wir unter widrigsten äußeren Umständen und haßerfüllten Angriffen des Gegners aufgebaut haben, ohne die proletarische Macht erreicht? Doch unsere Schmäher haben ja recht: Eines an unserer Diktatur war in der Tat für sie weitaus schlimmer als in allen vorangegangenen und gegenwärtigen Diktaturen: Sie hat jenen Profite, Reichtum und Macht genommen, welche in der BRD immer noch und schon wieder das Sagen haben! Dafür gibt es kein Pardon! Denn der Faschismus wurde ja nur deshalb ans Ruder gebracht, um der alten Kapital-Elite das noch lukrativere Weiterbestehen zu ermöglichen.

Nur so wird verständlich, warum die "erste" Diktatur nach Auffassung bestimmter Leute bei weitem nicht so schlimm gewesen ist wie die "zweite".

Viertens gehört es ja zum allerschlimmsten, daß uns nach wie vor die "Ostalgie" plagt. Ganz besonders wurmt es die heute Machtausübenden, daß es ihnen nicht gelungen ist, die Mehrheit der früheren DDR-Bürger davon fernzuhalten und die Jugend gänzlich von ihr abzuschirmen.

An der Spitze aller Mühen stehen seit zwei Jahrzehnten gewisse Pastoren wie Eppelmann, Gauck, Hintze, Eggert u. a. sowie deren gutbezahlte Paladine. Offensichtlich wollen manche endlich auch ihre eigene Inquisition betreiben, denn auf diesem Gebiet war die Kirche ja bekanntlich Spitze. Die Katechetin Birthler und der Superhistoriker Knabe geben hier ein leuchtendes Beispiel. Sie sollten allerdings an die Worte von Thomas Bernhard aus dem Jahre 1982 denken: "Die Großväter sind die Lehrer, die eigentlichen Philosophen jedes Menschen, sie reißen immer den Vorhang auf, den die anderen fortwährend zuziehen."

Fünftens schließlich denke ich über die Frage nach, wie es denn nun nach 60 bzw. 20 Jahren weitergehen soll. Jubiläen sind doch keine Dauerbrenner. Wer zahlt eigentlich die Schulden und den Preis für großzügig vertane Steuergelder? Was wird mit Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit? Welche neuen Lügen wird uns die Statistik auftischen? Welche Krise kommt als nächste? Und benennen sie dann als deren Ursachen wieder die "Gier der Manager" und nicht das kapitalistische System? Nicht zuletzt: Wieviel Kriege wollen USA, BRD und NATO noch im Namen der "Freiheit" führen?

Eigentlich kommt man aus dem Grübeln gar nicht heraus. So viele Ängste, Ungewißheiten und wachsende Not, so viel Lügen und Verdrehungen der Geschichte, so viel Selbstbedienung jener, welche in Wirtschaft und Politik das Sagen haben, aber auch so wenig Aufbegehren und Protest, so wenig Aktion für echten Fortschritt, so wenig Achtung vor der Wahrheit und der Lebensleistung von Millionen waren noch nie zu beobachten.

Schon im 16. Jahrhundert schrieb der britische Staatsmann und utopische Kommunist Thomas Morus: "Wo es noch Privatbesitz gibt, wo alle Menschen alle Werte am Maßstab des Geldes messen, da wird es kaum jemals möglich sein, eine gerechte und glückliche Politik zu treiben."

Das ist bis heute so geblieben.

Generalmajor a. D.
Heinz-Joachim Calvelage, Delitzsch

Raute

"Resozialdemokratisierung" der SPD oder Rechtsdrift der PDL?

Die Gretchenfrage

Daß im Ergebnis des "Urnengangs" vom 27. September eine schwarz-gelbe, also bürgerliche Mehrheit die Regierungsgeschäfte übernehmen würde, war vorauszusehen. Daß die einstige FDJ-Funktionärin für Agitation und Propaganda Angela Merkel neuerlich deren Chefin sein werde, bedurfte auch keines prophetischen Talents. Insofern mußte mit Überraschungen kaum gerechnet werden. Sie traten dennoch ein.

Gregor Gysi, wirksame "Sprachwaffe" seiner durch ihr respektables Wahlergebnis gestärkten Partei, verdeutlichte das auf originelle, sozusagen kesse Weise, indem er der von den Wählern mit einem Laufpaß versehenen SPD "empfahl", sich einer "Re-Sozialdemokratisierung" zu unterziehen, um nicht weiter nur als "zweite CDU" wahrgenommen zu werden und so den Marsch in die Bedeutungslosigkeit fortzusetzen. Manche empfanden solche Belehrung als süffisant - angebracht war sie allemal. Nicht nur weil der, von dem sie ausgesprochen wurde, als Experte in dieser Frage gelten kann. Denn immerhin unterzog Gysi im Verein mit seinen Gesinnungsfreunden in den zurückliegenden zwei Jahrzehnten ja die eigene Partei SED-PDS/PDS/Die Linke einem Sozialdemokratisierungsprozeß, durch den sie sich aus einer antikapitalistischen Kraft in eine nur noch "systemkritische" Formation verwandelte.

Doch so zutreffend die Gysische Warnung an die SPD auch ist - sie würde, falls von der Adressatin begriffen und umgesetzt, unvermeidlich zu folgendem Ergebnis führen: Mit ihrer Re-Sozialdemokratisierung entstünde in Gestalt der SPD eine nicht nur dem Namen nach tatsächlich sozialdemokratische Partei, sondern damit - neben der PDL - eine zweite gleichartigen Charakters. Worauf das Ganze hinauslaufen würde und wohl auch soll, wurde vor geraumer Zeit bereits durch die Gebrüder Brie als "Vordenker"-Gespann deutlich gemacht: Als Endergebnis einer politischen Umwandlung der einstigen SED/PDS in eine sozialdemokratisch gezähmte politische Gruppierung sollte "die Rückkehr in die Mutterpartei" - also in die SPD heutigen Musters - diesen Prozeß krönen. Anders gesagt: Kurs genommen werden sollte auf einen zweiten ("Zwangs?"-)Vereinigungsparteitag, bloß unter umgekehrtem Vorzeichen.

Das schnelle Echo aus dem Willy-Brandt-Haus auf die Gysi-Offerte war so überraschend wie zugleich, sozialdemokratischem Naturell gemäß, zwiespältig.

Zum einen - da deutete sich Realitätssinn an - ließen die blaßrosa Genossen verlauten, daß sie von ihrem jahrzehntelang als Ignorierung und dann Tabuisierung praktizierten politischen Starrsinn gegenüber der heute als "Die Linke" agierenden politischen Konkurrentin abzulassen gedenken und sich nunmehr gegenüber der PDL als möglichem künftigem Koalitionspartner "öffnen".

Mit den dafür an die PDL adressierten "Bedingungen" versuchen sie indes den Spieß umzudrehen, der ihnen durch die Gysi-Empfehlung auf die Brust gesetzt wurde. Dabei geht es nicht etwa nur um Korrekturen taktischer Natur, sondern um zwei politische Grundorientierungen. In einer Resolution des Berliner SPDLandesvorstandes werden diese benannt. "Die Linke" müsse, wenn sie nicht bloß als Koalitionsgehilfe der SPD auf Landesebene (wie in Berlin) akzeptiert werden, sondern "Regierungsfähigkeit" im Bundesmaßstab erlangen wolle, zweierlei tun: Erstens "außenpolitische Verläßlichkeit" garantieren und zweitens sich "ökonomischer Rationalität" befleißigen. Hinter diesen Versatzstücken geschickter Formulierungskunst steht folgendes Ultimatum:

Um als außenpolitisch verläßlich zu gelten, habe sich die PDL von ihrem antimilitaristischen Grundkonsens - und damit einem ihrer wichtigsten Vorzüge - zu verabschieden. Ins gemeinsame Regierungsbett zur SPD könne "Die Linke" nur dann steigen, wenn sie ihre pazifistische Jungfernschaft opfere. Sie müsse sich also aus einer konsequenten Friedenspartei in eine Partei verwandeln, die Interventionskriege akzeptiert, wie sie gestern gegen Jugoslawien und im Kosovo geführt, derzeit noch immer in Irak und Afghanistan praktiziert, morgen - vielleicht - gegen Iran in Szene gesetzt werden.

Was sich hinter dem SPD-Verlangen nach "ökonomischer Rationalität" verbirgt, ist nicht weniger als die Zumutung, sich wie eine Partei des neoliberalen Marktradikalismus zu verhalten, also den Bedürfnissen der Profitgesellschaft gemäß, in der die Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums von unten nach oben Grundprinzip ist.

Zusammengefaßt: Während Gysis Verlangen nach einer "Re-Sozialdemokratisierung" der SPD darauf abzielt, daß sich diese Partei nach links bewegt (was für die politische Kultur in Deutschland unzweifelhaft wünschenswert wäre), laufen die von SPD-Seite an die PDL gerichteten Forderungen darauf hinaus, daß diese künftig nach rechts schwenkt und so zum geeigneten Partner der Sozialdemokratie in deren jetzigem Zustand wird. Damit würde sie sich überflüssig machen.

Im Hinblick auf die Entwicklung, durch die aus den Vorgängern SED/PDS-WASG schließlich "Die Linke" wurde, wie wegen des noch immer beträchtlichen Anteils von Sozialisten/Kommunisten mit DDR-Biographie, die ihr als Mitglieder oder Wähler politisches Gewicht verschaffen, könnte man schlußfolgern, daß die der PDL von der SPD angetragenen Zumutungen keine Chance haben, angenommen und umgesetzt zu werden.

Doch da ist von vorschnellem Urteil abzuraten! Selbst wenn es sich als äußerst schwierig erweisen dürfte und die PDL an einer solchen Zerreißprobe sogar zerbrechen könnte - gänzlich auszuschließen ist nicht, daß schließlich doch der Versuch unternommen wird, beiden sozialdemokratischen Forderungen zu entsprechen.

Ohne Ärger und heftige Auseinandersetzungen mit der PDL-Mitgliedschaft ginge das sicher nicht ab.

Aber es gibt in der Linkspartei einflußreiche Kräfte, die sich künftiger Regierungsteilhabe wegen nicht lange zieren dürften, ihrer Partei ein grundsätzlich anderes politisches Profil zu verleihen. Sie finden sich konzentriert in der neugewählten PDL-Bundestagsfraktion. Der Namensliste ihrer 76 in den 17. Deutschen Bundestag eingezogenen Abgeordneten ist zu entnehmen, daß deren überwiegende Mehrheit - darunter viele professionelle Funktionäre - antikommunistische und von bornierter DDR-Feindschaft geprägte Positionen vertritt. Nur eine Minderheit der PDL-Parlamentarier hat noch mit Antikapitalismus und Sozialismus etwas am Hut. Man müßte schon ziemlich naiv sein, wollte man annehmen, daß von diesem politischen Personal der jetzt dringend nötige "linke Druck" auf die PDL ausgehen werde. Statt dessen ist mit der Geneigtheit solcher Leute zu rechnen, den SPD-Vorgaben irgendwie (und jedenfalls vor 2013, dem nächsten Bundestags-Wahljahr) entgegenzukommen. Ganz neu wäre solche Tendenz übrigens nicht. Man erinnere sich an einen Vorgang, dem mehr als bloße Symbolkraft innewohnt: Auf dem Münsteraner PDS-Parteitag vermochte die Delegierte Sylvia-Yvonne Kaufmann mit einer emotionalen Rede den von der PDS-Spitze (Bisky und Gysi) unternommenen Versuch zu vereiteln, die Partei auf eine Zustimmung zu UN-mandatierten Militäraktionen festzulegen und damit den Einstieg in eine Akzeptanz solcher Gewaltanwendung als Mittel der Politik zu sanktionieren. Danach rückte sie jedoch mehr und mehr von ihrer pazifistischen Position ab, wurde schließlich als Europa-Abgeordnete zur Befürworterin der im Lissabonner Europavertrag vorgesehenen Militarisierungsklauseln - und wechselte dann sogar von der PDLin die kriegführende SPD-Fraktion über. War sie damit vielleicht nur etwas zu voreilig, bloß "erste Schwalbe" gewesen? Die zukünftige Entwicklung wird die Antwort auf diese Frage liefern. Man darf gespannt sein.

Wolfgang Clausner

Raute

Ein ND-Artikel, der positive Maßstäbe setzte
Kalter Krieg gegen das Gedächtnis

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

Raute

Der Tiefpunkt der Hetze hat den Höhepunkt erreicht

Goebbels stünde Pate

Der ideologische Vernichtungsfeldzug gegen den seit nunmehr 20 Jahren nicht mehr bestehenden ersten deutschen Arbeiter-und-Bauern-Staat erreichte in den Monaten Oktober und November seinen bisherigen Höhepunkt. Da wurden wieder die "Frau vom Checkpoint Charlie" und andere filmisch verarbeitete Fluchtgeschichten aus der DDR ausgekramt und aufgewärmt. Die Medien überschlugen sich mit Berichten einstiger DDR-Bürger, die 1989 unter Zurücklassung von Hab und Gut in die große "Freiheit" getürmt waren, nachdem sie zuvor wochenlang die westdeutsche Botschaft in Prag belagert hatten. Keine einzige dieser in Goebbels-Manier aufgepeppten Gruselgeschichten aus dem "Reich des Schreckens" beschäftigte sich allerdings mit jenen Kindern, welche durch ihre "nach Freiheit dürstenden" Eltern ohne Skrupel im Stich gelassen worden waren, als diese sich aus dem Staub machten. Kein einziger Fernsehsender der BRD hat bis heute nach ihnen gesucht und sie befragt, wie sie sich fühlten, als man sie einfach dem Roten Kreuz überantwortete.

Statt dessen werden alljährlich im Oktober die ehemaligen DDR-Bürger wie deren westdeutsche Brüder und Schwestern mit einem ideologischen Trommelfeuer ohnegleichen überschüttet. Und das alles richtet sich gegen einen Staat, den es gar nicht mehr gibt! Aber wer heute nicht dazu bereit ist, die DDR in Bausch und Bogen zu verdammen und sie statt dessen in guter Erinnerung behalten möchte, wird als "Ewiggestriger" und unbelehrbarer Betonkopf verspottet und diffamiert. Man behandelt ihn wie eine Art Aussatz.

Uns, die wir diesen Staat DDR noch immer als unsere eigentliche Heimat betrachten, will man partout einreden, wir hätten fast 45 Jahre lang ein unwertes Leben geführt und sollten gefälligst im Land der Hundts und zu Guttenbergs "ankommen"! In Wirklichkeit meinen sie aber, Millionen frühere DDR-Bürger sollten sich endlich weltanschaulich neu ausrichten, zur "sozialen Marktwirtschaft" bekennen und diesen Sumpf aus Korruption, Borniertheit, dumpfem Antikommunismus und schamloser Ausbeutung als paradiesische Landschaft empfinden.

Da wir aber zutiefst davon überzeugt sind, daß es für uns keinen gemeinsamen Nenner mit der Klasse der Banker und Wirtschaftsbosse oder deren politischen Aushängeschildern geben kann, stellt sich die Frage, wie wir da jemals ankommen sollten. Alle Versuche, uns alljährlich zur gleichen Zeit einmal mehr vom Glanz des Kapitalismus zu überzeugen, sind vergebliche Mühen!

Daß unser Standpunkt richtig ist, zeigen die jüngsten Wahlen. Insbesondere in Thüringen, wo der Wille von 27,3 % der Wähler der Linkspartei knallhart ignoriert wurde und die SPD einmal mehr in das Boot der CDU gestiegen ist, wird die westliche "Demokratie" besonders sichtbar.

Am politischen Standpunkt nach wie vor vom Sozialismus überzeugter Menschen werden auch weitere 20 Folgen der "Frau vom Checkpoint Charlie" nichts ändern können. Denn unsere Geschichte begann am 7. Oktober 1949 und nicht erst im November 1989, wie uns das die Haßprediger im Dienste des bundesdeutschen Kapitals einreden wollen.

Kein DDR-Bürger muß sich für seine Lebensleistung bei irgend jemandem entschuldigen. Im Gegenteil, wir alle sollten stolz darauf sein, in einem Land gelebt zu haben, in dem Menschlichkeit und Friedenswille an erster Stelle standen. Auch 2009 haben wir uns den Verleumdern entgegengestellt, um ihnen laut und deutlich zu sagen: "Ihr könnt diese Zeit niemals auslöschen!"

Hans-Peter Ackermann,
Oberviechtach/Bayern

Raute

DDR-Botschafter a. D. Peter Lorf an den MDR

"Ich bin nicht Ihr Alibi-Zeuge"

Der MDR hatte dieser Tage bei mir angefragt, um mich zum Treffen Stoph - Brandt in Erfurt zu interviewen. Ich hatte noch vor Augen, was Genosse Mies zu einer ähnlichen Thematik sagte und schrieb also das folgende:

Guten Tag,
Sie irren sich nicht. Ich bin in der Tat der Mann, den Sie suchen. Ich war Pressechef des DDR-Außenministeriums und war in Kassel und Erfurt für die Öffentlichkeitsarbeit der DDR-Seite verantwortlich, einschließlich der Sicherung der freien Berichterstattung durch die Medien.

Sie irren sich allerdings, wenn Sie annehmen, daß ich Ihnen für Ihre Sendung zur Verfügung stehen würde. Ich habe so manche Übertragung des MDR gesehen, die sich mit der DDR beschäftigte und bin daher sicher, daß eine einigermaßen ausgewogene Berichterstattung nicht zu erwarten ist. Rechnen Sie also nicht damit, in mir einen "Zeitzeugen" zu finden, der Ihnen als Alibi für "Objektivität" dienen und damit Ihre Sendung aufwerten kann. Ich habe mehr als einmal gesehen, was für eine bedauernswerte Rolle diese "Zeitzeugen" spielen dürfen, wenn sie zu Zeiten der DDR auf der richtigen - heute der falschen - Seite gestanden haben.

Mit freundlichen Grüßen

Peter Lorf

Raute

Was man den Linken nicht in die Schuhe schieben kann

Blättern in der Vergangenheit

Keiner von jenen, welche aus der DDR in den goldenen Westen "flüchten" mußten, gehöre ich zu den Millionen, die in der DDR geblieben sind. 1932 geboren, hatte ich in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg und in der DDR bis 1989 hinreichend Gelegenheit, nationale und internationale Politik zu verfolgen, zu beurteilen und daraus zu lernen. Dabei verglich ich gern die Gegenwart mit der Historie, etwa unter jenem Gesichtspunkt, welchen der Franzose André Malraux so formulierte: "Wer in der Zukunft lesen will, muß in der Vergangenheit blättern."

Angesichts der Lawine an Verleumdungen, Lügen, Fehldeutungen und Auslassungen zu der vor 20 Jahren auf der Strecke gebliebenen DDR stellt sich mir heute die Frage, warum diese fanatischen "Geschichtsaufarbeiter" eigentlich nicht 20 Jahre nach 1945 eine zumindest ähnlich aufwendige Propagandaschlacht zum Thema Faschismus geführt haben. Die einzige Erklärung dürfte darin zu suchen sein, daß der Kapitalismus mit der faschistischen Vergangenheit durchaus leben kann, sonst würden seine Ideologen nicht vom "Kriegsende", sondern von der Befreiung des deutschen Volkes reden, und der 8. Mai wäre ein Nationalfeiertag.

Parallel zur DDR-Anschwärzung führt die bürgerliche "politische Elite" der BRD ihren Krieg gegen alles, was irgendwie links ist. Im Wahlkampf hat sie der Partei Die Linke jede positive Absicht bestritten und den Abstimmungswilligen mit "furchtbaren sozialistischen Zuständen" gedroht, sollte die PDL nach dem 27. September etwas zu sagen haben. Ich bin mir sicher, daß diese Partei derzeit politisch so zahm und (grund)gesetzestreu ist, daß sie keinerlei Gefahr für die kapitalistische Gesellschaft darstellt. Aber der Schock sitzt in den Seelen der Antikommunisten tief, mußten sie doch erleben, daß Sozialisten und Kommunisten in nur 40 Jahren DDR unter denkbar schwierigsten Startbedingungen, mit tausend Problemen ringend und trotz ständiger Angriffe von außen einen international geachteten Staat aufbauten, in dem alle Arbeitenden verbriefte soziale Rechte besaßen, wie es sie in Deutschland noch nie gegeben hatte (und jetzt wieder nicht gibt).

Doch ich will durchaus bei Malraux bleiben und Herrn Westerwelle, Herrn Knabe und all die anderen reaktionären Recken daran erinnern, daß es kein Linker war, der 1897 vor dem Reichstag erklärte, Deutschland habe "lange genug zugesehen, wie andere Mächte die Welt unter sich aufteilen. Es muß sich jetzt auch einen Platz an der Sonne sichern." Diese Worte sprach der spätere Reichskanzler von Bülow. Es war ebenfalls kein Linker, der 1900 in Bremerhaven deutsche Soldaten mit dem Befehl nach China verabschiedete: "Pardon wird nicht gegeben! Gefangene werden nicht gemacht." Das war Wilhelm II. Auch jenen konnte man nicht als Linken betrachten, der 1904 mehr als 60.000 Hereros in die Kalaharisteppe treiben ließ, wo sie elend verdursteten. Es war der noch heute in seiner Geburtsstadt Saarlouis gefeierte kaiserliche Afrikaheld Paul von Lettow-Vorbeck. Übrigens bereiteten auch keine Linken den 1. Weltkrieg vor, für den die Volksmassen aufgeheizt wurden, damit das Kapital an den zehn Millionen Toten kräftig verdienen konnte. Es war der von den Monopolisten Krupp, Kirdorf, Thyssen, Siemens und anderen finanzierte Alldeutsche Verband, der das Bündnis mit der kaiserlichen Politik forcierte. Der Weltwirtschaftskrise 1929 lagen keine Aktionen Linker zugrunde, sondern die kapitalistische Mißwirtschaft. Es waren auch nicht Linke, die Hitler an die Macht brachten, sondern die ihn finanzierenden deutschen Kohlebarone. Schon vor 1933 führten sie je Tonne Steinkohle fünf Pfennige an die Nazi-Partei ab. Das brachte 6,15 Millionen Mark. Und Fritz Thyssen, wohl auch kein Linker, schrieb 1941: "...praktisch führte ich die Verbindung zwischen Hitler und den maßgeblichen rheinisch-westfälischen Industriellen herbei. Es ist allgemein bekannt, daß am 27. Januar 1932 - ein Jahr, bevor er die Macht ergriff - Adolf Hitler eine zweieinhalbstündige Rede vor dem Industrieklub Düsseldorf hielt. Diese Rede machte einen tiefen Eindruck auf die versammelten Industriellen, und als Ergebnis floß eine Zahl von bedeutenden Zuwendungen aus den Quellen der Schwerindustrie in die Kassen der NSDAP. ... In den letzten Jahren vor der Machtergreifung leisteten die großen industriellen Verbände laufend Kontributionen." Die Folge war der 2. Weltkrieg mit 50 Millionen Toten und 11 Millionen ermordeten Juden und Angehörigen fast aller Völker Europas. Unter den Opfern befanden sich sehr viele Linke.

Als es nach dem Krieg hieß, auf der Basis des Potsdamer Abkommens ein wahrhaft neues Deutschland zu errichten, waren es wieder nicht Linke, welche im Westen die Bi- und die Tri-Zone schufen. Sie waren es ebensowenig, die am 7. Juni 1948 auf einer Sechsmächtekonferenz die "Londoner Empfehlungen" für eine staatliche Ordnung in den Westzonen beschlossen. Der einzige Protest dagegen kam von der (linken) Sowjetunion. Schließlich war auch die separate Währungsreform 1948 keineswegs ein Werk der Linken. In dem Aufruf der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) vom 19. Juni hieß es dazu: "Gegen die staatliche Einheit Deutschlands ist ein neuer Schlag geführt worden. Die Abkommen über den Kontrollmechanismus in Deutschland und die Potsdamer Beschlüsse, die eine Behandlung Deutschlands als einheitliches Ganzes und die Notwendigkeit einer Beibehaltung der Einheit des Geldumlaufs vorsahen, sind verletzt worden. Die in den drei westlichen Besatzungszonen durchgeführte Währungsreform vollendet die Spaltung Deutschlands."

Die Betrachtung der deutschen Geschichte zwischen 1948 und 1961 liefert den Beweis, daß es nicht Linke waren, die Deutschland spalteten. Die Befestigung der Staatsgrenze der DDR war keine Laune Walter Ulbrichts, sondern wurde auf einer Sitzung der Staaten des Warschauer Vertrags am 5. August 1961 beschlossen. Hier sei Franz Josef Strauß zitiert: "Mit dem Bau der Mauer war die Krise, wenn auch in einer für die Deutschen unerfreulichen Weise, nicht nur aufgehoben, sondern eigentlich auch abgeschlossen." Zuvor hatte Strauß in seinen "Erinnerungen" (Seiten 388 und 390) über den geplanten Atombombenabwurf auf das Gebiet der DDR berichtet.

Wer nach den jüngsten Bundestagswahlen über die Zukunft nachdenkt, findet im Sinne von Malraux beim Blättern in der Vergangenheit die Antwort.

Erhard Römer, Berlin

Raute

Wie die BRD-Regierung auf Gewalt diesseits und jenseits der Grenzen setzt

"Heimatschutz" nach USA-Muster

Die freiheitlich-demokratische Grundordnung der BRD entwickelt sich. Man macht sie in Zeiten ökonomischer und sozialer Krisen weiter wetterfest. Der Überwachungsstaat wird zügig installiert. Online-Durchsuchung, Videoüberwachung, Erfassung biometrischer Daten, Telefonüberwachung, Vorratsdatenspeicherung. Sie gehören zu den Alltagsaufgaben der verschiedenen Dienste. Die Bespitzelung von "Verdächtigen" wird perfektioniert. Und verdächtig kann in der Endkonsequenz so gut wie jeder sein.

Da soll noch jemand sagen, der Staat habe für Krisenzeiten nicht vorgesorgt!

Inzwischen herrscht im Casino schon längst wieder emsiges Treiben. Die Bankster (eine neue Wortprägung, geboren aus Banker und Gangster), von der Bundesregierung reichlich mit milliardenschwerem neuem Spielgeld aus Steuergroschen ausgerüstet, bereiten schon mal die nächste Krise vor.

"Der Spiegel" kommentiert unter der Überschrift "Rückkehr der Gier": "Das Casino hat wieder geöffnet. Viele Investmentbanken machen erneut gewaltige Gewinne, sie fahren die Risiken hoch und locken mit hohen Gehältern - als wäre nichts geschehen. Als wären es nicht genau diese Verhaltensweisen gewesen, die das Finanzsystem im Herbst vergangenen Jahres an den Rand des Kollapses gebracht und die Weltwirtschaft in die schwerste Krise seit dem Zweiten Weltkrieg gestürzt hatten."

Aber was soll's - es geht um möglichst hohe Gewinne. Und die machen immer die Banken. Die Verluste gleicht der fürsorgliche Staat auf Kosten der "kleinen Leute" aus.

"Genau darin aber besteht auch das Risiko einer noch größeren Verwerfung", meint "Der Spiegel".

Der bürgerliche Wirtschaftswissenschaftler Miegel hatte übrigens Anfang Juni in der "Frankfurter Allgemeinen" vor solchen "Verwerfungen" gewarnt: "In der Krise dieses Jahrzehnts wackelten Unternehmen. In der gegenwärtigen Krise wackeln Unternehmen und Banken. In der nächsten Krise, die jetzt vorbereitet wird, werden Unternehmen, Banken und Staaten wackeln."

Nun soll niemand sagen, Schily und mehr noch Schäuble hätten solche Gefahren für die freiheitlich-demokratische Grundordnung nicht schon längst erkannt. Der bereits erwähnte Ausbau des Überwachungsstaates zeugt davon.

Und wenn doch eines Tages, wenn die Zeche der Finanz- und Wirtschaftskrise beglichen werden muß, der Ruf erschallen sollte: "Wir sind das Volk"?

Dann ist eben außer den Instrumenten des Überwachungsstaates auch der "Heimatschutz" zur Stelle. Und da geht es um den lange diskutierten und vorbereiteten Einsatz der Bundeswehr im Innern.

Schon auf der Münchener Sicherheitskonferenz 2005 hatte die Bundeskanzlerin die Akzente gesetzt: "Die Grenzen von innerer und äußerer Sicherheit verschwimmen zunehmend. Internationale Einsätze unter Beteiligung Deutschlands und Heimatschutz sowie Einsatz der Bundeswehr im Innern sind deshalb zwei Seiten ein und derselben Medaille." Im Weißbuch der Bundesregierung von 2006 wurde dann eine "vernetzte Sicherheit" als neues Leitkonzept konstatiert. Sicherheitsbedrohungen, und zwar nicht nur militärische, sondern beispielsweise auch gesellschaftliche, müßten national wie global präventiv bekämpft werden.

Merkels Innenminister Schäuble faßte zusammen: "Ob völkerrechtlicher Angriff oder innerstaatliches Verbrechen, ob Kombattant oder Krimineller, ob Krieg oder Frieden: Die überkommenen Begriffe verlieren ihre Trennschärfe und damit ihre Relevanz."

Ex-Bundeswehrminister Jung verdeutlichte: "Die flächendeckende Einführung der zivil-militärischen Zusammenarbeit im Inland stellt sicher, daß die Bundeswehr in unserer Heimat jederzeit und an jedem Ort unseres Landes Hilfe und Unterstützung leisten kann."

Da können sich doch die Bankster beruhigt zurücklehnen.

Die Bundeswehrführung ist einfallsreich. Sie baut beim "Heimatschutz", bei der "Zivilmilitärischen Zusammenarbeit" im Innern (ZMZ-I), auf den Einsatz von Reservisten. Zu diesem Zweck wurde per Gesetz schnell mal das Alter, bis zu dem Reservisten in Friedenszeiten einberufen werden können, von 45 auf 60 Jahre angehoben. Insofern stehen in "Gefahrensituationen" nunmehr über fünf Millionen Reservisten zur Verfügung.

In Verwirklichung des Projekts der von Jung erwähnten zivil-militärischen Zusammenarbeit wurden seit Beginn des Jahres 2007 entsprechende Strukturen geschaffen, um bei Naturkatastrophen und "Großereignissen", wie es heißt, eingreifen zu können. Reservisten und andere Einsatzkräfte werden in Schulungen ideologisch auf die "neue Sicherheitsstrategie Deutschlands" getrimmt. 410 Kreis- und 31 Bezirksverbindungskommandos wurden installiert. In ca. 500 Städten arbeiten bereits befehlsgebende Gremien, zusammengesetzt aus dem jeweiligen Oberbürgermeister, dem örtlichen Polizeipräsidenten und einem General der Streitkräfte. Das Amt des OB wird in diesem Militarisierungsprozeß in den Dienst obrigkeitsstaatlicher Praktiken eingegliedert.

Eine Anfrage der "Linken" im Bundestag brachte darüber Aufschluß, daß die ZMZ-Strukturen den Einsatz gegen Demonstranten sowie gegen Streiks im Transport-, Energie- und Gesundheitswesen als auch bei der Müllabfuhr keineswegs ausschließen. Die Bewaffnung der Polizei und der dann auch zivil gekleideten Reservisten ist mit "nonlethal weapons", mit "nicht tödlich wirkenden Waffen" konzipiert. Auf diese Weise sollen die Einsatzkräfte, die beim Vorgehen gegen Aufständische, Streikende oder Demonstranten zwischen körperlicher Gewalt und der Anwendung der Schußwaffe wenig Spielraum besitzen (Schlagstock oder Reizgas), eine Alternative erhalten. Die "nicht tödliche Waffe" soll zwar, wie es heißt, kaum dauerhaften Schaden anrichten, aber Personen wirkungsvoll "und im besten Fall auf Distanz kampfunfähig machen".

Einen Vorgeschmack, wie sich die Bundesregierung bei "Großereignissen" den "Heimatschutz" vorstellt, wurde während des G8-Gipfels in Heiligendamm und anläßlich der Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag der NATO in Kehl demonstriert.

Die Militarisierung der so viel beschworenen freiheitlich-demokratischen Grundordnung schreitet also voran. Und mit ihr die Aushöhlung des Grundgesetzes. Sozialabbau und Demokratieabbau, die Einschränkung von Grundrechten sind Programm. Für seine Verwirklichung braucht der immer gefräßigere Kapitalismus den "Heimatschutz" im Innern. Im Außendienst verteidigt die Bundeswehr Deutschland ja bekanntlich am Hindukusch und sonstwo in der Welt.

Einstweilen ist es noch ruhig im Heimatland. Noch halten sich Frust und Wut über die Fürsorge, die die Bundesregierung den Hasardeuren der Finanzwirtschaft und den Bossen großer Konzerne angedeihen läßt, in Grenzen. Auf regionaler Ebene keimt zwar Widerstand - "Wir zahlen nicht für Eure Krise!" ist zu hören. Doch nirgendwo kann man auch nur im Ansatz den Ruf vernehmen: "Wir sind das Volk!"

In der Ära der schwarz-gelben Koalition werden sich die von der Krise Betroffenen und zur Kasse Gebetenen vor noch größere Herausforderungen gestellt sehen.

Prof. Dr. Georg Grasnick

Raute

Vor 60 Jahren schloß die UdSSR die Rückführung deutscher Kriegsgefangener ab

Die mit der Brandfackel kamen ...

Eine immer wieder aufflammende fragwürdige Diskussion über die deutschen Kriegsgefangenen in der UdSSR veranlaßt mich zu den nachfolgenden Überlegungen. Am Ende des Zweiten Weltkrieges befanden sich 11,2 Millionen Deutsche der Wehrmacht und der SS in alliierter Kriegsgefangenschaft. Etwa 8 Millionen davon in britisch-amerikanischer und über 3 Millionen in sowjetischer Gefangenschaft. Die Deutschen erwarteten von allen in Betracht kommenden Ländern, daß ihre Kriegsgefangenen nach den Festlegungen der Genfer Konvention von 1906, der Haager Landkriegsordnung von 1907 bzw. der Gefangenenkonvention von 1929 behandelt würden. Doch Hitler-Deutschland hatte selbst zwischen 1939 und 1945 gegen diese Konventionen tausendfach verstoßen. Für die meisten der etwa 6 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen stellten die Deutschen nicht einmal eine Konservenbüchse bereit, aus der sie essen "mußten". In einem "Merkblatt für die Bewachung sowjetischer Kriegsgefangener" (vom 8. September 1941) steht: "Rücksichtsloses Durchgreifen bei den geringsten Anzeichen von Widersetzlichkeit und Ungehorsam! Zur Brechung von Widerstand ist von der Waffe schonungslos Gebrauch zu machen. Auf fliehende Kr.Gef. ist sofort (ohne) Anruf zu schießen mit der festen Absicht zu treffen (...) Auch gegen den arbeitswilligen und gehorsamen Kr.Gef. ist Weichheit nicht am Platz. Er legt sie als Schwäche aus und zieht daraus seine Folgerungen."

Es waren aber nicht Gewaltmaßnahmen, die zum Massensterben sowjetischer Kriegsgefangener führten. Es lag vor allem an der systematischen Unterernährung, die das Oberkommando der Wehrmacht (OKW) angeordnet hatte. "Mit den insbesondere 1941 und 1942 festgesetzten Verpflegungsrationen wurde in voller Kenntnis der daraus resultierenden Konsequenzen für die Gefangenen der Hungertod Tausender bewußt in Kauf genommen. Diese Vernichtungspolitik entsprach der in den besetzten Gebieten der Sowjetunion gegenüber der Zivilbevölkerung praktizierten Hungerpolitik. Trotz der im Verlauf des Krieges immer wieder erhöhten Verpflegungssätze erreichten sie bis Kriegsende weder quantitativ noch qualitativ das Niveau der Sätze für nichtsowjetische Kriegsgefangene. Insbesondere 1941/42 brachen unter den Gefangenen Ruhr- und Fleckfieberepidemien aus, denen Zehntausende zum Opfer fielen. Infolge andauernder chronischer Unterernährung bei gleichzeitigem kräfteraubendem Arbeitseinsatz und mangelhafter medizinischer Betreuung blieben die sowjetischen Kriegsgefangenen auch in der zweiten Kriegshälfte anfällig für Infektionskrankheiten. Die Sterblichkeit stabilisierte sich auf hohem Niveau, wofür vor allem die große Zahl an Tuberkuloseerkrankungen verantwortlich war", stellte Hans Reichelt in seinem 2007 erschienenen Buch "Die deutschen Kriegsheimkehrer" fest.

Allein zwischen Juli 1941 und Februar 1942, also in acht Monaten, starben rund 2 Millionen sowjetische Kriegsgefangene in deutschen Gefangenenlagern an Erfrierungen und unmenschlicher Behandlung. Der durch die Naziführung einkalkulierte "Tod durch Hunger" erlebte eine schreckliche Wahrheit. Zehntausende verschleppte Rotarmisten kamen schon auf dem Transport um oder starben in Deutschland bei Epidemien in Sammellagern. Zwischen 1941 und 1945 gerieten 6 Millionen Rotarmisten in deutsche Gefangenschaft, wovon etwa 630.000 das Kriegsende in Deutschland überlebten. Von den knapp 3,3 Millionen deutschen Kriegsgefangenen, die sich in sowjetischer Gefangenschaft befanden, kehrten fast 2 Millionen heim. Wer sich heute mit der Kriegsgefangenenproblematik befaßt, sollte objektiv bedenken:

Den Krieg gegen die europäischen und anderen Länder der Welt hatte Hitler-Deutschland begonnen.

Alle Soldaten aller Seiten und jeder Gefangenschaft waren objektiv Opfer der verbrecherischen Nazi-Ideologie, die mit ihrer Führung unter Mißbrauch des deutschen Namens zur Weltherrschaft drängte.

"Trotz der vielen bedauerlichen Toten unter den deutschen Kriegsgefangenen wurden diese in summa nicht annähernd so barbarisch behandelt wie sowjetische Kriegsgefangene von Deutschen in den Jahren des Krieges."

"In den meisten Staaten, in denen deutsche Soldaten nach dem Krieg interniert waren, wurden diese im Rahmen einer Wiedergutmachung zur Arbeit herangezogen. Das war in Frankreich nicht anders als in der Sowjetunion, in Großbritannien wie in den USA. Man darf die Toten der einen Armee nicht gegen die der anderen Armee aufrechnen. Doch wir sollten diesen Kontext stets mitbedenken, wenn wir von berührenden Einzelschicksalen hören oder lesen." (ebenda)

Monströses Aufblasen all dieser Geschehnisse um die Kriegsgefangenschaft, besonders in der sowjetischen, verfolgt doch in den Medien, der historischen Literatur oder in der Tagespolitik nur ein Ziel: Die antisowjetische Hetze auch noch heute fortzuführen!

2003 erschien ein dicker Wälzer des ZDFGeschichtspapstes Guido Knopp zum Thema "Die Gefangenen", worin es u. a. heißt: "Sibirien wurde zum Synonym für das Elend von elf Millionen deutschen Kriegsgefangenen." Doch wie sich jeder Leser selbst überzeugen kann, stimmt weder die Zahl noch die Geographie. Doch das Vorgehen von Knopp ist massentauglich. Ein anderes Beispiel dafür ist das von Volker Koop 2008 vorgelegte Buch "Besetzt" über die sowjetische Besatzungspolitik in Deutschland, was eher eine antisowjetische Kampfschrift denn seriöse objektive Geschichtsschreibung darstellt, so daß hier nicht näher darauf eingegangen werden muß. Doch sollten manche vielleicht eher Konrad Adenauer beachten: "Es gibt Dinge, über die spreche ich nicht einmal mit mir selbst."

Die Entlassungen in den einzelnen Jahren zwischen 1945 und 1949 erfolgten zu verschiedenen Zeiten in mehreren Schüben. 1948 erklärte der sowjetische Außenminister Molotow nach den letzten nach Deutschland entlassenen Kriegsgefangenen, daß sich in sowjetischen Lagern nun noch 890.532 Kriegsgefangene befinden, die 1949 entlassen werden sollen.

Ende 1949 war die Entlassung deutscher Kriegsgefangener aus der UdSSR durch einen weiteren Transport mit 17.538 Personen weitestgehend beendet. Die sowjetische Nachrichtenagentur TASS meldete u. a. im Mai 1950, daß damit die Repatriierung "vollständig abgeschlossen" sei. Danach befanden sich lediglich die an der Beteiligung von Kriegsverbrechen Verurteilten noch in sowjetischem Gewahrsam. Das waren nach sowjetischen Angaben etwa 35.000 Gefangene. Hierzu ist die Arbeit von Andreas Hilger (Deutsche Kriegsgefangene in der Sowjetunion 1941 bis 1956, Essen 2000), Hannah-Arendt-Institut Dresden, von Bedeutung. Er kommt bei seinen Recherchen, auch in russischen Archiven, zu interessanten Schlüssen wie: Die Sowjetunion war "offensichtlich willens", die "völkerrechtlichen Standards der Kriegsgefangenenbehandlung grundsätzlich zu beachten". Und daß "die UdSSR in ihrer Kriegsgefangenenpolitik keine Vernichtungs- oder Racheziele verfolgte". Zu keinem Zeitpunkt seien "Vernichtungsmaßnahmen gegen die deutschen Kriegsgefangenen geplant oder gar durchgeführt" worden.

Hilger geht nach sowjetischen Aktenangaben von 2.388.443 kriegsgefangenen Deutschen aus, von denen 2.031.743 repatriiert wurden. 356.687 verstarben in Gefangenschaft. Die hohe Sterblichkeitsrate führt er insbesondere auf die schlechte Versorgung zurück, die dem Krieg geschuldet war: "Sie war für alle - Sowjetbürger wie Kriegsgefangene - äußerst mager. Für Sowjetbürger oft noch magerer." Und die etwa 35.000 deutschen Kriegsgefangenen (sie kehrten bis 1955 nach Deutschland zurück), die von sowjetischen Gerichten wegen Nazi- und Kriegsverbrechen verurteilt wurden, sind laut Hilger gemessen an der Gesamtzahl "eine geringe Größenordnung".

Dem ist nichts hinzuzufügen, denn Mitarbeiter vom Hannah-Arendt-Institut können durch bürgerliche Medien und Historiker wohl kaum verdächtigt werden, eine unseriöse Geschichtsschreibung verbreiten zu wollen.

Dr. Dieter Rostowski, Kamenz

Raute

Spezialist für Völkerrechtsbruch: Hans-Dietrich Genscher

Deutschland ist ein bürgerlicher Rechtsstaat. Gibt es da etwa jemanden, der das bestreitet? Laut Artikel 25 des Grundgesetzes ist das Völkerrecht Bestandteil des Rechts und für jedermann verbindlich. Erstaunlich und bemerkenswert erscheint, daß diese Tatsache bestimmte Medienmacher überhaupt nicht stört, wenn sie den Bruch des Völkerrechts permanent als Heldentat verkaufen.

Nur zwei Beispiele: Am 30. September war Ex-Außenminister Hans-Dietrich Genscher gleich zweimal auf dem Bildschirm des Staatsfernsehens. Im ZDF lief die Geburtstagsgala für Udo Jürgens, und da durfte die Einblendung der Genscher-Show auf dem Balkon der bundesdeutschen Botschaft in Prag natürlich nicht fehlen. (Wie viele Male ist diese Szene eigentlich schon gesendet worden?) Zur gleichen Zeit saß Genscher im Berliner Friedrichstadt-Palast ("dem schönsten und größten Saal in Europa") zur Bambi-Verleihung. Was wurde dort geehrt? Ein krasser Völkerrechtsbruch. Die Flucht über Prag hat sich ereignet und kann nicht aus der Geschichte gestrichen werden, aber müssen die seinerzeitigen Täter in Helden verwandelt werden?

Herr Genscher möge durch Völkerrechtler prüfen lassen, was die Wiener Konvention über diplomatische Beziehungen vom 18. April 1961 tatsächlich gestattet und welche Handlungen mit dem Privileg der Botschaftsimmunität nicht vereinbar sind. Menschenschmuggel aus einem Drittland gehört danach keinesfalls zu dem Erlaubten.

Ich stelle mir folgendes Szenarium vor: Verhungernde Eltern eines afrikanischen Landes begeben sich mit ihren darbenden Kindern als "Wirtschaftsflüchtlinge" massenhaft in die dortige bundesdeutsche Vertretung, klettern über die Umzäunung, kampieren auf dem Gelände, werden mit allem Notwendigen versorgt und - wenn sie das wünschen - von Deutschland aufgenommen. (Biedenkopfs Tagebuch schildert eine solche für ihn furchterregende Vision.) Wenn es ein Recht auf "Reisefreiheit" nicht nur für DDR-Bürger gab, wären die Formalitäten in diesem Falle problemlos zu bewältigen. Genscher kennt doch die Losung der UN-Vollversammlung (1993): "All human rights for all human beeings!" (Sämtliche Menschenrechte für alle Menschen.) Wenn der Vorgang, der sich 1989 in Prag vollzog, als Beispiel für humanitäre Aktionen in armen Ländern dienen würde, wäre er auch noch nicht mit der Wiener Diplomatenkonvention von 1961 vereinbar, würde aber Akte der Menschlichkeit begründen.

Das zweite, was beim Blick auf die Medienprogramme auffällt, ist die Dominanz des Themas Mauer/Flucht. Die politische Absicht bedarf hier keiner Erläuterung. So dumm dürften nur wenige sein, um die Funktion derartiger Gehirnwäsche nicht zu durchschauen. Mir geht es um einen bestimmten Aspekt: Bei "Flucht in die Freiheit" und ähnlichen Machwerken werden Tunnelbauer, skrupellose Schleuser und durch Ballonflüge den Luftraum Gefährdende als "Helden" dargestellt, als ob sie wie James Bond die Lizenz zu kriminellen Handlungen besessen hätten. Tatsächlich genossen sie weitgehend die Hilfe von Bonner Behörden, die sich heute zur Anstiftung und Beihilfe bei der Begehung von Straftaten ganz ungeniert bekennen.

Die BRD war an das Völkerrecht und abgeschlossene Verträge gebunden, darunter den Grundlagenvertrag mit der DDR. Den dürfte Herr Genscher wohl des öfteren in der Tasche gehabt und im Munde geführt haben. Die Unantastbarkeit der Grenze zwischen der DDR und der BRD gehörte zu den fundamentalen Bedingungen jeglicher Zusammenarbeit. Die BRD hat sich indes auch vor 1989 nicht an jene Verträge gehalten, welche ihr hinderlich waren. Aber es ist etwas ganz anderes, öffentlich Friedensliebe zur Schau zu tragen und im geheimen aggressive Aktionen durchzuführen, als den offenen Bruch des Völkerrechts auch noch nachträglich zu glorifizieren, wie das die Medien des Kapitals heute tun. Aber auch das hat einen Bumerang-Effekt. Denn Verträge werden grundsätzlich auf Treu und Glauben geschlossen. Wer aber vertraut noch jemandem, der sich ohne Skrupel seiner gelungenen Rechtsbrüche selbst rühmt?!

Prof. Dr. Horst Schneider

Raute

Fiktives Telefon-Interview mit dem versierten Außenpolitiker Westerwelle

"Ich muß es richten"

Unser neuer Außenminister ist schon vor seiner Amtszeit in die Geschichte eingegangen. Als belehrender Deutscher. Einen englischsprachigen Journalisten fuhr er an, daß er in Deutschland gefälligst deutsch zu sprechen habe.

Unsere Reporterin S. K. bemühte sich dennoch zweisprachig um Aussagen für den RF.

Telefonat mit Guido Westerwelle

S. K.: Hello, Mr. Westerwelle, welcome in the new German government. I would like to speak with you about your visions for this country. (Hallo, Mr. Westerwelle, willkommen in der neuen deutschen Regierung. Ich möchte mit Ihnen über Ihre Visionen für dieses Land sprechen.)

G. W.: All right. Was ist Ihre Frage?

S. K.: I have many questions. For example: Do you like Misses Merkel? (Ich habe viele Fragen. Zum Beispiel: Mögen Sie Frau Merkel?)

G. W.: Who is this person? (Wer ist das?)

S. K.: She is one of the most important women from Eastern Germany. I believe, since a couple of years. Do you know her? (Sie ist eine der wichtigsten Ost-Frauen, ich glaube seit einigen Jahren. Kennen Sie sie?)

G. W.: Ihre Frage habe ich sehr wohl verstanden. Aber um welche Person geht es konkret?

S. K.: Angela Merkel.

G. W.: Angela Merkel?

S. K.: Yes, I mean (ja, ich meine) Bundeskanzlerin Merkel.

G. W.: Das hätten Sie doch gleich sagen können. Die ist mit ihrem russifizierten Deutsch kaum zu verstehen. Deshalb hat unser Volk ja im September auch entschieden, daß ich es als ihr Vizekanzler richten muß. In meiner Person vereinen sich die Sehnsüchte der Wähler: einer, der gegen den Mainstream schwimmt, der in seinem politischen Leben bei Flügen in alle Welt mit dem Jetlag-Syndrom fertig wurde, und einer, der Minderheiten integrieren kann.

S. K.: And Mrs. Merkel?

G. W.: Die hat doch genau wie mein Duzfreund in Bayern, der Horst, meine Handynummer. Ist heute alles easy mit den kontrollierten E-Mails. In einer Video-Konferenz machen wir dann mal in der happy hour einen deal. Der Bundestag stimmt sowieso zu. Und der Bundesrat wird durch Regierungsbildungen in einigen Bundesländern auf Linie gebracht. Von Jamaika bis Schwarz-Gelb, yes we can, um einen aktuellen Friedensnobelpreisträger zu zitieren.

Nun behaupte noch jemand, ich könne nicht Englisch.

Salomé Kirsten

Raute

MDR-Gebräu zur Demontage eines Arbeiterführers

Ernst Thälmann, wie er nicht war

Der Mitteldeutsche Rundfunk (MDR) befaßt sich bereits seit einiger Zeit mit der Verfilmung historischer Stoffe. Es geht um Episoden und Personen, die in der Region eine Rolle gespielt haben. In diesem entstellungsträchtigen Herbst war Ernst Thälmann an der Reihe. Offenbar ging es darum, das in der DDR vermittelte Bild des Arbeiterführers zu unterlaufen. Bereits im Titel "Ernst Thälmann - wie er wirklich war" klingt das an. Endlich sollten die Zuschauer in sein "wahres Gesicht" blicken können. Vorsichtshalber bediente sich der 1969 in Görlitz geborene Autor Steffen Jindra noch der Unterstützung des britischen Historikers Norman Laporte, von dem auf der Internetseite des Senders zu erfahren war, daß er derzeit an einer neuen Thälmann-Biographie arbeite, die 2011 erscheinen solle.

So wird denn der Weg des Protagonisten dargestellt. Der Streifen versetzt das Fernsehpublikum in das Hamburg des Jahres 1910. Die linke Publizistin Regina Scheer berichtet, Thälmann sei zu dieser Zeit noch nicht der "schon früh entschlossene Kämpfer" gewesen, habe aber das Ungerechte gespürt. Dieses Empfinden habe ihn zu der Überzeugung gelangen lassen, daß man die Verhältnisse ändern müsse. Wir erfahren von der Eheschließung mit Rosa Koch und der Geburt des Töchterchens Irma, deren Erziehung ausschließlich Sache der Mutter gewesen sein soll. Dem Autor des Filmes wird nachträglich die Lektüre von "Erinnerungen an meinen Vater" empfohlen, die Irma in der DDR veröffentlichte. Das Buch erfuhr mehrere Neuauflagen.

Thälmann wird im Film als "Heißsporn" und "Star der KPD" bezeichnet. Den Hamburger Aufstand von 1923 sucht man als einen "schlecht organisierten Putsch", den Thälmann im Alleingang unternommen habe, abzuqualifizieren. Erst im nachhinein habe er "aus einer Niederlage einen Sieg der Partei gemacht".

Selbstverständlich dürfen Vergleiche zum Naziregime nicht fehlen. Nachdem er die Leitung des Rotfrontkämpferbundes übernommen habe, sei "wie um Hitler auch um Thälmann ein Führerkult aufgebaut" worden. Hinzugeführt wurde: "Manche halten seinen Führungsstil für selbstherrlich."

Die kurz vor der Verhaftung Ernst Thälmanns von ihm auf der illegalen ZK-Tagung in Ziegenhals gehaltene Rede wird als "voller Illusionen" abgetan. Die nach seiner Inhaftierung erfolgten weltweiten Solidaritätsbekundungen seien "vorwiegend aus Moskau gesteuert" worden und hätten "nur der Propaganda gedient". Im Film kommt dazu auch der dubiose und selbsternannte Thälmann-Experte Ronald Sassning zu Wort. Dieser wußte es natürlich genau: "Stalin ließ ihn fallen wie eine heiße Kartoffel." Dem steht entgegen, daß Thälmann nach Wilhelm Piecks Wahl zum KPD-Vorsitzenden Ehrenvorsitzender der Partei wurde. Regina Scheer berichtete, die Faschisten hätten ihm immer wieder angeboten, seiner Ideologie abzuschwören, um sein Los zu verbessern. Korrekt fügte sie hinzu: "Das kam für ihn überhaupt nicht in Frage." Auf den Gedanken, daß Thälmann eine gesonderte Behandlung vor allem auch deshalb ablehnte, weil sich zu diesem Zeitpunkt bereits zahlreiche Genossen der KPD in den Händen der SA oder in Konzentrationslagern befanden, ist offenbar niemand gekommen. Zutreffend wird darauf hingewiesen, daß die Ermordung des herausragenden Kommunisten nach den langen Jahren der Haft in Moabit, Hannover und Bautzen unmittelbar nach dem mißlungenen Anschlag auf Hitler erfolgte. Beleg dafür ist ein Notizzettel Himmlers über eine Unterredung mit diesem in der Wolfsschanze am 14. August 1944. Hinter dem Namen Thälmann stehen die Worte: "Ist zu exekutieren."

Leider erfährt der Zuschauer nichts über die intensiven Bemühungen zur Ermittlung und Bestrafung der Mörder Thälmanns. Sie gingen maßgeblich von der DDR aus, nachdem Rosa Thälmann im April 1962 durch Rechtsanwalt Prof. Dr. Kaul Strafanzeige hatte erstatten lassen. Verschwiegen wird auch die jahrzehntelange Verschleppung der Strafverfolgung durch die BRD-Justiz, welche die Ermittlungsverfahren immer wieder einstellte und dann auf Grund der Intervention des DDR-Anwalts gezwungen war, der Sache Fortgang zu geben. Die BRD-Justiz habe sich hier "wie der Jagdhund, der zur Jagd getragen werden muß", verhalten, sagte Kaul damals. Anläßlich einer öffentlichen Anhörung zur Behinderung der Strafverfolgung, die am 12. Februar 1980 in Berlin stattfand, bemerkte er: "Die Untätigkeit der Justiz der Bundesrepublik bei der Aufklärung des an Genossen Ernst Thälmann begangenen Mordes und die praktische Vereitelung seiner strafrechtlichen Sühne beruhen - wie auch bei allen anderen Verfahren gegen nazistische Gewaltverbrecher - auf der nahtlosen Übernahme des vom Nazismus geprägten Feindbildes des Kommunismus durch die BRD."

Statt dessen wird - bezogen auf die gerade gegründete DDR und durch Zeigen eines Bildes mit verschiedenen Funktionären, in deren Mittelpunkt Wilhelm Pieck zu sehen ist - im MDR-Film behauptet: "Um ihre eigene Herrschaft zu legitimieren, geben sie vor, sein Vermächtnis zu erfüllen und heben den ermordeten KPD-Führer auf den Heldensockel." Das paßt zur Eingangsthese, Thälmann sei "zum Gründungsmythos der DDR erstarrt" gewesen.

Die Witwe Rosa wird als "Aushängeschild des Thälmann-Kults" in der DDR bezeichnet. Angeblich sei sie 1961 einsam gestorben. Unabhängig davon, daß Rosa Thälmann erst am 21.9.1962 verstarb, wird unterschlagen, daß sie sich ebenso wie ihre Tochter Irma seit dem Frühjahr 1944 bis zum Kriegsende im KZ Ravensbrück befand, in der DDR Volkskammerabgeordnete wurde und sowohl dem Präsidium des Komitees der antifaschistischen Widerstandskämpfer als auch dem Präsidium des Demokratischen Frauenbundes Deutschlands angehörte. Zu Irma heißt es gegen Ende des Films lediglich, sie habe 1989 das Ende der DDR und den "Niedergang der väterlichen Ikone" erlebt. Dabei kann man sich des Eindrucks böswilliger Häme nicht erwehren.

Alles in allem soll auch diese Produktion trotz eingewobener positiver Sentenzen offenbar dazu dienen, ein anderes Thälmannbild einzuprägen, die historische Bedeutung des großen Arbeiterführers herabzusetzen und den Antifaschismus der DDR zu diskreditieren. Wen wundert es da, wenn der Autor in einem Interview angibt, ihm sei als Kind "vor allem eingehämmert worden, die DDR verkörpere die Erfüllung von Thälmanns Vermächtnis, seinen Traum eines Arbeiterparadieses. Das ging zum einen Ohr rein und zum anderen wieder raus." Entsprechend ist der Film.

Da ist es nur gut zu wissen, daß zum Jahresanfang 2010 eine neue Thälmann-Biographie von Eberhard Czichon und Heinz Marohn erscheinen wird. Dort kann man dann über Thälmann lesen, wie er wirklich war!

RA Ralph Dobrawa


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Ernst Thälmann im Gefängnis Hannover, aufgenommen von seiner Tochter Irma

Raute

Wer in Plauen geehrt und wer vergessen wird

Zur Denkmalspolitik schwarz-gelber Stadtoberer

Denkmäler prägen das Gesicht einer Stadt. Dank seiner mehr als 800jährigen Geschichte verfügt das vogtländische Plauen über nicht wenige davon. So betrachten die Einwohner und deren Gäste interessiert ein gelungenes Monument für den berühmten Karikaturisten Erich Ohser, den Schöpfer von "Vater und Sohn". Er nannte sich nach seiner Heimatstadt "e. o. plauen". Ohsers kritische Haltung zum Faschismus führte nach einer Denunziation zu seiner Verhaftung. Dem Urteil des Freislerschen "Volksgerichtshofes" entzog er sich durch den Freitod.

Auch ein an historischer Stelle errichteter Gedenkstein für 230 verwundete russische Soldaten, die nach der Völkerschlacht bei Leipzig in einem Lazarett der vogtländischen Stadt Aufnahme fanden, jedoch nicht überlebten, ruft stets die Anteilnahme der Passanten hervor.

Die Mehrzahl der Denkmäler Plauens wurde jedoch in der Zeit der Feudalherrschaft der Wettiner und in der Periode des Kapitalismus errichtet. Schon 1911 zählte man hier 140 Millionäre - damals die relativ meisten aller Großstädte Deutschlands. Dieser Reichtum Weniger beruhte auf der gnadenlosen Ausbeutung der Proletarier der "Plauener Spitze", die damals im Zenit ihrer Blüte stand. Viele der dort Geschundenen waren Frauen.

Die nationalistisch gestimmte Bourgeoisie der Industriestadt bekundete ihre Verbundenheit mit dem Wilhelminischen Reich, indem sie eine monumentale Bismarcksäule errichten ließ, die jenem Kanzler huldigte, der eine erhebliche Mitschuld an der auf die Reichsgründung von 1871 folgenden militaristischen Verpreußung Deutschlands trägt. Dieser Obelisk überstand beide Weltkriege.

Nach der Wende zum 20. Jahrhundert entwickelte sich Plauen zu einer der größten Garnisonsstädte Sachsens. Auch das wurde von der Reaktion gewürdigt. Schon bald nach der Konterrevolution der Jahre 1989/90 ließen die neuen Machthaber mit Pomp und Gloria bei Unterstützung der Bundeswehr unter erheblichem Aufwand ein Denkmal für die Gefallenen eines Plauener Infanterieregiments, das auf den Schlachtfeldern des I. Weltkrieges am sinnlosen Morden aktiv beteiligt war, erneuern.

Besondere Anstrengungen wurden auch von den nach dem Anschluß zum Zuge gelangten Stadtoberen im Zusammenhang mit einem Reiterstandbild des sächsischen Königs Albert unternommen. Dessen Statue war nach dem II. Weltkrieg eingeschmolzen worden - aus gutem Grund. Dieser Wettiner-Sproß - der erste nichtpreußische Generalfeldmarschall in Deutschland - hatte sich als eifriger Befürworter eines Massenmordes profiliert. Durch namhafte Historiker war nachgewiesen worden, daß Albert 1871 an seinen Vater König Johann von Sachsen über die revolutionären Verteidiger von Paris haßerfüllt geschrieben hatte, er glaube, "nur der Hunger kann diese Bestien zähmen". Als schließlich 20.000 Kommunarden erschossen wurden, begrüßte Albert das Blutbad ausdrücklich. Plauens Stadtobere blieben davon unbeeindruckt. Sie befürworteten den Bau eines "König-Albert-Brunnens" auf dem Altmarkt, der nun an diese unrühmliche Figur der Geschichte erinnert.

Zu DDR-Zeiten wurden bereits in den ersten Jahren der Existenz des antifaschistischen deutschen Staates eindrucksvolle Gedenkstätten der Plauener Arbeiterbewegung geschaffen. So auch das Denkmal für acht während des Kapp-Putsches Erschossene in einer innerstädtischen Parkanlage. Es fristet derzeit ein bedauernswertes Dasein, wurde beschmiert und dem Verfall preisgegeben. Sachsens Landesamt für Denkmalspflege entschied, eine "Unterschutzstellung" komme nicht in Frage. Gegenwärtig unternehmen geschichtsbewußte Bürger der Stadt Schritte, um diesem unwürdigen Zustand ein Ende zu bereiten. Leider hat die lokale Organisation der Partei Die Linke bisher ihre Mitwirkungsbereitschaft nicht signalisiert.

Ein besonders bezeichnendes Licht auf die Plauener schwarz-gelben Stadtoberen wirft deren beharrliche Weigerung, Ernst Thälmann zu ehren. Jahrzehntelang hatte eine künstlerisch wertvolle Gedenktafel an jene Rede erinnert, die er am 15. Juni 1930 in der Stadt gehalten hat. Der KPD-Vorsitzende sprach vom Portal des alten Rathauses und warnte eindringlich vor den Gefahren des heraufziehenden Faschismus. Damals entwickelte sich Plauen zu einer Hochburg der Nazis. Der Spitzenfabrikant Mutschmann wurde sogar als Gauleiter von Sachsen zugleich auch Reichstatthalter. Plauen war auch die Geburtsstätte der Hitlerjugend und des nazistischen Studentenbundes.

Unmittelbar nach dem Triumph der Konterrevolution wurde die Thälmanntafel durch Bilderstürmer entfernt. Sie entging allerdings der Vernichtung und konnte im Vogtlandmuseum eingelagert werden.

Jahrelang setzten sich antifaschistische Plauener - darunter Mitglieder des RF-Fördervereins und Leser der Zeitschrift - bei zuständigen Stellen dafür ein, die Tafel an ihrem traditionellen Platz wieder zur Geltung zu bringen. Der 65. Jahrestag der Ermordung Thälmanns wäre dafür ein würdiger Anlaß gewesen.

Auch der Leserbrief eines Einwohners in der "Freien Presse", der daran erinnerte, US-Präsident Obama habe in Buchenwald gefordert, aller Opfer des Nazismus in Toleranz zu gedenken, stieß bei den Rathausoberen einschließlich des FDP-Oberbürgermeisters Oberdorfer auf taube Ohren. Unter fadenscheinigen Vorwänden wie dem "Denkmalsschutz der Fassade des alten Rathauses" wurde eine Wiederherstellung des früheren Zustandes abgelehnt. Allerdings brachte man an eben jener Fassade des Bauwerks vor geraumer Zeit eine unschöne Kunststofftafel mit der Rathauschronik an!

Am Tag der 65. Wiederkehr der Ermordung Ernst Thälmanns begab sich eine Gruppe antifaschistischer Bürger Plauens zum historischen Ort. Nach einer ehrenden Ansprache wurde ein Blumengebinde niedergelegt. Der Redner hob hervor, daß Handeln im Thälmannschen Sinne auch heute den Zusammenschluß aller linken Kräfte gegen die braunen Volksverführer erfordere. Bei der jüngsten Stadtratswahl hatte die faschistische NPD in Plauen 1770 Stimmen erhalten.

In letzter Zeit waren die Stadtoberen mit Vorbereitungen zur Grundsteinlegung eines "Wende"-Denkmals vollauf beschäftigt. Hier stimme ich ausnahmsweise mit Pfarrer Friedrich Schorlemmer überein, der solche Vorhaben als überflüssig ablehnte und statt dessen vorschlug, die dafür vorgesehenen Mittel dem Bildungswesen zur Verfügung zu stellen.

Heute ist es mehr denn je ein dringendes Gebot, an Julius Fuciks Worte zu erinnern: "Menschen, ich hatte Euch lieb, seid wachsam!" Sie sind auf einem Plauener Denkmal für die Kämpfer des antifaschistischen Widerstands eingraviert.

Heinz Behrendt, Plauen/Vogtland

Raute

Vom kaiserlichen Marineoffizier zum engagierten Kommunisten

Hans Paasches Afrikaner-Briefe

Vor fast einem Jahrhundert - man schrieb das Jahr 1913 - erregte eine Veröffentlichung großes Aufsehen. Der damals 32jährige Kapitänleutnant a.D. Hans Paasche, Sohn eines nationalliberalen Reichstags-Vizepräsidenten und Großaktionärs, hatte als kaiserlicher Marineoffizier an der Niederschlagung von Aufständen in "Deutsch"-0stafrika teilnehmen müssen. Er war dadurch zum radikalen Pazifisten geworden. Nun hatte er aus der Sicht eines von "abendländischer Hochkultur" unverdorbenen Afrikaners (seines ehemaligen "Burschen" und späteren Freundes) eine vernichtende Kritik der deutschen Lebensweise und gesellschaftlichen Verhältnisse verfaßt. Sie erschien als Serie von Briefen des Afrikaners Lukanga Mukara an dessen Herrscher, dem er seine Eindrücke von Deutschland schildert.

Wer diese Briefe liest, ist erschrocken. Die Verfremdung erhellt schlaglichtartig Unnatürlichkeit und Sinnlosigkeit von Sitten und Verhaltensweisen, ja der ganzen Lebensverhältnisse in der bürgerlichen deutschen Gesellschaft - ob es um Wohnen, Bekleidung, Körperkultur und Hygiene geht, oder ob es Verkehr, Warenfetischismus, Handel und Reklame betrifft, das "Rauchstinken" (Nikotingenuß), das Saufen und das Kotzen bei Kaisers Geburtstag, die Mißachtung der Frauen, das Verprügeln der Kinder.

Plastisch sieht man sie vor sich, die kaisertreuen, kriecherischen deutschen Spießer in ihrer grenzenlosen Überheblichkeit, die "glauben, die Erde sei um ihretwillen gemacht. Sie halten sich für das Beste", was hervorgebracht wurde. (S. 31) Man spürt die Verbitterung der Hungernden, die erleben, wie andere die Nahrung vergeuden. Der deutsche Spießer ißt nicht, er schluckt ohne Appetit. Er mästet die Schweine, damit sie fett werden, und er mästet sich, um seine natürlichen Fähigkeiten einzubüßen. Die Männer verbannen die Frauen an den Kochtopf, um sie dumm zu halten. Nahrungsgüter, die auch im Umland wachsen, werden von weither antransportiert, wenn das Gewinn bringt. Nicht, was die Natur dem Menschen bietet, ist wichtig, sondern der Besitz der richtigen Papiere - wer über solche verfügt, kann Tausenden Ackerland und Korn wegnehmen, so daß sie für ihn arbeiten müssen, um nicht zu verhungern. Für ihre Arbeit gibt er ihnen Geld, aber nie zuviel; sie sollen damit nur das kaufen, was ihn reich macht, sie aber in Armut und Krankheit hält. Ihre Kinder dürfen nur lernen, was für ihn gut ist. "Weil aber das Volk ... den Unterschied zwischen wenigen Reichen und vielen Armen als etwas Großes und Bewundernswertes ansieht, nennt es sich ein Kulturvolk." (S. 60)

Ist es dann doch nicht zu vermeiden, daß sich viele Sklaven aus der Armut und dem Hunger erheben, so wird dafür gesorgt, daß große Zerstörungswerkzeuge alles, was gebaut wurde, vernichten ... Nicht einmal der Krieg bringt diese Leute zur Besinnung. "Sie zählen und schreiben auf, wieviel Schiffe untergehen, wie lange der Krieg dauert, wie viele Menschen getötet, wie viele vor Angst irrsinnig wurden ... Sie tragen das in schöne Bücher ein ... Man macht Bilder von ihnen und sagt, sie seien berühmt ..." (S. 63) Zum Afrikaner aber spricht der weiße Herr: "Ihr seid eben ungebildet und abergläubisch; ich werde Euch mal Missionare schicken, die Euch den rechten Glauben und das Zählen beibringen, damit Ihr ein nützliches Kulturvolk werdet und Euch am Weltmarkt beteiligt". (S. 61 f.)

Im neunten Brief berichtet Lukanga über seine Teilnahme am Treffen der deutschen Jugendbewegung auf dem Hohen Meißner (Oktober 1913) - die Jugend ist Paasches Hoffnung. Er träumt von einer "ganz anderen Ordnung", von einem "Zusammenleben, das auf Mitmenschlichkeit, Respekt, Achtung, Mitgefühl, Gerechtigkeit, Freiheit und Solidarität beruht". (S. 143) Für eine solche Zukunft setzt er alles aufs Spiel. So weigert er sich, als Richter einen Matrosen zu verurteilen, er enthüllt die Kriegsabgaben als Mittel zur sinnlosen Verlängerung des Weltkriegs und wendet sich gegen Kriegerdenkmäler.

1917 feiert er gemeinsam mit französischen Kriegsgefangenen den Jahrestag der Erstürmung der Bastille. Wegen seiner pazifistischen Aufrufe inhaftiert, befreien ihn am 9. November 1918 revolutionäre Matrosen aus einer Irrenanstalt. Als Mitglied eines Vollzugsausschusses der Arbeiter- und Soldatenräte erkennt er, daß die Mehrheitssozialisten mit dem alten Behördenapparat keinerlei Änderung der Machtverhältnisse zulassen werden. Er wird Mitglied der KPD, wohl wissend, daß die Versäumnisse der Revolution nicht mehr gutzumachen sind, denn - so schreibt er 1919 - "... noch immer neigt das Volk dazu, den zu vergöttern, der es mit Füßen tritt und den, der es zur Freiheit führen könnte, kraft konterrevolutionären Rechtes 'auf der Flucht' zu erschießen." (S. 102)

Damit hat Paasche, der sich u. a. auch in der Naturschutzbewegung engagierte, sein Schicksal klar erkannt. Am 21. Mai 1920 rückte die Reichswehr-Soldateska mit einem Oberleutnant und über 50 Mann mit Karabinern und MG an, umzingelte sein Haus, während er im See badete, und erschoß ihn hinterrücks. Kurt Tucholsky schrieb zu diesem Mord ein bewegendes Gedicht. - Es ist das Verdienst des Donat-Verlages, die "Forschungsreise" neu herausgebracht zu haben, ein Verdienst besonders deshalb, weil deutscher Hurra-Chauvinismus und entsprechende Pflicht- und Ehrbegriffe weder 1918 noch 1945 ausgestorben sind. Machtfetischismus und Knechtseligkeit gehören zur BRD heute so, wie Militarisierung, Rüstungsprofite und Teilnahme an den Kriegen der NATO. Deutsche EU-Politik und Entwicklungshilfe, die Verfolgung der Friedensbewegung im Innern, Medien- und Schulpolitik u. v. m. sind die direkte Fortführung der imperialistischen Strategie Deutschlands im 20. Jahrhundert.

Im Anhang des Forschungsberichts finden wir einen zehnten Brief. Er wurde vor zwei Jahren von polnischen Schülern verfaßt - liegt doch der Ort, wo Paasche lebte und starb, heute in Polen. Lukanga erwähnt darin einen "Kasten, der flimmert und spricht", einen Fernseher. Er zeigte, was heute in Afghanistan geschieht, wo "Mädchen und Jungen Augen und Finger verlieren, weil sie nicht wissen, daß die ‹Schmetterlinge', mit denen sie spielen, Minen sind ...". (S. 165) Der Fernseher informiert über Krieg und Gewalt und das Elend der Menschen. Der Brief, den die jungen Polen geschrieben haben, spricht von ihrem Ideal: einem Leben der Menschen in Frieden und Freundschaft miteinander. Alle Kinder sollen vor Hunger und Schmerz geschützt sein.

Dem Donat-Verlag ist - fast ein Jahrhundert nach der "Forschungsreise" - ein wunderbares Buch gelungen.

Dr. Ernst Heinz


Hans Paasche: Die Forschungsreise des Afrikaners Lukanga Mukara ins innerste Deutschland - Geschildert in Briefen Lukanga Mukaras an den König Ruoma von Kitara. Herausgegeben von Franziskus Hähnel sowie mit Beiträgen von Iring Fetscher und Helmut Donat und 25 farbigen Zeichnungen nach Vorlagen afrikanischer Wandmalereien von den Bissago-Inseln und aus Lunda. Donat-Verlag, Bremen. 168 Seiten. 12,80 €. ISBN 978-3-938275-63-4

Raute

Wie sich Horst Köhler bei einem "Festakt" in die Nesseln setzte

Nur ein Lapsus?

Der Bundespräsident hielt am 9. Oktober anläßlich des 20. Jahrestages der seinerzeitigen Ereignisse in Leipzig eine Rede. Zum Festakt waren etliche der "Dissidenten" und "Oppositionellen" geladen, die nach offizieller Sprachregelung inzwischen zu "friedlichen Revolutionären" mutiert sind. Horst Köhler äußerte sich auch zu den Risiken und Gefahren, die am 9. Oktober 1989 angeblich für die "Helden des Wunders von Leipzig" bestanden hätten. Dabei schoß er ein Selbsttor erster Klasse. Die so ins Schleudern geratenen Medien suchten den blamablen Vorgang zunächst zu verharmlosen.

Auch die Presseerklärung der Linksfraktion im Sächsischen Landtag begann mit dem infantilen Satz: "Der an sich gelungene Festakt ‹20 Jahre Friedliche Revolution' in Leipzig wurde durch eine bundesweit wahrgenommene Peinlichkeit beeinträchtigt."

Worin bestand denn nun diese "Peinlichkeit"?

Die Stelle in Köhlers Text ist vielfach zitiert worden: "Vor der Stadt standen Panzer, die Bezirkspolizei hatte Anweisung, auf Befehl ohne Rücksicht zu schießen. Die Herzchirurgen der Karl-Marx-Universität wurden in der Behandlung von Schußwunden unterwiesen, und in der Leipziger Stadthalle wurden Blutkonserven und Leichensäcke bereitgelegt."

Die erlauchten Zuhörer, die vor dem "Festakt" gebetet hatten, nahmen diese infamen Behauptungen ohne Protest auf, obwohl es einige von ihnen zweifellos besser wußten. Im Unterschied zu Horst Köhler waren sie nämlich im Oktober 1989 in Leipzig dabeigewesen.

Die Medien fanden schnell heraus, woher die anrüchige Textstelle stammte: aus einem Buch von Michael Richter, Mitarbeiter des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung. Er besitzt einschlägige Erfahrungen bei der Verbreitung von Unwahrheiten im staatlichen Auftrag. Sein "Werk" wurde von Sachsens Ministerpräsident Tillich vorgestellt, angepriesen und dann an Schulen kostenlos ausgeliefert.

Richter erwies sich einmal mehr als Lügenbaron. Gemeinsam mit einem gewissen Mike Schmeitzner hatte er Mitte der 90er Jahre im Auftrag des damaligen Regierungschefs Kurt Biedenkopf die durch diesen prämierte Story vom angeblichen Giftmord Kurt Fischers an Sachsens Ministerpräsident Dr. Friedrichs erfunden. Diese Räuberpistole wurde gedruckt, obwohl die Autoren meine diesbezügliche Recherche kannten, die in Übereinstimmung mit Staatsanwalt, ermittelndem Kriminalisten, Pathologen und letzten Zeitzeugen eindeutig ergeben hatte, daß kein Giftmord stattgefunden hat. Doch die Kolportage der Unwahrheit blieb für Richter und seinen Kumpan ohne Folgen.

Was die sogenannten Fakten betrifft, die sich Köhler bei Richter auslieh, ist folgendes zu bemerken: Prof. Karl-Friedrich Lindenau, der 1989 an der von Köhler genannten Leipziger Klinik Direktor war (er wurde nach der "Wende" entlassen und ging nach Bayern), hat in einem Brief an den Bundespräsidenten gegen dessen wahrheitswidrige Darstellung protestiert. Die von Köhler genannte "Stadthalle" hat es übrigens nicht gegeben. Auch die anderen Details der Rede des Präsidenten sind frei erfunden. Sämtliche bewaffneten Organe hatten von Egon Krenz die strikte Weisung, keine Waffen einzusetzen.

Übrigens war schon durch das Landgericht Berlin in dessen Urteil gegen Krenz vom 25. August 1997 bestätigt worden, daß der Staatsratsvorsitzende das Menschenmögliche getan hat, um ein Blutvergießen mit unabsehbaren Folgen in Leipzig zu vermeiden.

Damit ergibt sich die Frage: Warum trug Köhler nicht die Tatsachen, sondern eine schlecht erfundene Horrorstory vor?

Gehen wir davon aus, daß er mindestens einen Redenschreiber beschäftigt, dann würde zwar die Verantwortung formell bei diesem liegen, Köhler aber nicht entlasten, weiß doch jeder, welches Gewicht den Aussagen eines Staatschefs beizumessen ist. Da der Bundespräsident den zitierten Text in seiner Rede verwendete, identifizierte er sich unverkennbar mit jenen Sätzen, welche die DDR-Führung der Planung eines Blutbads bezichtigen.

Es gibt keine andere Erklärung als jene, daß auch er etwas "Pikantes" zur Verteufelung der DDR beisteuern wollte.

Köhlers Leipziger Rede trägt nicht nur dazu bei, die Ereignisse von 1989 verzerrt darzustellen, sondern ist auch ein Beitrag zur Fortsetzung des Kalten Krieges. Es dürfte vergebliche Liebesmüh sein, Antikommunisten vom pathologischen Haß auf die DDR und den Sozialismus abbringen zu wollen. Vielleicht aber könnte sich der Bundespräsident wenigstens mit einer Äußerung Abraham Lincolns vertraut machen, der bemüht war, nach dem Bürgerkrieg zwischen den Nord- und den Südstaaten zur Versöhnung beizutragen. Der USA-Präsident erklärte am 4. März 1865: "Mit Groll gegen niemanden, mit Nächstenliebe gegenüber allen ­... laßt uns bestrebt sein, die Arbeit, die wir begonnen haben, zu beenden, die Wunden unseres Landes zu versorgen."

Wie man sieht, war Lincoln ein Präsident von Format.

Prof. Dr. Horst Schneider

Raute

Präsidialamt geht auf Distanz

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

Raute

Vom Anarcho-Syndikalisten zum disziplinierten "Parteisoldaten"

Der Weg des Leipzigers Richard Thiede

Die Zusammenführung aller Linkskräfte zu einheitlichem Handeln - mit Geduld, Toleranz und unter Zurückstellung von Meinungsverschiedenheiten in bezug auf Weg und Ziel - ist die entscheidende Voraussetzung, um überhaupt politische und gesellschaftliche Veränderungen perspektivisch durchsetzen zu können. Klaus Parche versinnbildlichte seinerzeit dieses gemeinsame Handeln mit der Grafik "Die Stimme, die sie fürchten".

Ich möchte im folgenden den Weg meines Vaters Richard Thiede nachzeichnen, der für die Einheit der Linken auf besondere Weise gestritten hat. Am 6. Februar 1906 in Leipzig geboren, wuchs er in einer Eisenbahnerfamilie auf. Sein Vater war Sozialdemokrat, gehörte von 1918 bis 1930 dem SPD-Ortsvorstand und als Gewerkschafter dem Betriebsrat des Hauptbahnhofs an. In der Zeit des Kapp-Putsches stand er mit in vorderster Linie der Reichsbahner zur Abwehr der aufrührerischen Militaristen. In dieser Zeit begann Richards politischer Entwicklungsweg.

In den von ihm hinterlassenen Aufzeichnungen berichtete mein Vater: "Wir waren die frühreife Jugend des 1. Weltkrieges und der Nachkriegszeit, hatten Hunger und Elend dieser Jahre erlebt und standen durch Familienerziehung und eigene Erfahrungen bereits sehr jung aktiv im gesellschaftlichen Leben. All das hat uns zu klassenbewußten Menschen gemacht. Wir haben uns gegen Willkür der Herrschenden mit ihrer Militärclique, gegen Staat, Polizei und Justiz zu wehren gelernt. Theoretisch nicht immer ganz klar, aber stets dazu bereit, neue Erkenntnisse zu sammeln."

Richard besuchte Versammlungen unterschiedlicher linker Jugendverbände. Als Lehrling organisierte er sich zuerst in der Freien Sozialistischen Jugend, später in der Anarcho-Syndikalistischen Jugend und ab 1923 in der Freien Arbeiter-Union Deutschlands (FAUD). Bei Kundgebungen und Demonstrationen, die meist auf dem Augustusplatz stattfanden, stand er jedoch in einer Front mit KJVD- und KPD-Genossen, auch wenn noch manch ideologischer Streit ausgefochten werden mußte.

Bereits Jahre vor 1933 hatte sich die FAUD in ihrem Presseorgan "Der Syndikalist" eindeutig gegen die Faschisten Italiens und Hitlers Nazis gewandt. Nach dessen Einsetzung als Reichskanzler forderte sie wie die KPD einen von allen antifaschistischen Kräften getragenen Generalstreik. Doch es war bereits zu spät.

Noch vor dem Verbot der FAUD wurde in den Monaten Februar und März 1933 der größte Teil ihrer Spitzenfunktionäre verhaftet. Der Rest stellte sich auf die Illegalität ein. Die Reichsleitung der FAUD wurde aus Sicherheitsgründen in Etappen von Berlin nach Leipzig verlegt. Mein Vater war zu dieser Zeit Kassenwart. Nach der erzwungenen Emigration des FAUD-Vorsitzenden Ferdinand Götze ("Nante") übernahm er die illegale Reichsleitung. Der Festnahme an seinem 31. Geburtstag (1937) folgten Monate härtester U-Haft in Leipzig und in der Dresdner "Mathilde". Am 19. Januar 1938 wurde Richard Thiede wegen "Hochverrats" vom Freislerschen "Volksgerichtshof" zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt. In Waldheim war er Folterungen, Essenentzug, Dunkelhaft und Morddrohungen ausgesetzt. Im November 1943 erfolgte seine Überstellung in das KZ Buchenwald. Auch in der "Schutzhaft" gingen die Torturen weiter. Gesundheitlich heruntergekommen und dem Tode geweiht, wurde Richard durch ihm bekannte Leipziger Kommunisten der illegalen Leitung im Außenlager Kassel-Druseltal untergebracht. Hier war er als Elektriker relativ selbständig, wenn auch unter ständiger SS-Aufsicht.

Beim Vorrücken der amerikanischen Truppen wurden die Kasseler Häftlinge in Richtung Buchenwald im Marsch gesetzt. Bei Harzgerode konnte mein Vater mit einem tschechischen Leidensgefährten entkommen. Am 28. April 1945 traf er in Leipzig sein, wo er sich sofort dem dort vertretenen Nationalkomitee Freies Deutschland, später dem Antifa-Block, anschloß. Im Ortsteil Portitz gründete er selbst die Antifa-Jugend. Nach Überwindung bestimmter Vorbehalte einzelner Funktionäre in bezug auf frühere "politische Abweichler" wurde er bald darauf Mitglied der KPD. Ein entschiedener Verfechter der Einheit der Arbeiterklasse, beteiligte er sich an den Vorbereitungen zur Gründung der SED. Ob als anerkannter Kämpfer gegen den Faschismus, in seinen Funktionen innerhalb der VVN und der Nationalen Front, als Parteisekretär im Ortsteil, als Mitarbeiter der SED-Kreisleitung, als Kaderleiter in Betrieben und Einrichtungen, als Leiter von VdN-Reisen in die Sowjetunion oder als Begleiter von Delegationen zum KZ Buchenwald hat er viele Jahre sozialistischkommunistische Aufklärungs- und Erziehungsarbeit unter Jugendlichen wie Erwachsenen geleistet.

Richtschnur für Richard waren der am 19. April 1945 abgelegte Schwur von Buchenwald - "Die Vernichtung des Faschismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel. Das sind wir unseren gemordeten Kameraden und ihren Angehörigen schuldig" - und der Aufruf der KPD vom 11. Juni 1945. Er stellte die Krönung eines komplizierten und langwierigen Erkenntnisprozesses der Arbeiterbewegung dar.

Für diese Ideale hat sich Richard Thiede bis zu seinem Tod am 21. März 1990 eingesetzt. Er selbst zog so das Fazit seiner Erfahrungen: "Wir waren überzeugt, den richtigen Weg zu gehen und einen guten Beitrag zur gemeinsamen Sache des Sozialismus-Kommunismus zu leisten. Und dennoch war unsere Losung ‹Getrennt marschieren - vereint schlagen!' falsch. In Gruppen und Grüppchen waren wir organisiert, obwohl wir im Betrieb, bei Arbeitskämpfen und Erwerbslosen-Demonstrationen sowie am 1. Mai Seite an Seite marschierten. So kam es, daß wir der wachsenden Front des Faschismus in Deutschland keine geeinte eigene Front entgegenstellen konnten. So geschah es auch, daß wir die bittere Erfahrung noch machen mußten und erst im Zuchthaus und im KZ zusammenfanden."

Es ist zu hoffen, daß der linke Einheitsgedanke diesmal nicht erst im Angesicht neuer faschistischer Peinigung geboren werden muß, sondern daß der drohenden Gefahr durch gemeinsame Aktionen aller Antifaschisten rechtzeitig Einhalt geboten wird.

Gert Thiede, Suhl


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

"Verflucht sei der Krieg!" - Denkmal in der französischen Gemeinde Gentioux (Departement Creuse) für die vom Tod der Väter getroffenen Kinder

Raute

Das große Poststerben

Die Post ist da! Vor vielen, vielen Jahren war das Erschallen des Posthorns ein freudiges Ereignis. Da kam die Postkutsche direkt vor die Tür, brachte die Briefe und nahm auch solche gleich wieder mit. Hier fällt mir schon eine mögliche Modernisierung oder Rationalisierung ein: Man könnte doch die Zusteller "veranlassen", auch gleich noch die Post bei den Anwohnern einzusammeln. Das brächte die begehrte Personal-, Fahrzeug- und Benzineinsparung, worauf der Aktienkurs "freundlich" reagieren würde.

In den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts brachte die Post ein Beamter in prächtiger blauer Uniform, denn diese vermaledeiten Hausbriefkästen gab es zu jener Zeit noch nicht. Er stieg mit seiner riesigen Ledertasche hoch bis in die vierte, fünfte oder sogar sechste Etage hinauf und steckte die Sendung in einen speziellen Schlitz an der Wohnungstür. Das ist Vergangenheit. Es wird zwar ständig von der "Dienstleistungsgesellschaft" schwadroniert, aber Dienste werden nur dort geleistet, wo es sich auch "rechnet" und die internationalen Wertpapiermärkte mitspielen. Einst gab es den Landbriefträger, der Jahr für Jahr Tausende Kilometer "Wege übers Land" hinter sich brachte, um seine dankbare Kundschaft zu bedienen. Er war gewissermaßen eine Institution. Diese unerwartete Retrospektive über die Post ist ihr selbst zu verdanken. Sie fordert nicht nur in bunten und teuren Prospekten zum Briefeschreiben auf, sondern verbessert auch klammheimlich ihre Chancen an der Börse, indem sie ihre "Dienste" immer weiter reduziert und ständig Filialen dichtmacht.

Da steht mir wieder meine Kindheit vor Augen: Das imposanteste Gebäude am Platze war wohl von jeher die Post, gar die Hauptpost, oft ein wuchtiger roter Backsteinbau an zentraler Stelle. Hinter den Schaltern saßen uniformierte Beamte. Damals wurde gemorst, es gab noch die Rohrpost - "un pneu", wie die Franzosen sagten. Der Brief oder die Karte wurde in eine Patrone gesteckt und unter enormem Luftdruck über ein kompliziertes System in alle Stadtviertel gejagt, so schnell wie ein Telegramm. Das gibt es ja nun auch nicht mehr. Heute surft man.

Aber halt! Das wäre eine Anlagemöglichkeit zur Innovation der Zustellung. So, wie man die Bevölkerung TV-verkabelt, könnte man sie ja auch verröhren, gegen Gebühr, versteht sich. Selbst die maroden Banken würden da einen Kredit lockermachen, wenn schon nicht in Deutschland, dann vielleicht in Kuwait oder den Golf-Emiraten. Dort würde sich bestimmt jemand finden, der die Menschenrechte der geschundenen Zusteller durch sein Kapitalopfer schützen möchte. Denn in aller Regel hat niemand eine blasse Ahnung davon, was deren Arbeit für eine Schinderei durch Eis und Schnee, durch Sturm und Regen ist. Zumindest gilt das für die Chefetagen der Post-AG. Sie vergrößern laufend die Zustellbezirke, verschärfen also die Qual der völlig wehrlosen "lohnabhängig Beschäftigten", die noch dazu oft nur auf Probe eingestellt und häufig ausgetauscht werden. Welcher Großstädter kennt denn heute noch "seine" Briefträgerin oder "seinen" Briefträger?

Dennoch, so ganz herzlos sind die Chefs nun auch wieder nicht: Sie erwägen, die Zustellung am Wochenbeginn ganz oder teilweise, vorübergehend oder für immer, einzustellen. Da kann sich das ausgeruhte Personal dann für den Dienstag "fit" machen. Es sei denn, die Manager entschließen sich, die Zustellung überhaupt einzusparen und sie durch ein neues - natürlich hochmodernes - System von Postschließfächern mit "marktüblichen" Gebühren zu ersetzen. Der "freie Bürger" könnte sich seine Post taufrisch irgendwo selbst abholen.

Walter Ruge

Raute

Wie DDR-Jagdkollektive abserviert wurden

Ein letztes Halali

Es geschah zu "Wendezeiten". Die Mitglieder der Jagdgesellschaft, die aufgekündigt werden mußte, waren fast vollzählig noch ein letztes Mal gekommen. Für die meisten bildete sie die Organisationsform ihres Waidleutedaseins. An diesem Abend war alles vergessen, was einen negativen Beigeschmack gehabt hatte. Jetzt galten weder Jagdneid noch Streit oder der Unmut vergangener Jahre.

Ein einzelnes Horn erklang im Kulturraum der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft. Stille herrschte auf einmal in der Runde. Die einander vertrauten Menschen hüllten sich in Schweigen. In ihren Zügen konnte man Nachdenklichkeit, Rückschau und Ernst lesen. Für manche bedeutete es vielleicht die letzte Zusammenkunft. Worte und Beteuerungen flogen hin und her. "Behaltet im Gedächtnis, wie alles gewesen ist. Vergeßt nicht das Gute: Waidgerechtigkeit und Kameradschaft". Diese Tugenden galten in der DDR.

Ein Jagdkollektiv nahm Abschied von seiner 30jährigen Geschichte. Viele waren Genossenschaftsbauern, Forstarbeiter, Volkspolizisten und Handwerker. In den Wohnungen der Jäger und Heger zeugen Trophäen vom erfolgreichen Waidwerk, das keineswegs nur hochgestellten Funktionären vorbehalten blieb, auch wenn es auf gewissen Ebenen manch arge Übertreibungen gegeben hat.

Erinnerungen an Pirsch und Mondscheinansitz, Hubertusjagd und Drückjagden, die das Kollektiv geformt und gefordert haben, wurden wach. Niemand schämte sich an jenem Abend seiner Gefühle und Regungen. Und nun? lautete die bange Frage.

Nicht jeder hat weiter seinen Pirschbezirk. Mancher hängt die gerade erst neu erworbene Jagdwaffe an den berühmten Nagel. Der eine muß sich jetzt beim neuen Grundherrn einpachten, der andere einbetteln.

Für die Mehrheit wird das in der DDR erlebte und mitgestaltete Jagdwesen auch in Zukunft. weiterwirken, selbst wenn die Übermacht des Geldes und das Privateigentum heute mehr Geltung besitzen als das Können der Jäger oder überliefertes und angewandtes Brauchtum.

Jürgen Ludwig, Zerbst

Raute

Wie der Gegner einen Film über die NVA-Kadettenschule erbeutete

Böse Überraschung

Ich gehörte von 1956 bis 1960 zu den Zugführern und Erziehern der Kadettenschule der NVA in Naumburg.

Es war Anfang 1960. Ich hatte mich beim General, dem Kommandeur der Schule, zu melden. "Die Zentrale hat beschlossen, daß wir unsere Werbung verbessern sollen. Deshalb werden wir einen Film über das Leben an der Kadettenschule drehen. Ich dachte da an einen Tagesablauf, damit jeder sehen kann, was so alles bei uns los ist. Wieviel Zeit brauchen Sie?", sagte der General. Ich erwiderte: "In etwa drei Wochen müßte es zu schaffen sein." "Ist das nicht ein bißchen zu lange?", kam es zurück. "Nein, Genosse General, ich muß doch dafür ein Drehbuch erarbeiten und mit den Betroffenen alles besprechen, damit am Ende etwas dabei herauskommt, was unseren Vorstellungen entspricht. Das dauert etwa eine Woche. In der zweiten Woche werden wir dann die Aufnahmen machen, und in der dritten muß der Film geschnitten werden." "Ich dachte, das wäre an einem Tag zu schaffen. Früh beginnen, mit den Jungs mitgehen, und dann zur Nachtruhe abschließen." "So einfach geht es nicht, denn die Szenen müssen ja auch überzeugend gestaltet, am Ende in die richtige Reihenfolge gebracht und mit Zwischentiteln versehen werden." "Na gut, wenn es nicht anders geht. Aber nicht mehr als drei Wochen. Blumentritt wird Ihnen dabei zur Seite stehen. Also an die Arbeit!"

Ich kann heute noch sagen, daß es ein schöner Auftrag war, der Spaß gemacht und uns die folgenden Tage in Atem gehalten hat.

Nachdem die Aufnahmen im Kasten unserer 16-mm-Kamera waren, setzte sich der General persönlich dafür ein, daß wir in der Filmfabrik Wolfen am gleichen Tag die entwickelten Filme wieder mitnehmen konnten. Dafür durften wir sogar mit dem Generalswagen - einem sowjetischen Pobjeda - fahren! Alles hat geklappt. Mit den Filmen verzog ich mich sofort in den Vorbereitungsraum des Zeichensaals, wo ich Streifen für Streifen numerierte, aufhängte und die Zwischentitel einfügte. Der entscheidende Teil der Arbeit hatte begonnen: Das Schneiden und Kleben.

"Du sollst zum General kommen! Sofort!" Mein erster Gedanke: Der will doch nicht etwa schon den fertigen Film sehen. Aber darum ging es nicht. "Was haben Sie dafür bekommen?", fragte der General. Er wollte gar nicht wissen, wie weit ich sei.

"Ich verstehe Sie nicht. Was und wofür soll ich etwas bekommen haben?" "Nun sei mal ehrlich, wieviel hat man Dir gegeben?" Ich verstand den Zusammenhang nicht und wußte mir keinen Reim darauf zu machen, wovon der General sprach. "Dein Film ist im Westfernsehen gelaufen. Irgendeiner muß ihn ja dort angeboten oder gar an sie verkauft haben."

"Genosse General, wir haben die Filme um 10 Uhr im Betrieb abgegeben und um 16 Uhr wieder abgeholt. Ich war die ganze Zeit mit Blumentritt zusammen. Zu anderen Personen hatten wir keinerlei Kontakt."

Ich konnte es fast nicht glauben: In der Filmfabrik hatte man beim Entwickeln sofort eine Kopie gezogen, denn es fehlte nicht eine einzige Szene. Unser Streifen muß für den westdeutschen "Aufklärer" von großem Wert gewesen sein. Das "Werk" wurde in vielen Volksbildungsverwaltungen vorgeführt und hat zu zahlreichen Bewerbungen an der Kadettenschule beigetragen.

Doch das Anliegen dieses Films war dann nicht mehr umsetzbar. Wir hatten ihn zwar fertiggestellt, aber die Kadettenschule wurde bereits im Juni 1960 geschlossen.

Eberhardt Steinhäuser, Görlitz

Raute

Wie Frau von der Leyen ungeahnten Kindersegen erfand

Eingebildete Trendwende

Am Jahresanfang überraschte uns die CDU-Familienministerin mit der Meldung, bei Geburten habe sich in Deutschland 2008 endlich eine Trendwende vollzogen. Es gehe jetzt aufwärts mit dem Kindersegen. Ursula von der Leyen meinte, daß die Geburtenrate pro Frau auf weit über 1,4 gestiegen sei. Dann ruderte sie plötzlich zurück. Sie hatte sich nämlich geirrt. Die Zahlen für 2008 waren ganz andere, und das trotz der Erhöhung des Kindergeldes, der Einführung des Elterngeldes, steuerlicher "Vergünstigungen" für Kinder und der Bemühungen um mehr Kindertagesplätze. Selbst die berufliche Auszeit für Väter erweist sich nicht als Stimulus für mehr Kinder. Die BRD gehört zu den europäischen Ländern, in denen die wenigsten Kinder geboren werden. Die Geburtenrate lag 2008 offiziell bei 1,38 Kinder pro Frau. 2007 wies Deutschland lt. OECD 1,39 Kinder aus. Frankreich lag bei 1,96, Dänemark bei 1,85, Schweden bei 1,85, die Niederlande bei 1,71 und Norwegen bei 1,9.

Im ersten Krisenhalbjahr 2009 kamen in der BRD etwa 312.000 Babys zur Welt. Die Geburten sanken dramatisch um 32.000 oder 6,6 Prozent. Der Abwärtstrend hat sich demnach fortgesetzt. Wissenschaftler gehen davon aus, daß für eine stabile demographische Bevölkerungsstruktur in Deutschland 2,1 Kinder je Frau geboren werden müßten. Woran liegt es, daß die Geburtenzahlen zurückgehen? Die Antwort ist komplexer Natur. Wir haben es mit einem gesamtgesellschaftlichen Problem zu tun. Es hängt mit dem zunehmenden Rückzug des Staates aus der sozialen Verantwortung zusammen.

Ein wesentlicher Einflußfaktor für die Reproduktion der Bevölkerung ist die Entwicklung des Realeinkommens der arbeitenden Bürger. Seit etwa 20 Jahren sinkt dieses in der BRD, und mit ihm verschlechtern sich tendenziell die Geburtenraten. Die Deregulierung des Arbeitsmarktes führt zu einer immer stärkeren Vernichtung von versicherungspflichtigen Vollzeitarbeitsplätzen. Dafür steigt der Anteil von Geringverdienern, Zeitarbeitenden und Minijob-Inhabern.

Kinder stellen ein hohes Armutsrisiko für Familien in Deutschland dar. Insbesondere seit Einführung der Hartz-IV-Gesetzgebung ab Januar 2005 ist die Kinderarmut enorm angestiegen. Heute leben etwa 2,6 Millionen Kinder in Armut.

Familien mit Kindern und Alleinerziehende entrichten in der BRD, verglichen mit anderen Ländern, die höchsten Steuern und Abgaben. Die Aussage traf die EU Anfang September. Auch in internationalen Vergleichen über die Betreuung von Kindern belegt Deutschland hintere Ränge. Es fehlen nach wie vor ausreichende und kostenlose Kita-Plätze. Weiterhin beweisen PISA-Studien, daß das deutsche Bildungssystem nicht mehr dem internationalen Standard entspricht. Das frühe "Aussortieren" der Kinder in Hauptund Realschule bzw. Gymnasium verbaut insbesondere dem Nachwuchs aus ärmeren Schichten die Zukunft und den Zugang zum Studium. Statt des überalterten dreigliedrigen Schulsystems muß endlich eine moderne Ganztagsschule her, die ein längeres gemeinsames und besseres Lernen der Kinder und Jugendlichen sichert. Man könnte hier natürlich von der DDR lernen. Nach einer OECD-Studie gibt die BRD viel zu wenig Geld für Bildung aus. 2006 habe sie nur 4,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in diesen Bereich gesteckt, während die USA, Südkorea und Dänemark mehr als 7 % investierten. Als ein Resultat dieser Entwicklung stellt die Studie fest, daß in der BRD zu wenig junge Menschen ein Fach- oder Hochschulstudium aufnehmen.

Es ist anzunehmen, daß neue Abgabenlasten auf die echten Leistungsträger der Gesellschaft und deren Familien zukommen werden. Der Trend zu immer weniger Kindern dürfte sich fortsetzen.

Dr. Ulrich Sommerfeld

Raute

RF-Extra

Polen, Deutsche und der Internationalismus Kinder in Auschwitz

"Für unsere und eure Freiheit!"

Das Jahr der Gedenktage geht einher mit sich überschlagender Hetze. Dem aufmerksamen Zeitgenossen wird nicht verborgen bleiben, daß es in Wahrheit nicht um die DDR, sondern um Ablenkung von den Folgen der kapitalistischen Weltwirtschaftskrise geht. Bedrückend ist es, wie die Massenmedien pausenlos Unrat ausschütten. So ist man froh, wenn es Gutes zu vermelden gibt.

Das Internationale Komitee Buchenwald-Dora hat seine Kundgebung zum Tag der Befreiung in diesem Jahr dem Andenken an den Überfall auf Polen gewidmet. Tiefen Eindruck hinterließ dort die Rede des polnischen Buchenwald-Häftlings Wladyslaw Kozdon. Er betonte: "Ich will keine Zeit mit der Beschreibung meiner Erlebnisse verlieren und nicht die Grausamkeiten schildern, deren Zeuge ich wurde, sondern das hervorheben, was es mir erlaubte, auch weiterhin an die Existenz des Guten zu glauben.

In der Hölle von Buchenwald begegnete ich so guten und edlen Menschen, wie ich sie später nie mehr im Leben traf, vielleicht deshalb, weil es im normalen Leben nicht nötig ist, solche Eigenschaften zu zeigen. Niemals vergesse ich Häftlinge wie Robert Siewert, Kurt Wabbel oder Max Girndt. Ich erinnere mich auch an Helmut, der Sanitäter war und rote Haare hatte. Dank der Charaktereigenschaften dieser Menschen glaubte ich daran, daß die Quelle allen Übels der Nazismus war, daß die Bekämpfung des Nazismus alle Menschen auf der Welt besser machen würde."

Es gibt also mindestens zwei äußerst gegensätzliche geschichtliche Seiten des Verhältnisses der Deutschen zur großen und stolzen polnischen Nation.

Da ist zunächst die Schuld, die Preußen-Deutsche durch rigorose "Germanisierung" auf sich geladen haben und die schließlich mit der Ausrottungspolitik der Faschisten einen Berg der Schande aufgehäuft hat, der noch über Generationen mühevoll abzutragen ist. Dessen müssen sich auch jene bewußt sein, die erst nach dem Kriege geboren wurden und die demzufolge an keinem dieser Verbrechen beteiligt waren.

Jeder fünfte Pole hat den Zweiten Weltkrieg nicht überlebt. Die polnische Nation hat, gemessen an ihrer Bevölkerungszahl, die meisten Toten zu beklagen. Fast 700.000 fielen als Soldaten im Kampf gegen Nazideutschland an den Fronten Europas und in Afrika. Die Briten vergessen nicht die heldenhaften polnischen Kampfflieger, die die Luftschlacht um England mit entschieden. Der einzige nicht-sowjetische Kampfverband beim Sturm auf Berlin war die Polnische Erste Armee. Über fünf Millionen Polen fielen dem Terror zum Opfer, darunter drei Millionen Juden, über die Hälfte der Ermordeten der Shoa, des größten Verbrechens aller Zeiten. Das ist im Bewußtsein der Völker präsent und sehr wichtig. Aber wissen sie ebenso, was mit den nichtjüdischen Polen geschehen ist? Das Morden nahm seinen Ausgang nicht in Treblinka oder Maidanek. Es begann im Herbst 1939 in den Wäldern von Plasnica. Über 12.000 Ermordete liegen dort in Massengräbern: Angehörige der Intelligenz, Bürgermeister, Juristen, katholische Priester und Lehrer Pommerellens.

Wem in Deutschland ist bewußt, was für ein schrecklicher Ort das "Siebte Fort" in Poznán im Herbst und Winter 1939 war? Zunächst Stätte von Massenhinrichtungen durch Erschießen, haben die Faschisten hier in der zweiten Oktoberhälfte die erste Gaskammer errichtet. Dort wurden die Psychiatriepatienten der Heilanstalt Owinska und anderer nordpolnischer Kliniken umgebracht. Die "Euthanasie" in Deutschland 1940/41 folgte erst danach. Man sollte auch wissen: Die ersten Toten der Gaskammern von Auschwitz waren sowjetische Kriegsgefangene, und die angeblich so saubere Wehrmacht hat 1941/42 mehr als drei Millionen gefangener Sowjetsoldaten auf barbarische Weise verhungern lassen.

1967/68 habe ich im Landgericht in Essen als Assistent von Professor Kaul im KZ-Dora-Prozeß Auge in Auge mit dem Hauptangeklagten, SS-Obersturmbannführer Helmut Bischoff, gesessen. Dieser Massenmörder des KZ Dora-Mittelbau war im September 1939 Führer des Einsatzkommandos 1 der Einsatzgruppe IV im Raum Posen. Er hat befohlen, "verdächtige polnische Männer unverzüglich zu erschießen, unabhängig davon, ob sie Waffen tragen oder nicht".

Ein Militärtribunal hat Bischoff wegen seiner Verbrechen als Chef des SD und der Polizei in Magdeburg zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Nach dem Adenauer-Besuch in Moskau 1955 kam er als "Spätheimkehrer" in die BRD zurück. Er brachte schließlich im Dora-Prozeß ein medizinisches Gutachten bei, das ihm eine Herzschwäche attestierte.

Was nun folgte, gehört zu den prägenden Erlebnissen meines Lebens. Das Verfahren wurde mit folgender Begründung eingestellt: Die monatelange Beweisaufnahme, namentlich zu den Bischoff angelasteten Massenerhängungen im KZ, habe erdrückende Fakten offengelegt. Bei ihrer Verdichtung in Plädoyers sei zu befürchten, der Angeklagte werde sich so heftig erregen, daß er in Todesgefahr käme. Da aber jeder bis zum Urteilsspruch als Unschuldiger zu behandeln sei, müsse dies ausgeschlossen werden. Seitdem bedarf ich keiner Belehrung über den Rechtsstaat.

Wenden wir uns dem Guten zu: Die Geschichte der revolutionären deutschen Arbeiterbewegung kann nicht geschrieben werden, ohne herausragende Persönlichkeiten polnischer Herkunft zu würdigen. Rosa Luxemburg kam aus Zamosc, Julian Marchlewski aus Wloclawek, Leo Jogiches aus Vilnius, Karl Radek aus Lwów. Meine langjährige Chefin an der Parteihochschule "Karl Marx", Hanna Wolf, stammte aus Gonionds bei Bialystok.

Ich will nun drei Polen vorstellen, die ich im Herzen trage, weil sie meinen Blick auf die Vielschichtigkeit geschichtlicher und zeitgenössischer Realitäten geschärft haben.

Den Krakauer Juristen Wincenty Hein habe ich in Buchenwald in den 60er Jahren kennengelernt. Er war Häftling im Stammlager von Auschwitz, übrigens im selben Block wie der frühere polnische Ministerpräsident Józef Cyrankiewicz, und wurde dann über Buchenwald nach dem Lager Dora bei Nordhausen verbracht. Hier war er Schreiber im Häftlingskrankenbau. Er hat dort an der Seite des tschechischen Arztes Jan Cespiva und des deutschen Kommunisten Fritz Pröll in der von Albert Kuntz geführten internationalen Widerstandsorganisation gestanden. Er war kein Sozialist, sondern Offizier der Armija Krajowa - der durch die Londoner Exilregierung aufgestellten Landesarmee - und strenggläubiger Katholik. Beiläufig erwähnte er, der Erzbischof von Kraków gehöre zu seinem Bekanntenkreis. Das war Karol Woytila, der spätere Papst. Wincenty war ein aufrichtiger Mann. Russenhaß, den man auch zu sozialistischen Zeiten in Polen manchmal spürte, war ihm fremd. Er habe mit ihnen im Widerstand gekämpft, und darum lasse er nichts auf sie kommen.

In Berlin kamen uns Angehörige der Kampfgruppen entgegen. Was das für Uniformierte seien, wollte er wissen. Ich erklärte, wann und wofür die Kampfgruppen entstanden seien, daß ihnen nicht nur Mitglieder der SED, sondern auch parteilose Arbeiter angehörten. Erst nachdenklich schweigend, sprach Wincenty darauf den gewichtigen Satz: "Wenn ihr euren Arbeitern Waffen in die Hand geben könnt, habt ihr Demokratie."

Der zweite ist ein Genosse, den ich Anfang der 80er Jahre als meinen Kollegen an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften der PVAP kennenlernte. Wir trafen uns beim Delegationsaustausch. Doch nur von der letzten dieser Reisen, im September 1989, will ich berichten: In Polen war die Konterrevolution in vollem Gange. Da hielt er es für seine Pflicht, uns Genossen der SED schonungslos mit dem tatsächlichen Zustand der PVAP zu konfrontieren. Es begann an der Spitze. Wir wurden von Leszek Miller, dem späteren Ministerpräsidenten Polens, empfangen und hatten den Eindruck, daß dieser zielstrebig dabei war, im sich rasch restaurierenden Kapitalismus "anzukommen". Auch mit dem Vorsitzenden der sozialistischen Gewerkschaften Polens konnten wir sprechen und waren irritiert, als er uns kategorisch mitteilte, sie hätten sich von der PVAP verabschiedet, denn für Arbeiter sei da nichts mehr zu erwarten. Und so ging es weiter, durch die verschiedenen Ebenen der Partei bis zur Parteisekretärin eines Obstbaubetriebes nahe Olstyn. Diese alleinerziehende Mutter war, wie auch andere ihrer Genossen, voller Trauer um Volkspolen. Insgesamt bot sich ein schlimmes Panorama.

Ich habe damals meinen Kollegen unter vier Augen gefragt, was er selbst nun tun werde. Aus der PVAP austreten, sagte er, denn er habe mit Leuten wie Miller nichts gemein. Ich habe damals Bedenken geäußert und seine Haltung als etwas zu radikal empfunden. Aber er war im Recht, nicht ich. Er hat die Entwicklung, nicht nur in Polen, korrekt analysiert und die erforderlichen Schlüsse gezogen. Ich habe dazu einige Monate länger gebraucht. Den Zerfall der SED habe ich dann erlebt wie einen Film, den ich schon einmal gesehen hatte. Es wuchs das gleiche Gefühl kalter Verachtung Verrätern gegenüber.

Drittens will ich meinen Freund Bolek nennen, den ich seit Mitte der 90er Jahre kenne. Er war vor 1989 Parteisekretär von Novi Dwor Gdanski im Weichseldelta und ist ein Kaschube. Sich an seiner Seite im Gebiet zwischen Weichsel und Nogat zu bewegen, ist etwas Besonderes, denn er weiß alles, kennt jeden, und wer mit ihm dort unterwegs ist, wird überall wie ein alter Freund empfangen. Da kann es vorkommen, daß der Kapitän eines stattlichen Ausflugsschiffs auf dem Frischen Haff nach Feierabend kurz entschlossen noch einmal "Leinen los!" macht, nur um uns und unserem Enkel eine Freude zu bereiten.

Es ist etwas Besonderes, so empfangen zu werden. Denn wir haben auch schon erleben müssen, wie in einem schönen Ausflugslokal an einem der masurischen Seen eine Deutsche sich umsah, und den draußen verharrenden Mitgliedern ihrer Reisegruppe laut zurief: "Könnt reinkommen. Hier ist alles sauber!" Schlimmer noch: Wir entdecken auf einem Friedhof einen zum Grabmal gestalteten Findling. Der Inschrift ist zu entnehmen, die Enkel eines vor langer Zeit in Nordrhein-Westfalen verstorbenen Mannes hatten seine Urne dorthin umgebettet, weil es sein Wunsch war, "in Heimaterde" zu ruhen. So weit, so gut. Aber unter dem Namen und den Lebensdaten ist noch ein Dienstgrad eingemeißelt, und da steht "Untersturmführer".

Polen haben also gute Gründe, mißtrauisch zu sein. Was die "Deutsche Volksliste" für die Kaschuben, Masuren und viele Polen Oberschlesiens bedeutete, weiß ich von Bolek. Zehntausende von "als Deutsche Brauchbaren" wurden vor die "Wahl" gestellt, entweder zu verhungern oder Soldaten der faschistischen Streitkräfte zu werden.

Unter Marxisten ist unumstritten: Es gilt, auszugehen von einer genauen Einschätzung der jeweiligen konkreten historischen und vor allem der ökonomischen Situation. Der entscheidende Punkt dabei ist die Herauslösung der Interessen der unterdrückten Klassen, aller Werktätigen und Ausgebeuteten aus dem allgemeinen Begriff der Volksinteressen schlechthin, die sich im Kapitalismus letztlich immer als die Interessen der Herrschenden entpuppen. (vgl. LW 31/133) Hier ist die Grenze zu ziehen gegenüber bürgerlichem Nationalismus, jeglichem Rassismus und dem Opportunismus.

Es ist aber leider nicht so, daß die objektiven Verhältnisse automatisch proletarisch-internationalistisches Bewußtsein, insbesondere nicht solches von Dauer, hervorbringen. Wer das noch nicht wußte, hat es seit zwanzig Jahren schmerzhaft lernen müssen.

Es bringt nichts, darüber zu lamentieren, daß wir heute nur wenige sind. Wir sind wenige. Bei Lenin soll man lernen: "Es kommt nicht auf die Schattierungen an, die es auch unter den Linken gibt. Es kommt auf die Richtung an. Der ganze Kern der Sache ist, daß es nicht leicht ist, in der Epoche des furchtbaren imperialistischen Krieges wirklicher Internationalist zu sein. Solche Menschen gibt es nur wenige, aber nur sie sind die ganze Zukunft des Sozialismus, nur sie sind Führer der Massen und nicht Verführer der Massen." (LW 24/65)

Fragen wir nach dem Beitrag Polens bei der Herausbildung unserer Weltanschauung. Wir haben gelernt, daß die deutsche klassische Philosophie, die englische Politische Ökonomie und der utopische Sozialismus jene Quellen sind, ohne die der Marxismus nicht hätte entstehen können. Aber wo finden wir die geschichtlichen Wurzeln des Internationalismus? Sie liegen wesentlich in Polen. Es begann mit der Losung "Za nasza i wasza wolnosz" (Für unsere und eure Freiheit) auf einer Fahne, die auf der Gedenkkundgebung für die russischen Dekabristen 1831 in Warschau erstmals gehißt wurde. Wahrscheinlich war es das Mitglied der polnischen Nationalregierung, Joachim Lelewel, der diese Losung formulierte und dessen Name mit Fug und Recht neben Fourier, Hegel oder Ricardo genannt zu werden verdient.

Aber, so wird mancher einwenden, das war doch damals keine proletarische Bewegung. Das ist richtig. Doch auch die anderen Quellen des Marxismus können schwerlich proletarisch genannt werden, wenn wir einmal von embryonalen Spuren im utopischen Sozialismus absehen. In anderthalb Jahrzehnten änderte sich jedoch der klassenmäßige Kontext des polnischen Freiheitskampfes, und der Krakauer Aufstand von 1846 markierte einen Umbruch, den Marx und Engels sehr aufmerksam registrierten. Beachten wir, daß Karl Marx am 15. November 1847 in Brüssel zum Vizepräsidenten der "Demokratischen Gesellschaft zur Einigung und Verbrüderung aller Völker" gewählt wurde, Lelewel ebenfalls dem Vorstand angehörte und häufig Gast im Hause Marx war, so wird der Zusammenhang plastisch.

Friedrich Engels hat den Beitrag Polens gerühmt: "... dank des Krakauer Aufstandes ist die ursprünglich nationale Sache Polens zur Sache aller Völker geworden, ist die ursprüngliche Frage der Sympathie zu einer Frage geworden, die alle Demokraten interessiert. Bis 1846 hatten wir ein Verbrechen zu rächen; von nun an haben wir Bundesgenossen zu unterstützen, und wir werden danach handeln." (MEW, 4/524)

Auf dem Denkmal für die Kämpfer der Polnischen Ersten Armee im Berliner Friedrichshain steht in beiden Sprachen: "Für unsere und eure Freiheit!" Es wurde von der DDR errichtet. Wir werden dieses Vermächtnis niemals den Feinden überlassen!

Prof. Dr. Götz Dieckmann

(Gekürzte Fassung eines Vortrags in Frankfurt/O. am 30. August)

Raute

Wie man in Apolda an jene erinnert, welche der Faschismus zu "Untermenschen" erklärte

Das Prager-Haus

Apolda ist eine kleine bis mittlere thüringische Industriestadt. Von alters her war sie durch die Glockengießerei und vor allem durch einen großen Obertrikotagen-Betrieb bekannt, der zu DDR-Zeiten annähernd 3000 Frauen Arbeit und damit soziale Sicherheit für ihre Familien gab. Die Glockenherstellung wurde 1988 eingestellt, als sich die DDR-Plankommission nicht mehr in der Lage sah, das für den Guß benötigte und inzwischen verteuerte Buntmetall auf dem Weltmarkt einzukaufen. Die wenigen dort Tätigen wurden in Metallbetrieben der Stadt analog weiterbeschäftigt.

Ganz anders verhielt es sich mit den 3000 Frauen. Ihr großes volkseigenes Kombinat wurde nach dem Anschluß der DDR an die BRD "abgewickelt", die hocheffizienten Strickautomaten auf technologischem Weltniveau von der "Treuhand" nach Italien verscherbelt, wo mit ihnen weiter produziert wird. Von den Frauen arbeitet heute noch ein Zehntel in übriggebliebenen kleinen Privatunternehmen, und von dem großen "Rest" ging etwa ein Drittel in Rente, ein Drittel mußte sich nach anderer Beschäftigung umsehen oder die Arbeitslosigkeit in Kauf nehmen. Und das jüngste Drittel emigrierte aus dem Anschlußgebiet Ost in den Westen des Landes. Auch andere Betriebe der verarbeitenden Industrie wurden niederkonkurriert und in Industriebrachen verwandelt. Auf einer von ihnen ist jetzt gerade ein Altersheim errichtet worden, das für die absehbare Bevölkerungsentwicklung Ost genau die richtige Investition darstellt. Außerdem haben sich einige neue Betriebe angesiedelt, die mit wenigen Beschäftigten solche exportfähigen Erzeugnisse wie Spezialpumpen, Pizzen und die begehrten Apoldaer "Filinchen" herstellen.

Aufgrund dieser sozialen Notlage mit einer hohen Zahl von prekär Beschäftigten und Harz-IV-Empfängern hat sich trotz sozialer und kultureller Bemühungen seit Jahren ein dumpfes Gebräu von Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und nazinostalgischer Demokratieverdrossenheit herausgebildet. Zwar gibt es keine intakte NPD-Struktur, aber lose "Kameradschaften" im Umfeld arbeits- oder anders perspektivloser Jugendlicher machen sich in der Stadt bemerkbar, pöbeln vietnamesische Kleinhändler an, schlagen auf Andersdenkende ein und versuchen eine aggressive Stimmung der Ausgrenzung zu erzeugen.

In dieser Gemengelage versucht seit zwei Jahren ein kleiner Verein mit politischer und historischer Aufklärung gegenzusteuern: der Prager-Haus e. V. Apolda. Er hat sich zum Ziel gesetzt, das ehemalige Wohnund Geschäftshaus eines kleinen jüdischen Fellhändlers zu erhalten und zu einem Ort der Erinnerung, Begegnung und Forschung auszubauen. Dafür kamen verschiedene Motive und Voraussetzungen zusammen. Sie resultieren aus der politischen und sozialen Geschichte dieser Stadt:

In Apolda hatte sich seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts eine wachsende Gewerkschaftsbewegung und eine zunehmende Politisierung der Arbeiterschaft in der SPD August Bebels entwickelt. Die Sozialdemokraten bekamen bei den Reichstagsund Landtagswahlen so viel Stimmen, daß auch aus dieser Stadt Abgeordnete in die Vertretungskörperschaften entsandt wurden - eine Entwicklung, die ähnlich in anderen Industriestädten Thüringens verlief. Das führte nach der Novemberrevolution und der Abdankung des letzten Weimarer Großherzogs zur Bildung eines Parlaments und einer Landesregierung, die wesentlich von SPD- und USPD-Kräften bestimmt wurden.

Im Krisenjahr 1923 war in Weimar sogar für einige Wochen eine thüringische SPD-Landesregierung unter Tolerierung durch die KPD am Ruder. Als dann auch noch zwei kommunistische Abgeordnete in den Regierungsapparat aufgenommen wurden (ähnlich wie in Sachsen), machte dem die Berliner Zentrumsregierung ein Ende, indem sie Reichswehrtruppen aufmarschieren ließ.

Bei den nächsten Wahlen büßten die Linken Stimmen ein, und ein konservativ-völkischer Block wurde von dem neu gemischten Landtag in die Regierungsverantwortung berufen. Eine der ersten Handlungen dieser Regierung war die Wiederzulassung der nach dem Münchner Putsch verbotenen NSDAP und des Rederechts für Hitler. Seither war in Apolda zu beobachten, wie zwar die SPD ihre Anhänger etwa halten konnte, aber die traditionell konservativen Parteien immer mehr Wählerstimmen an die Nazi-Partei verloren. Ein konservativer Stadtrat unter zunehmender Beteiligung von Nazi-Aktivisten regierte seither die Stadt. Bei einem Landtagswahlgang im Jahr 1932 (!) erhielten die Hitler-Anhänger sogar 50 Prozent der Wählerstimmen gegenüber 39 Prozent für die Arbeiterparteien - der Rest fiel auf die zusammengeschmolzene bürgerliche "Mitte". Kein Wunder, daß auch der "Führer" in Apolda seinen Auftritt bei einer Großkundgebung bekam.

Warum erzähle ich das alles so ausführlich? Auch in Apolda gerieten - wie anderswo - die sozialistischen Organisationen und ihnen nahestehenden Vereinigungen in die Defensive. Nicht zuletzt befördert durch die Grabenkämpfe zwischen SPD und KPD konnte sich ein faschistisches Milieu etablieren, das sich nach dem 30. Januar 1933 auch einen Teil der Arbeiterschaft durch Errichtung von Wohnungsneubauten sowie die Bereitstellung von Arbeitsplätzen in neu gegründeten Rüstungsbetrieben "kaufte". In Apolda gab es allein fünf! Hauptsächlich aber waren es die antisemitische Agitation und der Terror gegen jüdische Warenhäuser, die ihnen einen Zulauf von kleinen Händlern, Gewerbetreibenden, Kaufleuten und Beamten von Schule, Kirche, Polizei und Gericht brachte. Unter deren aktiver Mitwirkung oder schweigender Duldung konnte das NS-Regime zwischen 1933 und 1944 aus Apolda 114 Juden vertreiben: 37 von ihnen wurden deportiert und in den Vernichtungslagern ermordet; 43 emigrierten in verschiedene Erdteile; 34 kehrten nach dem Krieg, zumindest für kurze Zeit, in die Stadt zurück.

Unter diesen waren auch "Halbjuden", welche die Faschisten in Zwangsarbeitslagern gefangengehalten hatten, und andere, die sich mit Hilfe nichtjüdischer Freunde verstecken konnten. Aber die meisten von diesen hatten einen großen Teil ihrer Familie in der Shoa verloren oder sahen als Geschäftsleute in der Sowjetischen Besatzungszone keine Perspektive für sich.

Zurück zur Entstehung unseres Vereins. Zur Ausgangslage seiner Arbeit gehörten nicht nur die oben beschriebenen Vorgänge während der Nazi-Diktatur, sondern auch die Zeit, die danach kam. Sie war bekanntlich von der Gestaltung einer völlig neuen gesellschaftlichen Ordnung bestimmt, die sich aus antifaschistisch-demokratischen Anfängen bis zum sehr früh und vielleicht überstürzt begonnenen Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft weiterentwickelte.

Der antifaschistische Beginn 1945 äußerte sich allein im Stadtbild durch die Benennung von drei Straßen nach ermordeten Widerstandskämpfern aus der Arbeiterschaft Apoldas. Aber auch der bürgerlich-jüdische Reichsminister Walther Rathenau und der evangelische Pastor Martin Niemöller wurden ebenso berücksichtigt wie das katholische Geschwisterpaar Sophie und Hans Scholl, nach dem eine Schule benannt wurde. Etwas später, und zwar 1959, wurde auch dem jüdischen Kaufmann Bernhard Prager der Name jener Gasse gewidmet, in der sein Haus stand und steht. Dessen frühere Bewohner fielen dem Rassenmord der Nazis zum Opfer.

Auch in den Kirchen hatte sich zaghaft ein Umdenken in bezug auf die eigene Geschichte und die veränderte Gesellschaft angebahnt, in der die Christen nun ihren Platz suchten. In der Landgemeinde Kapellendorf war schon in den 70er Jahren ein Kontakt mit der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen hergestellt worden. Kirchlich gebundene Schüler und Jugendliche besuchten jährlich die Synagoge, ein Nachrichtenblatt der Jüdischen Gemeinde lag im Ev. Gemeindezentrum aus, und in der Gemeinde- und Bildungsarbeit kamen die Themen Judentum und Judenverfolgung auf die Tagesordnung. Mitte der 80er Jahre habe ich als politisch aufgeschlossener und gesellschaftlich tätiger Pfarrer begonnen, mich für die Geschichte der jüdischen Mitbürger meiner Kreisstadt zu interessieren und nach ihren Spuren zu forschen. Das führte 1987 zur Bildung einer Gruppe innerhalb des Kulturbundes und ein Jahr später zur Anbringung einer Gedenktafel am Pragerschen Haus.

Das Eigentum der Pragers war von den Nazis "arisiert" worden, d. h., es war ihnen weggenommen worden bis auf wenige Gegenstände, die befreundete Menschen kurz vor der Deportation der Familie an sich nahmen und versteckten. Auf solche Stücke wie einen Chanukka-Leuchter oder die Weltkriegs-Auszeichnungen Pragers bin ich dabei gestoßen. Sie wurden mir von interessierten Einwohnern der Stadt zu treuen Händen übergeben. Es sollten aber noch zwei Jahrzehnte vergehen, ehe an ihre öffentliche Präsentation und schließliche Unterbringung in einem kleinen noch einzurichtenden Dokumentationszentrum überhaupt zu denken war.

Aus dem Pragerschen Besitz war also vor allem ihr bescheidenes, 1925 erbautes Wohn- und Geschäftshaus übriggeblieben. Da von den Nazi-Behörden in den Reichsfiskus überführt, wurde es 1945 Volkseigentum und dem städtischen Wohnungsamt für die vielen unterbringungsbedürftigen Umsiedler, Flüchtlinge und Kriegsheimkehrer übertragen. Als sich die Wohnverhältnisse in der DDR allmählich besserten, lebte nur noch ein älteres Ehepaar in dem Haus, bis es dieses Mitte der 90er Jahre verließ. Das Gebäude war nach dem Anschluß 1990 in den Besitz des Bundes übergegangen. Und der schrieb es damals zum Verkauf aus. Das war für mich, der ich immer noch an dem jüdischen Thema arbeitete, ein Alarmsignal. In einer Geschichtswerkstatt Weimar-Apolda zu Themen der Verfolgung und des Widerstandes publizierte ich u. a. meine Arbeiten. Zusammen mit Freunden riefen wir zur Gründung eines Vereins zur Rettung des Prager-Hauses auf.

Am 26. Januar 2007, dem Vorabend des offiziellen Holocaust-Gedenktages, gründete sich im Stadthaus von Apolda bei Anwesenheit eines gerade neugewählten parteilosen Bürgermeisters ein Verein.

40 Teilnehmer erklärten dort ihren Beitritt. Eine Unternehmerin aus dem Nachbarstädtchen Bad Sulza, die ebenfalls Mitglied wurde, erklärte spontan ihre Bereitschaft, 5000 Euro zu spenden und weitere 5000 Euro zu leihen, um die von der Bundesimmobilienverwaltung Erfurt angegebene Kaufsumme für das Haus bezahlen zu können. Allerdings hat es mehr als zwei Jahre gedauert, bis der Verein als Eigentümer eingetragen werden konnte. Zur Hälfte lagen auf dem Gebäude Eigentumsansprüche einer spanischen Stiftung, der es von einer emigrierten Schwester Gertrud Pragers übertragen worden war. Aber nun ist es an uns, den 40 Mitgliedern und weiteren Interessierten, den Ausbau und die Gestaltung des Hauses voranzubringen. Wir hoffen dabei auf die Unterstützung vieler, die sich unser Anliegen zu eigen machen.

Schon Jahre bevor das Prager-Haus als Gedenk- und Lernort fertiggestellt sein wird, haben die Vereinsmitglieder eine breitgefächerte Öffentlichkeitsarbeit begonnen. Autoren der Geschichtswerkstatt, die sich inzwischen in den Verein integriert hat, veröffentlichen seit Jahren Bücher über NS-Verfolgung und Widerstand in der Schriftenreihe "gesucht".

Seit dem vergangenen Jahr gibt der Verein überdies Schriften unter dem Motto "gefunden" heraus, in der über jüdische Familien, Lebensgeschichten von Arbeiterwiderständlern und Spuren von Verfolgung und mutigem Aufbegehren geschrieben wird. Bei städtischen Aktionen eines Bürgerbündnisses gegen rechts ist der Prager-Haus-Verein mit einem Infostand und selbst hergestellten Souvenirs präsent. Seit 2008 beteiligt er sich an der Aktion "Stolpersteine", bei der vor den Wohnhäusern ermordeter Bürger Zeichen der Erinnerung gelegt werden. Dazu gehören nicht nur die vielen Opfer jüdischer Herkunft, sondern auch Kommunisten, Sozialdemokraten, Wehrmachtsdeserteure und Zwangsarbeiter, die von den Faschisten umgebracht worden waren. Seit diesem Jahr liegen in Apolda bereits 22 solcher Stolpersteine vor Wohnhäusern bzw. vor dem Todesort von NS-Opfern.

Als im August die Enkelin eines deportierten Kaufmanns aus London mit ihrem Ehemann zur Verlegung der Gedenksteine für ihre Großeltern eingeladen war, konnte auch ein Zeitzeugengespräch mit Schülern des Gymnasiums vermittelt werden. Die dauerhafte Verbindung zu den Schulen der Stadt liegt uns besonders am Herzen. Dabei hilft uns spürbar die Tatsache, daß die Direktorin des Gymnasiums und zwei weitere Lehrer zu unseren Mitgliedern gehören. Schon mehrmals sind die Autoren der Geschichtswerkstatt bei Projekttagen an den Schulen eingeladen worden und haben Schülern regionales und lokales Wissen zu einschlägigen Themen vermittelt. Dadurch wurden auch einige Schüler angeregt, Mitglied bei uns zu werden.

Seit einiger Zeit präsentiert sich der Verein mit einer eigenen Internetseite sowie mit einem Auftritt unter dem Label "Vereins-Wiki", einem Ableger des Internet-Lexikons Wikipedia. Dort werden alle nennenswerten Daten präsentiert, die Gegenstand unserer Arbeit sind.

Der Prager-Haus-Verein von Apolda arbeitet mit der VVN und anderen antifaschistischen Gruppen zusammen. Er versteht sich als überparteilich. Weil uns die Aufklärung über die Verbrechen des deutschen Faschismus ein wichtiges Anliegen ist, kann jeder mitarbeiten, der sich für eine humanistische Gesellschaft einsetzt, die niemanden aus ihrer Mitte ausschließt - außer denen, die sich als Feinde von Humanität und Toleranz zu erkennen geben. Wir freuen uns daher, wenn Parteilose, Atheisten wie Kirchenmitglieder, aber auch Aktive aus den in der Region vertretenen Parteien als Paten der Stolpersteine auftreten. Durch die Beteiligung und das Engagement vieler einzelner wächst graswurzelartig ein breites bürgerschaftliches Engagement gegen Nazi-Umtriebe und für eine lebenswerte Gesellschaft.

Peter Franz

Unser Autor ist luth.-ev. Theologe.

Ende RF-Extra

Raute

Unauslöschbares Vermächtnis kubanisch-afrikanischer Solidarität

Internationalisten der Sonderklasse

Wenn von uneigennützigem Internationalismus und revolutionärer Opferbereitschaft die Rede ist, dann liefert Kuba seit dreieinhalb Jahrzehnten hierfür ein leuchtendes Beispiel. Besonders in zahlreiche Länder nicht nur Lateinamerikas "exportierte" Ärzte und Lehrer von der sozialistischen Karibikinsel sind für ihr selbstloses Engagement weltweit bekannt. Aber auch Militärs erfüllten an wichtigen Frontabschnitten des internationalen Klassenkampfes ihre Pflicht. Nicht etwa, um Kriege anzuzetteln oder die Brandfackel über die Grenzen anderer Staaten zu tragen, sondern um Unterdrückten, Aufbegehrenden und sich zur eigenen Befreiung Erhebenden auf deren Wunsch zu helfen, Peiniger abzuschütteln und die junge Unabhängigkeit zu bewahren.

Kuba hat zwischen 1975 und 1988 in etlichen Wellen insgesamt 250.000 Angehörige der Revolutionären Streitkräfte in die afrikanischen Staaten Angola und Namibia entsandt, um dem Wüten der Armee des damaligen südafrikanischen Apartheid-Regimes und von ihm ausgehaltener Söldnerbanden Paroli zu bieten. Zehntausende Internationalisten sind von diesem selbstlosen Einsatz, bei dem es weder um Bodenschätze noch um Profite ging, nicht zurückgekehrt.

1975, als Portugals Nelkenrevolution nicht nur den Faschismus im Mutterland hinweggefegt, sondern auch den Völkern der bisherigen Kolonien Lissabons in Afrika und Asien die Tür zu staatlicher und nationaler Unabhängigkeit aufgestoßen hatte, ersuchte Genosse Agostinho Neto - Führer der Volksbewegung für die Befreiung Angolas (MPLA) und erster Präsident des neuen westafrikanischen Staates - Kubas Führung um militärische Hilfe. Es ging um die Abwehr in den Süden des Landes eingefallener Streitkräfte Pretorias. Die Südafrikanischen Verteidigungskräfte (SADF), wie sich die Armee der Aggressoren nannte, waren in der an das heutige Namibia grenzenden angolanischen Region eingerückt, um den durch die CIA ausgehaltenen Banditen der Nationalen Union für die Totale Unabhängigkeit Angolas (UNITA) unter Jonas Savimbi den Rücken zu stärken. Ihr Auftrag lautete, Netos "prosowjetisches Regime" zu Fall zu bringen und eine dem Westen genehme Regierung in Luanda zu installieren. Anfang 1976 waren die Südafrikaner - vor allem durch kubanische Verbände - aus dem Lande geworfen und die UNITA-Einheiten auf begrenzte Zonen zurückgedrängt worden. Doch das Apartheid-Regime gab sich nicht geschlagen. Eine neue Invasion erfolgte bald, so daß sich die kubanischen Internationalisten in Uniform auf Bitten Luandas gezwungen sahen, etliche weitere Jahre in Angola zu verbleiben. Erst 1987/88 - nach der verheerenden Niederlage der SADF-Interventen durch gemeinsames Vorgehen der bewaffneten Kräfte Angolas, Kubas, der südwestafrikanischen Befreiungsorganisation SWAPO und des südafrikanischen ANC - entstanden günstigere Bedingungen für eine politische Lösung. Die Verhandlungen führten zum endgültigen Abzug der Südafrikaner aus Angola und zur Herbeiführung der Unabhängigkeit Namibias.

Nach dreizehnjährigem bewaffnetem Kampf, der durch in Angola stationierte kubanische Truppen massiv unterstützt wurde, errang Namibia unter dem linksgerichteten Präsidenten Sam Nujoma - einem großen Freund auch der DDR - 1990 die Souveränität. Die Südwestafrikanische Volksorganisation (SWAPO), die den Befreiungskampf angeführt hatte, übernahm die Leitung von Staat und Gesellschaft. Sie war von Beginn an ein verläßlicher Bündnispartner Havannas. Die militärischen Kader der SWAPO wurden zu einem bedeutenden Teil von Kubanern ausgebildet und ausgerüstet.

Nach der Unabhängigkeit Namibias ging es mit dem südafrikanischen Apartheid-Regime rasch bergab. Die Haftentlassung von Nelson Mandela und weiteren politischen Gefangenen Anfang 1990 bildete den Auftakt zu seinem völligen Zusammenbruch. Der ANC, in dem die südafrikanischen Kommunisten über großen Einfluß verfügen, gelangte bald darauf an die Macht. Er übt sie bis heute als inzwischen breitgefächerte Bewegung aus.

Im Juli besuchte Präsident Raúl Castro im Anschluß an das Kairoer Gipfeltreffen der nichtpaktgebundenen Staaten eine Reihe traditioneller Partnerländer Kubas auf dem afrikanischen Kontinent, darunter Algerien, Namibia und Angola. Auf einem Bankett, das der namibische Präsident Pohamba für den Gast aus der Karibik gab, rief er die internationale Staatengemeinschaft dazu auf, den Sanktionen gegen Kuba ein Ende zu bereiten. Pohamba setzte sich auch für die Freilassung der fünf in den USA inhaftierten kubanischen Kundschafter (Miami Five) ein. "Die Menschen in Kuba haben ungeachtet ihnen auch von außen auferlegter Härten und Herausforderungen vielen Stürmen widerstanden", sagte Namibias Präsident. Er pries die Heimat Fidels und Raúls für die Beweise ihrer Solidarität, welche nicht zuletzt in der Aufnahme Tausender namibischer Emigranten zum Ausdruck gekommen sei, die in kubanischen Bildungseinrichtungen hätten studieren können und heute eine wichtige Rolle beim Aufbau ihres Landes spielten.

Auch in Angola hatte Raúl Castro eine herzliche Begegnung mit Präsident José Eduardo dos Santos.

RF, gestützt auf "Workers World", USA

Raute

Machtkämpfe und Ringen um den richtigen Weg in der VDRJ

Stammesfehden belasteten Entwicklung

Der Artikel von Dr. Rudolf Dix über die VDRJ (RF Nr. 140, S. 23) veranlaßt mich zu diesen Ergänzungen.

Die Befreiungsbewegung im Südjemen hatte sich noch feudalen bzw. halbfeudalen Zuständen gegenübergesehen. Ihr gehörten vorwiegend Kräfte bäuerlicher Herkunft an. Weniger waren zunächst Angehörige des Kleinbürgertums und der zahlenmäßig sehr schwachen Arbeiterklasse vertreten. An der Spitze der Bewegung standen jedoch als fortgeschrittene Minderheit Angehörige der "revolutionären Intelligenz".

Nach 1970 zeigten sich schnell zwei politische "Flügel": der eine unter dem Generalsekretär der "Partei", Abdel Fattah Ismail, der andere unter dem Vorsitzenden des Präsidialrates, Salem Robaya. Ismail, im Erscheinungsbild kaum "massenwirksam", betrachtete sich als der im "marxistischen Sinne" theoretisch gebildetste Kopf. Dagegen verstand es Robaya, als "Volkstribun" aufzutreten. Zwischen beiden stand der Vorsitzende des Ministerrates Ali Nasser Mohamed. Er trug die Hauptverantwortung beim Aufbau der staatlichen Exekutive. Alle drei waren mit dem Großteil ihrer Mitarbeiter im Stammesdenken und in Stammesbindungen verhaftet. Besonders Saudi-Arabien konnte sich das im Bemühen, progressive Entwicklungsschritte im Südjemen zu verhindern oder zumindest zu hemmen, zunutze machen.

Als Reaktion auf die VDRJ-Bitten zur Unterstützung ihres Weges beschlossen eine Reihe sozialistischer Länder (vor allem die Sowjetunion, Kuba und die DDR), Beziehungen und Zusammenarbeit aktiv zu entwickeln. Es war die Zeit, in der in den Zentralen über die Zweckmäßigkeit bzw. Richtigkeit solcher Begriffe wie "sozialistischer Entwicklungsweg" oder "nichtkapitalistischer Weg" philosophiert wurde. Für die VDRJ war charakteristisch, daß man sich auf vielen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens Erfahrungen sozialistischer Länder und der "Bruderparteien" aneignen und damit die eigene Entwicklung beschleunigen wollte.

Die Vertreter westlicher Länder beobachteten intensiv unsere Tätigkeit. Der britische Botschafter fragte mich bei meinem Antrittsbesuch, was "Aden" denn für die DDR so wichtig mache: Außer Steinen gebe es doch nichts zu holen. Der Botschafter drehte das Futter seiner Hosentaschen nach außen: Genauso gebe es im Südjemen absolut nichts! Ich reagierte mit einer Gegenfrage: Was habe denn Großbritannien 130 Jahre lang in Aden zu holen gehofft?

Der Brite hatte in gewisser Beziehung recht: Es gab in der VDRJ in ökonomischer Hinsicht "nichts zu holen", d. h. zu importieren (eine Erdölförderung existierte damals noch nicht).

Handelsbeziehungen DDR-VDRJ konnten deshalb nur in einer Richtung entwickelt werden: Vor allem auf der Basis von Regierungskrediten, bei denen es sich nicht um "Unsummen" nach heutigen Maßstäben handelte, wurden eine Öl-, eine Getreidemühle und ein Mischfutterwerk gebaut, Reparaturwerkstätten für die Landwirtschaft errichtet sowie Lkw W50 geliefert.

Aus einer Vielzahl von Abkommen zwischen der DDR und der VDRJ nahmen die Gebiete wirtschaftliche und wissenschaftlich-technische sowie kulturelle Zusammenarbeit einen herausragenden Platz ein. Auf deren Grundlage waren Spezialisten und Experten aus der DDR tätig. Das betraf über die Landwirtschaft hinaus vor allem die Volksbildung und das Gesundheitswesen. Die Einsatzgebiete waren jemenitischen Partnern vorgeschlagen worden. Deren schematisches Herangehen schloß das nicht aus. Das Vertrauen uns gegenüber führte zu dem Hang, DDR-Erfahrungen zu kopieren, z. B. Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften wie in der DDR gemäß den Typen I bis III errichten zu wollen. Nicht selten mußte von den Experten erklärt werden, daß Erfahrungen vermittelt werden, konkrete Schlußfolgerungen aber selbst gezogen werden müßten.

Eine Gruppe von Mitarbeitern des MfS und des MdI beriet beim Aufbau von jemenitischen Staatssicherheits- und Polizeiorganen. Versuche, diese Tätigkeit in Mißkredit zu bringen, gab und gibt es immer wieder. Aber auch diese Seite der Beratertätigkeit hatte nichts Sensationelles oder Ehrenrühriges.

Die "Einverleibung" der VDRJ in die JAR am 22. Mai 1990 erfolgte vor dem Hintergrund der Auflösung des "sozialistischen Lagers". Ihr waren dramatische Ereignisse vorausgegangen, deren Ursachen sich in erster Linie aus Differenzen innerhalb der Führungsgremien (basierend auch auf Stammesbindungen) ergeben hatten.

Besonders spitzte sich das Verhältnis zwischen Abdel Fattah Ismail und Salem Robaya Ali sowie deren Anhängern zu. Am 27. Juni 1978 kam es in Aden zu gewalttätigen, blutigen Auseinandersetzungen. Es war kaum vorauszusehen, daß die "Gruppe" Abdel Fattah Ismails eine Anzahl ihrer Gegner "hinrichten" würde. Robaya Ali und der Außenminister Mohamed Saleh Mutia wurden als erste erschossen.

Zunächst wurde der "gemäßigte" Ali Nasser Mohammed neuer Staatschef; im Dezember 1978 gelangte Abdel Fattah Ismail in die beiden führenden Funktionen im Südjemen: Generalsekretär des ZK der Jemenitischen Sozialistischen Partei (JSP) und Vorsitzender des Präsidiums des Obersten Volksrates. Die bisherige Politik schien in ihren Grundzügen fortgesetzt zu werden.

1979 wurde mit der UdSSR ein auf 20 Jahre befristeter Freundschaftsvertrag unterzeichnet. Es konnte auch nicht überraschen, daß Erich Honecker auf Einladung Abdel Fattah Ismails im November 1979 zu einem "offiziellen Freundschaftsbesuch" in der VDRJ weilte. Die DDR-Führung ließ sich bei der Entscheidung für diese Reise offensichtlich von einer sowjetischen Bewertung der Lage im Südjemen leiten. Es war aber in den Jahren zuvor sichtbar geworden, daß in den sozialistischen Ländern unterhalb der höchsten Führungsebenen die unterschiedlichsten Meinungen zu den "Fraktionen" Salem Robaya Ali und Abdel Fattah Ismail bestanden.

Abdel Fattah Ismail versuchte fortan, auf Nordjemen revolutionären Einfluß zu nehmen. Seine Bemühungen scheiterten: Er trat im April 1980 aus "Gesundheitsgründen" zugunsten Ali Nasser Mohameds von seinen Ämtern zurück und reiste (eine Art Emigration) in die Sowjetunion. Nachdem er im Februar 1985 zurückgekehrt war, brach der Machtkampf erneut offen aus.

Nach ihrem 3. Parteikongreß im Oktober 1985 war die JSP gespalten und handlungsunfähig. Im Januar 1986 kam es zwischen Anhängern Abdel Fattah Ismails und seines Nachfolgers Ali Nasser Mohamed zu einem zweiwöchigen Bürgerkrieg mit Tausenden von Toten. Auch Abdel Fattah Ismail, Vizepräsident Ali Antar und Innenminister Saleh Musleh kamen ums Leben. Während einer Sitzung des Politbüros der JSP am 13. Januar 1986 hatten die Kämpfe begonnen. Es gibt unterschiedliche Darstellungen, welche Fraktion die Zusammenstöße initiiert hatte. Ein "radikaler" Flügel wollte weitere "sozialistische" Maßnahmen durchsetzen; ein "gemäßigter" trat für eine ökonomische Liberalisierung und die Verbesserung der Beziehungen zu den arabischen Nachbarstaaten ein. Beide Fraktionen stellten enge Beziehungen der VDRJ zur UdSSR nicht in Frage.

Anfang Februar 1986 wurde Ali Nasser Mohamed durch Ali Salem El Beidh gestürzt. Dieser wurde Generalsekretär der JSP. Neuer Vorsitzender des Präsidiums des Obersten Volksrates wurde der frühere Verkehrsminister Heidar Abu al-Attas. Er gehörte keiner der beiden rivalisierenden Fraktionen an; sein Stamm hatte sich bei allen Kämpfen neutral verhalten.

Günther Scharfenberg

Unser Autor war von 1972 bis 1978 DDR-Botschafter in der VDRJ.

Raute

Leben und Tod der sowjetischen Komsomolzin Soja Kosmodemjanskaja

Heldenepos des Partisanenkampfes

Solange die Sowjetunion bestand, wagte es niemand, den Ruhm legendärer Rotarmisten und Partisanen in Zweifel zu ziehen. Viele Bürger Rußlands und der anderen früher zur UdSSR gehörenden Republiken tragen auch heute noch ihre Blumen zu den Obelisken, Denkmälern und Gräbern der im Großen Vaterländischen Krieg für eine gute und gerechte Sache Gefallenen.

Doch seit Gorbatschows Glasnost und Perestrojka sind ganze Scharen von Ratten aus ihren Löchern gekrochen und melden "Bedenken" hinsichtlich der Authentizität des Heldentums antifaschistischer Vorkämpfer an. Um so wichtiger ist es, die Hintergründe und Motive solcher "Recherchen" journalistischer Schmierfinken, zu jeder Entstellung der Wahrheit bereiter Pseudo-Historiker und sensationslüsterner Medienmanipulierer bloßzulegen und die Wahrheit über jene Vorbilder der Völker zu verbreiten, welche notorische Antikommunisten von ihrem imaginären Sockel stoßen wollen.

Nehmen wir als Beispiel eine solche Heldengestalt des sowjetischen Partisanenkampfes wie Soja Kosmodemjanskaja, deren Geschichte dadurch geschwärzt werden soll, daß man die Behauptung ausstreut, es habe sich bei der im Dorf Petrischewo öffentlich exekutierten Kämpferin um eine andere Person namens Lilia Azolina gehandelt. Auch verbreiten gewisse Fälscher die Mär, Soja, die am 16. Februar 1942 als erste sowjetische Frau postum mit dem Titel eines Helden der Sowjetunion geehrt wurde, sei infolge einer in der Kindheit durchgemachten Meningitis schizophren gewesen.

Hier ist die wahre Geschichte jener Komsomolzin, deren Namen bis heute unzählige Straßen und Plätze in ganz Rußland tragen: Soja wurde am 13. September 1923 im Gebiet Tambow als Tochter eines Dorflehrers geboren. Der Vater bekam während der Kollektivierung der Landwirtschaft mit der örtlichen Sowjetmacht Schwierigkeiten und wurde mit seiner gesamten Familie zeitweilig nach Sibirien verbannt. Sojas Großvater war Pope und ein aktiver Mann der Weißen. Er wurde von der Roten Armee gefangengenommen und erschossen. Ihre Kindheit und frühe Jugend verbrachte das Mädchen also keineswegs in einem den Kommunisten wohlgesonnenen Milieu. Später erhielt die Familie die Erlaubnis, nach Moskau zurückzukehren. Vorliegenden Dokumenten ist zu entnehmen, daß Soja im Oktober 1941 ihre Ausbildung an einer Schule des sowjetischen Geheimdienstes erfolgreich abschloß und sich sofort für den Einsatz hinter den Linien der deutschen Faschisten meldete. Diese waren wenige Monate zuvor in die UdSSR eingefallen. Damals stand der Feind vor den Toren Moskaus.

Während die Rote Armee zum Gegenstoß ansetzte, formierten sich im Rücken der Faschisten erste Partisanenverbände. Soja wurde mit zwei Genossen, die sie bei dem Einsatz verlor, zur Organisierung des Widerstandes in die Ortschaft Petrischewo (Moskauer Gebiet) geschickt. Der Auftrag bestand darin, Quartiere der Nazi-Okkupanten in Brand zu stecken und die Dorfbevölkerung für den Kampf gegen die Eindringlinge zu gewinnen. Bei dem Versuch, Feuer an eine Scheune zu legen, wurde Soja gefangengenommen. Ein deutscher Kommandeur, der russisch sprach, verhörte sie. "Was wolltet Ihr erreichen?" schrie er Soja an. "Euch vernichten!" lautete die Antwort. Nach den Namen ihrer Genossen befragt, schwieg sie auch unter der Folter. Mehr als 200 Hiebe zählten die Besitzer des Hauses, in dem die "Vernehmung" stattfand. Ein junger Wehrmachtsoffizier, der das brutale Geschehen nicht mehr ertragen konnte, verließ den Raum, begab sich in die Küche, stützte seinen Kopf in beide Hände und hielt sich die Ohren zu.

Am Morgen des 29. November 1941 wurde die Moskauer Komsomolzin hingerichtet. Man hatte ihr ein Schild mit der Aufschrift "Brandstifterin" um den Hals gehängt. Die verängstigte Dorfbevölkerung war vor dem Galgen zusammengetrieben worden. Bevor die Exekution erfolgte, rief Soja mit lauter Stimme: "Genossen! Warum seid Ihr so furchtsam! Ich fürchte nicht den Tod und sterbe für mein Volk. Habt Mut, bekämpft die Deutschen mit allem, was Ihr besitzt!"

Ein Soldat versuchte, der jungen Frau den Mund zuzuhalten und schlug auf sie ein. "Heute hängt Ihr mich, aber ich bin nicht allein. Meine Genossen werden mich rächen!"

Der leblose Körper der ermordeten Partisanin blieb einen Monat lang am Galgen hängen - zur Abschreckung. Dann erst durfte er durch die Dorfbewohner bestattet werden. Nachdem eine glaubwürdige Augenzeugin dem "Prawda"-Reporter Pjotr Lidow den Ablauf der Ereignisse detailliert geschildert hatte, erschien in der Zeitung am 27. Januar 1942 ein Bericht über Sojas Heldentat. Nach Kriegsende erfolgte ihre feierliche Umbettung auf einen Friedhof im Herzen Moskaus.

RF, gestützt auf "Prawda", Moskau

Raute

Abschiedskuß für einen Hund

Der 30jährige irakische Fernsehjournalist Muntadar al Zeidi vom in Kairo angesiedelten TV-Sender Al Baghdadia ist mit seinem Schuhwurf auf den bereits abgewählten US-Präsidenten George W. Bush in die Geschichte eingegangen. Im Dezember 2008 hatte er sich dieser im arabischen Raum als Ausdruck höchster Verachtung geltenden Geste bedient und Bush auf einer in Bagdad abgehaltenen Pressekonferenz im Beisein des irakischen Marionettenpremiers Al Maliki mit seiner Fußbekleidung attackiert. Der Kriegsverbrecher aus Texas konnte den beiden Wurfgeschossen nur knapp ausweichen.

Zu einer Gefängnisstrafe von einem Jahr verurteilt, gelangte Al Zeidi nach neun Monaten wieder auf freien Fuß. Bei seiner im September erfolgten Entlassung wurde er von Verwandten, Kollegen und Freunden als Held gefeiert. Lieder und Trommeln erklangen zu seiner Begrüßung. Rundfunk- und Fernsehstationen vieler arabischer Länder überschütteten ihn mit Angeboten, fortan für sie zu arbeiten. Geschenke und Heiratsanträge häuften sich gleichermaßen.

Doch Al Zeidi wußte seinen Journalistenkollegen von weniger Spaßigem zu berichten. Er schilderte minutiös, wie man ihn wochenlang grausam gefoltert habe. Mißhandlungen aller Art mit Stromstößen und vorgetäuschten Ertränkungsversuchen hätten einander abgelöst. Auf die Frage von Reportern, warum er Bush mit Schuhen beworfen und den Ruf "Das ist Dein Abschiedskuß, Du Hund!" ausgestoßen habe, erwiderte Al Zeidi: "Ich tat es aus Vergeltung für alle in Irak Getöteten, für die Opfer der Invasion meines Landes und des jahrelangen Embargos, das viele dem Hungertod auslieferte." Al Zeidi fügte hinzu: "Ich bin weder furchtsam noch bedaure ich das, was ich getan habe."

Nach der Pressekonferenz begab sich der "Schuhwerfer von Bagdad", wie er jetzt allgemein genannt wird, zunächst nach Syrien. Später unterzog er sich in Athen fachärztlicher Behandlung wegen ständiger Kopfschmerzen - einer Folge des Einflößens hochdosierter Drogen unbekannter Art, die ihm in der Haft verabreicht worden waren. Die für den Klinikaufenthalt entstehenden Kosten übernahm sein Sender, der Al Zeidi auch während seiner Gefängniszeit das Gehalt weitergezahlt hatte.

RF, gestützt auf "The New Worker", London

Raute

30 000 Kinder wurden ihren gefangenen Müttern vom Franco-Regime geraubt

Mit dem Segen des Klerus

Der Raub von Kindern erfolgte in Franco-Spaniens Gefängnissen, Armenhäusern und Entbindungsstationen ganz systematisch. 70 Jahre danach sind immer noch nicht alle Daten bekannt. Die Kirche hält sie in ihren Archiven verschlossen.

"Sie brachten ihn fort, um ihn zu taufen. Ich sah ihn nicht wieder." Dies ist das Zeugnis von Emilia Girón, die 1941 im Gefängniskrankenhaus von Salamanca ihr Kind gebar. Emilias Straftat bestand darin, die Schwester eines Guerilla-Kämpfers zu sein.

Der geschilderte Fall ist keineswegs der einzige. Man schätzt die Zahl vom Regime geraubter Kinder auf mehr als 30.000. In unseren Tagen weiß man wenig über jene finstere "Episode" der faschistischen Diktatur.

Nach dem Krieg (1936-1939) war die Repression brutal. Tausende und Abertausende wurden festgenommen und sogar Klöster in Haftanstalten umgewandelt. Dorthin brachte man die gefangenen Frauen. Das von der republikanischen Generaldirektorin des Strafvollzugs, Victoria Kent, als modernes Bauwerk konzipierte Gefängnis Ventas wurde zu einem besonders schmählichen Ort. Antonia Garcia berichtete: "Ich erinnere mich nur an den Wahnsinn meines ersten Tages im Gefängnissaal. In einem für 500 Menschen vorgesehenen Komplex befanden sich 11.000 Inhaftierte. Die weiblichen Gefangenen lagen auf dem Boden, weil es keinen Platz gab."

Die Frauen lebten zusammengepfercht mit ihren Kindern. Bald wurde die Massenunterkunft zu einem nicht nur menschlichen, sondern auch wirtschaftlichen und administrativen Problem. Die Historikerin Mirta Núnez Ballart schätzt, daß es 1939 in Spanien insgesamt mehr als 280.000 Gefangene gab. Heute sind es bei verdoppelter Bevölkerungszahl ungefähr 60.000.

Die zum Tode verurteilten schwangeren Frauen wurden sofort nach der Niederkunft erschossen, wie Carlos Fonseca in seinem Buch "Dreizehn rote Rosen" mitteilt. Die gefangene Hebamme Trinidad Gallego half ihren Kameradinnen bei der Geburt. Heute 95, erinnert sie sich, daß "die Kinder dort bei der Topete (der Direktorin Maria Topete) waren. Die Mütter hatte man von ihren Kindern getrennt, und wenn sie zurückkamen, konnten sie sich nicht um sie kümmern. Krätze und Flöhe, weder Essen noch Wasser. Viele starben. Im Alter von drei Jahren wurden sie weggebracht, wenn sie Familie hatten. Aber damals befanden sich fast alle Angehörigen selbst im Gefängnis, und so kamen sie einfach ins Armenhaus oder Gott weiß wohin."

In den 40ern wurde für die ihre Kinder stillenden Mütter ein eigenes Gefängnis in Madrid eingerichtet. Die Frauen dachten, daß sich nun ihre Bedingungen verbessern würden. Mercedes Nuñez, die selbst politische Gefangene war, schreibt in ihrem Buch "Gefallene Frauen": "Die Kinder lebten in einem getrennten Bereich, und die Frauen arbeiteten mehr als zehn Stunden täglich in Werkstätten. In Santorrán (Baskenland) befahlen die Nonnen den Frauen, auf den Hof zu gehen. Als sie zurückkamen, waren ihre Kinder verschwunden. Sie existierten dann schon nicht mehr, denn man hatte sie gar nicht erst ins Zugangsregister eingetragen.

Durch eine Verordnung aus dem Jahr 1940 wurde die elterliche Gewalt dem Staat übertragen. Damit war der Raub legal geworden. Der in Deutschland ausgebildete General und Arzt Vallejo Naquera, der Ideologe des Regimes, behauptete, es wäre notwendig, "das marxistische Gen auszurotten". Er empfahl die Überführung der Kinder in Armenhäuser, um "die Faktoren der Umgebung, die zur Degeneration führten, zu beseitigen". Dazu wandte er elektrische Stromstöße an und nahm Experimente an den Gefangenen vor. Die Kirche bestimmte die ganze Ordnung des Lebens. Die Anstalten modelten die Kinder um, während das Regime behauptete, es habe sie "aus der materiellen und moralischen Misere herausgeholt".

Der heute 65jährige Victoriano Ceruelo war in Zamora: "Schon als Fünfjährige mußten wir früh um fünf aufstehen und in die Messe gehen. Am Sonntag kamen Familien, und die Nonnen stellten uns in Reih und Glied auf. Dann hieß es: 'Mir gefällt dieser da.' So nahmen sie ihn mit. Eines Tages war ich dran. Aber der Mann behandelte meine Mutter schlecht, und sie brachte sich um." Bis vor kurzem ging Ceruelo jedes Jahr zur Ordensoberin, um sie zu fragen, wer seine Eltern gewesen seien. Sie sagte ihm: "Du hast kein Recht, es aufzurühren." Der Anwalt Fernando Magán weist nach, daß "dies die Umsetzung eines Nazi-Dekrets in Spanien war. Was dahintersteht, ist die Eliminierung der Roten. Das Auslöschen von Ideen durch Vernichtung von Menschen."

Auch die auferlegte moralische Ordnung verstieß die Frauen, wenn ihre Verbindung nicht den Segen der Kirche hatte. Im Fernsehprogramm von Paco Lobatón "Wer weiß wo?" kommen Tausende von Fällen ans Licht. Lobatón gründete gemeinsam mit Betroffenen die Gruppe "Das Recht auf Wissen" (ANDAS). Von da an war die TV-Sendung unbequem.

Maria Cruz González, elf Jahre Präsidentin von ANDAS, leistete Pionierarbeit bei der Suche nach verschwundenen Minderjährigen. "Die faschistische Mutterschaft wies Frauen und Findelkindern eine Nummer zu, die sich änderte, um ihre Spur nicht verfolgen zu können. Sie fälschten die Urkunden, die Nachnamen und alles. Es war ein Geflecht von Nonnen, Priestern, Sekretären, Bürgermeistern bis hin zu Ärzten, die sich bereicherten. Es war ein Geschäft", erklärte sie.

Der Fall von Maria Fe Fernández (Pamplona) wurde im Fernsehen aufgeklärt. Er handelte von einer Alleinstehenden. "Wenn die Frauen schwanger wurden, gingen sie bis nach der Geburt ins Kloster. Danach waltete der Kaplan seines Amtes. Die Kinder wurden an Militärs, Reiche oder auch normale Familien nach Priesterentscheid gegeben."

Als die Diktatur schon länger bestand, ging die Entführung von Babys weiter. Jetzt sucht Maria Soriano ihre Schwester. "Sie wurde 1964 auf der Geburtsstation von O'Donnell (Madrid) geboren. Sie schien, obwohl im Brutkasten, gesund zu sein, aber sie sagten eines Tages zu meinen Eltern, sie wäre tot und bereits begraben. Vater und Mutter waren wie betäubt. Sie waren einfache Leute, die nicht wußten, was sie machen sollten. Man gab ihnen die Sterbeurkunde und sagte, ein General habe befohlen, sie zu beerdigen. Mir erzählten sie ebenfalls, meine Schwester sei gestorben. Beruflich veranstalte ich im Ausland Konferenzen für Schwerhörige. 1997 näherte sich mir in Österreich eine Person, die erklärte, sie kenne eine Familie in Klagenfurt. Der Vater sei Deutscher gewesen, und seine Tochter sehe ganz genauso aus wie ich. ... Ich antwortete, das könne wohl nicht sein. Doch vor einigen Monaten begann ich, Schlüsse zu ziehen." Es gab den Fall einer Mutter, die ihr in Madrid geraubtes Baby am Ende in Österreich ausfindig machte.

Die Kirche hat die Archive, aber kein Gesetz zwingt sie dazu, diese zu öffnen.

Maria José Esteso Poves, Madrid

Übersetzt von Isolda Bohler

Raute

Nahostpolitik: Einseitig, US-hörig, ignorant

Zum 60. Jahrestag der Staatsgründung Israels 2008 erklärten Repräsentanten Südafrikas - Regierungspartei ANC, Gewerkschaftsbund COSATU, Südafrikanischer Kirchenrat, Kommunistische Partei, Sozialistische Partei AZANIA, Politiker, Minister, Wissenschaftler und Menschenrechtsaktivisten: "Wir haben gegen die Apartheid gekämpft, wir sehen keinen Grund, sie heute in Israel zu feiern!" Ausführlich legten sie in einer Erklärung an die israelische Öffentlichkeit dar, warum sie sich weigern, "die Existenz eines Apartheid-Staates im Nahen Osten zu feiern" ... "Wir dürfen Israel nicht gestatten, ungestraft internationales Recht zu verletzen." Es erscheint angebracht, sich ins Gedächtnis zu rufen, daß das südafrikanische Apartheid-Regime zu den engsten Verbündeten Israels gehörte. Die Kooperation Tel Avivs mit den Rassisten in Pretoria war von unschätzbarem Wert für den Aufbau des israelischen Atomwaffenarsenals. Schon vor Jahren prangerten verantwortungsbewußte israelische Politiker die der Apartheid-Konzeption Südafrikas entlehnte Bantustanisierung der von Tel Aviv okkupierten palästinensischen Gebiete an. Zu ihnen gehörte auch der frühere israelische Botschafter in der BRD, Avi Primor, der als hoher Beamter Kronzeuge der Kumpanei mit dem Apartheid-Regime war. Von politisch maßgeblicher oder meinungsdiktierender Seite in Deutschland war dazu bisher keine kritische Stimme zu vernehmen. Aber am 28. August brachte der Leitartikel des Zentralorgans der deutschen Großbourgeoisie Erstaunliches. Im Vorfeld der Gespräche des israelischen Ministerpräsidenten Netanjahu mit Kanzlerin Merkel in Berlin hieß es in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" unter der Überschrift "Verknotet": "... Bis in Netanjahus Koalition hinein reichen die politischen Kräfte, die keinen einzigen der Vorposten auf dem Land zurücknehmen wollen, das ihrer Ansicht nach zu Eretz Israel gehört ..." Aber "auch der amerikanische Präsident Obama sieht eine Voraussetzung für die Wiederbelebung der Friedensgespräche mit den Palästinensern darin, den Siedlungsbau so schnell wie möglich zu stoppen". Für diese "ist es von zentraler Bedeutung, die israelische Besiedlung um Ostjerusalem und in anderen Teilen des Westjordanlandes erst einmal zum Stehen zu bringen und dann in einen Abzug zu verwandeln. Die israelischen Siedlungen, die gesicherten Verbindungsstraßen zu ihnen und die Kontrollposten dazwischen zerschneiden das Westjordanland in einen Flickenteppich, der wirtschaftlich nicht lebensfähig ist. Ein halbwegs stabiler Staat läßt sich darauf nicht gründen. Das müßte an erster Stelle Israel einsehen, das die Verhältnisse am besten kennt." Immerhin: Soviel realitätsnahe Sicht auf ein Kernproblem des Nahost-Konflikts ist in deutschen "Mainstream"-Medien eine Ausnahme. Allerdings setzte der Autor zweifelnd hinzu: "Einen solchen Knoten kann selbst eine pragmatische Pfarrerstochter nicht lösen."

Hier muß nachgefragt werden: Will sie das denn überhaupt? Ihre amerikanischen Mentoren halten sich weitgehend zurück und lassen nichts von dem ihnen möglichen Druck auf die israelische Führung spüren.

Gegenüber Netanjahu verharmloste die Kanzlerin dann, wie gehabt, den jahrzehntelangen Völkerrechtsbruch der israelischen Okkupation als "Siedlungsstreit". Es blieb bei der gleichermaßen halbherzigen amerikanischen Aufforderung zum "Siedlungsstopp". Von einem Interesse der Bundesregierung und einem Einsatz oder Beitrag der BRD für eine dem Völkerrecht entsprechende Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts ist wie schon seit Jahrzehnten nichts zu spüren.

Zu Merkels Zeiten war und ist ein unsägliches Maß an Unterwürfigkeit gegenüber den USA charakteristisch, worin sie ihre Vorgänger noch deutlich übertrifft.

Von einer eigenen BRD-Nahostpolitik kann eigentlich gar keine Rede sein. In allen grundsätzlichen Fragen des Verhaltens gegenüber Israelis und Palästinensern wird gehorsamst nach der Pfeife Washingtons getanzt. Das geschieht in völliger Mißachtung des Völkerrechts. Wenn im Rahmen der vielbeschworenen "europäischen Eigenständigkeit" Frankreich, Großbritannien, Italien und Spanien immer wieder eigene Positionen markieren, kann so etwas für die Berliner Politik nicht konstatiert werden. Die bezüglich Iraks in der Vergangenheit von den USA teilweise abweichende Position der Bundesrepublik war Ergebnis der Haltung Schröders und ist heute schon ohne wirkliche Bedeutung.

Muß man auf diesem zentralen Feld der Nahost-Politik von fehlender eigener politisch gestaltender Substanz der von ihrer Richtlinien"kompetenz" sehr überzeugten Bundeskanzlerin sprechen, so trifft das keinesfalls zu, wenn es um die unmittelbare Durchsetzung konkreter Profitinteressen der BRD-Monopole geht. Hier wird die Bundesregierung rührig, um die deutschen Konzerne an der durch die USA-Aggression möglich gewordenen Neuverteilung nahöstlicher Öl- und Gas-Ressourcen sowie anderer Rohstoffe maximal zu beteiligen. Das trifft gleichermaßen auf die BRD-Teilhabe an neuen Pipelines und anderen Transportlinien nah- und mittelöstlicher Energieträger zu. Besonders augenfällig ist das Engagement der BRD-Spitze für die Interessen deutscher Rüstungskonzerne. Bundeswehr und Bundesmarine werden in der nahöstlichen Krisenregion eingesetzt, um die Anbahnung lukrativer Waffengeschäfte, die Lieferung von Kriegsgerät an Konfliktbeteiligte und in erster Linie Israel zu untersetzen. Ganz zu schweigen von der dabei ermöglichten Vervollkommnung der grundgesetzwidrigen deutschen "Einsatzarmee"!

Die von Palästinensern und anderen Arabern erhoffte Unterstützung für eine den Völkern Palästinas und Israels gerecht werdende Friedenslösung dürfte unter "Schwarz-Gelb" wohl erst recht nicht erfolgen.

Oberst a. D. Bernd Fischer

Raute

Information

Die 5. Mitgliederversammlung des RF-Fördervereins tagte am 31. Oktober in Berlin. Nach Kulturprogramm, Bericht und Diskussion wählte sie den aus 28 Personen bestehenden Vorstand sowie die dreiköpfige Revisionskommission. Vereinsvorsitzender ist weiterhin Rolf Berthold, seine Stellvertreter sind Prof. Dr. Götz Dieckmann und Wolfgang Dockhorn. Den Vorsitz der Revisionskommission hat wie bisher Dr.-Ing. Peter Tichauer inne. Kassierer ist Jürgen Thiele.

Auf seiner ersten Beratung berief der Vorstand Dr. Klaus Steiniger erneut zum Chefredakteur des RF.

Raute

Polens Arbeiterklasse zwischen Revolution und Konterrevolution

Was 1956 in Poznán geschah

Am 27. Juni 1956 brach in Poznán, einer der größten Städte Polens, ein Streik aus. Anlaß dafür war eine ungerechtfertigte Behandlung von Arbeitern durch die Werkleitung. Etliche von ihnen gingen auf die Straße und zogen mit polnischen, nicht aber roten Fahnen durch die Stadt. Schnell schlossen sich ihnen andere Einwohner an, die staatsfeindliche Losungen skandierten. Dadurch änderte sich der Charakter der Aktion. Sie wurde gegenüber Volkspolen feindselig. Zuerst stürmten die Demonstranten das Gefängnis, in dem vor allem Kriminelle einsaßen. Sie wurden befreit. Hier und anderswo hatte sich die Menge Waffen besorgt und begann nun, das Gebäude der Wojewodschaftsverwaltung der Staatssicherheit anzugreifen. Deren Angehörige setzten sich bewaffnet zur Wehr. Gegen die Aufständischen mußten Volksarmee-Einheiten eingesetzt werden. Am 29. Juni trat in der Stadt wieder Ruhe ein. Insgesamt waren bei den Auseinandersetzungen 55 Menschen ums Leben gekommen, 19 starben später an ihren Verletzungen. Unter den Toten befanden sich 66 Zivilisten, drei Mitarbeiter der Staatssicherheit, ein Polizist und vier Angehörige der Volksarmee.

Hinsichtlich der Bewertung des Charakters der Ereignisse gab es innerhalb der Parteiführung unterschiedliche Auffassungen. Schließlich einigte man sich auf den Doppelcharakter eines berechtigten "Arbeiterprotests" und "volksmachtfeindlichen Auftretens". Für Wladyslaw Gomulka, den erst im Oktober neu gewählten Ersten Sekretär der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP), stellte das Geschehen in Poznán "einen Kampf der Arbeiter gegen die Verfälschung ihrer ureigensten sozialistischen Prinzipien" dar. Damit war die Einschätzung, die Ereignisse hätten einen Doppelcharakter besessen, entwertet. Gomulkas Urteil galt bis zum Untergang Volkspolens als verbindlich.

Die Interpretation vom Doppelcharakter der Abläufe war tatsächlich falsch: Die rebellierenden Arbeiter hatten sich keineswegs von sozialistischem Bewußtsein leiten lassen. Der bewaffnete Angriff auf staatliche Einrichtungen und der Widerstand gegen die Volksmacht standen im Gegensatz zu sozialistischen Prinzipien. Symbolik (polnische Fahnen), Losungen, Forderungen, angewandte Gewalt und deren Zielrichtung verliehen dem Poznáner Aufstand unabhängig vom Anlaß und der Zahl der beteiligten Arbeiter ein konterrevolutionäres Gepräge. Arbeiter in Bewegung sind eben noch keine Arbeiterbewegung.

Die polnischen Antikommunisten hingegen beurteilten die Sache treffender. Für sie war es die erste bewaffnete Erhebung gegen die Volksmacht. Poznán 1956 bot geradezu ein Lehrbeispiel dafür, wie sich aus einem Streik in einem staatlichen Großbetrieb - unter entsprechender Führung - eine politische Massenbewegung gegen den sozialistischen Staat entwickeln konnte.

Die falschen Einschätzungen der PVAP-Spitze resultierten aus dem damaligen politisch-theoretischen Verständnis der Arbeiterklasse. Deren Rolle als führende Kraft der Gesellschaft wurde zwar richtig erkannt, jedoch glorifiziert und dogmatisiert. Jeder Arbeiter galt automatisch als potentieller Sozialist. Diese Betrachtungsweise verhinderte eine differenzierte Sicht auf Veränderungen innerhalb der Klasse nach der sozialistischen Revolution. So wurde nicht erkannt, daß durch Strukturveränderungen über einen langen Zeitraum Teile der Arbeiterschaft ihren Charakter verlieren und sich gegen den Sozialismus wenden können. Als das aber eintrat, wurde in panischer Übertreibung pauschal behauptet, "die Arbeiterklasse" habe sich gegen ihre Partei und ihren Staat gewandt. Eine solche Schlußfolgerung war verheerend. Vielen schien nun die führende Rolle der Partei politisch nicht mehr gedeckt und der ganze Sozialismus in Frage gestellt. Ja, man mißtraute fortan der Arbeiterklasse. So kam es trotz gegenteiliger Bekundungen zu einer Lockerung der Beziehungen zwischen Partei und Klasse.

Die späteren Ereignisse an der polnischen Ostseeküste (1970) und die Proteste von 1976, an denen viele Arbeiter teilnahmen, waren eine Folge dessen. Das und die Ereignisse 1980/81, als der Ausnahmezustand verhängt werden mußte, boten den Revisionisten inner- wie außerhalb der Partei Gelegenheit, die Rolle der Arbeiterklasse und der PVAP zu leugnen. Genau das nutzten die Konterrevolutionäre. Lauthals präsentierten sie die "Solidarnosc" mit "Arbeiterführer Lech Walesa" als "authentische Vertretung der polnischen Arbeiterklasse". Diese hätte sich von der Partei abgewandt, glaubten nun auch große Teile der PVAP-Intelligenz.

Dem war aber nicht so. Allein die Ereignisse vor 1980 zeigten, daß nur ein kleiner Teil der Arbeiter gegen die Volksmacht revoltierte. Die überwiegende Zahl verhielt sich ruhig und abwartend. Sicher waren nicht wenige polnische Arbeiter durch kleinbürgerliche und klerikale Tendenzen beeinflußt worden, was dazu führte, daß sie der gegnerischen Demagogie auf den Leim gingen. Doch im Herbst 1981 waren die konterrevolutionären Möglichkeiten ausgereizt, so daß eine gegenläufige Tendenz einsetzte. Der "Solidarnosc"-Führung wurde vielfach die Gefolgschaft verweigert, die meisten Arbeiter streikten trotz deren eindringlicher Aufforderung nicht, sondern hielten sich an die staatlichen Weisungen. Das war nicht zuletzt ein Erfolg von Parteimitgliedern an der Produktionsbasis. Auch die Mehrzahl der Angehörigen der Volksarmee, der Sicherheits- und Schutzorgane sowie der Freiwilligenmiliz (ORMO), die am 13. Dezember 1981 die Konterrevolution zurückdrängten, stammte selbst aus der Arbeiterklasse.

Durch eine kurzzeitige Offensive der Volksmacht, der Partei und der linken Gewerkschaft OPZZ gelang es, die "Solidarnosc"-Anhänger in den Betrieben in eine Defensivposition zu bringen. Die OPZZ wurde zur stärksten Gewerkschaft.

In diesen nur wenige Jahre dauernden Auseinandersetzungen hob sich das Klassenbewußtsein der polnischen Arbeiter schneller und stärker als in den Jahrzehnten zuvor. Als die inzwischen revisionistische PVAP-Führung 1989 die "Solidarnosc" wieder zuließ und vor den Rechten kapitulierte, kamen nur aus der Arbeiterklasse dagegen Proteste. Eine Neuauflage der Walesa-Truppe wurde von ihr zumeist abgelehnt. OPZZ-Vorsitzender Alfred Miodowicz erklärte dazu, daß sich die Parteiführung diesmal von der Arbeiterklasse abgewandt und nicht auf deren Stimme gehört habe.

Durch diese Kapitulation der PVAP-Zentrale waren die meisten Arbeiter nun abermals desorientiert. Doch einige Jahre Kapitalismus führten zur Ernüchterung. Die spektakulären Wahlsiege der Linken (SLD) in den Jahren 1993, 1995 und 2001 wären ohne die Stimmen aus der größten Klasse der polnischen Gesellschaft nicht möglich gewesen. Als die SLD dann durch eine bürgerliche und pro-imperialistische Politik wiederum enttäuschte, entzogen ihr vor allem Arbeiter die Stimme. Wenn heute über die Hälfte der polnischen Wahlberechtigten auf einen Urnengang verzichtet, dann sind zumeist sie es. Politisch liegt die polnische Arbeiterschaft deshalb heute weitgehend brach. Hier könnte eine neue und konsequente Linke, die es im Ansatz bereits gibt, Einfluß gewinnen.

Stefan Warynski


Die imperialistische Ideologie dringt auch in die Arbeiterklasse ein. Diese ist nicht durch eine chinesische Mauer von den anderen Klassen getrennt.
Lenin, Werke Bd. 22, S. 290

Raute

Budapest spielt die "großungarische" Karte

Schrille Töne

Ungarns Staatspräsident fordert die Aufwertung einer deutsch-inspirierten Minoritätenpolitik in der EU und verlangt die Ernennung eines EU-"Minderheitenkommissars". Brüssel müsse "rechtliche und institutionelle Garantien schaffen, um völkisch definierten Minderheiten eine Sonderstellung zu sichern", erklärte Laszlo Solyom Anfang September in Berlin. Andernfalls bestehe "eine Gefahr für den Integrationsprozeß" Europas. Hintergrund sind anhaltende Auseinandersetzungen um die ungarischsprachige Minderheit in der Slowakei; Budapest bindet sie immer enger an sich und treibt auf diese Weise einen Keil in die Bevölkerung seines Nachbarlandes. Das Bemühen Budapests um völkische Sonderrechte für Sprachminderheiten entspricht deutschen Bestrebungen, die auf eine engere Anbindung deutschsprachiger Bevölkerungsteile in den Nachbarstaaten zielen - und damit deren Souveränität untergraben.

Der Auftritt des ungarischen Staatspräsidenten in Berlin folgte ernsten Streitigkeiten zwischen Budapest und Bratislava. Hintergrund ist der oft geäußerte Anspruch Ungarns, die Interessen der ungarischsprachigen Minderheiten in den Nachbarstaaten mitzuvertreten. Rund 500.000 Bürger der Slowakei sprechen Ungarisch als Muttersprache; dasselbe gilt für 1,4 Millionen Rumänen, 300.000 Serben, 150.000 Ukrainer sowie Zehntausende Bürger Kroatiens, Sloweniens und Österreichs. "Es kam in der Geschichte des öfteren vor, daß Ungarn außerhalb des Staates Ungarn lebten", erläuterte Solyom Anfang September in der deutschen Presse. Es gehe "um eine sprachliche und bewußtseinsmäßige Einheit, die heute, Ungarn inbegriffen, in acht Staaten existiert". Die "Auslandsungarn" müßten weiter "ihre Sprache, ihre kulturellen Traditionen", vor allem jedoch "unsere historische Zusammengehörigkeit" bewahren dürfen.

Solyoms jüngster Versuch, die "bewußtseinsmäßige Einheit" zwischen "Auslandsungarn" und dem Mutterland zu stärken, hatte Ende August zu einem diplomatischen Eklat geführt. Der Präsident wollte in die südslowakische Stadt Komarno einreisen, um dort ein Denkmal einzuweihen. Komarno ist eine Hochburg der ungarischsprachigen Minderheit in der Slowakei. Bei dem Denkmal handelt es sich um eine Statue des ungarischen Staatsgründers St. Stephan, der zugleich als Symbol für ein sämtliche Siedlungsgebiete ungarischsprachiger Minderheiten umfassendes "Großungarn" gilt. Bratislava erhob Widerspruch gegen die Provokation und hinderte Solyom, der sich nicht umstimmen ließ, an der Einreise.

Wie Solyom erklärte, müsse "die Lage der nationalen Minderheiten" "auf jeden Fall auf europäischer Ebene behandelt werden". Demnach handele es sich bei Auseinandersetzungen wie etwa dem aktuellen Streit um eine "Spannungsquelle, die eine Gefahr für den Integrationsprozeß sein kann". Die EU müsse umgehend "rechtliche und institutionelle Garantien für die ansässigen nationalen Minderheiten schaffen", forderte Solyom vor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin. Man benötige nicht nur "Übereinkünfte, die die Lage der nationalen Minderheiten regeln", sondern auch institutionelle Garantien. Solyom sprach sich dafür aus, innerhalb der EU-Kommission "ein ausdrücklich für die Angelegenheiten der nationalen Minderheiten zuständiges Mitglied" zu bestellen. Es gehe beispielsweise im Falle Ungarns und der "Auslandsmagyaren" darum, "eine kohärente kulturelle Einheit" zu bewahren.

Slowakische Politiker werfen Ungarn vor, die "Einheit" mit den "Auslandsmagyaren" treibe einen Keil in die Bevölkerung der Slowakei. Der slowakische Staatspräsident Ivan Gasparovic bestätigte unlängst, die Beziehungen zwischen den slowakischsprachigen und den ungarischsprachigen Bürgern in der Südslowakei verschlechterten sich aufgrund der ungarischen "Minderheiten"-Offensive erkennbar. Die Ethnopolitik Budapests genießt dennoch die Unterstützung Berlins, das selbst entschlossen eine enge Anbindung deutschsprachiger Minoritäten vorantreibt. Übrigens ist Solyom Deutschland persönlich verbunden. Der Jurist, der sich als Stipendiat der Alexander-von-Humboldt-Stiftung in den 80er Jahren mehrfach zu Studien in der Bundesrepublik befand, unterhält enge Beziehungen zu prominenten BRD-Staatsrechtlern und war nach dem Sturz des Sozialismus Gründungspräsident des ungarischen Verfassungsgerichts. Die deutsche Presse schreibt heute noch über ihn, er lese "nicht nur die einschlägigen Urteile des Bundesverfassungsgerichts im Original", sondern "vermittelt sie auch seinen Kollegen" in Polen, Tschechien und der Slowakei.

Solyom, Ehrendoktor der Universität Köln und Träger des Großen Verdienstkreuzes mit Stern des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland, kooperierte insbesondere auch mit dem inzwischen verstorbenen "Ostrechtler" Prof. Georg Brunner. Dies ist insofern bemerkenswert, als sich Brunner - 1936 in Budapest geboren und seit seiner Flucht 1956 in der Bundesrepublik ansässig - selbst ausführlich mit seinem und Solyoms Heimatland befaßte. In den 90er Jahren, zu einer Zeit, als er mit Solyom zusammenarbeitete, erwog Brunner in seinen Publikationen, diverse Wohngebiete der Auslandsungarn ("Teile der Südslowakei, die Karparten-Ukraine sowie die nördliche Wojwodina) von den Nachbarstaaten abzuspalten, da es sich "um kompakt ungarisch besiedelte Gebiete" mit ethnisch reinem "Ungarntum" handele. Solyom gibt heute offiziell an, eine solche Abspaltung nicht zu befürworten.

Wie der ungarische Einfluß dennoch auf Kosten der Nachbarstaaten vergrößert werden kann, zeigt das im März 2008 gegründete "Forum ungarischer Parlamentarier im Karpatenbecken". Das Gremium, das per Beschluß des ungarischen Parlaments offiziell seine Arbeit aufgenommen hat, vereinigt Abgeordnete aus Ungarn und den Wohngebieten der "Auslandsungarn". Es sorgte unlängst für Mißstimmung im benachbarten Ausland. Die Mandatsträger der ungarischsprachigen Minderheit im slowakischen Parlament beschlossen, nicht zur Parlamentssitzung nach Bratislava, sondern nach Budapest zu fahren, wo zum gleichen Zeitpunkt das hier erwähnte Forum zusammentrat. Die Tagesordnung umfaßte u. a. Maßnahmen der ungarischen Regierung zugunsten der "Auslandsmagyaren". Wie die Entscheidung der slowakischen Abgeordneten zeigt, gehört deren Loyalität auch ohne Grenzrevision im Falle terminlicher oder sonstiger Kollisionen nicht mehr der Slowakei, sondern Ungarn.

Aus: "Informationen zur deutschen Außenpolitik"
(www.german-foreign-policy.com)

Raute

Wie man mit Jubiläen Schindluder treiben kann

Schiller wäre entsetzt geflohen

Wir leben in einer tief gespaltenen Gesellschaft. In einer Klassengesellschaft. Politisch, sozial und kulturell. Das müssen sogar jene Parteien und Politiker zugeben, die Marx als überholt, veraltet und unmodern abtun oder verteufeln. Selbst in der politischen "Mitte" verortete Bundestagsabgeordnete sprechen z. B. von einer "Zweiklassenmedizin" (Prof. Karl Lauterbach, SPD), obgleich es noch eine dritte Klasse gibt: die Menschen, die in keiner Krankenkasse erfaßt sind. Das sind Hunderttausende. Sie sind in die neue Armut getrieben worden.

Die Parteien der "Mitte" haben es fertiggebracht, immer und immer wieder die Superreichen zu begünstigen und bei den untersten Schichten per Gesetz drastisch zu kürzen. Während man bei Bankern und Managern, die Hunderte Milliarden verzockt haben, kaum einen der Akteure zur Rechenschaft zieht, wird bei einer Supermarktkassiererin, die einen sehr geringen Betrag angeblich unterschlagen haben soll, eine Entlassung für rechtens befunden. Jeder Tag bringt einen neuen politischen Skandal ans Tageslicht. Alle Bürger sind vor dem Gesetz gleich, heißt es im Grundgesetz, das vor 60 Jahren - ohne Volksabstimmung - beschlossen wurde.

Gleich? Welch ein schreiender Gegensatz zur Realität! Was hat das mit heutiger Kultur zu tun? Und mit dem Erbe? Im Jahr 2009, einem Schiller- (250. Geburtstag) und Goethe- (260. Geburtstag), einem Händel- (250. Todestag) und Bauhaus-Jahr (90. Jahrestag der Gründung in Weimar) und einem 60. Jahrestag der Spaltung Deutschlands (Gründung der Bundesrepublik Deutschland), lohnt es, gründlich darüber nachzudenken. Das politische und kulturelle Erbe der Deutschen, wie geht man damit in Thüringen um? Zum Beispiel mit dem Erbe Friedrich Schillers.

Vor zwei Jahren im Sommer sah ich im Deutschen Nationaltheater Weimar "Kabale und Liebe". Schiller, hätte er die Aufführung miterleben können, wäre höchstwahrscheinlich entsetzt aus dem Theater geflohen.

Die berühmte, anklagende Kammerdiener-Szene (II, 2): gestrichen. Die Bühne: zeitlos, ortlos. Das Ganze könnte auch in Neuseeland spielen. 99 Kinder-Luftballons durchwabern die Szenen. Handgemenge bis zum Boxen. Jugendliche Zuschauer vor mir feixten ungehemmt. Immerhin gut: die Leidenschaftlichkeit der Liebenden. Zärtlich bis zerfetzend sich auf dem Boden wälzend. (Kommt jetzt der Koitus?) Musik und Pantomime fast himmlisch. Wurm und Kalb nur Karikaturen. Was soll's?

Das ist nicht Friedrich Schiller. Es ist ein Stück einer Regisseurin (Name ist Schall und Rauch ...) mit Text-Ausleihen von einem hier recht bekannten Klassiker. Klassikkenner Prof. Martin Hellberg (1905-1999), lebte er noch, wäre wohl in Ohnmacht gefallen. Respekt vor Schiller? Nichts davon. Heute und hier wird verwurstet. Man geht mit dem Erbe unhistorisch um. Es ist nur noch Spielspaß-Material.

Zwei Jahre später scheitert dasselbe Theater am "Fiesco", er kommt erst gar nicht zur Premiere. Abgesagt. Vier Schauspiel-Darsteller aus dem Ensemble von "Kabale und Liebe" verlassen 2009 das Theater. Einen Schauspiel-Direktor gibt es nicht. Fehlt es an Geld, einen einzustellen? Wo sind wir hingekommen? Zum gepriesenen Thüringer Staatstheater. Eine politisch gewollte Konstruktion. Aus Not?

Wer bezahlt die Rechnung? Es wäre nun äußerst billig, Intendant Stephan Märki Schuld zuzuweisen. Es ist, meines Erachtens, der Zustand unserer turbokapitalistischen Gesellschaft, die extrem abbaut an den falschen Stellen, die extrem auf Events setzt (je verrückter, um so mehr mediale Aufmerksamkeit wird provoziert), die extrem mit dem humanistischen Erbe nichts anzufangen weiß: Es fehlt die einen humanen Sinn stiftende und mobilisierende Perspektive.

Die Spektakel von heute finden auf den Straßen und Plätzen und in den gewählten Parlamenten statt. Die Titel: Tausende Täuschungen teuer aufgetafelt. Die Rechnung dafür bezahlt das Volk. Wer sonst? Nicht die Banker. Die bekommen "Schutzschirme". Das ist schon sehr merkwürdig. Die herrschende Politik und ihre angeblich unabhängigen Medien feiern die Rückwende zum Kapitalismus auf allen TV- und Radio-Kanälen, doch warum vor 60 Jahren die drei Westmächte und Konrad Adenauers CDU Deutschland bewußt spalteten, indem sie das völkerrechtliche Abkommen von Potsdam 1945 mißachteten und negierten, darüber wird peinlichst geschwiegen. Vieles verschweigen ist auch lügen. Warum?

Man kann ein Jahrhundert nicht verstehen, wenn man seine Sicht derart einengt, auf ein Ereignis, dessen geschichtliche Zusammenhänge Vorgeschichten haben. Der Umgang mit dem Erbe, politisch oder auch kulturell, ist immer von den jeweils politisch Herrschenden diktiert. 1949 haben Millionen Deutsche im Osten und Westen öffentlich gegen die Spaltung Deutschlands demonstriert.

Aber das hat die westlichen Alliierten und Konrad Adenauer ("Lieber das halbe Deutschland ganz als das ganze Deutschland halb") kaltgelassen. Das blendet die herrschende Klasse bewußt völlig aus. Die heutige Krise ist ist das heutige System. Das muß natürlich verschleiert werden. Denn: Es kommt alles noch viel schlimmer, nachdem die Wahlen unter Dach und Fach sind.

Und an noch etwas soll hier erinnert werden: Als vor 60 Jahren die Welt Goethes 200. Geburtstag feierte, Thomas Mann Weimar besuchte und die ersten deutschen Nationalpreise an hervorragende Persönlichkeiten in Ost und West im Deutschen Nationaltheater verliehen wurden, erschienen die ersten Auflagen des Goethe-Lesebuchs von Walther Victor im Thüringer Volksverlag Weimar. Es fand ein derart starkes Echo, daß bald eine populäre Reihe daraus wurde, eine Reihe "Lesebücher für unsere Zeit" mit mehr als 40 Titeln. Der Titel "Goethe" erreichte 37 Auflagen. Der Preis: 6,50 Mark der DDR. Die DDR ließ sich die Bildung aller Klassen und Schichten etwas kosten und subventionierte humanistische Bildung. Das war nach 1989 vorbei ...

Werner Voigt, Kromsdorf

Raute

Vor 100 Jahren wurde der Schriftsteller Jan Koplowitz geboren

Klassenkämpfer mit der Feder

Als der Verfasser dieser Zeilen ihn persönlich kennenlernte, da hatte Jan Koplowitz, der am 1. Dezember 1909 Geborene, bereits das siebente Lebensjahrzehnt überschritten. Es war auf einem Buchbasar oder während einer Signierstunde, wo der Schriftsteller sein Hauptwerk "Bohemia - mein Schicksal" vorstellte. Weitere Lesungen folgten zu den Büchern "Geschichten aus dem Ölpapier" (1982), "Glück auf, Piddl" (1985), "Die Sumpfhühner" (1986), "Der unglückselige Blaukünstler" (1987), "Karfunkel und der Taschendieb" (1988) und "Das Brot der fremden Länder" (1990).

Sein letztes Werk "Daniel in der Löwengrube" konnte Koplowitz wegen der Lageveränderungen nach der politischen Rückwende in der DDR und der Tatsache, daß ihm am 22. September 2001 der Tod die Feder aus der Hand nahm, nicht mehr als Buch unter die Leute bringen. So kenne ich nur von ihm aus dem Manuskript vorgetragene Stellen, die erahnen lassen, daß den Lesern leider etwas Besonderes vorenthalten bleibt, geht es doch um eine sehr persönliche Geschichte: den Kampf des Autors um das Leben und die Freilassung seines in einem türkischen Gefängnis unter unsäglichen Bedingungen wegen Drogenbesitzes inhaftierten Sohnes.

Koplowitz war ein Kommunist und Optimist der Sonderklasse, ein Mensch, dem die Neugier am Leben und die Liebe zu den Mitmenschen angeboren sein mußten. Man durfte ihm nicht stark die Hand drücken, weil das Schmerzen verursachte, denn die Nazis hatten ihm bewußt die Hände, seine Werkzeuge, zerschlagen. Man durfte und mußte ihm aber immer in die Augen schauen und sein fast nie vergehendes verschmitztes Lächeln, das durch den schlohweißen Kinn- und Oberlippenbart noch eine besondere Note erhielt, in sich aufsaugen. Wenn dann noch in schelmischer und Koplowitzscher Art Worte folgten, war die Botschaft an das Gegenüber klar. Hier gab es einen Menschen, dessen Worten man Glauben schenken konnte, der nicht nur sympathisch war, sondern vielleicht ein bißchen ein Vorbild darstellte.

Als Jan Koplowitz meinen Familiennamen erfuhr, erzählte er von einem Kampfgefährten des Kommunistischen Jugendverbandes gleichen namens aus der Breslauer Gegend, der von seinen Freunden "Der Schmalmacher" genannt wurde. In einer Buchwidmung schrieb er: "Ein Name aus meiner kämpferisch-gefährlichen Jugend. Irgendwo muß da eine Verwandtschaft sein." Schon möglich, denn mein Großvater stammte aus der gleichen Gegend in Schlesien. Die gemeinsame Suche nach diesem "Erich" hat leider nichts erbracht, obwohl der Familienname doch nicht so häufig ist.

Die produktivste Zeit als Schriftsteller hatte Koplowitz wohl nach seinem Eintritt in das Rentenalter, mußte sich in den 80er Jahren aber auch Eingriffe und "Schwärzungen" bei einigen seiner Arbeiten gefallen lassen, die er als disziplinierter Kommunist zwar hinnahm, über die er aber auf Foren öffentlich berichtete. Vielleicht auch deshalb wurden seine Signierstunden in entlegene Buchhandlungen beordert und nicht in "Das Internationale Buch" in Berlins Spandauer Straße. Das wurmte ihn schon.

Nach dem Tod seiner Frau, die aus der bekannten Wissenschaftlerfamilie Deiters stammte, bestimmten Anfeindungen in den Jahren 1989 und 1990 wegen seiner Haltung und dem Nichtgelingenwollen seines "Daniel in der Löwengrube" die Einstellung zu Jan Koplowitz. Ihn selbst hatte - nach einem aufrechten Leben - der Mut verlassen.

Der Schriftsteller hat seine letzte Ruhestätte auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in der Chausseestraße erhalten, im Erbbegräbnis der Familie Deiters, neben seiner langjährigen geliebten Partnerin und einem weiteren deutschen Schöngeist, dem Bildhauer Carl Friedrich Schinkel.

Eberhard Rebohle

Raute

Alfred Wellm legte Ehre für die DDR ein

Ein Stiller, dessen Bücher bleiben

Alfred Wellm wurde am 22. August 1927 in Neukrug bei Elbing als Sohn eines Fischers geboren. 1942 besuchte er die Lehrerbildungsanstalt, wurde aber 1944 zur Wehrmacht eingezogen. 1945 war er als Landarbeiter und Gespannführer tätig. Nach einem Neulehrer-Kursus nahm er 1946 seine erzieherische Tätigkeit auf, wurde Direktor, Schulrat und leistete eine umfangreiche pädagogische Arbeit, wofür er als Verdienter Lehrer des Volkes ausgezeichnet wurde. 1963 wurde Wellm freischaffender Schriftsteller, wechselte mehrfach seine Wohnorte, bis er 1975 in Lohmen, Kreis Güstrow, seinen letzten Wohnsitz fand.

Mitte der 50er Jahre begann Alfred Wellm seine ersten Kinderbücher zu schreiben, wie "Igel, Rainer und die anderen" (1958), "Die Kinder von Plieversdorf" (1959) und "Die Partisanen und der Schäfer Piel" (1960). Sie zeichneten sich durch klug gebaute, handfeste Fabeln, eine saubere Sprache, Humor und Lebensechtheit aus. Erst die Erzählung "Kaule" (1962) brachte Wellm einen durchschlagenden Erfolg. Die poesievolle Geschichte zählte jahrzehntelang zu den Texten, die im Literaturunterricht der 6. Klassen behandelt wurden. Sie ist eine Lausejungengeschichte und ein poetisches Buch zugleich, da sich köstlicher Humor, mitfühlende Zartheit und poetische Erzählkunst gleichsam ein literarisches Stelldichein geben. "Kaule" prägte sich durch eine einfache und ereignisreiche Fabel, ausdrucksreife Erzählkunst und große Stimmungsdichte ein. Der Regisseur Rainer Bär schuf nach Wellms Buch den gleichnamigen DEFA-Kinderfilm, der sich als äußerst publikumswirksam erwies.

Die phantasievolle Gegenwartserzählung für das Erstlesealter "Das Mädchen Heika" (1966) war wiederum im ländlichen Milieu angesiedelt. Die Schülerin einer 2. Klasse überwand ihre Schwierigkeiten beim Lernen und wurde sich ihrer Fähigkeiten bewußt. Wellm nutzte phantastische Elemente, um das Kind eine neue Lebenshaltung, Selbstsicherheit und Lebensfreude gewinnen zu lassen. Das Buch erreichte bereits 1977 die 12. Auflage.

"Kaule" könnte man als Vorarbeit oder Studie zu Wellms erstem Roman "Pause für Wanzka oder Die Reise nach Descansar" (1968) ansehen, da sich eine Reihe Ähnlichkeiten feststellen lassen. Hollnagel in "Kaule" besitzt die gleiche literarische Funktion wie der Lehrer Wanzka. Über das Anliegen des bewußt polemisch geschriebenen Romans äußerte Wellm: "Ich möchte mit diesem Buch wachrütteln, ich möchte erreichen, daß sich niemand mehr mit der Mittelmäßigkeit abfindet. Ich wollte provozieren, dazu anregen, sich Gedanken zu machen über die Verbesserung unseres Lebens. Dazu brauchte ich eine zugespitzte Situation." Wellm ging es um die volle Ausprägung der Individualität, um deren inneren Reichtum.

In der regen und breiten öffentlichen Leserdiskussion erkannte man wichtige Fragen, die im Roman aufgeworfen wurden. In den Zeitungen der DDR erschienen 42 Lesermeinungen, 23 Ansichten von Pädagogen, 9 von Schriftstellern und 24 Rezensionen.

Fred Rodrian schrieb in einem Beitrag über Wellm, wie dieser ein Fohlen verkauft hatte, über das er später sein Kinderbuch "Das Pferdemädchen" (1974) verfaßte. In dieser beispielhaften Erzählung wurde die Frage aufgeworfen, wie verantwortlich sich der Mensch gegenüber einem Tier verhalten müsse. Der DEFA-Regisseur Egon Schlegel schuf danach den Kinderfilm "Das Pferdemädchen". In seinem Roman "Pugowitza oder Die silberne Schlüsseluhr" (1975), an dem Wellm fast neun Jahre gearbeitet hatte, gestaltete er, wie neue menschliche Beziehungen in der Umbruchszeit 1945 bis 1946 entstanden. Er strahlte die Einfachheit großer Poesie aus. Dem Kameramann Jürgen Brauer gelang 1981 sein erfolgreiches Regiedebüt mit dem DEFA-Film "Pugowitza". Mit der Filmadaption wurde die poetische Geschichte einer Freundschaft vorgestellt, eine wahre Legende aus ersten Friedenstagen.

In Wellms Buch "Karlchen Duckdich" (1977) erkunden zwei vom Lande kommende Kinder ihr neues Zuhause in einem Hochhaus. Dieses wunderbare kleine Stück Prosa zeugte von tiefer Humanität und war gleichzeitig ein liebevolles Plädoyer für Phantasie als produktive Erkenntnis- und Lebenshilfe. In seinem Kinderbuch "Die Geschichte vom kleinen Wruk" (1981) erzählte Wellm, wie ein Junge von Abenteuern und Heldentaten träumt. Er soll Tieren helfen, lehnt dieses ab und muß erkennen, daß Träume die Tat brauchen. Ein Bild von Fritz Duda regte den Autor zu seiner Geschichte "Das Mädchen mit der Katze" (1983) an. Das Mädchen ist taub, darüber nicht traurig und gleichsam in den Märchen und ihrer Phantasie zu Hause. In seinem Buch "Der Hase und der Mond" (1985) vereinte der Schriftsteller Fabeln und Märchen aus Namibia.

1987 - im Jahr seines 60. Geburtstages - veröffentlichte Wellm endlich den umfänglichen Roman "Morisco" (1987), von dem bereits Vorabdrucke in "Sinn und Form" (3/1980) und der "Neuen Deutschen Literatur" (2/1987) erschienen waren. Der Roman um die "ruhelosen Wünsche des Architekten Andreas Lenk" hatte ihn fast zehn Jahre beschäftigt. Der Chefarchitekt Lenk hält Rückschau auf seine erfolgreiche beruflich Karriere, seine geschiedene Ehe, seine schöntuenden einstigen Freunde und Arbeitskollegen. Fragen drängen sich ihm auf über seine problematische Selbstverwirklichung und eigenes Durchstehvermögen. Sein Lebensinhalt war anspruchslos, flach und verlogen. Des öfteren fehlte ihm der Mut zum eigenen Standpunkt, und er ließ sich in eine Rolle drängen, die er mitspielte. Das führte zu Selbstverleugnung und Selbstisolierung. Lenk verzweifelte an der Gesellschaft und verrannte sich in eine Einsamkeit. Wellm bekannte: "Aber ich verstehe die Verzweiflung nicht negativ. Nicht der Verzweifelte ist zerstört, der Gleichgültige ist es." Der Leser fühlte sich unwiderstehlich in die Überlegungen des Helden über Freundschaft, Liebe und Vertrauen einbezogen "... und darüber, wie Selbstbewußtsein gefördert und wie es zerstört werden kann" (Klaus Höpcke). Der Roman löste erhebliche Diskussionen unter den Lesern aus. Zwanzig Jahre, nachdem der Roman "Wanzka" erschienen war, verfilmte ihn die Regisseurin Vera Loebner mit Kurt Böwe in der Titelrolle. Drehbeginn war September 1989. Der Deutsche Fernsehfunk (DFF) nahm mit dem Film "Pause für Wanzka" 1990 am internationalen Fernsehfestival "Das Goldene Vlies" in Batumi teil.

Schriftstellerkollegen äußerten sich über Wellms Arbeits- und Schaffensweise. "Seine Werke wachsen langsam, aber man sieht ihnen die Mühen des Entstehens und Reifens nicht an." (Egon Schmidt) "Ich glaube, es ist eine tiefe Angst in ihm vor jedem Wort, das zuviel sein könnte oder nicht genau genug, vor jedem Satz, dessen Rhythmus ihm zweifelhaft erscheint." (Fred Rodrian) "Bücherschreiben ist für ihn eine pausenlose Prüfung." (Eva Strittmatter)

Alfred Wellms Bücher erschienen in weit über zwanzig Sprachen bzw. Ländern. "Kaule" dürfte mit über einer halben Million Exemplaren im In- und Ausland das am weitesten verbreitete Buch Wellms sein. Der Schriftsteller erhielt zahlreiche Preise, so dreimal den Fritz-Reuter-Preis, den Heinrich-Mann-Preis (1969) und den Nationalpreis der DDR (1978). Er war Ordentliches Mitglied der Akademie der Künste der DDR.

Alfred Wellm starb am 17. Dezember 2001. Christel Berger beendete ihren Nachruf mit den Worten: "Ein Stiller ist ganz still von uns gegangen. Wenn ich nur schreiben könnte, daß seine Bücher bleiben werden!

Ich wünschte es so sehr!"

Dieter Fechner

Raute

An der Seite und im Schatten des Malers José Renau

Die Botschaft der Manuela Ballester

Die spanische Touristenzeitung "Costa-Blanca-Nachrichten" veröffentlichte am 5. Oktober 2007 anläßlich der Ausstellung zum 100. Geburtstag des großen spanischen Malers José Renau ein Interview mit dessen Tochter. Auf die Frage, wie ihr bereits 1982 verstorbener Vater wohl das Ende der DDR aufgenommen hätte, erwiderte sie: "Er war sich bewußt, daß auch im Sozialismus nicht alles positiv war, hatte aber stets die Hoffnung, daß sich die Dinge zum Guten wenden würden. Ich denke, er wäre sehr traurig gewesen ..."

Über Manuela Ballester Vilaseca zu schreiben, heißt, über ein vielschichtiges Leben zu berichten. Sie wurde 1908 in Valencia geboren und starb am 7. November 1994 in Berlin. Manuela lernte José Renau in der Hochschule der Schönen Künste, an der sie in den 20er Jahren studierte, kennen. Zur Vermittlung ihrer Anschauungen benutzte sie die Hände. Sie war Zeugin von politischen Ereignissen und gesellschaftlichen Veränderungen, die sich in ihrer schöpferischen Arbeit als Plakatmalerin, Zeichnerin, Designerin, Gestalterin von Fotomontagen, Graveurin, Grafikerin, Illustratorin, Wandmalerin und Porträtistin widerspiegelten. Überdies war Manuela Ballester Denkerin, Schriftstellerin, Dichterin, Redakteurin, Tochter, Mutter, Schwester und Genossin.

1930 galt sie bereits als vielversprechende Künstlerin. Ihr größter Erfolg jenes Jahres war die Gestaltung des Einbands zum Roman "Babbit", den der US-Literaturpreisträger Sinclair Lewis schrieb.

1931 trat Manuela der Kommunistischen Partei Spaniens bei. Ein Jahr später heiratete sie ihre Jugendliebe José Renau. Fortan verwandelte sie ihre Kunst zu einer Waffe des politischen Kampfes. Mit ihrer Hilfe gründete Renau 1934 den Verband der Proletarischen Schriftsteller und Künstler. Für die Wahlen im Februar 1936 schuf sie im Auftrag der Kommunisten eines der schönsten Plakate jener Zeit. Der Text lautete: "Wählt die Volksfront! Für das Brot der Arbeitslosen und der von Unterdrückung Bestraften! Für die Rückgabe der 30.000 Gefangenen an ihre Familien!"

Während des Bürgerkrieges war sich Manuela des historischen Augenblicks bewußt, der sie endgültig von den angenehm verlebten Jahren entfernte. Während Renau zum Direktor der Schönen Künste ernannt wurde, übernahm sie die Leitung von "Pasionaria", dem Organ der antifaschistischen Frauen Valencias, das damals die Hauptstadt der Republik war.

Ihre Ratschläge wurden von Renau immer beachtet - sei es bei der Rettung des Nationalen Kunstschatzes aus dem durch die Faschisten bombardierten Madrid, sei es bei der Vorbereitung des Zweiten Internationalen Kongresses der Schriftsteller zur Verteidigung der Kultur oder bei der Organisierung des spanischen Pavillons auf der Internationalen Ausstellung in Paris, bei der Einweihung der antifaschistischen Schule für Frauen "Lina Odena" oder bei der nationalen Konferenz der gegen Franco kämpfenden Spanierinnen in Valencia, an der die legendäre Rumänin Anna Pauker und die Pasionaria teilnahmen.

1939, als der Krieg zu Ende ging, war Manuela 31 Jahre alt. Sie entschied sich wie die meisten politisch aktiven Intellektuellen dafür, das Land zu verlassen. Über Frankreich gelangte die Familie ins mexikanische Exil. Die Geschichte jener Zeit blieb bei der Künstlerin in ihren Bildern intakt. Sich der auf sie zukommenden Widrigkeiten bewußt, wuchs sie über sich selbst hinaus. Ihr Werk als Malerin ist durch Porträts der aus Spanien exilierten Freunde und durch Bilder der Repression gekennzeichnet. Manuelas Motive sind die Morde, das Unrecht, die Gefängnisse in ihrem Land.

Nach den ersten Monaten des Exils verschlechterte sich über ideologische Debatten, Diskussionen zur Kindererziehung, Gespräche über die Gleichheit der Partner und Fragen zum künstlerischen Schaffen die Beziehung zwischen Manuela und ihrem Mann. 1959 übersiedelte die inzwischen 51jährige Manuela noch mit Renau und den beiden jüngsten Kindern in die Hauptstadt der DDR, nach Berlin. 1962 erfolgte dort die endgültige Trennung der beiden, und Manuela bezog eine Wohnung im Stadtzentrum. 1963 arbeitete sie an einer von der Internationalen Demokratischen Frauenföderation organisierten Ausstellung über mexikanische Trachten mit. Sie war für die DDR-Dolmetscherzentrale Intertext, eine Zeitschrift und einen Verlag tätig. Sie schuf Porträts und malte Landschaften der DDR. Ihre Grafiken erschienen in der Auslandszeitschrift "España Republicana".

Von der DDR aus, die ihr Sicherheit gab, unterhielt sie Briefkontakte mit zahlreichen Freunden und ihrer zwischen Mexiko, Spanien und der DDR zerstreuten Familie. Dem Künstler Rafael Pérez Contel schrieb sie 1980 aus Bad Liebenstein: "... Ich wurde zur Kur geschickt und bin in einem der Sanatorien, die es in dieser Stadt Thüringens gibt, deren Wasser und Klima seit Jahrhunderten durch ihre heilenden Eigenschaften berühmt sind. ... Unnötig zu sagen, daß das medizinische Personal und die Unterbringung exzellent sind. Das konnte ich schon in den wenigen Tagen meiner Anwesenheit hier feststellen. Alles gehört der Sozialversicherung und ist unentgeltlich ..."

1975 konnte Manuela ihre erste Reise nach Valencia antreten. Es erwies sich, daß sie dort nach 40 Jahren Franco-Herrschaft völlig unbekannt war. So gesellen sich zu ihren drei Exilen - der Emigration nach Frankreich, Mexiko und in die DDR - nun noch ein viertes hinzu: die Anonymität in der eigenen Heimat.

Manuela Ballester lebte an der Seite und im Schatten von Renau, mit dem sie Leidenschaft und Enttäuschung kennenlernte. Das war sicher nicht einfach. Dennoch profilierte sie sich vor allem in den 30er Jahren durch einen Stil, der ihr Schaffen in Technik und Sensibilität prägte. Ein Leben, das zum Hinschauen und Nachdenken anregt.

Cristina Escrivá Moscardó

Unsere Autorin ist Verfasserin etlicher Bücher, Essays und Dokumentarfilme zur Geschichte der Spanischen Republik.

Übersetzung Isolda Bohler


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Skulptur von Fritz Cremer im Berliner Volkspark Friedrichshain

Raute

Archie und die Story vom qualmenden Opel

Es war so um die Zeit der Errichtung der Berliner Mauer. Die DDR blutete aus, wurde von allen Seiten angezapft, legal und illegal. Archie wohnte in der neuen AWG-Wohnung in Baumschulenweg mit Blick auf den Grenzstreifen im Schrebergartengebiet. Es war ein ständiges Kommen und Gehen. Er arbeitete in Berlin-Adlershof beim Fernsehen der DDR, wo beinahe täglich Facharbeiter in den Westen abgeworben wurden. "Adlershof produziert Nachwuchs für die ARD", war schon der heimliche Slogan.

Archies Frau hatte sich in Baumschulenweg auch wieder eine Schule gesucht, wo sie unterrichten konnte. Die lag näher an der neuen Wohnung wie auch der Kindergarten für den Nachwuchs. Vorher war sie im Roten Rathaus bei der Abteilung Volksbildung gewesen, wo sie ablehnenden Bescheid erhielt. Alle Planstellen im Bezirk Treptow seien besetzt. Als sie auf eigene Faust an der großen Schule neben der Kirche mit den zwei Türmen vorsprach, klatschte die damalige Direktorin in die Hände und rief aus: "Sie schickt mir der Himmel, seit Monaten suche ich einen Lehrer in Ihrem Fach." Das gab es in der DDR halt auch: Die Zentrale wußte nicht, was auf lokaler Ebene gebraucht wurde. 36 Jahre arbeitete sie dann an Schulen im Bezirk Treptow, davon 10 Jahre beim EAW, Berufsausbildung mit Abitur, bis die Bosse von der AEG zurückkamen und sie ohne Zaudern rauswarfen. Ohne nennenswerte Abfindung. Vielleicht, weil sie unter anderem Russischlehrerin war.

Die Zeit in der DDR bedeutete kein Zuckerschlecken. Es gab Tage, an denen sich die Eltern kaum sahen. Die Kinder waren Schlüsselkinder, die Mutter hatte Lehrer-Konferenzen oder mußte zu Elternabenden, der Vater war mit Sendeterminen oder Proben beschäftigt. Dienstreisen wurden so manchmal zu einer Zerreißprobe, Omas und Opas nicht vorhanden, nach 1945 in alle möglichen Himmelsrichtungen zerstreut oder im "Westen" gelandet. Das Geld reichte vorn und hinten nicht, und trotzdem war es in der Erinnerung die schönste Zeit der jungen Familie. Auf Solidarität und Hilfsbereitschaft konnte man fast überall in der DDR wie auf eine Selbstverständlichkeit bauen.

In dieser Zeit lebte Onkel Busse noch, ein Nennonkel und "Haushandwerker" der Familie, für Archie eine Art Vater-Figur. Er hob alles auf, was ihm unter die Finger kam, wobei er hoffte, jemandem damit helfen zu können. Er warf buchstäblich nichts weg. So rief er eines Tages Archie an und sagte ganz aufgeregt: "Hör zu, ich habe ein komplettes Autorad, Marke Wanderer, gefunden, im Gebüsch zwischen Adlershof und Grünau." Archie war etwas genervt und erwiderte: "Da mußt du halt annoncieren."

Onkel Busse tat das, und tatsächlich antwortete ein selbständiger Fleischermeister von der Insel Rügen. Bernhard Busse verzurrte das kostbare Stück geschickt auf einem seiner Tandemfahrräder und fuhr damit los in Richtung Norden. Unterwegs stürzte er, holte sich einen Leistenbruch, den er an der See operieren lassen mußte. Später fuhr er mit dem Rad weiter, so hatte es Archie jedenfalls in Erinnerung, fand den selbständigen Fleischermeister, der so erfreut war über das wiedergefundene Ersatzrad, als wäre ihm ein fettes, schlachtreifes Schwein zugelaufen. Er bestaunte die Konstruktion, mit der das Autorad auf dem Fahrrad befestigt war und beherbergte Onkel Busse an der Ostsee bei sich eine Woche oder länger mit Kost und Logis, während dieser als Gegenleistung die marode Elektrik des Fleischerladens in Ordnung brachte.

Archie erzählte seinem Freund Manfred, einem Schriftgrafiker, der im AWG-Block direkt über ihm wohnte, diese seltsam anrührende Geschichte von gegenseitiger tätiger Hilfeleistung und Unterstützung. In dem AWG-Block wohnten vor allem Verlagsmitarbeiter, ein Kuriosum der DDR. Es gab auch einen Fernseh-Block, in dem nur TV-Mitarbeiter zu finden waren und wo einem seinerzeitige Bildschirmgrößen gelegentlich über den Weg liefen.

"Apropos Oldtimer", sagte Manfred, "ich muß zu einem privaten Gastwirt nach Bernau, dem ich eine moderne Speisekarte grafisch gestaltet habe. Ich glaube, es ist ein Fischrestaurant. Der Mann will mir einen alten Opel P4 andrehen für 1200 Mark, preiswert, meint er, für einen Oldtimer. Ich bin am Grübeln, ob ich es mache. Er hätte den Wagen nicht viel gefahren, nur sonntags." Am übernächsten Tag kam Manfred an mit dem guten Stück, außen schwarz, als sei es mit Ofenlack gestrichen, innen schwer ramponiert, als hätte man Fische damit transportiert. Manfred stand da, triefäugig und mit Hängeohren. Er bekam den Opel in Berlin nicht umgemeldet, da er kaum noch verkehrssicher war. Archie rief den Restaurantbesitzer an, und dieser war ganz freundlich: "Dann bringt ihr ihn wieder her, Geld zurück und eine frisch gebratene Forelle dazu", dröhnte es am anderen Ende der Leitung.

Manfred und Archie machten sich auf den Weg. In der Langhansstraße in Weißensee fing der Motor an zu qualmen, Gott sei Dank gegenüber einer Tankstelle. Der Tankwart diagnostizierte aus der Ferne: "Öl fehlt!" Manfred kaufte es, nicht an der Tankstelle, die hatte keins, sondern woanders. Sie gossen ein paar Büchsen rein, ohne Ahnung. Vor den Toren Berlins blieb das Auto wieder stehen. Ein Motorradfahrer kam vorbei und sagte: "Zu viel Öl drin!" Sie ließen das Öl wieder ab, in die Blechbüchsen zurück, die sie mitgenommen hatten, aus Ökologiegründen. Der Motor sprang erneut an. Hurra, sie fuhren! Nach 10 Minuten war die Volkpolizei hinter ihnen und winkte sie rechts ran. Ursache waren die Ölbüchsen. Die beiden Opel-Fahrer hatten sie auf dem Rastplatz stehen lassen, zur weiteren Nutzung durch andere bedürftige Oldtimer-Besitzer. Von nun an fuhr die Polizei hinter ihnen her als Freund und Helfer. Der Opel rollte in die Garage zurück, die Forelle war vorzüglich, die Volkspolizisten lehnten eine Einladung ab, amüsierten sich aber wie Bolle über den Opelkauf und den geglückten Rückkauf. Manfred, der Grafiker, der leider nicht mehr lebt, mußte die Geschichte oft erzählen, zu Familien- und Brigadefeiern. Ihm sei dieser Bericht gewidmet, aus einem ärmeren, aber freundlicheren Land, das es leider nicht mehr gibt.

Manfred Hocke

Raute

Leserbriefe an ROTFUCHS

Heute fand ich in unserer Zeitung "Morning Star" den Artikel "Wie Ostdeutschland zerfetzt wurde". Er seziert den Anschluß der DDR im Jahr 1990, bei dem Methoden des Betrugs und der Ausbeutung durch die in der BRD agierenden Anführer des Big Business angewandt wurden.

Übrigens möchte ich mich bei Ihnen für die regelmäßige Zusendung Ihrer sehr lesenswerten Zeitschrift bedanken. Auch will ich hierbei erwähnen, daß mich der RF-Leitartikel Klaus Steinigers "Oktober-Gedanken" - gerade als Engländer - sehr bewegt hat. Der Redaktion alles Gute und beste Gesundheit im Kampf gegen den Erzfeind Kapitalismus! "Wenn wir brüderlich uns einen, ... schlagen wir des Volkes Feind!"

Anthony Northcott-Rich, North Devon


*


Schon seit längerer Zeit gehöre ich zu den ständigen Lesern des RF und erwarte immer voller Spannung das nächste Heft. Aktuelle Themen, eine klare ideologische Orientierung, Objektivität und Aufmerksamkeit gegenüber den Lesern kennzeichnen die Arbeit der Redaktion.

Zwei Freunde von mir, die beide längere Zeit in der DDR tätig waren und sich für die Entwicklung in Deutschland sehr interessieren, würden den "RotFuchs" gerne beziehen. Ihre Adressen anbei.

Oberst a. D. Witali Korotkow, Moskau


*


Ein Gespenst geht um in Deutschland: das Gespenst des Sozialismus. Keine Lüge, keine Übertreibung, keine Verleumdung, kein Verdacht sind groß genug, um nicht in diesem Verdrängungsprozeß eingesetzt zu werden.

Wie war das vor 20 Jahren?

Man sollte sich gegenseitig - Ost und West - seine Geschichten erzählen. Wir hielten uns daran. Während wir ehrlich und betreten vor uns hinplapperten, was viele nicht hören wollten, wurden hinter unserem Rücken die Fabriken abgerissen, somit die Konkurrenz beseitigt und die Grundbücher umgeschrieben. Mit einer Geschwindigkeit, die an Hexerei grenzte, ging der Elitenaustausch vonstatten. Akademie der Wissenschaften - weg! Akademie der Künste? Zum Teufel mit den Künstlern! Wir haben selbst genug davon. Sind nur Unruhestifter. Man gebe ihnen ab und zu einen von den viel zu vielen Preisen, und sie halten ihren Rand und werden handzahm.

Der bittere Witz machte die Runde: Erst wenn der letzte "Ossi" aus den Grundbüchern getilgt ist, kann man die Einheit als vollzogen betrachten. Jeder ist sich selbst der Nächste. Geld, Karriere, Konsum, Konkurrenz sind die Schlagworte. Raffgier ist Trumpf. Goldgräberstimmung. Der Osten ist zum Plündern freigegeben. Rechtsstaatlich abgesichert!

Das Kapital, das scheue Reh, wird zum reißenden Wolf. Volkseigen? Her damit! Wir sind jetzt das Volk! Für eine Mark? Greif zu, nimm! Hier hast Du noch Zuschuß. Verramscht und weg. Verschwunden im Dschungel der Reichen. Treibstoff waren Neid, Haß, Gier. Und Rache. Bis heute.

Rudi Kurz, Berlin


*


Zum Artikel "Nachdenken über Rosa" möchte ich das Diskussionsangebot nutzen. Zunächst: Endlich wird dieses Thema einmal aufgeworfen. Obwohl ich den Beitrag mehrmals gelesen habe, gelang es mir nicht, in ihm eine Antwort auf die Frage zu finden, wie denn nun mit der Losung "Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden" umzugehen ist. Ich selbst habe mich stets gegen diese Losung ausgesprochen. Denn mit ihr hat sich Rosa Luxemburg gegen die marxistische Auffassung zur Diktatur des Proletariats gestellt.

Zweifellos hat Walter Ruge recht, wenn er von der universalen Anwendbarkeit dieser These spricht. Aber hier liegt m. E. eine Gefahr für den politischen und praktischen Kampf der Arbeiterklasse für eine sozialistische Gesellschaftsordnung. Ohne die großartigen Leistungen von Rosa in Frage zu stellen, muß ich sagen: Eine Hellseherin, wie sie der Autor genannt hat, war sie wohl nicht. Sie hat offenbar die Zwiespältigkeit ihres Satzes nicht erkannt. Von wem wird er denn immer wieder strapaziert? Fast ausschließlich vom Klassenfeind und ihm verbundenen Kräften.

Mir scheint, daß Walter Ruge in seinem Artikel zwar viele richtige Gedanken darlegt, sich aber nicht entscheidet, wie mit Rosas Losung umgegangen werden muß.

Klaus Schmidt, Zwickau


*


Zum Diskussionsangebot Walter Ruges "Nachdenken über Rosa", kann ich mich nur unterstützend und zustimmend äußern. Auch angesichts des alltägliches Trommelfeuers gegen die sozialistische Idee und deren versuchte Umsetzung in Osteuropa nach 1945 sollten und dürfen wir nie vergessen, daß wir unsere Niederlage ursächlich selbst verschuldet haben. Walter Ruge schreibt von Gängelei und Bevormundung der Massen, die letztlich zur Entmündigung des Volkes bzw. der Völker führte. Hier wären Dogmatismus und kaum noch erträgliche Schönfärberei hinzuzufügen, wobei das alles innerhalb der kommunistischen Parteien begann. Und auch die Parteimitglieder an der Basis waren weitgehend entmündigt. Ich habe bisher den Eindruck, daß man das in der Redaktion und auch in der Leserschar des RF nicht so gern wahrhaben will, weil es eben nicht durch den Klassenfeind, sondern durch uns selbst verursacht war. Deshalb danke ich ausdrücklich dem Autor und der Redaktion für den Beitrag.

Dr. Rolf Ziegenbein, Dresden


*


Das RF-Oktoberheft - vor allem der Leitartikel - hat mir persönlich eine große Freude bereitet. Dort wird mit guten Worten an meinen Onkel Otto Nuschke - einen Bruder meines Vaters - erinnert. Als Vorsitzender des Deutschen Volksrates war er des öfteren zu Gesprächen mit verantwortlichen Politikern in Westdeutschland. Immer kehrte er tief enttäuscht über die antinationale Haltung vieler dortiger Partner zurück. Denn er und wir alle im Osten wollten keine Spaltung, sondern ein einiges Deutschland auf der Grundlage des Potsdamer Abkommens.

Im gleichen Heft des RF wurde in einem Leserbrief zum 17. Juni 1953 auf Otto Nuschkes Entführung nach Westberlin Bezug genommen. Damals verlangte er die sofortige Rückkehr in die DDR, wie es seiner politischen Überzeugung und Haltung entsprach.

Heide Richter, geb. Nuschke, Neuenhagen


*


Liebe Frau Dr. Christiane Mückenberger, mit freudiger Überraschung habe ich Ihren Leserbrief im RF Nr. 141 dankend zur Kenntnis genommen. Ihr Vater, Dr. Lothar Bolz, ist als erster und langjähriger Vorsitzender der NDPD sowie als Minister für Aufbau und über ein Jahrzehnt als Minister für Auswärtige Angelegenheiten der DDR untrennbar mit der Geschichte der NDPD sowie der DDR verbunden, im übrigen auch mit meiner politischen Lebensbahn.

Als 19jähriger Fähnrich und Flugzeugführer in einem Schlachtgeschwader geriet ich in sowjetische Gefangenschaft und kehrte im Januar 1949 nach Deutschland zurück. Einige Wochen nach meiner Heimkehr lag auf dem Tisch meiner Eltern in Berlin-Wedding ein Telegramm des Parteivorsitzenden der neugegründeten NDPD, Dr. Lothar Bolz, mit der Bitte, ihn im Haus des Parteivorstandes in Berlin-Treptow aufzusuchen. Sein Dienstzimmer verließ ich nach einem längeren Gespräch als Mitglied der NDPD. Ich hatte den Mann kennengelernt, dessen Artikel ich während meiner Kriegsgefangenschaft in der Zeitung "Freies Deutschland" und nach Auflösung des Nationalkomitees dann in den "Nachrichten" gelesen hatte, deren Chefredakteur er war. Allerdings wußte ich nicht, daß sich hinter dem Pseudonym Rudolf Germersheim in Wahrheit Lothar Bolz verbarg.

Nach dem Machtantritt der Faschisten hatte man Ihren Vater ja aus der Anwaltskammer ausgeschlossen. Wegen drohender Verhaftung durch die Gestapo mußte er seine Heimat verlassen. Er ging zunächst in polnische, dann in sowjetische Emigration. - Durch Ihren Beitrag im "RotFuchs" ist mir die historische Persönlichkeit Ihres Vaters wieder präsent geworden. Ich grüße Sie herzlich als Ihr

Erhard Lonscher, Berlin


*


Der ND-Leitartikel vom 29. September bot ein fast realistisches Bild. Aber mit dem Satz "Die Hauptverantwortung dafür liegt bei den beiden Parteien der sozialen Demokratie" dürfte der Verfasser bei vielen Sozialisten Verständnislosigkeit wecken. Die Sozialdemokratie hat sich von den Grundlagen des Marxismus verabschiedet, sie hat sich aus der Tradition der deutschen Arbeiterbewegung von Lassalle über Bebel, Liebknecht, Luxemburg und vielen anderen Sozialisten entfernt. Der dialektische und historische Materialismus zur wissenschaftlichen Untersuchung und Erklärung der gesellschaftlichen Entwicklung spielt bei den Sozialdemokraten keine Rolle mehr. Die Sozialdemokratie hat mit dem neoliberalen Lager unter Verwendung dessen Vokabulars den größten Sozialabbau in der deutschen Nachkriegsgeschichte betrieben. Sie hält an der kapitalistischen Gesellschaftsordnung fest. Für all das hat die SPD bei den Wahlen die Quittung bekommen und in Summe das linke Lager geschwächt.

Ich bin kein Sozialdemokrat, kein Steigbügelhalter für ein zweifellos modernes kapitalistisches System. Ich bin Sozialist und arbeite mit vielen unserer Genossen der Partei Die Linke an der Überwindung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung. Wenn diese Linke als zweite sozialdemokratische Partei gehandelt oder dargestellt wird, ist sie mit Sicherheit nicht mehr die Partei links neben der SPD. Die sogenannte Mitte gibt es real nicht. Das ist Vermischung, Einheitsbrei und auch Verdummung. Klare Positionen sind gefragt!

Klaus Dietrich, Kreisvorsitzender der Partei Die Linke, Bautzen


*


"Der Rotarmist mit dem Kind auf dem Arm" ist eine Symbolfigur.

Polewoi hatte in der "Prawda" vom 1. Mai 1945 über die Rettung eines deutschen Kindes durch den Rotarmisten Zibin berichtet, die ihm von dessen Kameraden erzählt worden war. In späteren Versionen schildert er die Tat als Augenzeuge und nennt den Soldaten Lukjanowitsch. Recherchen des Museums des Großen Vaterländischen Krieges in Minsk in den 90er Jahren ergaben, daß ein Trifon Lukjanowitsch nie existiert hat. Dr. Peter Jahn, damals Direktor des Deutsch-Russischen Museums in Berlin-Karlshorst, informierte darüber in der Presse.

Der Gardesergeant Nikolai Massalow dagegen hat existiert und tatsächlich unter Lebensgefahr ein deutsches Kind aus der Frontlinie gerettet. Aber weder das literarische Phantom noch der mutige Massalow haben Jewgeni Wutschetitsch zu seiner Figur inspiriert (s. mein Buch über die sowjetischen Ehrenmale in Berlin, 2006, S. 160-170). Ende der 60er Jahre äußerte der Bildhauer: "Wir suchten nach einem ... jedem verständlichen Gleichnis. Im Mittelpunkt ... sollte der Frontsoldat stehen, ... der nur deshalb die Waffe führte, weil er die Heimat verteidigte. Seine Gestalt sollte den Sieg verkörpern, aber nicht in pompösem Triumph erstarren; sie sollte an die Gefallenen erinnern, doch ebenso den Blick auf die Zukunft richten. Das Kind auf dem Arm des Soldaten hat den verheerenden Krieg überlebt; der Kämpfer, der die Menschheit von der braunen Pest befreite, trägt es dem Frieden entgegen."

Dr. Helga Köpstein, Berlin


*


Unter dem Motto "Wessen sollten wir uns rühmen, wenn nicht der DDR" (Peter Hacks) wurde durch linke Vereine, Organisationen, Parteien und Zusammenschlüsse wie ISOR, GRH, GBM, VVN (BdA), Friedensbündnis, DKP, AKL und KPF zur Veranstaltung am 10. Oktober 2009 in Rostock eingeladen. Unter Federführung der RF-Regionalgruppe Rostock hatten alle Beteiligten das Treffen seit langem akribisch vorbereitet. Als Gast referierte der bekannte Historiker Prof. Dr. Siegfried Prokop. Im Anschluß an seinen eindrucksvollen Vortrag bot die Gruppe Rotdorn aus Hamburg den Teilnehmern einen Einblick in ihr umfangreiches Repertoire. Vom Solidaritätslied Brechts und Eislers über ein Lied der italienischen Partisanen bis zum Song des Oktoberklubs "Sag mir, wo Du stehst!" spannte sich der Bogen. Es war schon bei den bekannten Texten und Melodien eine Gänsehaut-Atmosphäre entstanden. Viele der etwa 250 Besucher stimmten ein.

Carsten Hanke, Lambrechtshagen


*


Die DDR war trotz etlicher - auch historisch bedingter - Mängel, die es bei der Umsetzung des Sozialismus im Alltag gab, ohne Zweifel ein hochentwickelter Staat mit humanistischer Grundausrichtung und aktiver Friedenspolitik.

Keine der Gruppierungen seiner 1989/90 auf den Plan tretenden inneren und äußeren Gegner hatte tatsächlich vor, die DDR - wie immer betont wird - zu verbessern oder nur von der "Kaste der Betonköpfe" zu befreien. Die sogenannten Bürgerbewegten waren mehrheitlich nie gewillt, sich konstruktiv an der Gestaltung einer sozialistischen Gesellschaft zu beteiligen. Viele von ihnen haben sich zu aktivem Handeln gegen die Souveränität der DDR von deren Feinden anwerben lassen und schreckten vor kriminellen Handlungen nicht zurück. In etlichen Fällen ging von solchen Personen sogar ein erhebliches Gewaltpotential aus, auch wenn stets versucht wurde, dem ganzen Treiben einen intellektuellen Anstrich zu geben.

Übrigens: Den meisten dieser selbsternannten Pseudo-"Menschenrechtler" ist es heute völlig egal, wenn Millionen Bürger der BRD sozial ausgegrenzt, diskriminiert oder brutal ausgebeutet werden. Nach Erringung der "Freiheit" fühlen sie sich nur noch ihren Zuhältern aus Politik und Wirtschaft verpflichtet. Für ihren Verrat an der DDR beziehen sie weiterhin ihre Pfründe.

Danke DDR, daß es Dich 40 Jahre gab! Ich bin stolz darauf, zu Deiner Zeit im Sinne des Humanismus und des Friedens gelebt und gewirkt haben zu dürfen.

Andreas Pfeifer, Erfurt


*


Besonders perfide war der Auftritt des französischen Puppentheaters am 3. Oktober in Berlin. Die "Vereinigung" beider deutscher Staaten wurde dem Publikum als Familienzusammenführung mittels zweier überdimensionaler Holzpuppen suggeriert. Der große Onkel, sprich BRD, suchte und fand seine kleine Nichte, sprich DDR, um sie zu umarmen und nie wieder loszulassen. Was für eine rührende und zu Herzen gehende, zugleich aber verlogene Geschichte. Der Sieg der BRD über die DDR wurde so in Szene gesetzt und gefeiert. Das aber begriffen die zahlreichen Berliner, ihre Gäste und die Touristen, die sich dieses infame politische Spektakel anschauten, offensichtlich nicht.

Oberstleutnant a. D. Roland Potstawa, Königs Wusterhausen


*


Ich bin einfach begeistert, etwas von ehrlichen Kommunisten und Sozialisten zu hören. Eure Adresse habe ich von einem ehemaligen Kollegen erhalten. Als früherer Volkspolizist möchte ich mich für die von Euch verfaßten Beiträge bedanken. 1991 habe ich die Tätigkeit bei der Polizei (die ich bis 1989 stets mit Freude und Eifer ausgeübt habe) aufgekündigt, da ich es nicht mehr mit meinem Gewissen vereinbaren konnte, dem Staat der Kapitalisten zu dienen.

Hans-Jürgen Langer, Pöhl


*


Eine Ergänzung zum nachgedruckten ND-Artikel "Die Toten der Konterrevolution" von Prof. Harry Nick. Während einiger der Opfer gedacht wurde, wären noch viele andere zu nennen. Ich erinnere an die 51jährige Ärztin Dr. Renate Pfeifer. Sie übergoß sich im November 1991 bei Annaberg (Sachsen) mit Benzin und wählte so den Freitod. Erschütternd ist auch der Selbstmord des bekannten Mediziners und Hochschullehrers Prof. Dr. Ekard Ulrich, der keine Kraft mehr hatte, dem Spießrutenlauf vom "Stasi-Syndrom" behafteter "Bürgerrechtler" und Studenten in Halle zu widerstehen. Ein weiteres Opfer war die 33jährige Tochter des Berliner Superintendenten Krusche. Weil sie offensichtlich die zur Vorverurteilung führenden Spitzelvorwürfe gegen ihren Vater unerträglich fand, wählte Annekathrin Krusche ebenfalls den Freitod.

Werner Jahr, Potsdam


*


Zu den Toten der Konterrevolution gehört auch der 1. Sekretär der SED-Kreisleitung Köthen, Genosse Herbert Heber. Vor 20 Jahren - am 4. November 1989 - nahm er sich das Leben. Er wurde von einer Flut sinnloser und falscher Anschuldigungen aus den Reihen der selbsternannten "Bürgerrechtler" und "Enthüllungsspezialisten" in den Tod getrieben. Für ihn war das eine zutiefst kränkende Situation, aus der er keinen Ausweg mehr sah. Ich gedenke dieses Freundes und Genossen, der mir zwar nur auf einem kurzen Lebensabschnitt begegnete, aber unvergessen bleibt.

Hans-Peter Hoffmann, Velten


*


Zur ausufernden Flut dümmlich-primitiver und gehässig-verlogener Äußerungen von Politikern und Publizisten, die uns täglich überschwemmt, zählt auch ein jüngst erschienenes "biographisches Handbuch": Es listet jene Menschen auf, die aus Leichtsinn, Dummheit oder Haß auf den Sozialismus bei Versuchen, die DDR-Staatsgrenze illegal zu überqueren, zu Tode kamen.

Als ich neulich dieses "Werk" in der Hand hielt, kam mir in den Sinn: Zwischen 1918 und 1933 wurden in der Weimarer Republik 4000 bis 5000 Menschen von Polizei und Reichswehr getötet. Wo in der BRD gibt es Denkmäler für diese Opfer staatlicher Gewalt? Wer hat jemals die Umstände der Ermordung dieser Menschen erforscht und beschrieben?

Zwei Beispiele: Am 6. Mai 1919 holte die von dem sich selbst so bezeichnenden Bluthund Noske (SPD) befehligte Reichswehr in München 21 Mitglieder des katholischen Gesellenvereins St. Joseph aus einer Versammlung heraus und erschoß sie anschließend im Gefängnis am Karolinenplatz. Am 1. Mai 1929 starben 32 Berliner Arbeiter, die friedlich demonstrierten, unter den Kugeln der Büttel des SPD-Polizeipräsidenten Zörgiebel (SPD).

Günter Freyer, Berlin


*


Ausgerechnet an einem der heiligsten Tage des Jahres 20 der neuen Zeitrechnung unterlief dem Bundespräsidenten Köhler ein dummer Patzer. Hatte er doch im Eifer, dem Volk klarzumachen, was da vor zwei Jahrzehnten in der Heldenstadt geschah, den Mund ein bißchen zu voll genommen und so die historische Wahrheit arg vergewaltigt.

Da waren - laut Köhler, dem vollmundigen Dauerlächler - bereits Panzer vor den Mauern der Freiheitsfestung Leipzig aufgefahren, während man in den Messehallen, wo jetzt immer die schönen Autos zu sehen sind, Blutkonserven und Leichensäcke gestapelt hatte. Aber wie durch ein biblisches Wunder - so beschrieb ein in die Sache verwickelter Pfarrer diesen dem Reich der Phantasie entstiegenen Vorgang - blieb alles ungenutzt.

Wird dieses scheinheilige Theater eigentlich gebraucht, um von den "Heldentaten" der derzeit herrschenden Sippschaft abzulenken? Es gibt z. B. keinerlei Hinweise darauf, wann der "Friedenseinsatz" bundesdeutscher Truppen in Afghanistan beendet werden soll. Während Niederländer und Kanadier in Bälde das sinkende Schiff zu verlassen gedenken, stockt die Bundeswehr - den Wünschen des Friedensnobelpreisträgers Barack Obama entsprechend - ihr Kontingent weiter erheblich auf. Das hat Herr Köhler, unser der Wahrheit verpflichteter Leipziger Schauermärchenerzähler, natürlich nicht moniert.

Dr. Günther Freudenberg, Bernburg


*


Vor geraumer Zeit erschienen in der Lokalpresse Äußerungen zum Jahresempfang des Bundespräsidenten. Ich habe lange darüber nachgedacht, ob es sich lohnt, diese zu kommentieren. Da jedoch die Lobhudeleien über die angebliche Tafel der Demokratie nicht aufhören, meine ich, man sollte dieses "Event" aus einer anderen Perspektive betrachten. Ich erinnere mich an einen Spielfilm. Der Hauptdarsteller hatte eine Doppelrolle. Mal war er Arbeitsloser, mal Ministerpräsident. Als Doppelgänger muß der Beschäftigungslose den aus Gesundheitsgründen verhinderten Regierungschef ersetzen. Zufällig kommt die englische Königin gerade zu einem Staatsbesuch. Der Doppelgänger bestimmt das Festmenü: Es soll Erbsensuppe geben.

Beim diesjährigen Essen des Bundespräsidenten mit "verdienten Bürgern" wiederholte sich die Szene. Angesichts der zahllosen auf Suppenküchen oder Tafel-Versorgung angewiesenen Menschen war es eine fabelhafte Idee Horst Köhlers, bei seiner "Tafel der Demokratie" den "ausgewählten Vertretern des Volkes" Suppe zu servieren, während bei sonstigen Staatsempfängen und Gipfeln kein Gedanke an Sparsamkeit oder Kostensenkung verschwendet wird. Auch durch dieses Zurschaustellen von "Augenmaß und Bescheidenheit" erwies sich der völlig einflußlose Bundespräsident als Spielball der wirklichen Machthaber. Und das, obwohl er doch so gerne als "Vertreter aller Deutschen" agiert.

Oberstleutnant a. D. Wolfgang Kutz, Brehna


*


Unlängst erlebte ich, wie selbst bei Fahrgästen öffentlicher Verkehrsmittel im 15-Minuten-Takt antikommunistische Gehirnwäsche und Geschichtsmanipulation vorgenommen werden. Eine Sprecherin verkündete in der Straßenbahnlinie 8 an der Haltestelle Diakonie-Krankenhaus: "Roter Ochse, Gedenkstätte für die politischen Opfer der Diktaturen 1933 bis 1989".

Die faschistische Gewaltherrschaft mit ihren Konzentrationslagern und Folterkellern, dem 50 Millionen Tote fordernden Überfall auf die Völker Europas wirft man mit der DDR in einen Topf, in der die Kriegsverbrecher verurteilt, Monopolisten und Großgrundbesitzer enteignet wurden.

Beschämend ist für mich, daß bisher keine Stadtratsfraktion an dieser Verniedlichung des Faschismus und Geschichtsklitterung Anstoß genommen hat.

Helmut Baumgarten, Halle/Saale


*


Klaus Steinigers Leitartikel "Oktober-Gedanken" ist ein Stück gesellschaftliche Wahrheit. Doch die Schlußfolgerung, der Tag werde kommen, an welchem unser Banner den Kolonnen selbstbewußter Kämpfer vorauseilen wird, zeugt von Wunschdenken. Diese Kolonnen hat die kapitalistische Gesellschaft durch ihre Ausbeutungsmethoden völlig dezimiert. Verblieben sind Bittsteller um Arbeitsplätze, welche mit den Ellenbogen verteidigt werden.

Geblieben ist allerdings auch das Volk als der Souverän. Doch dieser braucht Hilfe, um erkennen zu lernen, daß er nicht nur allen Reichtum schafft, sondern auch fähig ist, ihn gerecht zu verteilen.

Karl Marx weist wissenschaftlich nach, daß alles in ständiger Bewegung ist.

Ich wünsche mir, daß der RF die Zeit finden möge, mehr über die Partei Die Linke zu berichten. Oder soll sie weiterhin im Schatten der Hetzer und Verleumder des Neuen bleiben?

Kurt Neukirchner, Burkhardtsdorf


*


Der RF Nr. 141 zeigt auf Seite 6 ein Bild von Rotarmisten, welche die Standarten der Hitlerfaschisten während der Siegesparade 1945 auf Moskaus Rotem Platz zu Boden werfen. Mit Radio Jerewan gesprochen, stimmt das "im Prinzip". Allerdings: Es war nicht im Mai, sondern am 24. Juni.

Nehmt diese Anmerkung eines ehemaligen Mitarbeiters der deutschsprachigen Redaktion von Radio Moskau, verbunden mit einem großen Kompliment und Bewunderung für Euch.

Wolfgang Kroschel, Cottbus


*


Jetzt haben wir eine tolle Regierung bekommen - mit dem Vorsitzenden jener Spaßpartei, welche absolut keinen Spaß versteht, wenn es um die Interessen der "Besserverdienenden" geht. "Eigenverantwortung" ist ihre Devise. Mit anderen Worten: Jeder möge selbst sehen, wo er bleibt.

Werner Juhlemann, Geithain


*


Mich hat der Artikel "Brief aus Karlsruhe" im September-RF spontan angesprochen. Herr Schmidt beschreibt aus der Sicht eines ehemaligen DDR-Bürgers das Leben im "Westen" so: "Mein Status quo aber ist die kapitalistische Lebensform. Ich komme mir dadurch ausgebeutet vor." Die Lebensregeln in der BRD bestünden darin, daß alle gegen dich seien und dir niemand "von sich aus" helfen würde. Ich finde das absolut richtig eingeschätzt. Herr Schmidt folgert, so wolle er nicht leben. Die Rücksichtslosigkeit in den "menschlichen" Beziehungen, den Konkurrenzkampf, der von der Schule bis ans Lebensende reicht, bezeichnet Schmidt als "kaltes Herz des Kapitalismus".

In einfache Worte gefaßt, müßte die revolutionäre Forderung darin bestehen, das Ganze zu verändern. Doch wer steht hinter dieser Forderung. Etwa "Die Linke", der ich beim Wahlkampf geholfen habe? Allerdings ist mir klargeworden: Die Menschen sind durchaus begeisterungsfähig! Es müssen endlich andere Themen in die Öffentlichkeit getragen werden.

Andreas Rösler, Hamburg


*


Am "Tag der Einheit" habe ich mich auf den Weg gemacht, meine Heimat DDR zu besuchen. Nun gibt es viele Orte in Ostdeutschland mit Stätten, in denen man ihr begegnen kann. Allerdings auf unterschiedliche Art und Weise. Auch solche, die zur Verketzerung der DDR herhalten müssen und mit Zuschüssen des Bundes bedacht werden. Hier soll der Haß auf einen untergegangenen Staat am Kochen gehalten werden. Es gibt aber auch jene, wo man alles dokumentiert, was wir selbst erlebt haben. Das gilt für Tutow im Landkreis Demmin. In einer ehemaligen Gaststätte des Fliegerhorstes wird die DDR vor- und zum Anfassen aufgestellt. Dort findet man sogar vieles, was schon fast in Vergessenheit geraten ist.

Hanna Spiegel aus Oranienburg hat in ihrem RFArtikel "In Tutow ist die DDR präsent" keineswegs übertrieben. Unsere Regionalgruppen - vor allem die im Norden - sollten sich den Ort vormerken. Den Mitarbeitern des DDR-Museums Tutow danke ich herzlich für den Geschichtsunterricht und die überaus freundliche Bedienung.

Dieter Kramp, Grevesmühlen


*


Der Artikel von Wolfgang Mäder "Herrnhuter Brandstifter" (Oktober-RF) ist ein unnützer Affront, der christliche Leser des RF verprellt. Die schon seit fast 278 Jahren erscheinenden Herrnhuter Losungen sind für viele Christen ein Stück täglicher Seelennahrung. Sie in die Nähe von Untaten zu rücken, die im Namen des Judentums begangen werden, ist absolut verfehlt. In der Bibel steht vieles, was auf den ersten Blick "schlimm" erscheint. Bei näherem Hinsehen zeigt sich aber, daß meistens nur die - oft im Sinne der herrschenden Ausbeuterklassen gegebenen - Auslegungen wirklich schlimm sind. Auch die Tageslosung vom 15.4. d. J., die eine Neubrandenburger Zeitung offenbar kommentarlos abdruckte, könnte sicher für Machtansprüche des heutigen Staates Israel mißbraucht werden. Nur, wer den ganzen Abschnitt im 5. Buch Mose liest, wird feststellen, daß der - übrigens nie konsequent durchgehaltene - "Ausrottungsbefehl" gegen im damaligen Kanaan ansässige Völkerschaften eine ganz bestimmte, in der Vergangenheit liegende Situation betrifft.

Schon die Kirchenväter haben diesen Satz als anstößig empfunden und allegorisch gedeutet, eine entsprechende talmudische Auslegung ist wahrscheinlich, müßte aber erhoben werden. Das ganze 7. Kapitel des 5. Buch Mose steht in der Spannung von Rückschau und Vorausschau, wobei Israel dazu ermahnt wird, sich stets an die Befreiung aus der ägyptischen Knechtschaft zu erinnern. Ja, Befreiung aus Knechtschaft ist doch ein Thema, daß uns als Linke ein Herzensanliegen ist.

Also: Nicht der Gebrauch einer Sache - auch biblischer Worte - ist verwerflich, sondern stets nur der Mißbrauch. In Zukunft bitte mehr Sorgfalt in den Aussagen, gerade bei so sensiblen Themen.

Gregor Janik, Zittau


*


Dort, wo es das Gesprächsthema und die Partner sinnvoll erscheinen lassen, werfe ich gerne mal provokante Fragen in die Debatte. Beispielsweise zum Elend auf der Welt. "Wäre es nicht wunderbar, wenn überall auf der Welt Deutschland wäre?", suchte ich Reaktionen herauszulocken. Diese fielen sehr unterschiedlich aus. Einige, die mich gut kennen, antworteten sofort negativ. Bei den meisten aber sah ich zunächst einen positiven Gesichtsausdruck, der bei längerem Nachdenken allmählich schwand. Natürlich werden in solchen Debatten Argumente ausgetauscht. Ich bringe sie immer in folgender Reihenfolge ein: Wenn überall auf der Welt Deutschland wäre, hätte jeder Chinese, jeder Inder, jeder Brasilianer und jeder andere Erdenbürger ständig genauso viel Werbung in seinem Briefkasten wie ich. Das wird noch als lustig aufgefaßt, vollkommen unpolitisch, regt aber zum Denken an. Meine zweite Provokation: Bei einer Geburtenrate von 1,32 Kindern pro Frau wäre das Ende der Menschheit mathematisch berechenbar. Das ist dann schon stärkerer Tobak und bringt das Gespräch vom Kommerz auf die menschliche Gesellschaft.

Und sollte bis zu diesem Zeitpunkt noch kein anderer auf die Idee gekommen sein, hole ich zum dritten Schlag aus: Wäre die ganze Welt Deutschland, dann würde ja auch jeder soviel verdienen wie wir. Damit wären die Produkte, die wir bis jetzt so "preiswert" aus dem Ausland beziehen, deutlich teurer, und wir könnten uns nicht mehr so viel "leisten". Unser Lebensstandard würde drastisch absinken. Das wirkt niederschmetternd und aufrüttelnd zugleich. Spätestens hier scheiden sich die Geister. Die einen brechen die Diskussion sofort ab und hoffen insgeheim, daß ein solcher Zustand nie eintreten möge. Andere gelangen zu der Erkenntnis, daß sich an Deutschland enorm viel ändern müßte, bevor es die ganze Welt beglücken könnte. Und wieder andere erinnern sich, daß wir in der DDR jenem guten Deutschland, welches in vielen Ländern Nachahmer finden könnte, schon einmal recht nahe waren.

Lutz Fischer, Teschow


*


Nahezu pausenlos beschäftigen mich die Zeitereignisse. Vor allem macht mich immer wieder das ND wütend, wenn es die Sprachregelung der bürgerlichen Medien 1:1 übernimmt. Und da steht dann Mauerfall ohne Anführungszeichen, Wiedervereinigung statt Anschluß, Wende statt Kehrtwende, robuster Stabilisierungseinsatz in Afghanistan statt Aggressionskrieg, Sieg der friedlichen Revolution statt Konterrevolution. Die Kette der Beispiele ließe sich beliebig verlängern. Aber wenn ich gerade ansetzen will, einen Leserbrief zu schreiben, habe ich oft den Eindruck: Ich verlange zu viel vom ND.

Helmuth Hellge, Berlin


*


Vor mir liegt die RF-Ausgabe Nr. 141. Ich bin von der Zeitschrift außerordentlich beeindruckt, widerspiegelt sie doch die Realität der DDR und sozialistische Ideen, wie ich sie (heute mehr denn je) als meine Heimat betrachte.

Heinz Klaebig, Strausberg


*


Dr. Richard Sorge, über den Hanna Spiegel im RF Nr. 139 einen Beitrag veröffentlichte, war einer der bedeutendsten Aufklärer der Roten Armee. Als Kopf der internationalen Kundschaftergruppe "Ramsey" konnte er wichtige Informationen zum bevorstehenden Überfall Hitlerdeutschlands auf die UdSSR beschaffen. Seinen Einsatz bezahlte er 1944 in Japan mit dem Leben. Erst 1964 wurde er postum als "Held der Sowjetunion" geehrt.

Zahlreiche Kollektive der DDR trugen Sorges Namen. In Dresden wurde im Oktober 1974 ein von Prof. Jäger geschaffenes Denkmal eingeweiht. Nach dem Anschluß der DDR an die BRD wurde das Kunstwerk mehrfach geschändet. Schließlich zertrümmerte man die ganze Anlage.

Um so erfreulicher war das Signal aus Moskau über ein Erinnern an Richard Sorge in musealer Obhut. Viele DDR-Genossen haben sich schweren Herzens von kostbaren Erinnerungsstücken getrennt und diese an das Moskauer Sorge-Museum gesandt.

Im September besuchte einer von uns die Einrichtung. Er konnte sich davon überzeugen, daß unsere Exponate in die Gestaltung eingeordnet sind. Der 65. Jahrestag der Hinrichtung des legendären Kundschafters war uns Anlaß, dieses heldenhaften Kommunisten zu gedenken.

Paul Bormann, Pulsnitz


*


Einige Überlegungen zur Arbeiterklasse. Vielleicht renne ich damit offene Türen ein. Zu den Zeiten von Marx, Engels und Lenin konnte der Begriff klar bestimmt werden: Es handelte sich um die Mehrheit der Bevölkerung (zumindest in den Industrieländern), die über kein Privateigentum verfügt und gezwungen ist, ihre Arbeitskraft zu verkaufen. Der Lohn überstieg in der Regel nicht jenes Maß, das zur Reproduktion der Arbeitsfähigkeit notwendig war. Mit Ausnahme von Randgruppen - Lumpenproletarier und Arbeiteraristokratie, die relativ klein waren - wurden die Arbeiter durch ihre Produktions- und Wohnbedingungen zur Kollektivität gezwungen. Damit entstanden objektiv günstige Bedingungen für den gemeinsamen Widerstand, zur Schaffung von Klassenorganisationen bis zur Vorhutpartei und damit zum erfolgreichen Kampf gegen die Ausbeutung.

Mit der Entwicklung der Technik in den vergangenen Jahrzehnten, mit der allumfassenden Mechanisierung und Automatisierung (man vergleiche nur den Straßenbau, in dem jahrtausendelang ganze Völkermassen beschäftigt waren und wo heute nur noch vereinzelte Großaggregate von wenigen Menschen bedient werden!) sind die Betriebskollektive und damit der Zusammenhalt wie die wechselseitige Abhängigkeit der Arbeiter stark reduziert.

Andererseits wurde der überwiegende Teil der Angestellten und der technischen Intelligenz genauso lohnabhängig und einer dauerhaften Absicherung beraubt wie die Masse der physisch Tätigen. Diese Bevölkerungsgruppen gehören m. E. zur Klasse der besitzlosen Ausgebeuteten. Wir Kommunisten müssen ihre Gemeinsamkeit fördern, unterstützen sowie theoretisch und praktisch stärken.

Dr.-Ing. Peter Tichauer, Berlin


*


Erich Honecker sagte mal in einer Rede, der schlechteste Sozialismus sei besser als der beste Kapitalismus. Diese Aussage halte ich so für nicht richtig, da es weder schlechten Sozialismus noch guten Kapitalismus gibt.

Während seines Berlin-Aufenthalts zum 40. Jahrestag der DDR verkündete Gorbatschow: "Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben." Meine Ergänzung: Leider hat das Leben nicht nur jene bestraft, welche zu spät kamen, sondern auch uns.

Jürgen Förster, Dresden


*


Horst Joachimi schreibt im RF Nr. 141 u. a.: "Nun kann Frau Merkel endlich aufatmen, ist sie doch als Widerstandskämpferin gegen die DDR ­..." Dieser Begriff ist m. E. auf sie nicht anwendbar, auch wenn sie uns das jetzt immer wieder einreden möchte. Ich beziehe mich auf das Buch von Volker Resing aus dem benno-Verlag mit dem Titel: "Angela Merkel. Die Protestantin. Ein Porträt". Wenn das Anliegen des Autors - dem Vorwort von Lothar de Maizière zufolge - vor allem darin besteht, das kirchliche Leben in den 50er bis 80er Jahren darzustellen, so gerät Frau Merkel doch ins Zentrum der Betrachtungen. Auf Seite 54 lesen wir u. a.: "Sie selbst sagt, sie sei bei einigen Veranstaltungen der Bürgerbewegung dabeigewesen, doch sie habe nicht in 'dieses Milieu' gepaßt. Auch die 'basisdemokratische Diskussionsweise' sei nicht ihre Sache gewesen. Sie sei nicht derartig pazifistisch gewesen, wie in den Kreisen diskutiert wurde. Angela Merkel wird als 'Novemberrevolutionärin' bezeichnet, weil sie sich in den Monaten vor dem Fall der Mauer nicht engagiert hat. Sie hat nicht gegen den Staat demonstriert, als es noch gefährlich war. Erst nach dem 9. November 1989, als alles auseinanderzubrechen schien, entschied sie sich für das politische Engagement." Man sollte die Dame also nicht mit Federn schmücken, die ihr nicht zustehen.

Werner Bruns, Magdeburg

Raute

Die Januarausgabe des RF gelangt ausnahmsweise schon vor Weihnachten zum Versand.

Das neue Jahresregister kann ab Januar gegen eine Spende beim Vertrieb angefordert werden.

Die Redaktion


*


RF-Bezugsbedingungen

Kurze Nachricht per Telefon oder E-Mail oder Briefpost an den Vertriebsleiter Armin Neumann genügt.

Er ist folgendermaßen erreichbar.
Tel.: 030/654 56 34
E-Mail: arminneumann@ewt-net.de
Adresse: Salvador-Allende-Straße 35, 12559 Berlin

Der RotFuchs wird ausschließlich aus Spenden und nach eigenem Ermessen jedes einzelnen finanziert. Einen festen Preis gibt es nicht. Die Zeitschrift kommt jeweils am letzten Werktag eines Monats zum Versand.

Raute

IMPRESSUM

Der im Februar 1998 gegründete "RotFuchs" ist eine von Parteien unabhängige kommunistisch-sozialistische Zeitschrift für Politik und Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft.

HERAUSGEBER: "RotFuchs"-Förderverein e. V.

CHEFREDAKTEUR: Dr. Klaus Steiniger, (V.i.S.d.P.)
Rheinsteinstraße 10, 10318 Berlin,
Telefon 030/561 34 04
E-Mail: rotfuchskessel@t-online.de
(Redaktionsadresse)

SEKRÄTERIN: Karin Großmann

LAYOUT: Rüdiger Metzler

HERSTELLUNG: Druckerei Bunter Hund

INTERNET: www.rotfuchs.net

Redaktionsschluß ist jeweils der 10. des Monats.

AUTORENKREIS:
Dr. Matin Baraki
Rolf Berthold
Dr. Manfred Böttcher
Isolde Bohler (Valencia)
Dr. Vera Butler (Melbourne)
Wolfgang Clausner
Prof. Dr. Götz Dieckmann
Dr. Rudolf Dix
Ralph Dobrawa
Dieter Fechner
Dr. Peter Fisch
Bernd Fischer
Peter Franz
Günter Freyer
Prof. Dr. Georg Grasnick
Dr. Ernst Heinz
Dr. Dieter Hillebrenner
Manfred Hocke
Prof. Dr. Hans Heinz Holz
Hans Horn
Dr. Klaus Huhn
Dr. Hans-Dieter Krüger
Rudi Kurz
Wolfgang Mäder
Bruno Mahlow
Dr. Bernhard Majorow
Wolfgang Metzger
Prof. Dr. Harry Milke
Frank Mühlefeldt
Prof. Dr. Werner Roß
Walter Ruge
Karl Schlimme
Gerhard Schmidt
Prof. Dr. Horst Schneider
Joachim Spitzner
Fritz Teppich
Dr.-Ing. Peter Tichauer
Prof. Dr. Zbigniew Wiktor (Wroclaw)

KÜNSTLERISCHE MITARBEIT:
Dieter Eckhardt, Heinz Herresbach,
Klaus Parche, Heinrich Ruynat,
Michael Westphal

INTERNET-PRÄSENTATION DES ROTFUCHS
UND AKUSTISCHE AUSGABE (für Sehbehinderte):
Sylvia Feldbinder

VERSAND UND VERTRIEB:
Karin Dockhorn
Anna-Louise-Karsch-Str. 3, 10178 Berlin
Telefon 030/241 26 73
WDockhorn@t-online.de
oder Sonja Brendel, Tel. 030/512 93 18
Bruni Büdler, Hans Ludwig, Harry Schreyer,
Peter Barth u.v.a.m.

FINANZEN: Jürgen Thiele, Wartenberger Str. 44
13053 Berlin, Tel.: 030/981 56 74

UNSER KONTO:
"RotFuchs"-Förderverein, Konto-Nr.: 2 143 031 400
Berliner Sparkasse, BLZ: 100 500 00
Für Einzahler im Ausland:
IBAN: DE 27 1005 0000 0220 1607 59
BIC: BELADEBEXXX

Die Mitarbeit weiterer Autoren ist erwünscht. Die in namentlich gezeichneten Beiträgen zum Ausdruck gebrachten Auffassungen müssen nicht immer mit denen der Redaktion übereinstimmen.


*


Quelle:
RotFuchs Nr. 143, 12. Jahrgang, Dezember 2009
Redaktion: Rheinsteinstraße 10, 10318 Berlin
Telefon: 030/561 34 04, Fax: 030/56 49 39 65
E-Mail: rotfuchskessel@t-online.de
Internet: www.rotfuchs.net


veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Januar 2010