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ROTFUCHS/119: Tribüne für Kommunisten und Sozialisten Nr. 165 - Oktober 2011


ROTFUCHS

Tribüne für Kommunisten und Sozialisten in Deutschland

14. Jahrgang, Nr. 165, Oktober 2011



Inhalt
Zur Heldenpose von Akteuren der Konterrevolution
Wilhelm Pieck flogen die Herzen zu
Kapitän zur See a.D. Klaus Hempel: Gefühle eines Gefeuerten
Zum Insider-Bericht von Keßler und Streletz
Besier ist kein Baiser
Verzicht auf "des Pudels Kern"
Mehr Sensibilität im Umgang mit Opfern des Faschismus!
Marxismus für Einsteiger: Imperialismus
Krelles Kralle - Wie ein SS-Sturmbannführer die HU von Antifaschisten "säubern" ließ
"Bedingungsloses Grundeinkommen" ist zutiefst reaktionär
Mieterverdrängung durch "Gentlemen"
Kein Eulenspiegel-Streich - Tills Daumenschrauben für Kleingärtner in M-V
Was ist Sache, Frau Sauer?
Ohne Steuer keine Heuer
"Täve" in der Marzahner Ehrengalerie
Bernard Koenen bewährte sich an vielen Fronten
Würgeschlingen als "Rettungsringe"
RF-Extra Zur Lebensleistung des CDU-Politikers Gerald Götting
RF-Extra Über Christliches und weniger Christliches
Das Ratespiel der Rating-Agenturen
Der Fehltritt des Medienmoguls
Bekennermut in der Höhle des Löwen
Wie die CIA Kwame Nkrumah stürzte
Schockstarre in Norwegen
Geburtstagsgrüße an Fidel
Indien: Die bittere Lektion von Kalkutta
Heldengedenken in Belarus
Portugals "Avante!" würdigt Courage der "jungen Welt"
Zur Lüge vom sowjetischen Verrat am Warschauer Aufstand
Woodie Guthrie - Volkssänger und Kampfgefährte der Kommunisten
Der Knall mit dem "Urknall"
Unsere Spur der Steine
Schweizer Management-Erfahrungen
Archies Berliner Odyssee
Leserbriefe
Grafik des Monats

Raute

Zwei unter einem Dach

In diesem Monat stellt die Partei Die Linke (PDL) auf der Beratung ihres obersten Gremiums in Erfurt - dort tagte im Oktober 1891 auch die deutsche Sozialdemokratie zu August Bebels und Wilhelm Liebknechts Zeiten - wichtige programmatische Weichen. Als von Parteien unabhängige marxistische Zeitschrift mischen wir uns bekanntlich aus Prinzip nicht in die Angelegenheiten anderer Linker ein, stellen aber die Tatsache in Rechnung, daß die PDL derzeit die einflußreichste antifaschistisch-demokratische Kraft und die größte Friedenspartei des Landes ist. Obwohl sie keine systemverändernde Rolle spielt, besitzt ihr Handeln durchaus Gewicht, auch wenn sie sich bereits vor Jahren in SPD-geführte Landesregierungen hat einbinden lassen. Die PDL verfügt über eine zahlenmäßig starke Bundestagsfraktion und spielt derzeit - in einer hinteren Reihe - im Bundesrat mit. All das dürfte Grund genug sein, sich für ihre weitere Entwicklung und ihr politisches Profil zu interessieren, zumal ein bedeutender Teil sowohl unserer Leser als auch der Mitglieder des RF-Fördervereins zum engeren oder erweiterten Spektrum der PDL gehört.

Die Partei Die Linke hat ihre Programmdebatte mit einem Kompromißpapier eingeleitet und dürfte sie wohl auch mit einem Kompromiß zwischen ihren konträren Tendenzen zum Abschluß bringen.

Wir haben wiederholt antikapitalistische Formulierungen dieses Dokuments, dessen Entwurf von Vertretern divergierender PDL-Strömungen ausgearbeitet wurde, den RF-Lesern nahegebracht, uns aber zugleich von anderen Passagen distanziert und das Fehlen unverzichtbarer Aussagen oder Wertungen bedauert.

Ein dem RF verbundener namhafter Leipziger PDL-Genosse machte uns mit der Ansicht vertraut, seine Partei bestehe ja eigentlich aus zwei Parteien. Dabei hatte er nicht ihre Verschmelzung aus PDS und WASG im Auge, sondern ließ sich bei dieser Lageeinschätzung von der Überzeugung leiten, daß die PDL in eine linkssozialistische und eine in rechtssozialdemokratischen Gewässern navigierende Gruppierung zerfalle. Bei deren unverkennbarer Hinwendung zur SPD spiele das Forum Demokratischer Sozialismus (fds) die Rolle des Regisseurs. Doch die einen wie die anderen befänden sich derzeit "unter einem Dach".

Dieses Urteil eines Insiders scheint den Nagel auf den Kopf zu treffen. Tatsächlich begegnet man in der PDL und ihrem Umfeld Verfechtern von Standpunkten, die sich wie Feuer und Wasser voneinander unterscheiden. Dabei muß man natürlich die Tatsache in Betracht ziehen, daß Mitglieder wie Anhänger der Partei - ihre Kommunistische Plattform, der parteinahe Jugendverband solid, die Studentenorganisation SDS und eine Anzahl aktiver Zirkel sind hier ausgenommen - Marx und Engels, von Lenin ganz zu schweigen, seit vielen Jahren nicht mehr zu Rate gezogen haben. Das führte auch bei erfahrenen Mitstreitern zu ideologischen Substanzeinbußen.

Um so anerkennenswerter ist es, daß sich nicht wenige Genossen ihren klaren Blick und eine eindeutige Klassenoption zu bewahren vermochten. Offenbar wollte Oskar Lafontaine gerade auf die geschilderten Defizite aufmerksam machen, als er sich in die Rednerliste einer Konferenz unter dem Motto "Marx-is-muss" eintragen ließ.

Manche schrillen Töne aus höheren PDL-Etagen auf Länder- wie auf Bundesebene haben bei vielen der Sache treuen Genossen und Stammwählern ein zunehmendes Gefühl der Beklommenheit hervorgerufen. Immer öfter wird die Frage gestellt, was wohl werden soll, wenn die "alte Garde" im Osten, die den Sozialismus in der vom Feind umlauerten und keineswegs fehlerlos geführten DDR allen Stürmen zum Trotz jahrzehntelang aufgebaut, gestaltet und verteidigt hat, in absehbarer Zeit nicht mehr zur Verfügung steht. Denn stromlinienförmige Anpasser und karrierebewußte Aufsteiger haben bereits etliche Schlüsselpositionen in ihren Besitz gebracht oder befinden sich in den Startlöchern, um weitere lukrative Posten zu ergattern. Scheinsozialisten dieses Schlages verhehlen nicht, daß sie auf eine "biologische Lösung" warten, um die "linkssozialistische Partei", von der unser Leipziger Freund sprach, loswerden zu können. Leuten vom fds-Kaliber steht augenscheinlich der Sinn nach einer Liaison mit der SPD auf antikommunistischer Grundlage. Mit anderen Worten: nach einem "Vereinigungsparteitag" unter umgekehrten Vorzeichen. Allerdings ist das insofern eine Rechnung ohne den Wirt, als es auch unter jüngeren PDL-Mitgliedern in West wie Ost weiterhin zum Kampf für sozialistische Ziele Entschlossene gibt, die sich wohl kaum widerstandslos an die Wand drücken lassen.

Zwei Parteien unter einem Dach? Die These unseres Leipziger Professors scheint zu stimmen. Ein Grund mehr für alle standhaft gebliebenen Sozialisten und Kommunisten in der PDL, die Augen offen zu halten. Ihnen wünschen wir die erfolgreiche Verteidigung des auch durch sie repräsentierten reichen Erbes der revolutionären deutschen Arbeiterbewegung auf dem Erfurter Parteitag und in aller Zukunft. Möge das Vermächtnis von August Bebel und Wilhelm Liebknecht in ihnen weiterleben!

Klaus Steiniger

Raute

Zur Heldenpose von Drahtziehern und Akteuren einer Konterrevolution

Unrühmlicher Glorienschein

Am 3. Oktober jährt sich die "Wiedervereinigung" zum 21. Mal. Nicht wenige Akteure von damals haben ihren Anspruch auf einen herausgehobenen Platz im Geschichtsbuch selbst bestimmt: Helmut Kohl in "Vom Mauerfall zur Wiedervereinigung", der Leipziger Pfarrer Christian Führer in "Die Revolution, die aus der Kirche kam", sein Rostocker Amtskollege Joachim Gauck, der im Juni 2010 vom Amt des Staatsoberhauptes träumte, in "Winter im Sommer - Frühling im Herbst".

Wie immer hat der "Erfolg" viele Väter, und der "Ruhm", 1989 etwas zum Untergang des Sozialismus beigetragen zu haben, bringt manchen Nutzen.

"Der Spiegel" ließ zu verschiedenen Zeiten seine Reporter durch Osteuropa touren, um Antwort auf die Frage nach den "wahren Helden" jener Ereignisse zu erhalten. Im Falle Rumäniens würdigte er Pfarrer Laszlo Tökes, "einen wortmächtigen und unerschrockenen Pastor aus der ungarischen Minderheit, der als "populärer Dissident" berühmt wurde. Seine Reden und Taten seien der Ausgangspunkt für jene Entwicklung gewesen, an deren Ende der Sturz Ceausescus und dessen Erschießung standen.

Wie lagen die Dinge in Polen? Niemand bestreitet, daß Papst Johannes Paul II. eine Schlüsselfigur bei der organisierten Zerschlagung des Sozialismus war. Lech Walesa drückte den Anteil des Papstes am Sieg der Konterrevolution sogar rechnerisch aus: "Wenn ich in Prozentzahlen erklären sollte, wer wieviel zum Zusammenbruch des kommunistischen Systems beigetragen hat, würde ich sagen: 50 Prozent der Papst, 30 Prozent Solidarnosc und Lech Walesa. Den Rest besorgten Helmut Kohl, Ronald Reagan und Michail Gorbatschow", gab er dem "Spiegel" 2004 zu Protokoll.

Werfen wir einen Blick auf den "Herbst 1989" in beiden deutschen Staaten. Achten wir vor allem auf die Sprache der Akteure, die Begriffe und Losungen, welche die Massen bewegten.

Hans-Jochen Tschiche erklärte 1997: "Die Gruppe der Oppositionellen war, bei Licht besehen, nur eine kleine Minderheit." Er ging von 300 Personen aus. Jene, welche sich selbst zu "Bürgerrechtlern" ernannten, sind nach 1990 in den Rang von Helden erhoben worden. Viele übten oder üben politische Funktionen aus: Rainer Eppelmann, Joachim Gauck, Heinz Eggert, Christian Führer, Steffen Heitmann, Manfred Stolpe, Friedrich Schorlemmer u. a. Es ist erstaunlich, daß sich Gottes irdische Gehilfen als Klub von "Revolutionären" entpuppten.

In der DDR liefen 1989 de facto mehrere Prozesse parallel und in Wechselwirkung ab. Ein beträchtlicher Teil der Bürger, unter ihnen "Dissidenten", Pfarrer und sogenannte Reformer in der SED traten gegen "Verkrustungen" des "Regimes" auf und forderten Veränderungen. Den anderen Prozeß repräsentierte Kohl. Er lief darauf hinaus, die Schwächen der DDR-Führung und die Oppositionsbewegung zu nutzen, um den sozialistischen deutschen Staat zu Fall zu bringen.

Erst nachträglich ist zu ermessen, wie stark die Kirchen dabei als trojanische Pferde dienten. Nicht wenige Pfarrer bekennen sich inzwischen zu dieser höchst unchristlichen Rolle.

Wie Egon Bahr in bezug auf 1953 sagen konnte, ohne den RIAS (an dem er selbst mitwirkte) hätte es den 17. Juni nicht gegeben, waren westliche Medien auch diesmal Stimme und Rückhalt der "Opposition".

Entscheidend war die Ausgabe von Losungen. Im Oktober/November 1989 wurde die Parole "Wir sind das Volk" in Umlauf gebracht. Die Forderung nach "Freiheit" galt meist der "Reisefreiheit", der Ruf nach "Demokratie" meinte bürgerlichen Parlamentarismus.

Kohls Sprachregler fanden den geeigneten Zeitpunkt, um die zentrale Losung inhaltlich zu verändern. In der Dresdener Rede des Kanzlers am 19. Dezember 1989 hieß der Slogan plötzlich "Wir sind ein Volk".

Erstaunlicherweise tauchten unmittelbar neben dem Rednerpult die Losungen auf: "Deutschland, einig Vaterland" und "Modrow! Wiedervereinigung ins Programm!"

Man sollte bedenken: Mit dem Leitspruch "Ein Volk, ein Reich, ein Führer" hatte Hitler 1938 den "Anschluß" Österreichs an Deutschland propagandistisch vorbereitet.

Mitte Dezember 1989 besaßen die Anhänger des "Beitritts", der als "Wiedervereinigung" getarnt wurde, unter DDR-Bürgern noch keine Mehrheit. Doch leider wurde die Tragweite des Kohl-Auftritts von der Partei- und Staatsführung nicht erkannt. Das galt besonders für die verbalen Tricks des Kanzlers.

Um den Dresdnern - und auch seinen eigenen Verbündeten in London, Paris und Rom - die Angst vor einem erstarkten einheitlichen Deutschland zu nehmen, leistete Kohl einen Eid auf den Frieden. Er gehöre zu jener Generation, die 1945 geschworen habe: "Nie wieder Krieg, nie wieder Gewalt! Ich möchte hier vor Ihnen diesen Schwur erweitern, indem ich Ihnen zurufe: Von deutschem Boden muß in Zukunft immer Frieden ausgehen - das ist das Ziel unserer Gemeinsamkeit!"

Kohl versprach demagogisch, das Selbstbestimmungsrecht der DDR-Bürger zu achten: "Wir werden jede Entscheidung, die die Menschen in der DDR in freier Selbstbestimmung treffen, selbstverständlich respektieren ­..." Schon während seines Heidelberger Studiums hatte er erkannt: Wer die Begriffe definiert, bestimmt die Politik. Und er erfuhr dort auch, daß der erste Satz des Naziprogramms - die Forderung nach dem Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes - der Expansion des Faschismus Tür und Tor öffnete.

Was unterscheidet den "Anschluß" der DDR von der Annexion Österreichs und des "Sudetenlandes" in den späten 30er Jahren?

Das Dresdner Treffen diente nicht dazu, irgendwelche Probleme zu erörtern, Auseinandersetzungen zu führen oder Lösungen zu suchen - es war die Rückkehr des Patriarchen in sein Reich. Kohl mußte "sein Volk" allerdings zunächst wieder verlassen. Doch er drang darauf, die "deutsche Einheit" nun um jeden Preis durchzusetzen. Im Wege standen ihm nur noch das Völkerrecht und gültige Verträge. Aber war nicht auch ein anderer deutscher Kanzler mit solchen Hindernissen fertig geworden?

Die Rolle und die Aufgaben der "friedlichen Revolutionäre" änderten sich während und nach der Dresdner Show. Mitglieder der dortigen "Gruppe der zwanzig" und Kirchenleute mutierten zu Kohls willigsten Helfern. Hatten sie ursprünglich von "Frieden schaffen ohne Waffen" gesprochen, um die Massen gegen die Staatsmacht der DDR aufzubringen, so ging es ihnen jetzt nur noch um die Vorbereitung des "Anschlusses" nach Bonner Fahrplan. Zum Schlüsselwort wurde der Begriff "Wiedervereinigung". Die Brüder und Schwestern eines Volkes sollten sich jubelnd in den Armen liegen, Krupp und Krause zueinander finden.

Aus "Brüdern und Schwestern", die man "befreien" und "wiedervereinigen" wollte, wurden über Nacht Sieger und Besiegte.

Die Konterrevolution kam 1989/90 in "Filzlatschen" daher, wie Egon Bahr es ausdrückte. Dazu gehörte auch eine Tarnsprache. Gewisse Theologen in der DDR spielten die ihnen zugewiesene Rolle, während die Zentren der psychologischen Kriegführung und dieser dienende imperialistische Medien den entscheidenden Part übernahmen.

Die "Erinnerungsschlacht" geht weiter. Am 3. Oktober haben die Kämpfer gegen den "Unrechtsstaat" und die Protagonisten der "friedlichen Revolution" einmal mehr Hochkonjunktur.

Während der erste Begriff die DDR verteufelt, soll der zweite den unrühmlichen Glorienschein der Akteure erstrahlen lassen. Erinnern wir uns an ein Wort Abraham Lincolns: "Man kann alle Leute einige Zeit zum Narren halten und einige Leute allzeit, aber alle Leute allezeit zum Narren halten kann man nicht."

Prof. Dr. Horst Schneider

Raute

Am 11. Oktober 1949 wurde Wilhelm Pieck der erste und einzige Präsident der DDR

Ein Mensch, dem die Herzen zuflogen

Am 3. Januar 1876 wurde in Guben ein Junge namens Wilhelm geboren. Nach der Tischlerlehre begab er sich auf Wanderschaft und kam dabei auch mit der Politik in Berührung. So blieb es nicht aus, daß er 1895 der SPD beitrat. 1917 schloß er sich der USPD an. Im Dezember 1918 gehörte er zu den Gründern der KPD, deren Vorsitzender er nach Thälmanns Verhaftung wurde. Im April 1946 wählte ihn der Vereinigungsparteitag von SPD und KPD zu einem der beiden Vorsitzenden der SED. Am 11. Oktober 1949 schenkte ihm die Provisorische Volkskammer ihr Vertrauen als Präsident der DDR. In seinem langen Partei- und Arbeitsleben empfing er viele Ehrungen, war hochgeachtet, von manchen sogar glorifiziert, aber durch politische Gegner geschmäht.

Wilhelm Pieck war besonders auf die Ehrenbürgerschaft seiner Heimatstadt stolz. Er nahm sie am 5. Mai 1946 im Beisein von etwa Zehntausend Gubenern entgegen.

In der Zeit vor 1933 kam Wilhelm Pieck, nicht selten aus politischen Gründen, in die Stadt an der Neiße. Am 12. September 1930 warnte er auf einer Wahlkundgebung im Kaisergarten vor der heraufziehenden Gefahr des Faschismus. Dieser zwang Wilhelm Pieck in die Emigration, aus der er im Frühjahr 1945 zurückkehrte. In der Folgezeit besuchte er seine Heimatstadt des öfteren. Er sorgte für den Bau einer modernen Schule, die aus Spenden von Volkspolizisten finanziert wurde. Bei deren Grundsteinlegung weilte der Präsident am 7. Juni 1951 zum letzten Mal in Guben. Doch er verlor auch danach nicht den Kontakt zu deren Einwohnern. Wiederholt empfing er in seinem Berliner Amtssitz, dem Schloß Niederschönhausen, Delegationen der Gubener Werktätigen, die ihn bei dieser Gelegenheit über die Entwicklung auf dem laufenden hielten und seine Ratschläge entgegennahmen. Die schrittweise Verbesserung der Lebensbedingungen und den beginnenden Wiederaufbau verfolgte er aufmerksam.

Ich gehörte zu einer Gubener Abordnung, die Wilhelm Pieck 1955 aufsuchte. Meine anfängliche Aufregung war riesengroß, stand ich doch erstmals einem so hohen Staatsfunktionär gegenüber. Doch es gab keinen Grund für meine innere Unruhe. Denn die Begegnung spielte sich genauso ab, wie Jurij Brezan sein Zusammentreffen mit dem ersten Arbeiterpräsidenten in der deutschen Geschichte beschrieben hat: "Dann war alles anders, da kam gar kein Staat, es kam ein Mensch! Er war auch kein bißchen jovial, aber mit einem Lächeln, und er machte keine Phrasen, sondern er fragte, wie es mit diesem stehe oder mit jenem. Und dann lachte der Präsident, wie Menschen lachen."

Wilhelm, wie er im Volksmund hieß, war jemand, dem buchstäblich die Herzen zuflogen. Sein uns erschütternder Tod am 7. September 1960 veranlaßte seine Heimatstadt, über eine besondere Ehrung des Verstorbenen nachzudenken. Man beschloß, ihr seinen Namen zu verleihen. Bis zum 5. September 1990 gab es die Wilhelm-Pieck-Stadt Guben. Am 13. Januar 1963 erfolgte dann die Einweihung einer Wilhelm-Pieck-Gedenkstätte, und am 3. Januar 1976 wurde ein Denkmal zu seinen Ehren enthüllt.

Die Wiederherstellung kapitalistischer Macht- und Eigentumsverhältnisse ließ erneut jene ans Ruder gelangen, die alles, was auch nur im Geringsten an die DDR erinnerte, auslöschen wollen. So beschloß Gubens neu gewählte Stadtverordnetenversammlung mit Mehrheit die Streichung des Namens Wilhelm Pieck aus der Stadtbezeichnung, die Umbenennung der Wilhelm-Pieck-Straße in Berliner Straße, die Aufhebung der Gedenkstätte und die Schließung der Wilhelm-Pieck-Schule - damals die modernste Lehranstalt weit und breit. Heute verfällt sie, und die vor ihr aufgestellte Büste verkommt.

Natürlich wehrten sich die linken und demokratischen Kräfte in Gubens SVV gegen diese Maßnahmen, vor allem gegen die Aufgabe der Schule. Bei einem Volksbegehren im Jahre 1999 ging es um deren Erhalt. Weit über 5000 Einwohner setzten sich unterschriftlich dafür ein. Doch die Bilder- und Schilderstürmer bekamen Oberwasser. Unter fadenscheinigen Begründungen wurde das Volksbegehren für nichtig erklärt.

Ein Versuch, die Gubener an Leben und Wirken Wilhelm Piecks zu erinnern, wurde am 7. Februar 2001 mit einer öffentlichen Veranstaltung über Parteigrenzen hinweg unternommen. Der Historiker Dr. Norbert Podewin sprach über "Wilhelm Pieck in drei unterschiedlichen gesellschaftlichen Systemen", Gerhard Gunia (SPD) zu seinem Wirken für ein gutnachbarliches Zusammenleben mit dem polnischen Volk und seine Stellung zur Oder-Neiße-Grenze.

Von den Stätten, die zu Ehren des ersten und einzigen Präsidenten der DDR geschaffen worden waren, blieb nur das unter Denkmalsschutz stehende Monument erhalten. Doch es wird immer baufälliger, so daß ein Abriß droht, da angeblich kein Geld für die Sanierung vorhanden ist. Dabei lagen bereits mehrere finanziell untersetzte Entwürfe vor. Hauptverantwortlicher für den Verfall ist Gubens FDP-Bürgermeister Hübner. In Worten bejaht er zwar ständig die Sanierung, in Taten verhält er sich dazu konträr.

Zweimal im Jahr - am Geburtstag (3. Januar) und am Todestag (7. September) Wilhelm Piecks - treffen sich Mitglieder der Partei Die Linke am Denkmal, um sich des großen Sohns der Stadt zu erinnern und Blumen niederzulegen. Doch zu mehr können sich weder die SVV-Fraktion noch der Ortsvorstand Guben oder der regionale Vorstand Lausitz der PDL derzeit aufraffen. Ich werte das als Mißachtung der Notwendigkeit einer objektiven Aufarbeitung der Geschichte der beiden deutschen Staaten. So bleibt es einzelnen historisch interessierten Genossen und Parteilosen überlassen, sich den hartnäckigen Bestrebungen zu widersetzen, auch am Beispiel Wilhelm Piecks die Realität der DDR zu verfälschen. Verdienstvoll waren in diesem Zusammenhang zwei Artikel von Dr. Horst Helas (Berlin) in Gubens "Linkem Stadtanzeiger".

Heute an Wilhelm Pieck zu erinnern, heißt für mich, Reinhold Andert zustimmend zu zitieren:

"Er war wie ich hörte ein Tischlergeselle, vielleicht ist die Art der Arbeit egal. Vielleicht ist das Grund, Präsident zu werden, der erste Mann in einem Staat, bei dem, wenn die alten Genossen erzählen, jeder ein Leuchten im Auge hat."

Manfred Augustyniak, Guben


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Wilhelm Pieck nach der Vereinigung der beiden Arbeiterparteien mit den gleichberechtigten Gubener SED-Kreisvorsitzenden Otto Gahlke, rechts (vormals SPD), und Gustav Hamann (vormals KPD)

Raute

Was ein Marineoffizier der NVA nach seiner Zwangsentlassung im Sommer 1990 bisherigen Kampfgefährten schrieb

Gefühle eines Gefeuerten

Am Vorabend seiner Entlassung durch die bereits an Kohls kurzer Leine marschierende "DDR"-Regierung de Maizière, deren "Minister für Abrüstung und Verteidigung" Rainer Eppelmann emsig die Geschäfte der Bonner Hardthöhe besorgte, schrieb ein von den konterrevolutionären "Säuberungen" betroffener NVA-Stabsoffizier an seine - wie es jetzt hieß - "Kameraden" einen Brief. Er widerspiegelt die Gefühlswelt eines vom Klassenfeind gefeuerten redlichen Militärs der DDR. Im folgenden veröffentlichen wir den leicht redigierten Wortlaut.

Seit dem 12. Juli 1990 ist es Gewißheit: Am 31. August werde ich aus dem aktiven Wehrdienst entlassen. Dabei hält man die bekannten Entlassungsfristen nicht ein. Ich bekam auch keine Chance, im zivilen Bereich einer neuen, beruflich sinnvollen Tätigkeit nachgehen zu können. Weder für mich noch für meine Frau gibt es klare, verbindliche Regelungen, was "morgen" und "übermorgen" oder auf Dauer aus uns werden soll.

Was bewegt mich in dieser Situation, wenn ich zurückschaue und - soweit man das überhaupt kann - in die Zukunft blicke?

Ich denke an selbsterlebte Schrecken im Zweiten Weltkrieg; an die schweren Jahre des Neuanfangs nach 1945 mit allen Konsequenzen für mich persönlich; an die innen- und außenpolitischen Bedingungen, unter denen die DDR entstand; an die Motive, die mich zu dem Entschluß führten, Angehöriger der Seepolizei zu werden; an den Verlauf und die Auswirkungen des Kalten Krieges, dessen Ursachen und Urheber; an meine eigene Entwicklung vom Unterleutnant zur See zum langjährigen Truppenkommandeur; an geteilte Freude und geteiltes Leid bei der Arbeit mit Tausenden freiwillig und bewußt dienenden Matrosen, Maaten und Offizieren; an gemeinsam ertragene Härten und Entbehrungen, Einschränkungen sowie hohe physische und psychische Belastungen; an die schweren Jahre des Minenfreiräumens unseres Küstenvorfeldes; an Erfolge und Niederlagen bei der Meisterung und Wartung der uns anvertrauten Technik; an die Einsätze bei Katastrophen und Havarien sowie die Hilfe, die wir der Industrie und Landwirtschaft der DDR immer wieder erwiesen; an die hohen zeitlichen Belastungen für die Familie durch Dienst und Bereitschaft, unabhängig von Tag und Stunde; an die Einschränkungen, die meine Frau und die Kinder bei der Berufsausbildung und Qualifizierung auf sich nehmen mußten; an schöne und gemütliche Stunden mit dem Kollektiv; an die unvergeßliche Atmosphäre bei Treffen mit Waffenbrüdern der Seestreitkräfte befreundeter Armeen; an die "nichtverordnete" Herzlichkeit von alt und jung bei den vielfältigsten Begegnungen mit uns Soldaten, besonders an "Tagen der offenen Tür" und an die Arbeit mit den Patenstädten; an meine auch weiterhin unerschütterliche Überzeugung, vor allem der Friedenserhaltung gedient zu haben, auf die ich wie jeder Soldat der NVA stolz sein kann; an die schmerzlichen Defizite der letzten Monate im Wirkungsmechanismus des Sozialismus der DDR und die selbstkritische Einordnung der eigenen Position; an die Hoffnung, daß ein Krieg in Europa auch in Zukunft ausgeschlossen bleiben möge.

Mit Enttäuschung nehme ich zur Kenntnis, wie jüngste Wahlversprechen und Regierungserklärungen nicht eingelöst werden; wie noch Funktionierendes Schritt für Schritt plattgemacht wird; wie das Fehlen eindeutiger und langfristig gültiger Regelungen an die Stelle einer Sorgepflicht des Staates gegenüber den Soldaten tritt; wie sich viele Berufssoldaten der NVA in der Illusion wiegen, sie würden eine korrekte Behandlung mit entsprechender sozialer Absicherung auch in einem vereinigten Deutschland erfahren; wie andere dem Irrtum unterliegen, daß es bei den gegenwärtigen Bedingungen eine politische Entscheidungen treffende Kraft gäbe, die sich tatsächlich für die Belange und Interessen der Armeeangehörigen und Zivilbeschäftigten einsetzt; wie es an der Bereitschaft vieler unserer Militärs fehlt, den Verband der Berufssoldaten (den Vorläufer des heutigen NVA-Traditionsverbandes - d. R.) durch ihre Mitgliedschaft als die derzeit einzige Möglichkeit der Vertretung ihrer Anliegen zu stärken; wie Ellenbogenmanieren auf allen Ebenen einreißen, die von der Vorstellung ausgelöst werden, sich auf diese Weise im Alleingang in die Einheit Deutschlands hinüberretten und eine bessere Position ergattern zu können; wie die gegenüber der NVA angewandte Salamitaktik nicht durchschaut oder auf die leichte Schulter genommen wird, während das Teile-und-herrsche-Prinzip in unserem Land um sich zu greifen beginnt.

Ich appelliere deshalb an alle, die mit mir gedient haben: Nicht nur an sich selbst, den Garten oder ein neues Auto zu denken; zu erkennen, daß die Zeit abläuft, um Konkretes für die NVA, deren Berufssoldaten und Zivilbeschäftigte im Einigungsvertrag fordern zu können; in vielfältigster Form zum Ausdruck zu bringen, daß wir als Soldaten des Volkes im Interesse des Friedens ehrlich und erfolgreich gedient haben; jegliche Verunglimpfung und Herabwürdigung des Wirkens der NVA in der Zeit der längsten Friedensperiode in Europa entschieden zurückzuweisen.

Kapitän zur See a. D. Klaus Hempel

Geschrieben im Sommer 1990


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Briefmarke der DDR von 1986
- Lothar de Maizière stellte nach dem 18. März 1990 die Weichen auf totale Auslieferung der DDR an die BRD.

Raute

Spannend, sachlich, prinzipiell und ohne Tabus

Zum Insider-Bericht von Keßler und Streletz

Ohne die Mauer hätte es Krieg gegeben". Dieses Buch von Heinz Keßler, Verteidigungsminister und Armeegeneral a. D., und Generaloberst a. D. Fritz Streletz, Chef des Hauptstabes der NVA, Sekretär des Nationalen Verteidigungsrates und Stellvertreter des Oberkommandierenden der Vereinten Streitkräfte des Warschauer Vertrages, trifft mit dem Titel bereits den Kern des Problems.

In Gestalt der beiden Autoren stehen nicht nur die ranghöchsten Militärs der DDR, sondern auch zwei herausragende Zeitgenossen, die zu den intimsten Kennern des von ihnen dargestellten Sachverhalts gehören, im Zeugenstand. Sie liefern authentische Informationen aus erster Hand. Von prinzipiellen Positionen ausgehend und zugleich ohne dogmatische Enge, berichten sie engagiert und faktenbezogen, spannungsgeladen und sachlich über ein entscheidungsschweres Kapitel in der Geschichte der DDR.

Dabei war das von ihnen dargestellte und analysierte Geschehen nicht nur von höchster Bedeutung für die den Frieden beschirmende Verteidigungsallianz der sozialistischen Staaten, sondern auch von weltstrategischem Gewicht.

Das ND, in dem später eine ausführliche Rezension veröffentlicht wurde und in dessen Klub ein Vorstellungsgespräch mit den beiden Autoren des Buches stattfand, brachte zunächst nur eine magere Fünfzehn-Zeilen-Meldung, die mich erstaunte. Am 21./22. Mai hieß es dort: "Die früheren ranghohen Militärs Heinz Keßler und Fritz Streletz haben den Bau der Mauer vor 50 Jahren verteidigt. Bei der Vorstellung des Buches ... sagte Fritz Streletz, jeder Tote an der Mauer sei einer zu viel gewesen. DDR-Grenzsoldaten hätten auf 'Grenzverletzer aber nur als absolute Ausnahme' geschossen. Er sei stolz, einen Beitrag zur Sicherung des Friedens geleistet zu haben."

In der Klub-Einladung wurde dann der 13. August wertneutral als "Chiffre für die Errichtung der Berliner Mauer" bezeichnet. Ehrlich gesagt, hatte ich vom ND, das immer noch im Untertitel die Bezeichnung "Sozialistische Tageszeitung" führt, eine sofortige und eindeutige linke Gegenreaktion auf die Schmähungen erwartet, die von den Medien des deutschen Imperialismus unmittelbar nach dem Erscheinen des Buches der beiden Generäle in Umlauf gesetzt worden waren.

Der im Brunnenvergiften besonders erfahrene "Berliner Kurier", aber auch andere Irreführungsgazetten waren mit gehässigen Kommentaren und Unterstellungen in die ideologische Schlacht gezogen. Die Texte stammten augenscheinlich von Leuten, die das Buch entweder noch gar nicht gelesen oder seinen Inhalt geistig nicht verdaut hatten. Ihnen ging es allein um die Kriminalisierung der DDR.

Doch zurück zur Initialmeldung im ND. Heinz Keßler war für deren Verfasser lediglich ein "ranghoher Militär". Davon, daß dieser junge Arbeiter als Soldat der faschistischen Wehrmacht aufgrund seiner kommunistischen Erziehung im Elternhaus beim ersten Einsatz zur Roten Armee überlief, von den Faschisten daraufhin in Abwesenheit zum Tode verurteilt und nach dem Sieg der Konterrevolution durch die BRD-Rachejustiz jahrelang eingekerkert wurde, stand in der ND-Notiz allerdings nichts. Gut, es handelte sich ja nur um eine Kurzmeldung, mag man einwenden. Warum aber hebt das um ein linkes Image bemühte Blatt einen Mann wie Heinz Keßler nicht als einen der wahren Helden, den alle deutschen Antifaschisten als Vorbild betrachten können, auf seinen Schild?

Wer das Buch ganz gelesen hat, versteht noch besser, daß es vor allem politische Gründe waren, welche die DDR vor 50 Jahren zur Grenzschließung zwangen. Keßler und Streletz sind fast die letzten Ohren- und Augenzeugen, die alle Aspekte der Vorbereitung und des Vollzugs der am 13. August ergriffenen Maßnahmen in höchsten Gremien und vor Ort mitberaten und miterlebt haben. Bei der Lektüre stellt man fest, daß es ihnen weder an kritischem Einschätzungsvermögen noch an der Bereitschaft zu Schlußfolgerungen mangelt. So betrachtet, stellt das Buch keine Rechtfertigung, sondern eine nüchterne Analyse von politischen Zwängen dar, die zum Bau der Mauer geführt haben.

Es wäre an der Zeit, daß im ND und anderen Publikationen, die sich selbst als linksorientiert betrachten, mehr Positives über das wirkliche Leben in der DDR und deren Entwicklung berichtet würde. Bisweilen scheint es, daß der im Westen sozialisierte ND-Chefredakteur Jürgen Reents in seinen Artikeln mehr um Objektivität und Differenziertheit bemüht ist als so mancher stromlinienförmige Aufsteiger aus DDR-Tagen.

Das Buch von Heinz Keßler und Fritz Streletz ist für alle, die sich eine realistische und wahrheitsgemäße Geschichtsaufarbeitung - um dieses Modewort einmal zu gebrauchen - mit Blick auf beide Staaten zum Ziel setzen, eine wahre Goldgrube.

Die Militärs mit politischem Kopf halten übrigens nicht mit ihrer Meinung zum Manövrieren gewisser PDL-Politiker hinter dem Berg. Sie schreiben zu Recht: "Die Linke wirft sich an jenem Datum pflichtschuldig ihr Büßerhemd über, trägt ihren Kranz in die Bernauer Straße und läßt sich dafür verhöhnen." Ist das etwa eine tendenziöse Verfälschung der Wahrheit? Wohl kaum. Leider gilt ja inzwischen bei einigen Funktionären der Linkspartei die Unsitte, angesichts gegnerischer Kritik in vorauseilendem Gehorsam zu versichern, man gehöre auf keinen Fall zu den Verehrern der DDR. Selbst wenn es um deren anerkannte Stärken wie das Gesundheitswesen und die Kinderbetreuung geht, verweisen sie sofort auf diesbezügliche Erfolge in Schweden, Dänemark oder anderswo, um ja nicht die Vorzüge der DDR darstellen zu müssen.

Am rezensierten Buch frappiert die rückhaltlose Offenheit. Dort heißt es zu den Gründen des Mauerbaus: "Mit den Maßnahmen zum 13. August wollte die Partei- und Staatsführung in einer Art Befreiungsschlag mit nicht mehr beherrschbaren Schwierigkeiten fertig werden. Was als Sieg gefeiert wurde, war in Wahrheit eine schwere Niederlage in der Systemauseinandersetzung auf deutschem Boden."

Damals diente ich in Potsdam-Geltow. Als Kommandeur der Offiziersschule kam ich regelmäßig mit Verantwortlichen des Rates des Bezirks und der SED-Bezirksleitung Potsdam zusammen. So erfuhr ich z. B., daß die ärztliche Versorgung im Sommer 1961 zu kollabieren drohte. Die bei uns ausgebildete Intelligenz wurde in großem Maßstab abgeworben. Spekulanten konnten die DDR bei offener Grenze regelrecht leerkaufen. Meißener Porzellan, Musikinstrumente und teure optische Geräte wurden im Osten extrem billig erworben und im Westen mit Riesengewinn veräußert, Kulturstätten und Restaurants von Westberlinern in einem solchen Maße frequentiert, daß für DDR-Bürger wenig Platz blieb.

Sollte sich die DDR angesichts einer solchen Situation als der westlichste Vorposten des sozialistischen Lagers etwa selbst aufgeben?, fragen die Autoren. Die UdSSR hätte sie damals den kapitalistischen Wölfen auf keinen Fall zum Fraß vorgeworfen. Das oblag 28 Jahre später dem Renegaten Gorbatschow.

Ungeachtet der 1989/90 erlittenen Niederlage bin ich stolz, ab 1948 am Aufbau der Kasernierten Volkspolizei teilgenommen und dann 30 Jahre in der NVA gedient zu haben - der einzigen deutschen Armee, die niemals an einem Krieg teilnahm. Auch dank der verantwortungsvollen Entscheidungen von Heinz Keßler und Fritz Streletz unterblieb 1989 jegliche Waffengwalt.

Oberstleutnant a. D. Günter Bartsch


Heinz Keßler, Fritz Streletz: Ohne die Mauer hätte es Krieg gegeben.
224 S., edition ost in der Eulenspiegel-Verlagsgruppe, Berlin 2011, 12,95 Euro

Raute

Man sollte sich weder zum Affen noch zum Schwein machen

Besier ist kein Baiser

Hoch über einem Halseisen an der Görlitzer Peterskirche befinden sich zwei kleine Figuren: ein Schwein und ein Affe. Wirst du nicht erwischt, sollen die besagen, hast du Schwein gehabt, wenn doch, dann machst du dich zum Affen. Zunächst wurden jene an den Pranger gestellt, welche über die Stränge der "guten Sitten" geschlagen hatten: Diebe und Betrüger, Lästerer und Verleumder. Erst später diente er vor allem der politischen Abschreckung. Von Daniel Defoe wird berichtet, er habe dieses Mißgeschick 1703 in London seiner Satiren wegen erfahren. Doch ein begeistertes Publikum soll ihn statt der erwünschten Eier- und Tomatenwürfe mit Blumen überhäuft haben.

Vielleicht kursierte diese Anekdote in der PDL-Fraktion, als sie sich in einer aktuellen Stunde des Sächsischen Landtags zum Thema "50. Jahrestag des Mauerbaus" aus freien Stücken selbst an den Pranger begab. Glaubte deren rund 20 Jahre nach dem 13. August 1961 geborene Abgeordnete Freya-Maria Klinger, die sich offenbar einen lupenreinen Sozialismus aus der Retorte wünscht, also die realen Gegebenheiten, historischen Zwänge und Verknüpfungen ausblendet, bei einem solchen Auditorium auf Verständnis zu stoßen? "Für den Mauerbau und das Unrecht in der DDR gibt es keine Rechtfertigung, keine moralische, keine politische, keine historische", gab die junge Dame von sich. Ihr platter Wortschwall ergänzte gewissermaßen die sorgsam gewählten Sätze in der Erklärung der Hysterischen, pardon: Historischen Kommission der PDL zum 50. Jahrestag des Baus der Berliner Mauer.

Bei Klaus Steinigers Leitartikel im "Rot-Fuchs" 163 ging es nicht nur um den 13. August 1961. Seine Analyse und die dem gleichen Heft beigelegte Hamburger Thälmann-Rede des Genossen Egon Krenz sind aus meiner Sicht die exaktesten Aussagen zu diesem umfassenderen Thema. Das liegt wohl daran, daß sich beide Autoren der materialistischen Geschichtsauffassung verschrieben haben, also mit den Füßen auf der Erde und mit dem Kopf der Zukunft zugewandt bleiben. Das sollte auch unser aller Herangehensweise sein.

Im Sächsischen Landtag und nicht nur dort ging und geht es indes keineswegs um die ständig im Munde geführte "Geschichtsaufarbeitung", auch nicht eigentlich um DDR, SED oder die Grenzziehung vor einem halben Jahrhundert, sondern einzig und allein um die Verächtlichmachung und moralische Vernichtung Linker weit über die Grenzen der PDL hinaus. Und ich weiß nicht, ob die "anthropologische Herangehensweise" eines Redners dieser Partei in der Debatte einfach nur populistische Zustimmungshascherei war oder ob sich der Akteur einmal mehr um Perfektion im Geschichtsverbiegen bemühen wollte: Prof. Dr. Dr. Dr. h.c. Gerhard Besier, vormals Chef des Dresdner Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismus-Forschung, erklärte namens der Fraktion Die Linke: "Sehen Sie, wir haben in der Bundesrepublik eine ganze Reihe großer Persönlichkeiten gehabt - Filbinger, Kiesinger, die alle Nationalsozialisten waren und dann als untadelige Demokraten gearbeitet haben. Es war nicht ihr konkretes Verhalten, sondern die Arbeit von investigativem Journalismus, von Historikern, die diese Menschen zu Fall gebracht hat. ... Es gehört nun einmal zum Wesen von Menschen, daß sie sich irren, und es gehört auch dazu, daß sie neu anfangen möchten."

So weit der Wortlaut. Wohlgemerkt: Der Redner sprach im Namen der PDL!

Filbinger - ein ehrenwerter Mann? Der faschistische Militär-Staatsanwalt und -Richter hatte an mindestens 234 Marinestrafverfahren mitgewirkt, dabei 169mal als Vorsitzender Richter amtiert, 63mal als Ankläger. In vier Prozessen war er an Todesurteilen beteiligt, die er zweimal beantragt und zweimal gefällt hatte.

Schon in britischer Gefangenschaft, verhängte er am 29. Mai 1945 - immer noch amtierend - über den Gefreiten Kurt Petzold sechs Monate Gefängnis für dessen Äußerung gegenüber einem hohen militärischen Vorgesetzten, der sich ebenfalls im Lager befand: "Ihr habt jetzt ausgeschissen, Ihr Nazi-Hunde! Ihr seid schuld an diesem Krieg!" Für Besiers "große Persönlichkeit" Hans Filbinger war das ein Fall von "Gehorsamsverweigerung und Erregung öffentlichen Ärgernisses". Ein anderer "ehrenwerter Mann" war der einstige CDU-Kanzler Kiesinger, unter dessen Ägide die Notstandsgesetze in der BRD eingeführt wurden. Er besaß die NSDAP-Mitgliedsnummer 2633930 und fungierte ab 1943 als Vizechef der Rundfunkpropaganda-Abteilung im Auswärtigen Amt des in Nürnberg gehenkten Ribbentrop. Kam bei Besiers empörenden Worten im Sächsischen Parlament etwa Unruhe auf, entstand Tumult, ertönten Pfiffe, hörte man Äußerungen der Entrüstung? Nichts dergleichen. "Beifall des Abgeordneten Andreas Storr, NPD", vermerkt das Protokoll.

Eine mutige Französin wie Beate Klarsfeld, die einst dem Bonner Nazikanzler Kiesinger ins Gesicht schlug, fehlte in diesem Sitzungssaal! So blieb es um Besier ruhig. Bevor der über den verflossenen Bonner Regierungschef ins Schwärmen gekommen war, hatte er die Geschichte eines Bischofs erzählt, der erst "Nationalsozialist" - in der Wortwahl des Redners -, dann Sozialist gewesen sei und nach der "Wende" begriffen habe, daß man auch den Sozialismus als ein verbrecherisches und falsches Regime betrachten müsse, die westliche Demokratie aber als das einzig richtige Gesellschaftssystem.

Aus "rein anthropologischer Sicht" wollte der wackere Abgeordnete der Linkspartei, der beim Hannah-Arendt-Institut die Geschäfte der Rechten besorgt hatte, offenbar sein parlamentarisches Publikum ruhigstellen: Schelten Sie doch bitte nicht unsere Partei! Auch wir haben uns gewandelt. Wir wollen Euch doch gar nichts tun! Unsere Vorgänger waren zwar eine Ansammlung totalitärer Schurken, wir aber haben uns - wie einst Filbinger und Kiesinger - inzwischen "gehäutet". Ein empörendes Spektakel!

Mein Fazit lautet: Eine Partei muß sich weder zum Affen noch zum Schwein machen, um Gehör zu finden. Popularität und Populismus sind zwei verschiedene Paar Schuhe. Blumen, wie sie einst Daniel Defoe von seinen Londoner Bewunderern erhielt, kann man mit derlei Besier-Beiträgen, die beileibe keine Sahne-Baisers sind, weder von Freunden noch von Gegnern erwarten, da beide darob eher zu Eiern und Tomaten greifen dürften.

Bernd Gutte, Görlitz

Raute

Ein lesenswertes Buch, das nicht hält, was der Titel verspricht

Verzicht auf "des Pudels Kern"

Sahra Wagenknechts neues Buch stellt einen hohen Anspruch und umreißt eine gewaltige Aufgabe. Ihre These "Freiheit statt Kapitalismus" steht im Raum, läßt aber noch manche Fragen offen.

Um welche Freiheit geht es? Ist es die Freiheit, die der einzelne proportional zu seinem Geldbeutel genießt, oder ist es die Freiheit, die jedem Menschen seine volle Selbstverwirklichung in der Gemeinschaft ermöglicht und garantiert? Oder ist es gar jene, welche Marx im Sinn hatte, als er formulierte: "Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört ..."

Freiheit von Ausbeutung? Wer und wo sind die Akteure, die sich der Aufgabe stellen? Sind es die Spekulanten, die eine Finanz- und Wirtschaftskrise nach der anderen inszenieren? Oder sind es die arbeitenden Menschen, die Lohnabhängigen, die von den kapitalistischen Winkelzügen überrumpelt wurden und sich erst zu richtiger Gegenwehr aufraffen müssen? Sie sind es schließlich, die sich der Möglichkeiten des Gemeineigentums bewußt werden können, sich als Miteigentümer empfinden und es aktiv auszugestalten vermögen.

Können die Auskünfte, die Sahra Wagenknecht dazu den Lesern gibt, diese zufriedenstellen?

Die Antwort darauf muß jeder selbst finden. Das Rohmaterial, das Gerüst des Projekts eines "kreativen Sozialismus" existiert in Gestalt von Vorschlägen. Dabei konzentrieren sich die Aussagen auf finanzwirtschaftliche Probleme. Die Dominanz dieser Gewichtung führt aber auch zu einer gewissen Einseitigkeit. Sie zeigt sich in der Nutzung von Begrifflichkeiten der "sozialen Marktwirtschaft" und bringt ein Gefangensein in den Kategorien der bürgerlichen Volkswirtschaftslehre an den Tag. Assoziationen zur Gedankenwelt bürgerlicher Nationalökonomen wie Schumpeter, Eucken und anderen bezeugen diese Wirkung. Daraus folgt, daß die von Sahra Wagenknecht angebotene Konzeption eine Art Vorläufigkeits- oder Übergangscharakter aufweist. Die Autorin strebt eine Ausschöpfung demokratischer Möglichkeiten in einer Gesellschaft mit Ansprüchen an sozialistische Erwartungen an. Das ist reichlich vage.

Manche Felder bleiben noch relativ unberührt. So z. B. die globalen Aspekte und in diesem Zusammenhang die Ungleichgewichte wirtschaftlicher Potentiale in der Welt, die Rolle der Gewerkschaften, die ökologischen Aspekte. Auch eine ethische Wertung klingt nur schwach an. Ausbeutung als charakteristisches Grundübel des Kapitalismus ist in dem Buch ein Tabu. Ihre Vereinbarkeit mit den Menschenrechten bleibt offen.

Im Detail gibt es konkrete Anregungen, daß auch die Medien zu den Allgemeingütern der Menschheit zu zählen wären - so wie Wasser oder Bildung. Aufschlußreiche und anschauliche Beispiele bei der Privatisierung auf solchen Gebieten beleben die Ausführungen.

Als Ziel gesellschaftlicher Entwicklung benennt Sahra Wagenknecht einen "kreativen Sozialismus". Sie sieht den Staat - im Unterschied zur Kommandowirtschaft der DDR - als Initiator für Innovation. Auch eine Facette von Planwirtschaft klingt an. Die Autorin plädiert daneben für "echte Unternehmer", die nach Schumpeter über Fakten mit Neuigkeitswert verfügen und durch Aussicht auf hohe Profite motiviert werden. So bewegen wir uns wieder in der Welt des Kapitals.

Mit und trotz ihrer Planwirtschaft hat die UdSSR bedeutende kreative Leistungen - leider zu wenige - erbracht. Dazu gehören nicht zuletzt die Aktivitäten bei der Weltraumerschließung, aber auch die Spitzenleistungen der Rüstungsindustrie, die für den Sieg über den Faschismus im II. Weltkrieg entscheidend waren, Bestleistungen auf dem Gebiet der Augenmedizin und vieles andere mehr.

Ungewöhnlich erscheint in der Argumentation zu finanz- und volkswirtschaftlichen Fragen der Bezug auf ausgesprochene Protagonisten der kapitalistischen Nationalökonomie wie Walter Eucken, den Begründer der Freiburger Schule und einen der theoretischen "Väter" des Neoliberalismus, oder J.A. Schumpeter, einen österreichisch-amerikanischen Wirtschaftsexperten, der u. a. durch die Auseinandersetzung seiner eigenen Theorie mit dem Marxismus bekannt ist. Partiell-kritische Ansätze zu eigenen bisherigen Anschauungen mögen Sahra Wagenknecht bewogen haben, deren Äußerungen zu nutzen.

Die ausgeprägte Bezugnahme auf die Genannten hat vermutlich zur Folge, daß bei ihr Erkenntnisse der marxistischen politischen Ökonomie nicht zur Geltung kommen. Dieser Sachverhalt zeigt sich z. B. darin, daß eine Berücksichtigung der Arbeitswerttheorie/Mehrwerttheorie unterbleibt. Das aber ist ein Grundbaustein der politischen Ökonomie. So wird auf eine wesentliche Erklärungsmöglichkeit für die Entstehung von Reichtum und Profit in der kapitalistischen Gesellschaft verzichtet. Die Nutzung des Erkenntnisstandes der bürgerlichliberalen Ökonomen erschwert zweifellos das Sich-Lösen vom herrschenden System. Offen bleibt auch die Antwort auf die Frage, warum Marx nahestehende Autoren wie Robert Kurz nicht zu Wort kommen. Marx selbst erscheint nur marginal. Auf den Fundus seiner Theorie wird ausdrücklich verzichtet. Der Rückgriff auf Marx ist jedoch unerläßlich, wenn man den Kategorien Kapital und Reichtum auf den Grund gehen will. Schumpeter u. a. operieren ständig mit dem Begriff Profit. Sahra Wagenknecht zitiert ihn: "Die Masse der Akkumulation stammt aus Profiten und setzt darum Profite voraus." Nicht erkennbar wird hier indes, daß ein wesentlicher Bestandteil des Profits der Mehrwert ist, der als Äquivalent für unbezahlte Arbeit in verdeckter Form auftritt. Also ist es erforderlich, Marx zu hören: Ein Produkt erhält seinen Wertanteil aus lebendiger Arbeit aus dem dafür erforderlichem Zeitaufwand bei vorgegebenen Arbeitsbedingungen. Dieser wird kostenmäßig abgedeckt durch 1. den Lohn, d. h. in Form des anteiligen Aufwands für die Erhaltung der menschlichen Existenz und ihres Arbeitsvermögens und 2. den Wertanteil, der sich in dessen Folge als den Lohn übersteigend erweist: den Mehrwert - ein Quantum unbezahlter Arbeit. Dieser Anteil geht in den Profit ein. Der Mehrwert wird zum "Reichtums-Produzenten". Marx stellt fest: "... daß Besitzer von Produktionsmitteln sich fremde Arbeit aneignen..." Dieser Vorgang erfolgt ohne rechtlichen Anspruch. Deshalb bezeichnet Marx den Mehrwert auch als Ausdruck der Ausbeutung. Der Vorgang ist unabhängig von der Größe des Unternehmens. Dieser Tatbestand gehört zu den fundamentalen Aussagen des Themas "Freiheit statt Kapitalismus".

Die Zweiteilung des Zeitaufwands in Lohn und Mehrwert ist Gegenstand ständiger Auseinandersetzungen zwischen Arbeitenden und Unternehmern. Sie erfolgt in Form des Tarifkampfes oder des Streiks. Dabei geht es um die Proportionen zwischen beiden Anteilen. Niedriglohn/Lohndumping führt zu höheren Profitbeträgen, Lohnerhöhungen aber mindern den Mehrwertteil bzw. den Profitbetrag. Diese Grundtatsache des Tarifkampfes allein ist schon der Nachweis der wissenschaftlichen Bestätigung der Marxschen Mehrwerttheorie.

Abschließend sei festgestellt, daß das Buch von Sahra Wagenknecht die Diskussion um eine vom Kapitalismus wegführende gesellschaftliche Entwicklung fördern und damit eine positive Wirkung erzeugen kann. Es läßt aber auch erkennen, daß es seinem Titel mit den angebotenen Lösungen nur zum Teil gerecht wird. Freiheit dürfte so nur bedingt und in begrenztem Maße erreichbar sein. Es fehlt - um mit Faust zu sprechen - "des Pudels Kern".

Heinz Gliemann, Wismar

Raute

ND-Feuilleton-Chef spricht von "Feier des kommunistischen Widerstands"

Sensibler gegenüber Opfern des Faschismus!

Den Beitrag "Nachtigall, ick hör Dir trapsen" von Günter Bartsch im August-RF kann ich nur begrüßen. Wird denn der Redaktion des ND überhaupt nicht bewußt, wessen Geschäfte manche in seinen Spalten besorgen? Ich hatte mit Feuilleton-Chef Hans-Dieter Schütt unlängst einen Briefwechsel wegen der permanenten Verzerrung geschichtlicher Realitäten der DDR und der Verhöhnung unseres Kampfes gegen den Faschismus. Am 6. Juli "interpretierte" er diesen in einem Artikel als "Zorn über proletarisches Leid unter Hitler und Feier des kommunistischen Widerstandes". Es war indes der Schwur von Buchenwald "Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg!", der von der DDR konsequent verwirklicht wurde. Die Ironisierung des profunden Antifaschismus des sozialistischen deutschen Staates läßt jede Sensibilität gegenüber den Opfern der Nazibarbarei vermissen.

1933 brachten die braunen Banditen meinen Vater zusammen mit anderen Kommunisten in ein SA-Lokal - den "Mörderkeller von Friedrichshain". Sie zerschlugen ihm dort die Nieren, steckten die Genossen in Särge und schossen mit Platzpatronen auf sie. Erst 1945 wurde mein Vater aus dem KZ Mauthausen befreit. Seine Frau, die in Weißensee Flugblätter mit der Warnung "Hitler - das ist der Krieg!" verteilt hatte, ging 1943 erst 38jährig zugrunde. Das ist das "proletarische Leid" des Herrn Schütt, der am 1. August mit dem geschichtsklitternden Beitrag "Schützen, Schützer und Schutzlose" zum "Mauerjubiläum" andere Renegaten noch übertraf.

Mir antwortete Schütt, er sei über meinen Brief betroffen, stehe aber zu jedem Wort, das er geschrieben habe. Bestimmte schmerzvolle Erfahrungen sollten "gerade in einer sozialistischen Tageszeitung diskutiert werden". Und dann formulierte er ganz "philosophisch": "Wenn es überhaupt eine gültige Wahrheit gibt, so kommen wir doch lediglich in die Nähe einer Annäherung" (an diese). Der zum antikommunistischen Starjournalisten Konvertierte will "ideologische Dogmen aus Geist und Gefühl nehmen". Wie diametral muß jemand seine weltanschauliche Position geändert oder sie zu DDR-Zeiten als Chefredakteur der "Jungen Welt" und Mitglied des Büros des FDJ-Zentralrats geheuchelt haben, um jetzt solches von sich zu geben! Es ist aber bedauerlich, wenn man das in einem sich als "Sozialistische Tageszeitung" bezeichnenden Blatt lesen muß. Da fragt man sich bisweilen: Ist das ND eigentlich noch ein linkes Presseorgan?

Ich stimme mit Günter Bartschs "Nachtigall" voll überein: Artikel wie jene von Schütt, welche allein auf die Diffamierung der DDR abzielen, sowie andere schäbige Versuche von "Rechten unter den Linken", an der gegnerischen Hetze zu partizipieren, führen - lassen wir sie gewähren - die PDL unweigerlich in die politische Bedeutungslosigkeit.

Egon Bethge, Berlin

Unser Autor war Stadtbezirksschulrat in Prenzlauer Berg.

Raute

Marxismus für Einsteiger - Imperialismus

Um die Frage, was unter "Imperialismus" zu verstehen ist, wird seit fast hundert Jahren gestritten - mit gutem Grund. Bürgerliche Theoretiker wie Opportunisten beteuern, er dürfe keineswegs als ein gesetzmäßiges Entwicklungsstadium der kapitalistischen Gesellschaftsformation verstanden werden. Karl Kautsky räumte zwar ein, Imperialismus sei tatsächlich ein Produkt des hochentwickelten Kapitalismus, aber man müsse ihn lediglich als "Drang" der industriellen kapitalistischen Nationen verstehen, sich ein immer größeres agrarisches Gebiet zu unterwerfen und anzugliedern, ohne Rücksicht darauf, von welchen Nationen es bewohnt werde. Möglich sei es zudem - so Kautsky weiter -, daß diese "Politik" in einen "Ultraimperialismus" hinüberwachse, in dem die kapitalistischen Staaten sich hinsichtlich der Verfügung über die Welt friedlich verständigen würden. Eine solche Deutung des Imperialismus, mitten im Ersten Weltkrieg, der um nichts anderes als um die "Neuaufteilung der Welt" geführt wurde, war opportunistisch und konterrevolutionär.

Lenin hat die Marxsche Analyse im "Kapital" unter grundlegend veränderten Bedingungen fortgeführt. In seinem Werk "Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus" charakterisierte er den Imperialismus als das monopolistische Stadium des Kapitalismus, und er hat sich strikt dagegen gewandt, ihn auf eine Spielart von Politik einzuengen. Fünf grundlegende Merkmale nennt seine Imperialismusdefinition: "1. Konzentration der Produktion und des Kapitals, die eine so hohe Entwicklungsstufe erreicht hat, daß sie Monopole schafft, die im Wirtschaftsleben die entscheidende Rolle spielen; 2. Verschmelzung des Bankkapitals mit dem Industriekapital und Entstehung einer Finanzoligarchie auf der Basis dieses 'Finanzkapitals'; 3. der Kapitalexport, zum Unterschied vom Warenexport, gewinnt besonders wichtige Bedeutung; 4. es bilden sich internationale monopolistische Kapitalistenverbände, die die Welt unter sich teilen, und 5. die territoriale Aufteilung der Erde unter die kapitalistischen Großmächte ist beendet." (LW, Band 22 / S. 270 f.)

Rekapitulieren wir den Geschichtsverlauf seit Beginn des 20. Jahrhunderts: Welche Theorie hat standgehalten? Angesichts der Finanz- und Wirtschaftskrisen, der jeglicher nationalen Kontrolle entzogenen "Multis", des Wettkampfs rivalisierender Blöcke um Absatzmärkte und knapper werdende Ressourcen, um die wie ehedem auch Krieg geführt wird, ist die Antwort eindeutig: Lenins Imperialismustheorie ist gültig.

Natürlich ist zu bedenken, daß gravierende Veränderungen eingetreten sind. Wenn heute sieben Milliarden Menschen den Erdball bevölkern, dann ist das gegenüber den knapp zwei Milliarden von damals nicht nur eine quantitative Steigerung, sondern eine neue Qualität. Die Umweltzerstörung wirft eine Fülle bisher ungekannter Probleme auf. Bislang hat der Imperialismus in seinen Kriegen Millionen Menschen umgebracht, aber die Menschheit als Ganzes konnte er nicht auslöschen. Heute stellt das eine reale Gefahr dar, die keineswegs gebannt ist. Damals gab es - auch angesichts der abgeschlossenen kolonialen Aufteilung der Welt - immer noch große Gebiete, in die "überschüssige" Menschen verpflanzt werden konnten. Bis ins 20. Jahrhundert hinein waren die Kapitalisten sogar noch dazu imstande, in beträchtlichem Ausmaß Angehörige der Arbeiterklasse in siedelnde Bauern zu verwandeln und so den Klassengegensatz von Kapital und Arbeit in den "Mutterländern" etwas zu entspannen. Das ist vorbei.

Es gibt also viele gewichtige Fragen, die allseitig zu analysieren sind. Mit dem Ansatz und mittels der bewährten theoretischen Prämissen von Marx und Lenin sind sie zu beantworten. Wiederum wird sich dabei erweisen: "Der Imperialismus ist ein besonderes historisches Stadium des Kapitalismus. Diese Besonderheit ist eine dreifache: der Imperialismus ist: 1. monopolistischer Kapitalismus; 2. parasitärer Kapitalismus; 3. sterbender Kapitalismus." (LW, 23/102)

Prof. Dr. Götz Dieckmann

Raute

Wie ein SS-Sturmbannführer die Berliner Humboldt-Universität von Antifaschisten "säubern" half

Krelles Kralle

Es ist ja keine Neuigkeit, daß in der BRD - dem Hort der Freiheit - Nazis mit Glacéhandschuhen angefaßt worden sind. In einigen Bereichen - so bei der Bundeswehr, den Geheimdiensten und im Auswärtigen Amt - standen sie geradezu unter Naturschutz.

Andererseits werden seit der Einverleibung der DDR in die Bundesrepublik Hoheitsträger des untergegangenen zweiten deutschen Staates bis heute dem Rufmord ausgesetzt und öffentlich gejagt. Im angeblich rot-rotregierten Brandenburg treibt das besondere Sumpfblüten. Dort erstreckt sich der deutsche McCarthyismus sogar auf Wehrpflichtige des MfS-Wachregiments "Feliks Dzierzynski". Dabei geben die Gauck-Birthler-Jahn-Behörde und Pseudohistoriker wie Knabe im Verein mit Boulevardblättern den Ton an.

Da muß man doch einfach mal den Finger auf die Wunden des vermeintlichen Rechtsstaates legen. An Beispielen für die Hege und Pflege von Nazis ist kein Mangel. Heute wollen wir bestimmte Vorgänge an der Berliner Humboldt-Universität etwas näher beleuchten. Dort wurde 1991 ein Gründungsdekan für den neuen Fachbereich Wirtschaftswissenschaften gefunden, der zugleich den Vorsitz in der Struktur- und Berufungskommission übernahm. Es handelte sich um den aus dem Westen importierten Professor Wilhelm Krelle, SS-Sturmbannführer und Wehrmachtsmajor. Der Mann vom Jahrgang 1916 - er starb 2004 - war Träger des Großen Bundesverdienstkreuzes.

Experte für Volkswirtschaftslehre, war Krelle indes nicht immer wissenschaftlich tätig. Seit 1935 Wehrmachtsoffizier, beteiligte er sich an der Naziokkupation Griechenlands und nahm an Rommels Afrika-Feldzug teil. 1944 wurde er zum Generalstab des VIII. SS-Korps - der späteren 17. SS-Panzergrenadierdivision "Götz von Berlichingen" - versetzt. In dieser für ihre besonders grausamen Kriegsverbrechen bekannten Formation stieg Krelle Anfang 1945 sogar noch zum 1. Generalstabsoffizier auf und war damit Stellvertreter des Divisionskommandeurs. Bis zur Kapitulation Hitlerdeutschlands stand er an vorderster Front für das Herrenmenschentum der Faschisten ein.

So war Krelle genau der richtige Mann, um im annektierten Osten für Ordnung zu sorgen. Bei seiner Aufnahme in die Strukturund Berufungskommission, die Anfang Februar 1991 erfolgte, verkündete er sein Credo: "Kein Marxist soll seinen Fuß über diese Schwelle setzen, solange ich hier bin."

In diesem Gremium war der SS-Generalstäbler für die Eliminierung dort tätiger Wissenschaftler mit DDR-"Belastung" verantwortlich. Er leistete ganze Arbeit: Die Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der HU übergab er 1993 nach seinen eigenen Worten "besenrein". Von ehemals 180 Hochschullehrern verblieben anfangs noch 20, später zehn. 170 Fakultätsangehörige wurden durch diesen Erzfaschisten aus "politisch-moralischen Gründen" wegen "Akzeptanz der Diktatur" oder "unzureichender wissenschaftlicher Qualifikation" auf die Straße geworfen.

Krelles fanatischer Antikommunismus trug für ihn Früchte. Obwohl der Kommission zur Verleihung der Ehrendoktorwürde die Verwicklung dieses Mannes in faschistische Verbrechen nicht unbekannt war, wurde ihm 1994 die sechste Ehrendoktorwürde - die der Humboldt-Universität - verliehen. In der Laudatio nannte man ihn "eine integre Persönlichkeit, die als Wissenschaftler und Mensch Vorbild für alle heranwachsenden Akademiker ist".

Die Personalentscheidung zugunsten Krelles offenbarte den sicheren Instinkt seiner Förderer. Sie hielten ihre Hand über einen Mann, der im Stab der erwähnten SS-Division wörtlich verfügt hatte: "Standgerichtsurteile sind grundsätzlich vor versammelter Mannschaft zu vollstrecken." Am 18. Januar 1945 forderte er in einem Durchhaltebefehl: "Bei Feigheit vor dem Feind ist von der Waffe Gebrauch zu machen." Als "kommandierender Demokrat" an die feindliche Humboldt-Universität entsandt, sah er rot und jagte die Roten.

Pikant wird es, wenn man die Berufung Krelles an die HU etwas näher ausleuchtet. Von 1990 bis 1992 war Prof. Heinrich Fink - ein antifaschistischer Theologe mit DDR-Hintergrund und PDS-Nähe - Rektor der hauptstädtischen Alma mater. Nach dessen Vertreibung wegen unterstellter IM-Tätigkeit trat die Westberlinerin Marlis Dürkop vom Bündnis 90/Die Grünen Finks Nachfolge an. Als Präsidentin der HU verlieh sie dem SS-Mann Krelle den ersten Ehrendoktorhut, welchen die nun von Marxisten gesäuberte Bildungsstätte zu vergeben hatte. Das war zugleich eine Art Selbstkrönung Frau Dürkops, die im Schnellgang Tausende Mitarbeiter ihres neuen Amtsbereichs entließ. Eine grüne Großtat! Doch auch die SPD hatte einen gehörigen Anteil bei der politisch motivierten "Abwicklung" hochbefähigter DDR-Wissenschaftler. Eine ins Auge gefaßte Rehabilitationsveranstaltung zur Aufarbeitung an der Humboldt-Universität seit 1990 begangenen Unrechts wurde vom Regierenden Bürgermeister Wowereit kurzerhand verboten.

Damit ist die Skandalgeschichte um den zum sechsfachen "Ehren"doktor aufgestiegenen SS-Sturmbannführer eigentlich abgeschlossen. Doch nicht ganz: Denn bis heute werden an der HU die Aspiranten ermahnt, in ihren Dissertationen lieber auf die Erwähnung von Marx oder gar Lenin zu verzichten, da sich sonst "Schwierigkeiten einstellen" könnten.

Die Lehre? Eines Tages muß wieder gründlich ausgemistet werden - auch an der Humboldt-Universität -, wo Krelles Kralle nicht nur brutal zugeschlagen hat, sondern seine "segensreiche Tätigkeit" bis heute nachwirkt.

Thomas Hentschel, Hoppegarten

Raute

Die angeblich humane Konzeption vom "bedingungslosen Grundeinkommen" ist zutiefst arbeiterfeindlich und reaktionär

Absage an Vollbeschäftigung

Über die Frage der Einführung eines "bedingungslosen Grundeinkommens" ist eine heftige Debatte entbrannt. Diese keineswegs neue oder BRD-spezifische "Idee" stellt eine Konzeption der Herrschenden dar, um die ungelösten und für sie unlösbaren Probleme in den Griff zu bekommen und zugleich zusätzliche Profitquellen zu erschließen.

Der Gedanke eines "bedingungslosen Grundeinkommens" wird von maßgeblichen Ideologen des Kapitals, so Götz Werner, ehemals Chef der Drogeriekette DM, vom Hamburger Weltwirtschaftsinstitut, führenden Leuten aus der Unternehmerpartei FDP, Führungsgremien der Grünen, die zu einer offen prokapitalistischen Partei mutiert sind, aber auch von einigen Spitzenpolitikern der Partei Die Linke, vor allem Katja Kipping, vehement vertreten. Bei dieser Forderung handelt es sich um eine zutiefst inhumane Konzeption, einen eklatanten Angriff auf die Rolle der Arbeit, durch die der Mensch erst zum Menschen wurde, wie Friedrich Engels in seiner Schrift "Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen" nachgewiesen hat. Attackiert wird die Arbeit als schöpferische Betätigung und Schaffung eines für die Gesellschaft wichtigen, von dieser anerkannten Ergebnisses. Angegriffen wird jener Bereich, in dem sich der Mensch als Persönlichkeit und als gesellschaftliches Wesen mit sozialen Beziehungen entwickelt.

Die zur Debatte stehende "Idee" richtet sich gegen die Erwerbssphäre des für den einzelnen und dessen Familie erforderlichen Einkommens zur Bestreitung des Lebensunterhalts. Ihre Befürworter behaupten, das "bedingungslose Grundeinkommens" sei eine Alternative zu Hartz IV. Diese These ist deshalb unrichtig, weil es sich in Wirklichkeit nur um zwei Seiten einer Medaille handelt.

Dabei beinhaltet Hartz IV immer noch die Option, eventuell in den Arbeitsprozeß zurückfinden zu können. Bei Alimentierung durch ein "bedingungsloses Grundeinkommen" erscheint dieser Weg von vornherein nicht mehr notwendig und damit verschlossen.

Das "Grundeinkommen" soll durch den Staat gezahlt werden. Damit geraten die Bürger in Abhängigkeit von den Machthabern, die jede Aktivität, sich gegen die Regierenden zur Wehr zu setzen, zu blockieren vermögen, da der Bezieher des "Grundeinkommens" dieses Privileg verlieren könnte.

Die Idee des "bedingungslosen Grundeinkommens" suggeriert, daß das Ziel einer Vollbeschäftigung endgültig aufgegeben worden ist. Es wird die Freiheit des einzelnen vorgegaukelt, darüber zu entscheiden, was er tun und lassen will: entweder weiter Arbeit zu suchen oder sich mit dem zufrieden zugeben, was ihm das "Grundeinkommen" bietet. Es geht also nicht mehr um den Kampf für eine existenzsichernde Arbeit, sondern nur noch um die Höhe der Alimentierung. Jeder erhält es, muß damit aber auch auskommen, wobei sich die Höhe des "Grundeinkommens" durch die jeweilige "Kassenlage" des Staates bestimmt.

Es gibt die Vorstellung, diese Bezüge mit Arbeitslohn für geringfügige Beschäftigung aufzustocken. Damit sind dem Lohndumping und den Minijobs Tür und Tor geöffnet. Die aber dienen direkt den kapitalistischen Unternehmern. Während der Staat für das "Grundeinkommen" zuständig ist, zahlt der Kapitalist nur das, wofür die "Aufstocker" sich zu verdingen bereit sind. Daraus folgt die Auffassung, die Schaffung neuer Jobs sei unwichtig. Arbeitsplätze brauche man nur für jene, welche zur Profiterzielung benötigt werden, der "Rest" werde mit "bedingungslosem Grundeinkommen" abgespeist.

Bei dem Gesamtvorhaben handelt es sich um eine aktuelle Variante des berüchtigten Konzepts "Brot und Spiele". Das "Grundeinkommen" ermöglicht den Kauf von Brot, die "Spiele" werden per Fernsehen, Rundfunk, Boulvardpresse und Trivialliteratur dazugeliefert, um die damit Bedachten ruhigzustellen. Das Ergebnis der "Spiele" ist ein weiteres Absinken des ohnehin im Tiefflug befindlichen Kulturniveaus. Viele suchen das Vergessen dann im Alkohol oder verfallen der Drogensucht.

Überdies wird den Leuten eingeredet, der einzelne könne sich so der kapitalistischen Ausbeutung entziehen. Motto: Wenn der Boß den Lohn, den ich will, nicht zu zahlen bereit ist, dann gehe ich eben gar nicht erst hin.

Die Konzeption des "bedingungslosen Grundeinkommens" ist auf die Spaltung der Werktätigen gerichtet: in einen Teil, der arbeitet und sich damit als "höherwertig" empfindet (und so empfinden soll!) und in einen anderen Teil, der vom "bedingungslosen Grundeinkommen" lebt - und der Verachtung jener anheimfällt, die noch Arbeit haben: "Ich muß das mit erwirtschaften, was die faulen Hunde bekommen, die nichts tun." Die Folge ist eine gewollte Entsolidarisierung, die Spaltung der Gesellschaft in Menschen "erster Klasse", die die Werte schaffen, und in solche "zweiter Klasse", die nur "schmarotzen". Die Konzeption des "bedingungslosen Grundeinkommens" zielt also auf die Schwächung der Gewerkschaften, für die nur noch jene interessant sein sollen, die in Lohn und Brot stehen. Wenn die Idee eines sogenannten Kombilohnes als Verbindung zwischen "bedingungslosem Grundeinkommen" und Ergänzung durch bezahlte Teilzeitarbeit suggeriert wird, bleibt kein Raum mehr für den Kampf um Flächentarifverträge. Ähnlich verhält es sich mit der dann ebenfalls "überflüssig" werdenden Forderung nach Mindestlöhnen. Schon heute vernimmt man aus Unternehmerkreisen die Auffassung, bei "bedingungslosem Grundeinkommen" würden die Arbeitslöhne extrem sinken. All das provoziert die Frage: Wozu bedarf es dann überhaupt noch der Gewerkschaften?

Aus marxistisch-leninistischer Sicht ist die Idee des " bedingungslosen Grundeinkommens" als zutiefst reaktionär abzulehnen. Sie entwertet den Menschen und dessen schöpferische Fähigkeiten, spaltet die Gesellschaft sozial noch tiefer in Arm und Reich, ermöglicht verstärkte Ausbeutung und ist eine neue Quelle für Maximalprofite.

Unser Ziel muß es sein, für alle die Möglichkeit zu schaffen, durch eigene Arbeit den Lebensunterhalt für sich und die Angehörigen zu verdienen.

Wenn in den produktiven Bereichen und im Dienstleistungssektor mit den heutigen Strukturen eine Vollbeschäftigung nicht mehr durchsetzbar ist, muß der Kampf um die Verkürzung der Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich geführt werden, um die vorhandene Arbeit auf breitere Schultern zu verteilen.

Das alles geht nicht durch "Reformierung des Kapitalismus". Dazu bedarf es der Überwindung des Systems. Aus sozialistisch-kommunistischer Sicht ist die Änderung der Macht- und Eigentumsverhältnisse das A und O.

Dr. Dr. Ernst Albrecht, Dormagen

Raute

Wie kapitalistische Baulöwen und Immobilienhaie kurzen Prozeß machen

Mieterverdrängung durch "Gentlemen"

Gerhard Schröders auf die Annexion der DDR folgende Agenda 2010 führte neben der "Liberalisierung" des Arbeitsmarktes auch die "Deregulierung" des Wohnungsmarktes ein. Hinter dem Rauchvorhang bedeutungsvoll klingender Vokabeln verbirgt sich die brutale Aggressivität des Kapitals. Sozialwohnungen im Westen wurden ebenso wie der volkseigene Wohnungsbestand im Osten an Leute verscherbelt, die heute allgemein als Immobilienhaie bezeichnet werden. Die kapitalistischen Schnäppchenjäger halten sich an keinerlei "Sozialbindungsklauseln" der Kaufverträge. Hoffnungslosigkeit und Not treiben junge Menschen auf ihrer Jobsuche aus dem Osten nach Westdeutschland oder ins EU-Ausland. Die Folge ist eine äußerst widersprüchliche demographische Tendenz: Einerseits entstanden Vergreisungs- und Abwanderungsgebiete mit ständig schwindender Infrastruktur, nicht zuletzt auf dem Gebiet der medizinischen Versorgung. Hier sind die Mieten trotz des Preisschocks der "Wende" bei enormen Leerständen immer noch relativ niedrig. Andererseits entwickelten sich ausgesprochene Boom-Zonen mit krassem Wohnungsmangel, Obdachlosigkeit, Bodenspekulation und Mietwucher ohne Ende.

Hintergrund dafür ist die systematische und programmierte Verdrängung von Geringverdienern und Sozialleistungs-Abhängigen in regelrechte Ghettos, Randlagen oder Abwanderungsregionen auf dem Lande. Denn wer gut bei Kasse ist, schätzt kurze Wege und City-Lagen.

So entsteht die aus den USA und Großbritannien schon seit längerem bekannte "Gentrification" - der rücksichtslose Stadtumbau zugunsten "junger, dynamischer Gutverdiener" mit hohem Steueraufkommen bei gleichzeitigem Ausschluß der als parasitär und ineffektiv abgestempelten Armen. Das genannte Wort soll von "Gents" (Abkürzung für Gentlemen) kommen, also gehobenes Bürgertum andeuten.

Wer in einer Stadt lebt, deren Einwohnerzahl unablässig zunimmt, erfährt sehr plastisch, wie sich die kapitalistischen Immobilienspekulanten um einen "positiven Bevölkerungszuwachs" der genannten Art bemühen. Grundsätzlich werden Statuten mit Schutzklauseln aufgehoben, um baurechtliche Bestimmungen zugunsten der "Gentrifizierung" und zu Lasten der Altanwohner und kleinen Hausbesitzer zu verändern. Die "Lückenbebauung" zur Einschränkung des "Aasens mit Flächen" führt zur gezielten Beseitigung noch vorhandenen Grünlandes im Weichbild der Städte und zwingt oft Anlieger, die in bescheidenen Eigenheimen leben, zu deren Verkauf.

Abschnitt für Abschnitt werden Altbaugürtel luxussaniert oder an "Projektbetreiber" vergeben, die anspruchsvolle Neubauten oder staatlich subventionierte "Öko-Häuser" errichten, während der bisherige Bestand abgerissen wird. Die Bausicherheit bleibt dabei auf der Strecke.

Sogenannte CO2-Zwangssanierungen sollen hauptsächlich auf die Mieter umgelegt werden, deren Rechte man der neuen Situation anpaßt oder - anders ausgedrückt - zurechtstutzt. Abrißprämien begünstigen Neubauvorhaben. Schon ein einziger Nobel-Bau im Viertel kann nämlich die Bodenpreise in die Höhe treiben, ebenso die Mieten. Hartz-IV-Bezieher, Geringverdiener, Rentner, Migranten und zunehmend sogar Berufstätige mittlerer Einkommensklassen verlieren dann ihr Dach über dem Kopf und werden zu Treibgut eines immer gnadenloseren "Wohnungsmarktes". Selbst schäbige Buden erweisen sich in einem solchen Umfeld oftmals als sündhaft teuer.

Die generelle Privatisierung und die Verabschiedung der Kommunen aus jedweder Wohnungspolitik, von sozialem Wohnungsbau, der längst aus der Mode gekommen ist, ganz zu schweigen, lassen die Quartierfrage vielerorts zum brennendsten Problem werden.

Durch die rasant steigenden Energiekosten können sich manche Mieter die Nutzung von Kühlschränken oder gar Herden nicht mehr leisten. Ihr Weg führt sie dann in die Armenküchen, zu den "Tafeln". Die Wohnkostenzuschüsse bei Hartz IV sind in vielen Fällen nicht kostendeckend. Betroffene sparen sich den Mehraufwand buchstäblich vom Munde ab. Diese ins Bodenlose abgesunkenen Bevölkerungsschichten haben immer weniger Chancen, im Falle der Kündigung eine neue Bleibe zu finden.

Es dreht sich also nicht nur um das Problem irgendwelcher "Milieu- oder Randgruppen" - Begriffe, derer sich Ausländerfeinde besonders gerne bedienen -, die sich ihre besondere Lebensumwelt erhalten möchten, sondern um ein zutiefst politisches Thema, das viele Ebenen wie den Arbeitsmarkt, die Nahversorgung, die Gesundheit und den Verkehr tangiert. Kurzum: Es handelt sich um eine Form des berüchtigten Sozial-Darwinismus im Stile Thilo Sarrazins.

Von der "Gentrifizierung" besonders hart betroffen sind die Städte Hamburg und Berlin. Während Initiativen in der Hansestadt gut mit der PDL kooperieren, bildete sich in der Hauptstadt nicht ohne Grund eine breite Front aus Verbänden und linken Gruppen heraus, die gegen den katastrophalen Senatskurs Front machten. Die Tatsache, daß schon Monate vor den Wahlen de facto feststand, daß die Koalition aus SPD und Linkspartei das Votum kaum überstehen würde, hat also ihre handfesten Gründe. Denn deren Politik war weder sozial noch sozialistisch, sondern diente vor allem den Baulöwen und Immobilienhaien. Für die Komplizenschaft mit ihnen war ein Preis zu zahlen. Kein Wunder, daß die Berliner PDL unter Wolf und Lederer Federn lassen mußte.

Jobst-Heinrich Müller, Lüneburg

Raute

Tills Daumenschrauben für Kleingärtner in Mecklenburg-Vorpommern

Kein Eulenspiegel-Streich

Vor etwa 650 Jahren lebte im Norden Deutschlands - genauer: im heutigen Schleswig-Holstein - ein frivoler und lustiger Mann namens Till Eulenspiegel. Die Leute des Landstrichs nannten ihn Till Uhlenspegel. Er narrte die Obrigkeit und vor allem die als Pfeffersäcke bezeichneten reichen Kaufleute zur Freude des einfachen Volkes. So die Legende.

Heute gibt es in Deutschlands Nordosten abermals einen Till. Nein, der alte ist keineswegs auferstanden. So etwas geschieht ja nur im Märchen oder in der Kirche. Dieser Till heißt mit Nachnamen Backhaus und war in Mecklenburg-Vorpommerns bisheriger Koalitionsregierung der durch die SPD benannte Minister für Landwirtschaft und Umwelt.

Was hat nun dieser Till mit den Kleingärtnern zu tun, von denen im folgenden die Rede sein soll? Kurzum: Er beschloß, sie fertigzumachen. Backhaus forcierte nämlich ein Gesetz zur Beseitigung von Abwasseranlagen aus DDR-Zeiten in Kleingärten und zu deren Erneuerung. Er versprach, es "mit Leben zu erfüllen".

Zunächst einmal sei gesagt, daß man Abwässer aus Kleingärten natürlich nicht mit der Menge, die in Wohnhaushalten anfällt, gleichsetzen kann. Diese haben ein ganzjähriges, kontinuierliches Abwasseraufkommen mit zum Teil erheblicher Verschmutzung durch Waschmaschinen, während die Abwassermengen aus Kleingärten sowohl vom Umfang als auch von der Belastung her im Vergleich mit Haushalten minimal sind. Sie fallen überdies nur in der Zeit zwischen Mai und September an.

Im Bundeskleingartengesetz vom 18. Dezember 2007 wurde die Besonderheit der DDR-Kleingärten berücksichtigt. Demzufolge haben auch Abwasseranlagen, die vor dem Inkrafttreten des sogenannten Einigungsvertrages geschaffen wurden, Bestandsschutz. Es kann der Landesregierung von M-V nicht dienlich sein, die zugesagte Existenzsicherung für Kleingärten durch zusätzliche Abwasserregelungen auszuhebeln. Eine neue Anlage kostet den einzelnen nämlich zwischen 3000 und 5000 €. Wir Kleingärtner der Anlage "Seeblick e. V." in Bützow betrachten diese Maßregel als ausgesprochen bürgerfeindlich.

Herr Backhaus lieferte den Kleingärtnern in M-V durch sein Verhalten den Beweis, daß auch er zu jenen zahlreichen Politikern gehört, die sich inzwischen als Lobbyisten von Industrie und Großgrundbesitz betätigen. Außerdem ist dieser sozialdemokratische Till Mitglied einer Reihe von Aufsichtsräten - zweifellos zum eigenen Vorteil. Er zählt zu jener Sorte von heute Tonangebenden, deren maßlose Arroganz von den meisten als unerträglich empfunden wird. In unserer Anlage, die 168 Gärten umfaßt, haben wir im Ergebnis einer vernünftigen Vorstandspolitik fast keinen Leerstand. Die vorhandene Fläche wird nahezu voll genutzt. Zu betonen ist, daß die Erholung im eigenen Garten derzeit fast die einzige Freude vieler Ostdeutscher ist, die von einem bescheidenen Gehalt leben müssen oder sogar "im Netz von Hartz IV aufgefangen werden". Ihre Mühen um eine "grüne Lunge" außerhalb der Stadt sollen nun auf gesetzlichem Wege zunichte gemacht werden. Jenen unter uns, welche von Beginn an in dem über 30 Jahre bestehenden Verein ihre Parzelle engagiert bewirtschaftet haben, könnte bald das Ende ihres kleinen Lebenswerkes drohen. Viele wären bei Anwendung des Gesetzes zur Aufgabe gezwungen, weil die bescheidene Rente oder oftmals auch der recht kümmerliche Lohn für die Finanzierung einer neuen Kläranlage kaum ausreichen dürfte. Auch viele junge Vereinsmitglieder fühlen sich verunsichert und könnten deshalb früher oder später ihre Gärten sausen lassen.

Ab 2013/14 beginnt nach heutigen Prognosen in M-V das große Gartensterben. Das Todesurteil wird von einer SPD-geführten Regierung im Schweriner Schloß vollstreckt. Es handelt sich um jene Partei, die unter Schröder einst die Agenda 2010 durchbrachte, von der Millionen einfache Menschen zu Bittstellern degradiert worden sind.

Hinter und neben unserer Anlage werden übrigens weitflächige Äcker von einem agrarischen Großbetrieb bewirtschaftet. Im Frühjahr und im Herbst läßt dieses kapitalistische Unternehmen Unmengen Gülle aus riesigen Behältern auf die Felder ab. Hinzu kommt der chemische Dünger. Doch sie drehen den Spieß um: Wir gelten als Umweltsünder, wenn wir unsere kleinen Kläranlagen nicht umrüsten lassen!

Die Äcker des Großbetriebes grenzen an zwei Binnengewässer - den Langen See und den Rühner See. Der Letztgenannte dient als Freibad mit bisher hervorragender Wasserqualität. Wie aber wird es in Zukunft dort aussehen? Herr Backhaus - unser neuer Till - hat nämlich den geforderten Abstand zum Gewässer drastisch herabgesetzt: Dünger und Gülle dürfen jetzt bis auf zwei Meter an den See verbracht werden. All das sind Ungereimtheiten, denen sich die Bevölkerung gegenübersieht. Doch ohne Unterlaß schwafelten Backhaus und seine Kumpane in der Landesregierung in höchsten Tönen von "Umweltpolitik". Übrigens hat der Minister bei unseren Schrebergärtnern längst seinen Namen weg: Sie sprechen nur noch vom "Gülle-Till".

Da unser Kleingartenverein lediglich Unterpächter ist, wir den Pachtzins also an die Alteigentümer abführen müssen, die nach dem Prinzip "Rückgabe vor Entschädigung" wieder über uns hergefallen sind, kann die Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden, daß Tills Unsinn am Ende im Interesse der Ausbeuter doch noch einen Sinn bekommt. Der bestünde nämlich darin, die Kleingärtner per Gesetz zu verjagen, sie legal zur Aufgabe ihrer Flächen zu zwingen. Das wäre für die wieder eingesetzten Alteigentümer äußerst lukrativ: Erhalten sie jetzt nur eine relativ geringe Pachtsumme, könnten sie dann die Flächen als Bauland deklarieren und für ein Vielfaches anbieten. Die landschaftliche Lage unseres Reviers ist nämlich für Eigenheime geradezu ideal, wobei auch die Verkehrsanbindungen nach Güstrow, Rostock, Wismar und zum Ostseebad Kühlungsborn sehr günstig sind.

Natürlich geht es bei all dem nicht nur um eine Kleingartenanlage, sondern im Grunde um viel mehr: eine Facette der Auslöschung des Erbes der DDR. Hinter all dem steht die SPD. Da hat die Option des Landesvorstandes M-V der Partei Die Linke, ausgerechnet mit dieser Partei eine Regierung bilden zu wollen, viel Staub aufgewirbelt. Prost Mahlzeit!

Rolf-Rüdiger Goga, Bützow

Raute

Sie krächzen immer noch das Lied vom "Unrechtsstaat"

Was ist Sache, Frau Sauer?

In Deutschland war ein sogenanntes Superwahljahr angesagt. Das bedeutete Wahlkampf ohne Ende. Ja, Wahlkrampf auch. Denn die neoliberalen Politiker von Tiefschwarz bis Blaßrosa wissen keine Antworten auf die drängenden Fragen von heute und auf die von morgen noch weniger.

Also zerrt man den schon hundertfach malträtierten Kadaver DDR wieder hervor und krächzt das Lied vom "Unrechtsstaat". Man muß ja ablenken vom Lebensalltag und das Wahlvolk wegleiten zu Neben-Kriegsschauplätzen, wo sie sich in den Schlachten von gestern doch verzetteln möchten. So die Hoffnung der Stichwortgeber.

Ich könnte nun nüchtern und streng wissenschaftlich zum juristischen Begriff des Rechtsstaates dozieren. Nur so viel sei gesagt: Er entstand im Kampf gegen die absolute Monarchie und die Willkürherrschaft des von unseren bunten Medien so idealisierten Adels. Seinerzeit galt das "L'etat c'est moi!" - "Der Staat bin ich!" - eines Ludwig XIV. selbst in der kleinsten deutschen Standesherrschaft. Rechtsstaat - das bedeutet seither in erster Linie "Verfassungsstaat"! Gesetze und Regierungstätigkeit sollten auf einer Verfassung beruhen und ihrem Geist oder Inhalt entsprechen.

Zum Rechtsstaat in diesem Sinne gehören neben den geschriebenen, allgemein verbindlichen Normen und Prozeßordnungen auch Gerichte, Staatsanwaltschaft und Anwaltskammer als dessen Organe. Das mag genügen.

Doch einen juristischen Begriff "Unrechtsstaat" gibt es nicht. Weder im Völkerrecht noch im innerstaatlichen deutschen Recht. "Unrechtsstaat" ist lediglich ein aus den Zeiten des Kalten Krieges überkommener politisch-ideologischer Kampfbegriff.

Aber unterstellen wir einmal, die DDR wäre tatsächlich ein Unrechtsstaat gewesen. Nach Meinung gewisser Politiker war sie ja gar kein Staat. Eine Partei habe sich illegal angemaßt, Staat sein zu wollen, behaupten diese.

Also, wenn das zuträfe mit dem "totalen Unrechtsstaat"...

Dann frage ich mal direkt: "Was ist Sache, Frau Sauer? Wie? Sie kennen Frau Sauer nicht? Sie ist fast zur gleichen Zeit wie ich geboren - sie in Hamburg, ich im benachbarten Mecklenburg. Nahezu zeitgleich legten wir in der DDR das Abitur ab, erwarben wir unsere akademischen Titel - den Doktorgrad und das Diplom - heirateten, ließen uns wieder scheiden.

Wenn also damals alles Unrecht war, dann wären unsere Abschlüsse, unsere Ehen, unsere Scheidungen ja gar nicht rechtsgültig. Denn sie beruhten ohne Ausnahme auf staatlichem Handeln, auf DDR-Recht.

Und ich überlege mal kurz, ob ich mich nicht doch noch als "Verfolgter des Unrechtsstaates" melden und materielle Wiedergutmachung verlangen sollte. Denn im Unterschied zu Frau Sauer gingen aus meiner Ehe Kinder hervor, und ein DDR-Gericht verurteilte mich zu jahrzehntelangen Unterhaltszahlungen ...

Eigentlich stellt sich sogar die Frage, ob ich überhaupt rechtmäßig existiere. Denn meine Geburtsurkunde wurde von staatlichen Organen der DDR ausgestellt. Im Gegensatz zu der von Frau Sauer, die ja das rechtsstaatliche Hamburger Siegel trägt.

Genügt das, um den Unsinn vom Gegeifer über den "Unrechtsstaat DDR"' zu erfassen? Denn solche Konsequenzen müßte man bei Anerkennung des politischen Kampfbegriffs vom "totalen Unrechtsstaat" ja ziehen.

Einigen wir uns lieber mit gesundem Menschenverstand darauf: Zu jeder Zeit gab und gibt es rund um den Erdball und in allen Staaten privates und staatliches Unrecht. Und auch darauf, daß Gerechtigkeit und Recht zwei verschiedene Dinge sind. Ach so, Sie wissen immer noch nicht, wer Frau Sauer ist? Ganz einfach: Sie ist unser aller Kanzlerin, Angela geborene Kassner, die Hamburger Pastorentochter, in der DDR verehelichte Merkel und unter diesem Namen promoviert. Später - zu BRD-Zeiten - schloß sie die Ehe mit Professor Sauer. Nach der kruden Logik der Unrechtsstaatler wäre diese folglich die einzig rechtmäßige Verbindung ... mit dem einzig gültigen Familiennamen.

Statt sauer zu sein, wenden wir uns wieder dem Hier und Heute in der Erkenntnis zu, daß es keine Unrechtsstaaten gibt, sondern nur Staaten, in denen die Rechtsstaatlichkeit unterschiedlich ausgeprägt oder entwickelt ist.

Siegfried R. Krebs, Legefeld


Diesen leicht redigierten Kommentar unseres Autors übertrug Weimars Stadtsender "Radio Lotte" bereits 2009.

Raute

Hintergründiges und Doppelsinniges zu einem Wortspiel

Ohne Steuer keine Heuer

Welcher Beruf kann ehrenhafter sein als der eines Steuermannes? Bei einem großen Passagierschiff sind ihm Hunderte Menschenleben anvertraut. Seeoffiziere zeigen sich an Deck in ihrer schmucken Uniform indes recht gelassen. Auch Busfahrer geben sich hinter ihrem Steuerrad eher entspannt. Dabei ist es eine Kunst, solche Fahrzeuge mit vielen Insassen zu steuern. Wird das Wort "Steuern" allerdings mit großen Anfangsbuchstaben geschrieben, ist das eine ganz andere Sache. Ohne Steuer keine Heuer, heißt es. Steuern beherrschen das ganze Leben. Kaum auszudenken, was mit ihnen alles berappt werden muß: zuvörderst der "Apparat" - zu Zeiten unseres "Realexistierenden" sagte man dazu "Nomenklatura". Hinzu kommen erhebliche Ausgaben für die verschiedensten Zwecke. So gehört auch das äußerst aufwendige Kriegführen der BRD inzwischen zum Alltag. Man offeriert es als "deutsche Einsätze in Friedenszeiten". Steuern dienen dem Unterhalt einer "Einsatztruppe" mit "Frontzuschlag". Auch für die Milliarden verschlingende "Bankenrettung" in Schulden versinkender Staatsschiffe muß der Steuerzahler aufkommen. Unablässig schnürt die EU ihre "Rettungspakete". Es geht um die Reanimation immer neuer Staatsorganismen.

Die DDR ist - kaum zu glauben - schon vor 21 Jahren durch das Kapital vereinnahmt worden. Eigentlich war sie ja bereits im Jahr zuvor gestorben. Die einen geben dazu Schwarzbücher zum Anschwärzen heraus, erfreuen sich der errungenen "Freiheit", genießen den soundsovielten "Wahlgang" und die "breite Pressepalette". Sie verteufeln mit Beharrlichkeit rückwirkend die DDR, wodurch sie bis auf den heutigen Tag in aller Munde geblieben ist. Andere werden von ihren eigenen Gesinnungsgenossen oder solchen, die sich dafür ausgeben, genötigt, sich zu outen. So mancher Wohlwollende erklärt jovial: "Es war ja nicht alles schlecht in der DDR." Wir setzen dem entgegen: "Es war nicht alles gut in ihr." Die "Tribüne für Kommunisten und Sozialisten in Deutschland", unser "RotFuchs", ist der geeignete Ort für eine differenzierte Darstellung.

Doch bleiben wir beim Steuern; Programmgesteuerte Werkzeugmaschinen hatten wir nach dem Krieg noch nicht. Und das Steuer des Staates war leider nicht immer in den Händen der geeignetsten Steuerleute.

Dafür blieben wir "dem Westen" auf anderen Gebieten haushoch überlegen. Bisweilen wird verkannt, daß in der DDR absoluter Kündigungsschutz bestand, was darauf hinauslief, daß praktisch niemand "gefeuert" werden konnte. Das war eine Adelung des berufstätigen Menschen. Wohldurchdacht ging es auch auf anderen Gebieten zu, wobei wir wieder bei den Steuern wären. Hatte man z. B. irgendwo eine "Mucke" gemacht - einen legitimen Nebenverdienst -, dann wurde die zu zahlende Steuer von 20 Prozent bei der Auszahlung gleich einbehalten. Man bekam also den Nettobetrag auf die Hand, und der Staat erhielt seinen Anteil nicht erst im Jahr darauf, sondern sofort. Genauso simpel ging es bei der Lohnsteuer zu. Wir sehen, wie einfach es doch sein kann und wie umständlich das im bundesdeutschen Alltag gehandhabt wird: Dort zieht man den angesetzten Steuerbetrag zunächst nicht ab, fordert ihn aber dann per Steuererklärung ein. Ein komplizierter Vorgang, der Tonnen Papier kostet.

Auch die Rentner hatten es in der DDR leichter. Sie waren von Steuern befreit. Heute ist ihr oberster Lehnsherr das Finanzamt - wegen der Steuern.

Walter Ruge, Potsdam


Unser Autor (96) war Verantwortlicher für Öffentlichkeitsarbeit der Kommission Radwandern im DDR-Radsportverband.

Raute

Täve Schur in der Ehrengalerie des Sportmuseums Marzahn

Einer, der sich aufs Steuern versteht

Es war "nur" ein fester Händedruck zwischen uns am Eingang des Marzahner Sportmuseums, wo Täve als gefeierter Gast an einer Veranstaltung der Berliner "RotFuchs"-Freunde teilnahm, zu der sich auch zahlreiche Sportsenioren und andere Gleichgesinnte eingefunden hatten. Indes: Ich empfand Nähe und Solidarität, als ob ich ihn schon ein Leben lang kennen würde. Und das war ja auch so.

Seit 1952 führte die Friedensfahrt Warschau-Prag auch über DDR-Gebiet. Und wir Lausitzer waren fast immer irgendwie in Streckennähe dieses spannenden, von Jahr zu Jahr attraktiver werdenden Radsportereignisses. Es ging um Blaue Trikots für die beste Mannschaft, ums "Gelbe" für den besten Einzelfahrer, vor allem aber um den Frieden. Unsere DDR-Jungen waren stets dabei.

Echte Vorbilder, gewissermaßen "zum Anfassen", gab es für uns Kinder und Jugendliche in der ersten Nachkriegszeit recht selten. So wurde dieses "greifbare" Sportereignis Gegenstand unserer Träume und Phantasien. Wir bezogen die "Stars" der Friedensfahrt in unser Spiel ein und eiferten Täve Schur, dem besten Rennfahrer der DDR, nach. So, als sei man er, radelte man spielerisch an die Strecke, um ihn und seine Sportkameraden anzufeuern. Oder man wartete im Stadion auf die Etappenankunft.

Das DDR-Fernsehen brachte uns dann Täve noch näher. Seine Gesamtsiege in der Friedensfahrt, seine Weltmeistertitel, sein Engagement für den Sport in leitenden Gremien, seine Wahl in die Volkskammer machten ihn für viele zu einer Identifikationsfigur.

Täve ließ sich in seiner Weltanschauung nicht beirren, als die DDR unterging. Vier Jahre gehörte er für die PDS dem Bundestag an. So brachte er es bis ins Tiefgeschoß des Reichstagsgebäudes, wo alle bisher gewählten Abgeordneten verewigt sind. Eine Aufnahme in die "Hall of Fame" des deutschen Sports verwehrte man dem Sport-Idol. Schuld daran war seine Treue zur DDR.

Am 15. Juli, bei der "RotFuchs"-Veranstaltung im Sportmuseum ließ er wissen, daß ihm eine solche Behandlung durch jene nichts ausmache. Von der Auswahlkommission der "Sportehrenhalle" verschmäht, wurde Täve an jenem Abend unter stürmischem Applaus in die Ehrengalerie des Sportmuseums Marzahn aufgenommen. Glückwunsch!

Eberhard Rebohle

Raute

Bernard Koenen bewährte sich als Kommunist an vielen Fronten

Als 600 Nazi-Schläger in Eisleben anrückten

Bernard Koenens Vater war Tischler in Hamburg und gehörte schon früh zu den Sozialdemokraten. Er war viele Jahre Mitglied des Parteivorstandes der SPD und eng mit August Bebel, Clara Zetkin und Paul Singer befreundet. Auch nahm er am Gründungskongreß der II. Internationale 1889 in Paris teil. Am 17. Februar jenes Jahres kam Bernard in der Hansestadt zur Welt. Da auch die Mutter die Überzeugung ihres Mannes teilte, war gewissermaßen vorgezeichnet, wie die Erziehung der beiden Söhne erfolgen würde.

Bernard erlernte nach der Volksschule den Beruf eines Maschinenschlossers und Drehers. Schon im Kindesalter wurde er mit der Politik vertraut, begleitete die Eltern zu Versammlungen und Kundgebungen. Und als am 17. Januar 1906 dann 80.000 Arbeiterinnen und Arbeiter in Hamburg zum ersten politischen Massenstreik auf die Straße gingen, war das junge Gewerkschaftsmitglied Bernard dabei. Ein Jahr später ging der frischgebackene Geselle auf Wanderschaft. Sein Weg führte ihn zuerst nach Kiel, wo er der SPD beitrat, danach in die Schweiz, nach Frankreich, Tunesien und schließlich Ägypten. An jedem Ort studierte er aufmerksam die Lage der arbeitenden Menschen und stieß überall auf Ausbeutung, Not und Elend der Proletarier. Als er 1910 in seine Heimatstadt zurückkehrte, holte ihn der "Kaiser" zum Wehrdienst. Nach zwei Jahren aus der Infanterie entlassen, erhielt er bei der Leipziger Firma Bleichert & Co eine Anstellung als Auslandsmonteur, die ihn nach Dänemark, Holland, Belgien und Frankreich führte. Wenige Wochen nach Beginn des 1. Weltkrieges fand er sich in den Schützengräben der Westfront wieder. Darüber empört, daß die SPD-Führung diesem Krieg des deutschen Kapitals zugestimmt hatte, widersetzte sich Bernard Koenen, wo immer möglich, den Befehlen der bürgerlichadligen Offiziere und machte unter seinen Kameraden Stimmung gegen das Blutvergießen. Er verteilte politische Schriften, die ihm sein Bruder Wilhelm, der Redakteur beim "Volksblatt" in Halle/Saale war, zuschickte. Da er sich nicht disziplinieren ließ, versetzte man ihn zuerst in ein Arbeitskommando im Hinterland, später zum Aufbau der kriegswichtigen Leuna-Werke bei Merseburg. Seitdem wurde das südliche Sachsen-Anhalt zu seiner zweiten Heimat und politischen Wirkungsstätte.

Inzwischen zur USPD übergewechselt, stürzte sich Bernard Koenen sofort in die Überzeugungsarbeit unter der Leuna-Belegschaft, deren Vertrauen er schnell gewann. Die Kollegen wählten ihn zum stellvertretenden Vorsitzenden ihres Arbeiterrates, was es ihm erleichterte, Partei- und Gewerkschaftsorganisationen auf den Baustellen und in den Produktionsbereichen zu bilden. Führend beteiligt war er, als im Sommer 1917 rund 12 000 seiner Kollegen in einen Streik traten, bei dem es nicht nur um höhere Löhne, sondern auch um Friedensforderungen ging. Im November/Dezember 1918 suchte er, entrüstet über den Verrat der Ebert, Scheidemann und Noske an der Revolution, engeren Kontakt zu Genossen der sich gerade gründenden Kommunistischen Partei Deutschlands. Mit ihnen vollzog er nach erfolgreicher Abwehr des Kapp-Putsches die Vereinigung der revolutionären Kräfte von USPD und KPD im Dezember 1920. Als die bürgerlich-sozialdemokratische Reaktion drei Monate später mit Waffengewalt die Arbeiterbewegung Mitteldeutschlands zerschlagen wollte - sie ermordete über 30 Arbeiter und ließ Hunderte zu Festungs- und Zuchthausstrafen verurteilen - stand Bernard Koenen an der Seite derer von Mansfeld-Eisleben und Leuna. Dafür feuerten ihn die IG-Farben-Bosse, denen die Leuna-Werke gehörten, und setzten ihn auf die "schwarze Liste".

Von da an widmete er sein Leben ganz und gar der Partei. Als KPD- Delegierter nahm er in Moskau am III. Weltkongreß der Kommunistischen Internationale teil und hatte Gelegenheit, Lenin über den Kampf der Arbeiter in Mitteldeutschland zu berichten. Zurückgekehrt nahm er seine Tätigkeit in der Stadtverordnetenversammlung von Merseburg, als Abgeordneter des Sächsischen Landtags und Mitglied des Preußischen Staatsrates auf. Zugleich war er Parteifunktionär: Sekretär der Bezirksleitung Halle-Merseburg, Redakteur ihrer Zeitung "Klassenkampf", Dozent an der Parteischule in Tambach-Dietharz und Mitglied des Zentralausschusses der KPD.

Wie überall unterstützten und förderten auch Mitteldeutschlands Kapitalisten und Junker die Nazis. Kaum waren diese an der Macht, gingen sie mit äußerster Brutalität gegen die KPD und deren Funktionäre in dieser revolutionären Hochburg vor. Als Bernard Koenen am 12. Februar 1933 an einer Parteiversammlung in Eisleben teilnahm, rückten etwa 600 SA- und SS-Schläger an. Sie ermordeten drei Arbeiter und verletzten Dutzende schwer. Die Genossen konnten Bernard in Sicherheit bringen. Ein jüdischer Arzt in Leipzig verhalf dem grausam Mißhandelten zur Genesung. Um ihn zu schützen, schickte ihn die Partei mit seiner Familie ins sowjetische Exil. Dort stellte er sein Wissen und seine Fähigkeiten bis zum Sieg über den Faschismus in den Dienst internationaler Organisationen, des Deutschen Volkssenders, des Nationalkomitees "Freies Deutschland" und vor allem des ZK der KPD, in das er 1943 gewählt worden war. Den Wunsch seiner Söhne Viktor und Alfred, in der Sowjetarmee zu dienen, unterstützte er nachdrücklich. Während Viktor als Kämpfer hinter den feindlichen Linien fiel, wurde Alfred später Offizier der NVA der DDR.

Im Mai 1945 gehörte Bernard Koenen zu jenen Antifaschisten, die als erste nach Deutschland zurückkehrten. Er unterschrieb den Aufruf der KPD vom 11. Juni, mit dem die Partei dem deutschen Volk ihre Vorstellungen von einer friedlichen und demokratischen Zukunft vermittelte. Er ging sofort ans Werk, dieses Programm in die Tat umzusetzen. Als KPD-Vorsitzender im wichtigen Industriezentrum Sachsen-Anhalt sorgte er mit seinen Genossen für die Verwirklichung der Bodenreform, die Entmachtung des Großkapitals, die Umgestaltung des Bildungswesens und der Justiz sowie die Formierung neuer Machtorgane. Gemeinsam mit dem SPD-Landesvorsitzenden Bruno Böttge trug Bernard Koenen entscheidend zur Vereinigung beider Arbeiterparteien zwischen Altmark und Weißenfels-Zeitzer Kohlerevier bei. Bis 1953 nahm er wichtige Funktionen in der Partei wahr: Er gehörte dem Parteivorstand und dem Zentralkomitee der SED, aber auch staatlichen Institutionen und parlamentarischen Gremien wie der Deutschen Wirtschaftskommission und der Volkskammer an. 1953 folgte er Fritz Große auf den Posten des DDR-Botschafters in der CSSR. Ab 1958 stand er dann wieder an der Spitze der Hallenser SED-Bezirksleitung, bis er 1963 aufgrund seines Alters ausschied. 1960 wurde Bernard Koenen noch die Ehre seiner Wahl in den Staatsrat - das höchste Organ der Arbeiter-und-Bauern-Macht der DDR - zuteil.

Der legendäre Arbeiterführer starb am 30. April 1964.

Günter Freyer

Raute

Wie das deutsche Kapital ertrinkenden Volkswirtschaften zu Hilfe eilt

Würgeschlingen als "Rettungsringe"

Eine Pressenotiz, Joseph Ackermann sei möglicherweise auf dem Weg nach Athen, um den griechischen Regierungschef bei der Krisenbewältigung zu beraten, erinnerte mich an einen Vorgang, der mehr als 20 Jahre zurückliegt. Der Chef der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen, war damals vom mexikanischen Präsidenten gebeten worden, nach einer USA-Reise bei ihm "reinzuschauen". Dessen dringendes Anliegen bestand darin, die Deutsche Bank zum Verzicht auf die Rückzahlung eines Teils der seinem Land gewährten Kredite zu bewegen. Der Mexikaner führte dem Deutschen die wirtschaftliche Misere seines Landes vor Augen, die "revolutionäre Verwerfungen" auslösen könne. Die USA hätten Mexiko indirekt gezwungen, Mais zu importieren, obwohl die heimische Landwirtschaft genügend davon produziere. Die Importpreise für Mais lägen jedoch unter den Erzeugungskosten der mexikanischen Bauern. Das führe dazu, daß sie den eigenen Anbau einstellen müßten.

Der Präsident betonte, die USA sträubten sich, Mexiko aus der Schuldenfalle herauszuhelfen und übten negativen Einfluß auf Weltbank und Internationalen Währungsfonds aus. So bitte er den Chef der Deutschen Bank, ein Entgegenkommen zu erwägen und Kanzler Kohl entsprechend zu informieren.

Herrhausen wies den Präsidenten darauf hin, daß ein Alleingang der Deutschen Bank nichts brächte, weil dadurch andere Gläubigerstaaten davon abgehalten werden könnten, ihrerseits mit einzuspringen. Nach Verhandlungen Herrhausens mit den USA und den zentralen Geldinstituten erfolgte tatsächlich ein Teilerlaß von Schulden Mexikos und anderer in einer ähnlichen Lage befindlicher Länder.

Die Deutsche Bank beteiligte sich daran nicht aus humanitären Gründen, sondern verfolgte eine raffinierte Geschäftsidee. Sie hatte nämlich die aus einem Forderungsverzicht entstehenden Kapitalverluste bereits abgeschrieben. Im Gegensatz zu USA-Banken und Kreditinstituten anderer Länder, die nicht auf diesen Gedanken gekommen waren, ging die Deutsche Bank aus der Affäre finanziell gestärkt hervor und setzte sogar ihre Aufkaufs- oder Beteiligungspläne in bezug auf internationale Investbanken durch.

Übrigens verbesserte sich die Lage der verschuldeten Länder einschließlich Mexikos nicht. Die 26 Staaten, denen der Internationale Währungsfonds unter die Arme griff, standen auch fortan vor einem weiter wachsenden Schuldenberg. Der stieg von 47 Mrd. Dollar (1980) auf 159 Mrd. (1990) an und betrug 1999 bereits 169 Mrd. Dollar. Mexiko blieb mit 96 Mrd. Dollar der weltweit größte Schuldner. In den 80er Jahren gewährte der IWF dem Land Zusatzkredite von 18 Mrd. Dollar. Davon mußte Mexiko allein 12 Mrd. Dollar für den Schuldendienst aufwenden. So ging ein erheblicher Teil seines Nationaleinkommens an ausländisches Finanzkapital.

Griechenlands heutige Situation ist mit der Mexikos vergleichbar. Neu ist lediglich, daß die Ausbeutungsverhältnisse innerhalb der großen Wirtschaftsblöcke eskalieren. Wie in den nationalen Konzernen die Widersprüche zwischen den Eigentümern der Produktionsmittel und der Masse der Produzenten an Schärfe zunehmen, geschieht das auch im Verhältnis starker und schwächerer Volkswirtschaften. In den ökonomisch labilen Ländern trifft die Verarmung immer größere Teile der Bevölkerung. Die Griechen bekommen die doppelte Ausbeutung drastisch zu spüren.

Seit 2008 geht in Hellas das Inlandsprodukt ständig zurück. Die Löhne wurden im Schnitt um 20 % gekürzt. Die Arbeitslosigkeit stieg auf 16 %. Weniger als ein Drittel der Erwerbslosen erhält staatliche Unterstützung. Die von der EU erzwungenen Sparmaßnahmen betreffen Löhne, Gehälter, Sozialleistungen und Investitionen. Sie sollen 8 % der Wirtschaftskraft des Landes lahmlegen. Die Folgen davon treffen die Beamtenschaft und die gesamte Gesellschaft. Nur die Ausgaben für Militär und Polizei sollen nicht eingeschränkt werden.

Offenbar ist man in Brüssel der Ansicht, daß sich derzeit aus den Griechen auf direktem Wege nicht mehr herauspressen läßt, ohne die Machtverhältnisse zu gefährden. Hinzu kommt die Furcht, daß nach Irland auch Spanien und Portugal das Schicksal Griechenlands teilen könnten. Dennoch war Angela Merkel bemüht, Athen zur Heraufsetzung des Rentenalters zu bewegen. Eine Abwertung des Euro oder den Ausschluß Griechenlands aus der Währungsunion halten die Gläubigerstaaten derzeit für unzweckmäßig. Die Gewinner könnten sich damit selbst den Boden für sichere Ausbeutungsverhältnisse entziehen. Die Eurozone wurde ja mit dem Ziel geschaffen, über Kapitalexport und Handel ungehinderte Zugriffsmöglichkeiten auf die Nationaleinkommen der schwächeren Länder zu erhalten.

Am wenigsten besteht Interesse daran, Griechenland in den offenen Konkurs zu treiben. Andererseits malt man in Brüssel solche Gespenster an die Wand, um der Bevölkerung in den Gläubigerländern Angst zu machen und deren Widerstand gegen die Reduzierung der eigenen Arbeitseinkünfte und Sozialleistungen abzubauen.

Sogenannte Rating-Agenturen, die sich anmaßen, den Wert einer Volkswirtschaft zu taxieren, steuern demgegenüber einen anderen Kurs. Sie versuchen, die großen Wirtschaftsblöcke gegeneinander auszuspielen und den Euro zu schwächen. Bekanntlich navigieren auch die USA finanzpolitisch in äußerst stürmischen Gewässern. Die Obama-Administration konnte nur um den Preis einer drastischen Erhöhung der Schuldenobergrenze und einer erheblichen Absenkung des Lebensstandards der USA-Bevölkerung vorerst der Zahlungsunfähigkeit ihres Staates ausweichen. In dieser Situation käme Washington eine europaweite Ausdehnung der Wirtschafts- und Finanzkrise sehr gelegen.

Worauf läuft der EU-Rettungsschirm für Hellas und andere betroffene Länder hinaus? Erstens auf die Sicherung der aus den Geschäften mit Griechenland bereits erzielten Profite. Zweitens auf die Eindämmung der dort offen ausgebrochenen Krise und die Verhinderung eines Übergreifens auf andere EU-Länder. Drittens auf eine stärkere Einflußnahme bei der Verteilung des griechischen Nationaleinkommens. Konkrete Wege dazu führen über den Export und Import von Kapital. Man will Athen zwingen, noch mehr Staatsbetriebe zu veräußern, um seine Schulden abzubauen. Dazu gehört auch die Abtretung von Hoheitsrechten an die EU. Diese Forderung stellte BRD-Finanzminister Schäuble im "Stern". Deutsche Konzerne haben sich schon im griechischen Kommunikationssystem breitgemacht. Berlin strebt ein noch koordinierteres und zielgerichteres Vorgehen in dieser Frage an. Aus diesem Grunde hatte Minister Rösler die bundesdeutsche Wirtschaft zu einem "Griechenlandgipfel" eingeladen. Es ging dabei um weitere Investmöglichkeiten in dem südeuropäischen Land.

Bei dem Brüsseler Gerangel über "Finanzierungshilfen" für Griechenland handelt es sich um Positionskämpfe der in Europa tonangebenden Staaten. Sie spielen sich vor dem Hintergrund detaillierter Verflechtungen mit der hellenischen Wirtschaft und den durch Athen bereits getätigten Anleihen ab. Das Pokerspiel um Macht und Einfluß wird vor allem zwischen deutschen und französischen Großbanken ausgetragen.

Die Betroffenen stehen der verheerenden Situation jedoch nicht tatenlos gegenüber. Das politische Bewußtsein breiter Volksschichten Griechenlands und vor allem der Arbeiterklasse ist schärfer geworden. So könnte von Hellas für die Völker Europas ein Signal ausgehen.

Dr. Manfred Böttcher


Unser Autor, ein bekannter Wirtschaftsjournalist der DDR, war Generaldirektor der DEWAG.

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Ein über Fälschungen und Unterstellungen erhabener CDU-Politiker und Staatsmann der DDR

Zur Lebensleistung Gerald Göttings

Am 12. Mai 1969 bestimmte die 13. Tagung der Volkskammer der DDR Gerald Götting zu ihrem Präsidenten. Sein langjähriger Amtsvorgänger war Prof. Dr. h. c. Johannes Dieckmann (LDPD) gewesen, der durch die aus dem Deutschen Volksrat hervorgegangene Provisorische Volkskammer und dann zu Beginn jeder Wahlperiode zum Präsidenten der Obersten Volksvertretung gewählt wurde. Er versah dieses hohe Amt bis zu seinem Ableben am 22. Februar 1969.

Seit Anfang 1964 bestanden zwischen dem Präsidenten der Volkskammer und mir stabile Arbeitskontakte in einem erfreulichen Klima. Gerald Götting war mir gut bekannt. Wir hatten uns bereits in der Freien Deutschen Jugend während der ersten Nachkriegsjahre kennengelernt. Er wollte keine seiner eigenen Partei nahestehende gesonderte Jugendorganisation, sondern unterstützte das Streben nach einem Zusammenhalt der jungen Generation in der FDJ.

Meine kommunalpolitische Arbeit, der später die Abgeordnetentätigkeit folgen sollte, mein Wirken als Sekretär des Rates des Bezirks Halle führte uns des öfteren zusammen, so bei Beratungen der Abgeordnetengruppe der Volkskammer und des Bezirkstages.

Ab 1964 unterstützte ich dann als Leiter der Abteilung Volkskammer/Ausschüsse beim Staatsrat der DDR besonders auch den Ausschuß für Auswärtige Angelegenheiten unter Vorsitz Gerald Göttings. Er sorgte stets für die gründliche Vorbereitung der Behandlung von Gesetzesvorschlägen, zwischenstaatlichen Verträgen und anderen Rechtsakten. Vor allem förderte er einen völlig neuen Arbeitsstil durch Studienaufenthalte in wissenschaftlich-technischen Einrichtungen und volkseigenen Betrieben mit Außenhandelsaufgaben. Das vertiefte nicht nur die Sachkunde der Abgeordneten, sondern verbesserte auch deren Verbindung zur gesellschaftlichen Praxis. Es entwickelten sich neue Formen lebendiger sozialistischer Demokratie.

Zum Zeitpunkt der Wahl Gerald Göttings als Volkskammerpräsident hatte der Staatsrat die bis dahin vom Sekretariat der Volkskammer wahrgenommenen Aufgaben übernommen. Dessen Eigenständigkeit wurde später aber wiederhergestellt. Zwischen 1964 und 1990 trug ich für diesen Bereich die Verantwortung.

Die Aufgaben des Sekretariats und seines Leiters entsprachen im wesentlichen denen gleichrangiger Parlamentsverwaltungen und ihrer Direktoren oder Generalsekretäre. Ich nahm daher an den Sitzungen des Präsidiums der Volkskammer teil.

In vielen Sätteln geritten

Die DDR-Volkskammer war mit ihrer Interparlamentarischen Gruppe aktives Mitglied der Interparlamentarischen Union, wobei der Leiter des Sekretariats der Vereinigung der Generalsekretäre der Parlamente der Welt angehörte. Auf der 67. Weltkonferenz der IPU in Berlin im Jahre 1980 wurde ich einstimmig zu deren Exekutivmitglied gewählt.

Gerald Götting nahm gleichzeitig verschiedene Funktionen wahr: Vorsitzender der CDU - einer der fünf Blockparteien der DDR -, Stellvertreter des Vorsitzenden des Staatsrates, später Präsident der Liga für Völkerfreundschaft und vor allem Präsident der Volkskammer, dann Stellvertreter Horst Sindermanns, dem diese Aufgabe 1976 übertragen wurde.

An der Herausbildung einer in der deutschen Parlamentsgeschichte zuvor nicht üblich gewesenen operativen Arbeit der Abgeordneten in ihren Wahlkreisen, Betrieben, Wohngebieten und örtlichen Volksvertretungen hatte Gerald Götting großen Anteil. Das betraf auch seine Einflußnahme auf die korrekte Entgegennahme und wirksame Kontrolle der Bearbeitung von Eingaben und Anliegen der Bürger durch die Volksvertreter.

Von großer Bedeutung für Ansehen und Wirkung der Rechtsetzung durch die Volkskammer war die Einführung öffentlicher Debatten und regelrechter, bisweilen Millionen Menschen einbeziehender Volksberatungen über wichtige Gesetzesvorhaben. Als Beispiel mag hier das Jugendgesetz der DDR angeführt sein. Der Entwurf dazu wurde fünf Monate lang öffentlich diskutiert. Insgesamt 5,4 Millionen Bürger nahmen an den Aussprachen teil. 4800 Vorschläge wurden zum Text unterbreitet, etwa 200 Veränderungen bis zur endgültigen Verabschiedung eingefügt.

Oder nehmen wir den Entstehungsprozeß des Zivilgesetzbuches. Der Entwurf hatte - in mehr als 85.000 Beratungen erörtert - über 4000 Vorschläge der Bürger und 360 Textveränderungen zur Folge.

Besonders in der Amtsperiode von Volkskammerpräsident Gerald Götting entwickelte sich das Gesetzgebungsverfahren auf vorbildlich demokratische Art. Auch unser persönliches Vertrauensverhältnis erfuhr in ständiger Zusammenarbeit eine weitere Festigung. Es wurde von Verläßlichkeit und Offenheit, Achtung und gegenseitigem Respekt getragen.

Im Oktober 1960 erfolgte die Etablierung des Staatsrates der DDR. Zum Vorsitzenden wählte man Walter Ulbricht.

Auf der Grundlage entsprechender Regelungen zog das neue Führungsorgan Aufgaben und Entscheidungen anderer Leitungsorgane an sich oder war für deren Unterstützung und Kontrolle zuständig. Das betraf auch das Gesetzgebungsverfahren. Der Staatsrat konnte rechtsverbindliche Erlasse beschließen, welche aber im nachhinein durch die Oberste Volksvertretung bestätigt werden mußten.

Am 6. Oktober 1972 übertrug die Volkskammer dem Ministerrat der DDR größere Rechte und die Verantwortung für Leitung und Planung aller Bereiche des gesellschaftlichen Lebens. Sie beschloß das Gesetz zu Änderung der Verfassung der DDR und eine neue Geschäftsordnung des Parlaments. Es ging um die herangereifte Abgrenzung der Verantwortungsbereiche der obersten Staatsorgane der DDR und eine klare Regelung der Kompetenzen. Die Volkskammer wurde als oberstes staatliches Macht- und alleiniges gesetzgebendes Organ (Artikel 48 u. a. der Verfassung), der Staatsrat als kollektives Staatsoberhaupt, d. h. als Organ der Volkskammer mit verfassungsrechtlichen Zuständigkeiten (Kap. 2 der Verfassung, Art. 66-74) und der Ministerrat als Regierung der DDR definiert. Die Exekutive sollte als Organ der Volkskammer die einheitliche Durchführung der Staatspolitik bei Erfüllung der politischen, ökonomischen, kulturellen und sozialen sowie der ihm übertragenen Verteidigungsaufgaben organisieren. (Kap. 3 der Verfassung, Art. 76-80)

Enges Verhältnis zu Albert Schweizer

Auf diesen gesellschaftlichen Prozeß nahm Gerald Götting großen Einfluß, um den sich daraus ergebenden Aufgaben für die Oberste Volksvertretung der DDR gerecht zu werden. Seine persönliche Haltung, sein hohes Verantwortungsbewußtsein und die Wahrung der staatlichen Würde des Parlaments waren dabei von außerordentlicher Bedeutung. Mit der ihm eigenen Ausstrahlung und Überzeugungskraft erzielte er bei der Anerkennung und Durchsetzung der auf Frieden und Völkerverständigung gerichteten internationalen Parlamentsarbeit der DDR spürbare Wirkungen. Dazu trugen auch seine Begegnungen mit höchsten Verantwortungsträgern aus vielen Ländern der Welt sowie seine Freimütigkeit im Umgang mit Künstlern und Wissenschaftlern nachhaltig bei. Als Beispiel mögen seine wiederholten Begegnungen mit dem Urwaldarzt und großen Humanisten Albert Schweizer angeführt sein.

Gerald Göttings ethische Haltung sowie seine christlichen Bindungen trugen ihm Respekt und Anerkennung im In- und Ausland ein. Auch Altbundespräsident Richard von Weizsäcker bekundete ihm anläßlich des Luther-Jahres, zu dessen Gelingen Gerald Götting in hohem Maße beigetragen hatte, seine Wertschätzung.

Enge und kameradschaftliche Verbindungen kennzeichneten das Verhältnis der Volkskammer zu den Parlamenten der UdSSR und der anderen sozialistischen Länder. Dazu gehörten freundschaftliche Bande zu Abgeordneten vieler Staaten. Das traf besonders für die "dritte Welt" zu. Gegenseitige Achtung, Toleranz in bezug auf unterschiedliche gesellschaftliche Entwicklungsprozesse und solidarische Verbundenheit mit allen Friedens- und Fortschrittskräften bestimmten die Beziehungen. Auch zu Parlamentariern und einflußreichen Politikern kapitalistischer Staaten hatte sich ein korrektes, sachliches Verhältnis herausgebildet. Das war besonders nach der weltweiten diplomatischen Anerkennung der DDR und der zeitgleich erfolgten Aufnahme beider deutscher Staaten in die UNO der Fall.

1988 fand die erste Beratung der Vertreter der Parlamente Europas, der USA und Kanadas in Warschau statt. Im Rahmen der Interparlamentarischen Union und im Ergebnis gegenseitiger Delegationsbesuche bestanden zwischen vielen der dort Anwesenden bereits Kontakte. Gerald Götting leitete die Abordnung der Volkskammer. Bei den BRD-Vertretern hatte am ersten Tag der Sozialdemokrat Björn Engholm als Amtierender Präsident des Bundesrates die Leitung inne.

Friedenspfeifen für Björn Engholm

Beide deutsche Delegationen nahmen, wie das bei internationalen Konferenzen schon oft der Fall gewesen war, ihre Plätze nebeneinander ein. Berührungsängste gab es nicht. Man führte sachliche Gespräche, legte im Plenum die unterschiedlichen politischen Standpunkte dar und unterhielt sich in Pausen. Wir hatten für Björn Engholm einen Satz Tabakpfeifen mitgebracht, über die er sich als passionierter Pfeifenraucher sehr freute. Zugleich wurde diese Aufmerksamkeit auch als symbolisches Zeichen der Verständigungsbereitschaft aufgefaßt.

Am zweiten Verhandlungstag übernahm Frau Prof. Dr. Rita Süßmuth (CDU) die Leitung der BRD-Delegation. Sie war am Vortag in Bonn zur Präsidentin des Deutschen Bundestages gewählt worden. Gerald Götting beglückwünschte sie dazu. Für die DDR-Delegation wurde ich von der Versammlung zum Mitglied des sogenannten Siebener-Kopfes bestimmt. Die Aufgabe dieser sieben Leiter der Sekretariate bzw. Parlamentsverwaltungen aus kapitalistischen, sozialistischen und neutralen Ländern bestand darin, die Plenartagungen und deren Ablauf, die Reihenfolge der Redner sowie andere organisatorische und protokollarische Dinge zu regeln.

Durch Losentscheid hatte Gerald Götting den Platz als erster deutscher Redner in der Plenartagung erhalten.

In seinem Namen übermittelte ich Frau Süßmuth das Angebot, daß sie - auch als Debüt in ihrer neuen Funktion - seinen Platz einnehmen möge. Er würde dann zu einem späteren Zeitpunkt sprechen. Seit vielen Jahren hatte ich durch die Treffen der Internationalen Vereinigung der Generalsekretäre der Parlamente und durch die wechselseitige Übermittlung von Dokumentationen, Protokollen und Beschlüssen Verbindung zu den Direktoren des Deutschen Bundestages. Der Herr, der dieses Amt jetzt versah, unterstützte unseren Vorschlag, den später alle anwesenden Delegationen sehr zu würdigen wußten.

Die Atmosphäre der Beratung war sachlich und entsprach dem damaligen Bemühen um eine Normalisierung der Beziehungen. In jener Zeit war bekanntlich vom "Haus Europa" die Rede. Beim abendlichen Empfang wurden die am Tage begonnenen Gespräche fortgesetzt. Für Verlauf und Inhalte der Kontakte wirkte sich der 1974 erfolgte Abschluß des Grundlagenvertrages zwischen beiden deutschen Staaten positiv aus. So gab es - wie auch bei Tagungen der IPU - danach keine öffentlichen deutsch-deutschen Querelen mehr.

Halbwahrheiten und Verschwiegenes

Bei weiteren Begegnungen zwischen Repräsentanten der Parlamente Europas, der USA und Kanadas baute der nach Gerald Göttings Amtszeit gewählte Horst Sindermann - ein außerordentlich erfahrener DDR-Politiker - zwischen 1969 und 1976 diesen auf Verständigung gerichteten Kurs erfolgreich weiter aus. Horst Sindermann entwickelte eine außerordentliche Intensität bei der internationalen Parlamentsarbeit. Er war ein kluger und gebildeter Gesprächspartner sowie ein talentierter Redner. Als anerkannter antifaschistischer Widerstandskämpfer, hinter dem 12 Jahre KZ-Haft lagen, besaß er ein hohes Prestige. Bereits in den 60er Jahren war ich gemeinsam mit ihm Abgeordneter im Bezirkstag Halle gewesen. So erfuhr das bereits bestehende Vertrauensverhältnis zwischen Präsident und Leiter des Sekretariats seine Fortsetzung.

Doch noch einmal zurück zu Gerald Götting. Er stand in sehr bewegter Zeit an der Spitze der Volkskammer der DDR. Seine Persönlichkeit und die von ihm geförderte Entwicklung, besonders auch bei der Ausgestaltung der sozialistischen Demokratie, trugen maßgeblich dazu bei, das Ansehen der DDR im In- und Ausland zu stärken. In seiner Amtsperiode wurde eine Vielzahl rechtsstaatlicher internationaler Verträge und Abkommen geschlossen, entwickelte sich der Austausch von Delegationen zum Studium von Erfahrungen der Parlamente weiter auf hohem Niveau.

So bleibt das Wirken des Volkskammerpräsidenten Gerald Götting eine großartige Lebensleistung. An ihr vermögen auch jene nicht zu rütteln, die sich wie der ehemalige Deutschlandfunk-Redakteur und BRD-"Volkskammerexperte" Dr. Peter Joachim Lapp auf gezielte Diffamierung verstehen. In seiner scheinbar sachlich gehaltenen politischen Biographie "Gerald Götting - CDU-Chef in der DDR" verschweigt er Positives, präsentiert er Halbwahrheiten und objektivistische Aufzählungen sowie das Einfügen nicht überprüfbarer Wertungen mit dem Ziel moralischer Herabwürdigung des Wirkens eines bedeutenden christdemokratischen Parteiführers und Staatsmannes der DDR. Aber das gehört ja bekanntlich zum politischen Alltag in der BRD.

Herbert Kelle

Unser Autor war Staatssekretär und Leiter des Sekretariats der Volkskammer der DDR.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Gerald Götting bei seiner Begegnung mit Martin Luther King in Genf
- Gerald Götting auf einem diplomatischen Empfang in Lissabon (links neben ihm DDR-Botschafter Frank Bochow)

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Klerikale Kraftprobe in einer mehrheitlich atheistischen Region

Über Christliches und weniger Christliches

Anfang Juni fand in Dresden der 33. Deutsche Evangelische Kirchentag statt. Das Treffen der Protestanten beherrschte tagelang die Medien. Wir wollen mit geraumem zeitlichem Abstand den Versuch einer Nachlese unternehmen. Viele Kommentatoren schwelgten in Superlativen.

Was ist abgelaufen? Das Ereignis zog 118.000 offiziell angemeldete Besucher nach Dresden, dazu viele tausend Tagesgäste. Die Teilnehmer konnten zwischen rund 2200 Veranstaltungen wählen. Die Themenvielfalt war beeindruckend. Neben Transsexuellen, Schwulen und Lesben hatte man auch Frauenfußball und den Popstar Nina Hagen nicht vergessen. Lothar de Maizière unterwies das Publikum in "Demokratie lernen nach dem Kommunismus". Auch die Frage "Darf man Nazis konfirmieren?" wurde aufgeworfen. Vielfältige Musikveranstaltungen standen auf dem Programm. Von Blasmusik über Gospel bis Jazz und Rock - von Pastoren gespielt - war alles war vertreten. Ein übergreifendes Thema, das den Kirchentag beherrscht hätte, gab es indes nicht. Selten boten sich Ansätze für einen gehaltvollen Meinungsstreit. Die Moderatoren fragten nicht nach, das Publikum applaudierte allen. Die "Sächsische Zeitung" zog die Bilanz: "Sie haben den Kirchentag perfekt durchorganisiert, wie einen Parteitag. Das ist vermutlich kein Zufall. Etliche Spitzenleute der evangelischen Kirche gehören einer Partei an, einer gemeinsamen: den Grünen. Die grünen Halstücher mit schwarzer Schrift geben schon mal ein bundesweites Koalitionsmuster vor."

Der Staat am schwarzen Gängelband

Das Grundgesetz definiert im Artikel 140 das Verhältnis von Staat und Kirche. Der Parlamentarische Rat übernahm 1949 die diesbezüglichen Normen aus der Weimarer Verfassung. Danach besteht keine "Staatskirche", wohl aber ein "Gebot staatlicher Neutralität im kirchlichen Bereich". Wie wurde das Grundgesetz bei der Veranstaltung eingehalten?

Prüfen wir zunächst das Auftreten von Regierungsmitgliedern. Etliche Veranstaltungen fanden in der Technischen Universität, dem Staatstheater und städtischen Schulen statt. Diese wurden bevorzugt für Übernachtungszwecke genutzt.

270 Quartierschulen boten rund 45.000 Schlafplätze. Straßenbahnen und Busse verstärkten ihren Einsatz, die Müllabfuhr leistete fast "Überirdisches", was in normalen Zeiten unmöglich scheint. Bei der großzügigen Finanzierung des ganzen Unterfangens wurde die Verletzung des Prinzips der Trennung von Kirche und Staat besonders sichtbar.

"Der Kirchentagshaushalt von 14,8 Millionen Euro setzte sich aus 5,5 Millionen Euro Zuschuß vom Freistaat, 1,96 Millionen Euro von der Stadt Dresden, 400.000 Euro vom Bund und einer Million von der Landeskirche zusammen. Die restlichen 5,94 Millionen wurden durch Teilnehmerbeiträge, Zuwendungen von Sponsoren sowie den Verkauf von Schals und anderen Souvenirs eingenommen. Rund 40.000 Euro verausgabte die Stadt in Form von Sachleistungen. All das war aus der Presse zu erfahren.

Wenn man berücksichtigt, daß nur eine Minderheit der Sachsen der evangelischen Kirche angehört, dann ergibt sich daraus, daß Atheisten überwiegend das Fest der Protestanten finanziert haben.

Was würde eigentlich geschehen, wenn eine PDL- oder eine DKP-Veranstaltung aus Steuergeldern von Christen bezahlt werden müßte?

Des Kriegsministers "vorläufige Welt"

Die evangelische Kirche versichert, dem Gebot der christlichen Friedens- und Feindesliebe zu folgen. Die Rolle gewisser Bischöfe unter dem Kaiser und Hitler ist indes nicht vergessen, auch nicht die unvergängliche Haltung eines so mutigen Mannes wie Martin Niemöller. Aber sprechen wir vom Kirchentag 2011. Wie zeigte sich das christliche Engagement für den Frieden? Als großes, übergreifendes Thema (wie in den 80er Jahren) überhaupt nicht. Immerhin stand auf dem Hamburger Kirchentag 1981 die "Nachrüstungs"frage im Mittelpunkt vieler Debatten. Friedensbewegte Christen bewarfen damals Bundeswehrminister Hans Apel mit Blutbeuteln.

Dergleichen hatte Thomas de Maizière als Mitglied des Kirchentagspräsidiums diesmal nicht zu befürchten, als er im Hörsaal der Technischen Universität auftrat. Er wurde mit Applaus empfangen. Die FAZ berichtete: "Der Minister vertritt die klassische Position evangelischer Ethik. Seine Auffassung beruft sich im Kern auf den Antirationalismus Martin Luthers. Dem Reformator bot sich die Welt als ein tobender Ozean voller Widersprüche dar, in dem die Vernunft lediglich Inseln der Ordnung verteidigen kann. An Luther geschult, weist de Maizière die EKD-Position zurück, die darauf abzielt, das Evangelium eben gerade nicht auf die Kategorie des Glaubens zu beschränken, sondern mittels einer Reihe aus der Bibel abgeleiteter Prinzipien auch auf den Bereich der Handlungen auszuweiten."

Für den Bereich der Politik lautet die Folgerung des Ministers: "In unserer vorläufigen Welt ist es nötig, Mittel anzuwenden, die selbst noch Mittel dieser vorläufigen Welt sind." De Maizière nennt als Beispiel den Kosovo-Einsatz, über dessen völkerrechtliche Legitimität, gibt er zu, bis heute Dissenz herrsche. Zudem könne es auch Eingriffe geben, die zwar geboten seien, aber nicht möglich.

Der Chef des "Ministeriums für Mord und Totschlag" (Gerhard Schumacher) fand zwischen den sich häufenden Trauerfeiern sogar noch Zeit, auf dem Dresdner Kirchentreffen unverdrossen das Kriegshandwerk zu loben und zu preisen. Mag doch die neue Mutter Teresa der Lutheraner, Margot Käßmann, noch so vehement gegen den Krieg zu Felde ziehen, es ficht den gläubigen Thomas nicht an. Zumal ihm bei "Spiegel-Online" Matthias Matussek zur Seite steht, der da verbissen in die Welt posaunt: "Bomben und beten - ja, das geht."

Sowohl Thomas de Maizière als auch Margot Käßmann haben mit ihren Kirchentagspredigten viel Aufmerksamkeit gefunden, wobei der Chef des Militärs sogar Zorn auslöste. Er hatte in seine Rede den Satz eingeflochten: "Ein Gebet für die Taliban ist nicht nötig und sinnvoll."

"Bild" räumte dem superheiligen ZDF-Pater Peter Hahne, einem "rechtskonservativen" Scharfmacher übelster Art, viel Platz ein, über die Frage zu philosophieren: "Darf man, soll man für kaltblütige und heimtückische Terroristen beten?" Zum Glück fand Hahne in der Rede des Ministers noch den Satz: "Allerdings ersetzt das Gebet nicht die praktische Politik". Gemeint waren damit wohl Bomben.

Beten und bomben, das gehe, meinte auch der ZDF-"Theologe".

Es ist kaum ein anderes Urteil möglich als dieses: Maßgebliche Kreise des deutschen Protestantismus scheinen erneut - wie schon in den Jahren 1914 und 1939 - zur (un)moralischen Triebkraft mörderischer Kriege zu werden.

Margot Käßmann: Superstar oder Frau mit Durchblick?

Aus der Bibel wissen wir, mit welchem Hosianna Jesus in Jerusalem begrüßt wurde. Ist ähnliches auch in Dresden beobachtet worden? Zumindest gab es Journalisten, die einen neuen "Jesus Christ Superstar" erfanden. Marcus Krämer, der zuvor über die Seligsprechung des katholischen Kaplans Alojs Andritzki geschrieben hatte, fragte in der "Sächsischen Zeitung": "Haben nicht auch die Evangelischen eine Heilige, zu der sie pilgern? Heißt sie nicht Margot Käßmann? In der Sendung mit Anne Will war sie Topstar, einige Zeitungen ernannten die Ex-Bischöfin zum 'Superstar' des Kirchentages. Immerhin: Nina Hagen war auch da. Im Programm wurde Margot Käßmann mit neun Auftritten verzeichnet. Zu ihren Themen gehörten die Seligsprechungen (Matthäus 5.1-12). Sie fand: Glückselig statt selig heißt es in der Kirchentagsübersetzung. Das hielt sie für gelungen. Glücklich, selig, gesegnet werden diejenigen genannt, die arm sind, Leid tragen, Frieden stiften, barmherzig sind. Das ist ein tiefer Kontrast zur Wirklichkeit. In unserer Welt werden diejenigen als glücklich angesehen, die schlagfertig sind, viel Geld verdienen, gut aussehen. Jesus stellt die Erfahrung der Welt auf den Kopf, indem er sie aus der Perspektive des Reiches Gottes erscheinen läßt. Damit ermutigt er, anders zu sein, widerständig zu bleiben, die Fragen der Gerechtigkeit und des Friedens auf der Tagesordnung zu halten."

Margot Käßmann forderte, "sich hier und jetzt nicht der Logik der Waffen und der Realität des Unrechts zu beugen, sondern aufzubegehren. Glücklich ist, wer das kann. Kirchentage sind dafür wie geschaffen." Das ist kaum zu bestreiten.

Wenngleich Prof. Dr. Käßmann - so ihr neuer Titel - auch nicht an den Grundfesten aktueller Kriegspolitik rührte - sie hätte sich u. a. auf Martin Niemöller berufen können -, eckte sie mit einigen Formulierungen durchaus an. Trotz ihrer Bravheit fand sie Kritiker und Widersacher. "Spiegel-Autor Matthias Mattussek warf ihr sogar Demagogie vor: Die irrtümliche Bombardierung von Zivilisten sei aus der Sicht Käßmanns gewollt gewesen. Mattussek folgerte: "Käßmann also hat aus unseren Soldaten, die unter enormen Entbehrungen und Belastungen Dienst tun, wider besseren Wissens kaltblütige Täter gemacht. Das ist ein Anschlag auf die Ehre jener, die ihren Arsch letztlich auch für diejenigen riskieren, die Kirchentage ausrichten, auf denen sie dann als Mörder beschimpft werden."

Die rüde Sprache des Nachrichtenmagazins zeugt von "Kultur". Und was die Argumente betrifft - sind sie für Christen überzeugend?

Im Fegefeuer bei Anne Will

Mattussek hat dem Heiland dessen Rezept von den Lippen abgelesen: "Ich kann dafür beten, daß Jesus Christus die Herzen noch der grimmigsten Taliban erleuchtet und mit der Botschaft des Friedens erfüllt. ... Aber gleichzeitig kann ich versuchen, die Taliban auszuschalten ... Oder, aus gegebenem Anlaß, Osama bin Laden zu töten."

Für die Ex-Bischöfin, die durch einen Gesetzesverstoß erst so richtig berühmt geworden ist, hat sich der Kirchentag übrigens auch in finanzieller Hinsicht gelohnt. Auf der Bestseller-Liste des "Spiegel" vom 4. Juni erklomm Käßmanns "Sehnsucht nach Leben" den zweiten Platz. Auch weitere zwei ihrer Bücher landeten unter den besten 20. Respekt!

Der Autorin und Theologin blieb indes nicht erspart, daß sie im BRD-Staatsfernsehen öffentlich angeklagt und gedemütigt wurde. Am 19. Juni mußte sie im Talk bei Anne Will durchs Fegefeuer. Das Thema hieß: "Sehnsucht nach einer besseren Welt". Die Ausgangsfrage der Moderatorin lautete: "Was hat Margot Käßmann, was andere nicht haben?" Meine Antwort wäre: Sie ist davon überzeugt, daß die Welt zum Guten hin veränderbar ist und die Bibel dabei helfen kann.

Das sahen der naßforsche FDP-Generalsekretär Martin Lindner, der Medienwissenschaftler Norbert Bolz und Baden-Württembergs gutbürgerlich-grüner Ministerpräsident Winfried Kretschmann, Mitglied des ZK der deutschen Katholiken, freilich anders. Politik verlange Pragmatismus, verkündeten sie.

Käßmann dürfe im stillen Kämmerlein zu den "Gutmenschen" gehören. Die biblische Botschaft aber tauge nicht für die Wirklichkeit. Die Abrechnung mit Käßmanns Ketzertum war ebenso total wie rabiat. Die Sendung bei Will bestätigte im nachhinein: Ein Signal für eine deutsche Friedenspolitik war der Kirchentag nicht. Und das in Dresden, dessen Kriegswunden noch heute nicht vernarbt sind.

Heimspiel mit einem Hauch von Aufruhr

"Kirchentage sind immer politisch", belehrte uns Christine Lieberknecht, Thüringens schwarze Regierungschefin. Richtig. Es fragt sich nur: Um welche Politik geht es? - Bundespräsident Christian Wulff sagte in seiner salbungsvollen Rede beim Eröffnungsgottesdienst am Elbufer, Christen zeigten, daß jeder etwas für dieses Land tun könne. Zwar seien sie in Sachsen minoritär, doch komme es darauf an, sich gegenseitig zu unterstützen und einander Mut zuzusprechen. Wulff appellierte an die beiden großen Konfessionen in Deutschland, aufeinander zuzugehen. Ist diese Forderung als Signal nicht allzu bescheiden?

Angela Merkel sprach in der überfüllten Messehalle I vor etwa 5000 Besuchern. Mit beeindruckendem Tiefgang und rhetorischem Glanz formulierte sie ihr Credo: "Wenn die Welt zusammenhält und das Richtige tut, kann sie auch etwas erreichen." Als die Kanzlerin zum Rednerpult marschierte, war ihre Jacke so pinkfarben wie die Kirchentagsfahnen. "Merkel hatte ein Heimspiel, erst recht, als sie sagte, daß sie nach der Katastrophe von Fukushima die Frage, was ein Restrisiko sei, anders sehe, als sie das zuvor getan habe", berichtete die "Sächsische Zeitung". Drei junge Leute stimmen einen Kanon an: "Angie, leiste Widerstand / du, als mächtigste Frau in diesem Land / gegen die Konzerne!" Ein Hauch von Aufruhr wehte durch den Saal. Dann kamen die Ordner.

Alle Staaten der Welt müßten endlich die Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen einhalten, forderte die Kanzlerin. Dachte sie in diesem Augenblick an die NATO-Bomben, die gerade auf Tripolis fielen?

Sächsische Landtagsabgeordnete der PDL nahmen nicht nur an zahlreichen Veranstaltungen teil, sondern gaben auch selbst einen Empfang. Ihr Fraktionsvorsitzender André Hahn erklärte dort: "Sachsen ist als Stammland von Reformation, Aufklärung und Arbeiterbewegung geradezu idealer Gastgeber für das größte Treffen engagierter evangelischer Christen, die miteinander und mit Andersdenkenden über Wege in eine gerechtere und friedlichere Welt ins Gespräch kommen wollen."

"Gute Geschäfte mit dem Glauben". Diesen Titel hatte Bettina Klemm für ihren Beitrag in der SZ vom 10. Juni gewählt, um den Gewinn darzustellen, den Dresden vom 33. Kirchentag erzielt hatte.

Am Anfang stehe natürlich der "Imagezuwachs". Das häufige Zeigen der Dresdner Silhouette sei nicht mit Geld zu aufzuwiegen. Der finanzielle Umsatz für die Region werde auf 30 Millionen Euro geschätzt, gut zwei Drittel davon hätten die Gäste für Übernachtungen in der Stadt und ihrer Umgebung dagelassen. Die Hotels und Pensionen in Dresden waren ausgebucht, die Gastronomen durften jubeln. Mehr als 100 Tonnen Müll wurden mit acht zusätzlichen Fahrzeugen entsorgt. 560 Sanitäter kümmerten sich um 1377 Behandlungsbedürftige, von denen 199 in Kliniken gebracht werden mußten. Sechs Gäste rettete man sogar aus der Elbe. Zwischenfälle, die einen massiven Polizeieinsatz wie zum Schutz der Nazi-Demonstration im Februar nötig gemacht hätten, wurden nicht gemeldet.

Prof. Dr. Horst Schneider, Dresden

Ende RF-Extra

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Im Ringen um die Neuaufteilung der Welt spielt die Herabstufung der Kreditwürdigkeit eine Rolle

Das Ratespiel der Rating-Agenturen

Seit dem Ende der 80er Jahre vollziehen sich rasante Veränderungen. Sie finden ihren Ausdruck in einem verschärften ökonomischen und territorialen Kampf um die Neuaufteilung der Welt. Dieser Kampf ist mit einem sich verschiebenden Kräfteverhältnis zwischen dem nordamerikanischen Wirtschaftsraum, der Europäischen Union und der asiatisch-pazifischen Region verbunden. Innerhalb von kaum mehr als zwei Jahrzehnten trat das Entwicklungsland China als neue Wirtschaftsmacht auf die Bühne. Aber auch die Erweiterung der EU und die Schaffung einer europäischen Währungszone stellt die bisherige Führungsrolle der USA, insbesondere auf ökonomischem Gebiet, mehr und mehr in Frage. Schwellenländer wie Brasilien, Indien, Indonesien und Südafrika spielen eine immer größere Rolle. Rußland behauptet sich als selbständiger Staat und ist mit seinen immensen Rohstoffressourcen eine nicht unbedeutende Wirtschaftmacht. Das bleibt nicht ohne Folgen für den bisherigen Dominanzanspruch der USA im globalen Währungs- bzw. Finanzsystem. Insbesondere hat die Abhängigkeit vom US-Dollar als Leit- und Reservewährung spürbar abgenommen.

Zum 30. Juni 2010 wurden jedoch immer noch 62,1 % der Weltwährungsreserven in Dollar gehandelt (26,5 % in Euro, 4,2 % in Pfund, 3,3 % in Yen). Das hängt damit zusammen, daß die USA vorerst noch die größte Wirtschaftsmacht sind, sich bedeutende Waren- und Finanzbörsen dort befinden und der internationale Handel vornehmlich auf Dollar-Basis erfolgt. Am deutlichsten sieht man das bei Erdöl - einem der wichtigsten Rohstoffe überhaupt. Es wird fast ausschließlich in Dollar abgerechnet. Lediglich zwei Staaten, Venezuela und Iran, fakturieren ihre Ölexporte in Euro. Die Einführung der Gemeinschaftswährung Euro, 1999 zunächst als Verrechnungsbasis und ab 2002 als allgemeines Zahlungsmittel, in heute 17 europäischen Staaten war ein heftiger Schlag gegen die Vormachtstellung des Dollars. Parallel zu dieser Entwicklung bemüht sich China, die eigene Währung (Yuan) als Handelsvaluta auszubauen. Entsprechende Verträge zum Waren- und Dienstleistungsaustausch bestehen seit Dezember 2008 mit Indonesien, Südkorea, Hongkong, Malaysia, Belarus und Argentinien. Bereits 67 000 chinesische Unternehmen setzen die Landeswährung Yuan für Ex- und Importgeschäfte ein. Beijing umgeht auf diese Weise den Dollar im internationalen Handel. Dabei wird das Reich der Mitte von Rußland unterstützt.

Obwohl Gold aus der Geldzirkulation seit 1971 ausgeschlossen ist, scheint es durch die Hintertür wieder als Maß der Werte und Reservemittel an Bedeutung zu gewinnen. 2001 lag der Preis pro Feinunze noch bei 250 US-Dollar. Er steigt seit 2002 ununterbrochen und überschritt im Juli 2011 die 1600-Dollar-Marke. Dafür gibt es offensichtlich drei Ursachen: die jahrzehntelang gesteuerte Unterbewertung des Goldes, die Entwertung wichtiger Welthandelswährungen, hauptsächlich des US-Dollars, und Spekulationsaspekte. Die anhaltende Abwärtsbewegung des Dollars im internationalen Vergleich hat vornehmlich ihren Grund in den enormen Dollar-Mengen, die seit Beginn der Finanzkrise (2007) in den Geldkreislauf zur Rettung von Unternehmen und Banken gepumpt wurden, wobei verschiedene Faktoren wie die Einflußnahme von Staaten, weltweit operierenden Monopolen und Finanzinstituten, das Austauschverhältnis zwischen Währungen "gestalten".

"Angebot und Nachfrage" sind dabei von Spekulation und Interessen gesteuert. Sie ordnen sich sowohl in den Kapitalverwertungsprozeß als auch in den Kampf um die Vormachtstellung ein.

Die Einflußnahme der USA auf das globale Finanzsystem hat mit der Deregulierung und Liberalisierung der gesamten Weltwirtschaft enorme Ausmaße angenommen. Sie ist darauf gerichtet, den Vereinigten Staaten günstige Voraussetzungen zu schaffen, ihre ökonomische Führungsrolle durchzusetzen bzw. aufrechtzuerhalten. Eine große Rolle spielen die sogenannten Rating-Agenturen. Die drei bedeutendsten sind Standard & Poor's, Moody's und Fitch Ratings. Es handelt sich um private, gewinnorientierte US-Unternehmen, welche sich anmaßen, die Kreditwürdigkeit (Bonität) von Unternehmen und Staaten zu bewerten. Sie werden von Konzernen bezahlt, die sich taxieren lassen oder Bewertungen in Auftrag geben. Neben Eigeninteressen verfolgen solche Agenturen auch politische Ziele. Daß es sich um keine "neutralen Bewerter" handelt, zeigte die Finanzkrise, die 2007 mit einer Immobilienkrise in den USA ihren Ausgangspunkt nahm.

Die Pleite der Investbank Lehman Brothers ist das beste Beispiel. Noch wenige Tage vor ihrem Bankrott erhielt sie von den Rating-Agenturen Bestnoten. Nachdem die US-Regierung bereits drei große Banken (Bear Stearns, Fannie Mae und Freddie Mac) mit Milliarden Dollar gestützt hatte, lehnte sie die Rettung einer weiteren Großbank ab. Dieses Verhalten erschütterte das weltumspannende Finanzsystem und führte zu enormen Verlusten für viele Unternehmen, Banken, andere Staaten und deren Volkswirtschaften. Trotz dieser gravierenden Erfahrung wurden bisher keine hinreichenden Sicherungs- und Kontrollsysteme im Banken- und Finanzsektor etabliert, um einer Wiederholung einer solchen Finanzkrise zu begegnen. So bleibt die Macht der Rating-Agenturen weiter unangetastet. Sie sind ein bedeutendes politisches Instrument im Kampf um die ökonomische Vorherrschaft.

Das erkannte China bereits vor 16 Jahren und gründete eine eigene Rating-Agentur. Guan Jianzhong, der Präsident des chinesischen Herausforderers Dagong Global Credit Rating, sprach kürzlich Klartext: "Die drei großen Rating-Agenturen der USA verkörpern eine alte Tradition und besitzen seit langem die Meinungshoheit. Ihre Hauptaufgabe ist allen bekannt. Sie sollen die Interessen der USA wahren. Die Finanzkrise wurde durch ihre falsche Bewertung mit verursacht. Sie haben kontinuierlich falsche Rating-Informationen verbreitet, damit Investoren aus aller Herren Länder weiterhin in den USA investieren." Das bestätigte auch die Handels- und Entwicklungsorganisation der Vereinten Nationen (UNCTAD) für das Jahr 2010: Die Direktinvestitionen in den USA stiegen auf etwa 228 Mrd. Dollar. Das sind über 40 Prozent mehr als 2009. Die Summe entspricht 18,3 Prozent der weltweiten Direktinvestitionen, deren größter Empfänger die USA sind.

Ziehen wir das Fazit: Unter den Bedingungen schwacher oder stagnierender wirtschaftlicher Entwicklung in den USA verlagert sich der Kampf um die ökonomische Neuaufteilung der Welt in das global vernetzte Währungs- und Finanzsystem mit unwägbaren Auswirkungen. In diesem Kampf gibt es viele Akteure: Finanz- und Industriemonopole, Rating-Agenturen, Hedgefonds, Spekulanten sowie Staaten und Staatengemeinschaften mit sehr differenzierten Interessenlagen. Wichtigster Akteur aber sind nach wie vor die USA. Ihr Ziel ist es, Hauptwirtschaftsmacht zu bleiben und die Rivalen aufzuhalten. Insbesondere darin und in der relativen Verselbständigung des Währungs- und Finanzsystems sowie fehlender umfassender Regulierungsmechanismen liegen enorme Krisengefahren von bisher ungekanntem Ausmaß. Das Damoklesschwert schwebt also über der gottgesegneten kapitalistischen Ordnung.

Dr. Ulrich Sommerfeld, Berlin

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Rupert Murdoch brachte Londons "High Society" zum Tanzen

Der Fehltritt des Medienmoguls

Großbritanniens rechtskonservativer Premier David Cameron ist im Sommer empfindlich unter Druck geraten. Seine engen Beziehungen zu dem aus Australien stammenden, in den USA Schlüsselbereiche des Zeitungswesens und der Sendetätigkeit kontrollierenden, auch in Europa und Asien die Gehirnwäscher-Gilde anführenden Medienmogul Rupert Murdoch (geschätztes Privatvermögen 7 Mrd. US-Dollar) sind ihm gewissermaßen auf die Füße gefallen. Nach dem Auffliegen eines durch Murdochs marktdominierendes Sonntagsblatt "News of the World" (NoW) inszenierten gigantischen Telefon-Abhörskandals mit vielen Tausenden Betroffenen mußte die schon 1843 gegründete und von Beginn an reaktionäre Postille, die der Magnat in ein scharf rechts orientiertes Boulevardblatt mit Viel-Millionen-Auflage verwandelt hatte, am 10. Juli ihr Erscheinen endgültig einstellen. Die frühere Chefredakteurin Rebekah Brooks - inzwischen Spitzenmanagerin des Murdoch-Imperiums News International Inc. - sowie weitere Personen aus diesem Umfeld wurden verhaftet. Die Londoner Polizeichefs Sir Paul Stephenson und John Yates mußten ihren Hut nehmen.

Doch nicht nur das: Auch Großbritanniens Premier geriet ins Kreuzfeuer, nachdem sich herausgestellt hatte, daß er zum persönlichen Freundeskreis von Brooks zählt. Überdies hatte er die gleichfalls festgenommene Andy Coulson - bis 2007 die Nr. 1 von NoW - zu seiner Pressechefin gemacht. Fast beiläufig erfuhr man, daß Commissioner Stephenson nicht weniger als 18mal durch die Bosse von News International in jener Zeit zu Tisch gebeten worden war, in der seine eigenen Leute bereits in einem früheren Abhörfall gegen das auf Sensationshascherei abonnierte Murdoch-Imperium Untersuchungen führten. An acht dieser Dinners hatte auch NoW-Redakteur Neil Wallis - gleichfalls hinter Gittern - als von der Londoner Polizeiführung bemühter "Medienkonsultant" teilgenommen.

Von Rupert Murdoch heißt es, daß er mühelos ganze Regierungen zu installieren oder zu Fall zu bringen in der Lage sei. In Großbritannien unterstützte er zunächst inbrünstig das Tory-Kabinett Margaret Thatchers. Viele Jahre galt er als ihr enger Vertrauter und Freund. Als dann der Labour-Politiker Tony Blair Premierminister an der Themse wurde, saß Murdoch auch bei ihm im Boot. Nicht anders verhielt es sich zu Amtszeiten des Blair-Nachfolgers Gordon Brown, wie dieser ein rechter Sozialdemokrat. Auch ihm lieh Murdoch seine "helfende Hand".

Wie der Springer-Clan in der BRD unterstützte der weltweit mächtigste Medienboß durch seine von den USA aus operierende Fernsehkette Fox News Network jede Aggression, die von den Imperialisten entfesselt wurde. So rechtfertigte er George W. Bushs verbrecherischen Überfall auf Irak ebenso wie den mörderischen - durch Murdoch mental mit vorbereiteten - NATO-Krieg in Afghanistan. Der Australier mit USA-Paß steckt auch hinter der gegen Präsident Obama das Messer wetzenden faschistoiden Tea-Party-Bewegung, also dem extremistischen Flügel der Republikaner. Wenn auch Rupert Murdoch durch die Ungeschicklichkeit seiner ohne Unterlaß im Schmutz wühlenden Skandalreporter vorübergehend etwas in Bedrängnis geraten ist - er mußte in London sogar vor einem Ausschuß des Unterhauses erscheinen -, handelt es sich nur um einen Sturm im Wasserglas. Sein Imperium, das u. a. aus 175 Zeitungen, etlichen Fernsehketten, Rundfunkstationen, Filmstudios, Buchverlagen und Sportklubs besteht, wird dadurch nicht ernsthaft angekratzt. In Murdochs Händen konzentrieren sich derzeit etwa 2 Prozent des gesamten internationalen Medienmarktes.

Seit 1952, als der heute 80jährige - damals ein blutjunger Oxford-Absolvent - nach dem plötzlichen Tod des Vaters dessen australischen Medienkonzern, bestehend aus zwei Zeitungen und einer Rundfunkstation, übernehmen mußte, hat er sich ohne Skrupel und unter massivem Ellenbogeneinsatz sowie bei wachsender finanzieller Machtfülle um zunehmenden Einfluß bemüht. Nach dem Erwerb mehrerer auflagenstarker Blätter im eigenen Land - er gründete mit "The Australian" die erste gesamtnationale Zeitung auf dem fünften Kontinent - setzte er größere Maßstäbe. In Gestalt der News Corporation Inc. schuf er seinen von den USA aus operierenden Welt-Medienkonzern Nr. 1. Murdoch kaufte sich 1968 durch den Erwerb der NoW in den britischen Zeitungsmarkt ein. Bald griff er nach so altetablierten Publikationen wie "The Sun" (1969) - eine vormals der Labour Party als "Daily Herald" nahestehende Tageszeitung, die er in das auflagenstärkste britische Boulevardblatt verwandelte - und "The Times" (1981). Murdochs Jagdeifer war damit aber noch nicht befriedigt.

In den 80er Jahren brachte er in den USA, deren Staatsbürger er 1985 wurde, Filetstücke der Presse, des Films, des Fernsehens und des Rundfunks an sich. Er übernahm nicht nur das TV-Netz von Fox, sondern auch das renommierte Hollywood-Filmstudio 20th Century Fox und die traditionsreiche "New York Post". Mit dem Erwerb des New Yorker Verlagshauses Dow Jones riß er zugleich das Sprachrohr des USA-Finanzkapitals - die Tageszeitung "The Wall Street Journal" - an sich. 1989 drang Murdoch mit der "British Sky Broadcasting" einmal mehr in europäische Sphären ein, während er mit Star-TV zugleich etwa 100 Millionen asiatische Fernsehzuschauer vor die Bildschirme lockte.

Murdochs "Unternehmensphilosophie" ist auf eine Mischung aus News, Sensationen und Klatsch ausgerichtet. Übrigens hat er schon seit 1994 seinen Fuß auch im bundesdeutschen TV-Geschäft. Mit 49,9 % ist er Eigner eines "Minderheitsanteils" am Privatsender VOX.

Rupert Murdoch - einer der 100 reichsten Menschen der Welt - ist die hassenswerte Verkörperung des Kapitalismus und zugleich Bannerträger der durch ihn landauf, landab unablässig gepriesenen "Pressefreiheit". Indes dürfte erwiesen sein, daß der Multi-Milliardär seine Freiheit zu nutzen weiß, auch wenn er - wie im eingangs geschilderten Fall der Londoner "News of the World" - dabei bisweilen ein wenig über die Stränge schlägt, was die Spielregeln der eigenen Klasse verletzt.

Vom New Yorker Hauptquartier aus und über die Hochburgen in Australien, Kanada, Großbritannien, Neuseeland, Indien und China verspritzt Murdochs Empire sein Gift auf jedem der fünf Kontinente.

RF, gestützt auf "The Guardian", Sydney, und "The Socialist Correspondent", London

Raute

Vor 70 Jahren wurde Irans Tudeh-Partei gegründet

Bekennermut in der Höhle des Löwen

In diesem Monat wird die Tudeh-Partei, die älteste politische Organisation Irans, 70 Jahre alt: eine Partei, die Hunderte Male totgesagt wurde, lebt und kämpft, trotz Zehntausender ermordeter Mitstreiter, trotz Folter und Verleumdung.

Ihre Stärken sind die marxistisch-leninistische Weltanschauung, die Treue zur eigenen Arbeiterklasse und zum proletarischen Internationalismus. Und genau das sind auch die Gründe, die sie zur Zielscheibe reaktionärer und imperialistischer Angriffe machen.

Im August 1941, als die Kollaboration Reza-Schahs mit Nazi-Deutschland offensichtlich wurde, marschierten die alliierten Truppen in Iran ein, um einem Komplott des Regimes zuvorzukommen. Reza-Schah mußte zugunsten seines Sohnes Mohammad-Reza abdanken. Die politischen Gefangenen, darunter auch 53 Kommunisten, die bereits nach dem Parteiverbot von 1929 inhaftiert worden waren und deren Vorsitzender Tagh Erani im Gefängnis ermordet wurde, ließ man frei. So konnte die KP unter ihrem neuen Namen Tudeh (Volk) am 2. Oktober 1941 gegründet werden.

Angesichts verstärkter Wühltätigkeit des deutschen Faschismus in Iran sah die TPI ihre vorrangige Aufgabe in dessen Entlarvung und im Streben nach Aktionseinheit. Der Kampf um nationale Souveränität, gegen jede Art von Kolonialismus sowie die Verteidigung der Rechte der Arbeiter, der Bauern, der Intelligenz und der Frauen wurden im Parteiprogramm verankert. Binnen eines Jahres konnten in den meisten iranischen Städten Regionalorganisationen aufgebaut werden. 1943 war die Partei bereits durch eine achtköpfige Fraktion im Parlament vertreten. Am 1. Mai 1946 gingen 700.000 Iraner, darunter Zehntausende Beschäftigte der Erdölindustrie, gegen die britischen Petrolkonzerne auf die Straße. Es gelang der Partei, durch die Vereinigung von vier bereits bestehenden Gewerkschaften einen Zentralrat der Arbeitervereine Irans mitbegründen zu helfen, der 90 % aller Lohnempfänger des Landes umfaßte. Auf Initiative der TPI schlossen sich 44 fortschrittliche Presseorgane zur "Freiheitsfront" zusammen. Auch die Gründung von Bauern-, Frauen- und Jugendverbänden war das Verdienst der TPI in dieser Periode. Nach der Zerschlagung der in Aserbaidshan und Kurdistan etablierten Nationalregierungen wurden viele Parteimitglieder hingerichtet, davon allein in Täbriz 33 Offiziere.

Die rasche Entwicklung der Partei und ihr zunehmender Einfluß waren deren Gegnern ein Dorn im Auge. Anfang 1949 nahm man das auf den Schah verübte Attentat zum Anlaß, die Legalität der TPI aufzuheben. Das Verbot bestand über 30 Jahre - bis zur Februarrevolution 1979. Teile der Parteiführung und Hunderte Mitglieder wurden festgenommen. Die TPI konnte sich jedoch schnell auf illegale Bedingungen umstellen. Bereits nach kurzer Zeit erschien das Zentralorgan im Untergrund. Die leitenden Genossen der Partei wurden durch eine gut vorbereitete Aktion befreit. Trotz ihres Verbots spielte die vor allem in der Arbeiterklasse tief verwurzelte TPI mit ihren Massenorganisationen eine bedeutende Rolle in der Bewegung zur Nationalisierung des Erdöls. Im März 1951 verabschiedete das iranische Parlament das entsprechende Gesetz, im April trat Mossadegh als Ministerpräsident an die Spitze der Regierung.

Am 18. August 1953 fand ein CIA-gelenkter Putsch zum Sturz Mossadeghs statt. Ihm war das Intrigenspiel der Ölkonzerne, die sich im Eigentum der USA und Großbritanniens befunden hatten, vorausgegangen. Die Zersplitterung der nationalen Kräfte ermöglichte den Feinden des iranischen Volkes die Durchsetzung ihrer verbrecherischen Pläne. Die Folge war deren systematische Zerschlagung und die verstärkte Abhängigkeit des Landes vom Imperialismus. Die größten Opfer brachte wiederum die TPI. Zehntausende ihrer Genossen wurden verhaftet und verschleppt, viele hingerichtet. Nach Aufdeckung ihrer Militärorganisation im Jahre 1954 exekutierte man eine große Zahl patriotischer Offiziere, Tausende Armeeangehörige wurden zu langen Freiheitsstrafen verurteilt. Zugleich erfolgte die Aufhebung des Nationalisierungsgesetzes und die Gründung das Erdölkonsortiums. 1956 wurde Iran dem Bagdad-Pakt - der späteren CENTO - angegliedert. Mit zunehmender Kettung Teherans an imperialistische Mächte und der drakonischen Unterdrückung innerer Gegenkräfte verschärften sich die gesellschaftlichen Widersprüche, formierte sich der Widerstand. Er zwang den Schah zu Zugeständnissen. Neben religiösen Kräften formierten sich auch bewaffnete Organisationen wie die Volksfedajin und die Volksmojahedin. Die TPI-Untergrundorganisation Navid konnte die Auflage ihrer Zeitung am Vorabend der Februarrevolution von 1979 auf 240.000 Exemplare steigern. Mitglieder der Partei waren an den erbitterten Straßenkämpfen aktiv beteiligt.

Irans nationaldemokratische Revolution hatte ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten und war keineswegs, ein "islamisches Wunder". Ihre größte Schwäche bestand darin, daß in der neuen Führung die fortschrittlichen Kräfte trotz ihres großen Anteils am Sieg der Revolution nicht vertreten waren. Das betraf besonders die Arbeiterklasse. Hierin lag ein Grund für ihr späteres Scheitern. Durch die anfangs revolutionäre Stimmung und unter dem Druck der Volksmassen war die Regierung zu einer Reihe fortschrittlicher Maßnahmen gezwungen: der Nationalisierung von 70 % der großen Industriebetriebe, der Verstaatlichung des Außenhandels, dem Austritt aus dem CENTO-Pakt, der Ausweisung von US-Militärberatern u. a. m.

Der TPI gelang es nach 30 Jahren Illegalität, in kürzester Frist ihre Parteiorganisationen landesweit wieder aufzubauen und in der Gesellschaft, vor allem aber beim Proletariat großen Einfluß zu gewinnen. Ihre legale Tätigkeit war aber nicht von langer Dauer.

Die Forderung der TPI und der Volksmassen nach Festigung und Vertiefung der bereits eingeleiteten Reformen ging dem rechten Flügel der nun Herrschenden zu weit. 1982 kam es zum Generalangriff auf die Tudeh-Partei und deren Organisationen. Unter der Bezichtigung der Spionage für die UdSSR wurden in einer Nacht-und-Nebel-Aktion Zehntausende TPI-Mitglieder und fast die gesamte Parteiführung festgenommen, Hunderte Genossen, unter ihnen der Oberbefehlshaber der Marine, hingerichtet, die TPI erneut in die Illegalität getrieben. Auch in der Folgezeit erfolgten immer wieder Verhaftungen von Kadern der Partei und von anderen Patrioten. Nicht wenige wurden verschleppt und einige ermordet.

Durch brutale Unterdrückung der Protestbewegung nach der "Wahl" von Ahmadinedjad und Repressalien gegen Führer der "Grünen Welle" ist die demokratische Bewegung in ihrer Gesamtheit vorübergehend geschwächt. Es mangelt an der Stärke und Organisiertheit der Arbeiterbewegung sowie an der Verbindung zwischen ihr und allgemein-antidespotischen Kräften.

Die TPI strebt weiterhin die Bildung einer Antidiktatorischen Einheitsfront für Freiheit, Frieden, Unabhängigkeit, soziale Gerechtigkeit und Beseitigung des sogenannten Regimes der Rechtsgelehrten an.

Ghassem Niknafs, Hamburg

Raute

Ghanas Präsident gehörte zu den politisch klarsten Köpfen Schwarzafrikas

Wie die CIA Kwame Nkrumah stürzte

Am 24. Februar 1966 wurde Dr. Kwame Nkrumah, Präsident der westafrikanischen Republik Ghana, durch einen Staatsstreich abtrünniger Offiziere gestürzt. Die Nachricht vom Putsch in der einstigen britischen Kolonie Goldküste nahm man in "westlichen" Regierungskreisen mit Begeisterung auf. In jüngster Zeit sind zuvor geheimgehaltene Dokumente - diplomatische Depeschen und Berichte Eingeweihter - freigegeben worden. Aus ihnen lassen sich sowohl der Ablauf der Ereignisse als auch die Regie ausländischer Geheimdienste - vor allem der CIA - lückenlos rekonstruieren. Besonders deutlich wird dabei die Rolle der US-Administration unter Präsident Lyndon B. Johnson (1964-1968), der sich als besonders rabiater Protagonist des Mordfeldzuges in Vietnam hervortat. Washingtons Haß auf den hochgebildeten, auch mit marxistischen Vorstellungen vertrauten Staatsmann sozialer und panafrikanischer Orientierung kannte keine Grenzen.

Nkrumah selbst war sich der Bedrohung voll bewußt und warnte Politiker anderer junger Nationalstaaten des schwarzen Kontinents vor der auch über ihnen schwebenden Gefahr.

In seinem 1969 erschienenen Report "Dunkle Tage in Ghana" schrieb er: "Es läuft eine allumfassende Offensive gegen die fortschrittlichen, unabhängigen Staaten." Eine der Aufgaben der CIA und ähnlicher Dienste bestehe darin, "potentielle Quislinge und Verräter in unserer Mitte zu entdecken, um sie durch Bestechung oder das Inaussichtstellen politischer Macht zu ermutigen, die verfassungsmäßigen Regierungen ihrer Länder zu zerschlagen".

John Stockwell, ein in der benachbarten Elfenbeinküste (Côte d'Ivoire) zum Einsatz gelangter "Case Officer" deckte in seinen unter dem Titel "Auf der Suche nach Feinden: Eine CIA-Story" erschienenen Memoiren als erster die Karten der "Firma" auf: "Ich lernte die Geschichte durch Howard T. Banes - einen Freund - kennen, der damals "Station Chief" (Resident der CIA - RF) in Accra war." Die dortige "Station" sei durch die Zentrale in Langley dazu ermuntert worden, Kontakt zu Dissidenten (heute nennt man sie "Rebellen" - RF) der ghanaischen Armee aufzunehmen und Informationen über sie zu sammeln. Für solche Zwecke sei "ein generöses Budget" bereitgestellt worden. Kurz vor dem Coup, in dessen Verlauf auch acht sowjetische Berater Nkrumahs getötet wurden, habe sich dann "die Zusammenarbeit intensiviert".

Am 11. März 1965 - fast ein Jahr vor dem Putsch gegen Ghanas linksgerichteten Präsidenten - nahm William P. Mahoney, USA-Botschafter in Accra, an einer internen Beratung mit CIA-Direktor John McCone und dem stellvertretenden Leiter der Afrika-Abteilung des US-Geheimdienstes teil. Mahoney brachte dabei seine Genugtuung zum Ausdruck, daß Ghanas Wirtschaft im Chaos versinke, äußerte jedoch Zweifel daran, daß der vom amtierenden Polizeichef Harley und zwei Generälen der ghanaischen Armee namens Otu und Ankrah vorbereitete Staatsstreich auch tatsächlich stattfinde. Dennoch sei er überzeugt, daß Nkrumah innerhalb eines Jahres zu Fall gebracht werden könne. McCone fragte den Diplomaten, wer in einem solchen Falle als Nachfolger bereitstehe. Mahoney ließ den CIA-Direktor wissen, anfangs sei eine Militärjunta geplant.

Drei Wochen später traf sich Mahoney mit Nkrumah, der auf ihn einen erschöpften Eindruck machte. Der Präsident teilte seinem US-Gesprächspartner bei dieser Gelegenheit mit, er habe in letzter Zeit sieben Attentatsversuche überstehen müssen. Mahoney informierte Washington, Nkrumah sei mehr denn je überzeugt, "daß ihn die Amerikaner ausschalten wollten". Damit hätten auch die gegen ihn vorbereiteten Mordanschläge im Zusammenhang gestanden. Die Ereignisse in Kongo - der 1960 erfolgte Sturz der ersten freigewählten Regierung und die bestialische Ermordung seines Freundes Patrice Lumumba im darauf folgenden Jahr - seien ebenfalls das Werk der "unsichtbaren Regierung der USA" gewesen, konstatierte Nkrumah in seinem 1965 erschienenen Buch "Neokolonialismus: Das letzte Stadium des Imperialismus".

Als die Nachricht vom Tode Lumumbas Accra erreichte, hielt Nkrumah gerade eine Vorlesung an der mit Hilfe des ZK der SED geschaffenen Parteihochschule seiner People's Progressive Party (PPP) - der Fortschrittlichen Volkspartei, die auch den Marxismus in ihre Gesellschaftsbetrachtung einbezog. Dort lehrte übrigens auch die unvergessene amerikanische Kommunistin Grace Arnold, die zuvor an der Berliner Parteihochschule "Karl Marx" tätig gewesen war.

Am 27. Mai 1965 informierte Robert W. Komer seinen Vorgesetzten McGeorge Bundy, den Chefsicherheitsberater Präsident Johnsons, über den Verlauf der Anti-Nkrumah-Kampagne in Ghana. Komer war zuvor 15 Jahre lang auf das "Befriedungsprogramm für Vietnam" als CIA-Analytiker spezialisiert gewesen. "Wir werden bald einen westlichen Coup in Accra erleben. Einige Schlüsselfiguren aus Polizei und Armee planen ihn seit geraumer Zeit", teilte er mit. "Ghanas zugespitzte Wirtschaftslage wird dabei der Auslöser sein. Die Verschwörer halten uns auf dem laufenden. Wir stecken tiefer drin als die Briten."

Der Putsch ereignete sich dann neun Monate später. Wieder machte Komer, der unterdessen im Nationalen Sicherheitsrat der USA eine leitende Position einnahm, auf sich aufmerksam. In seiner Analyse des Geschehens für US-Präsident Johnson formulierte er: "Der Putsch in Ghana war für uns ein Glücksfall. Nkrumah tat mehr zur Untergrabung unserer Interessen als jeder andere Schwarzafrikaner. Als Reaktion auf seine starken prokommunistischen Neigungen ist das neue Militärregime fast pathetisch prowestlich."

Drei Jahre später schrieb der ins Exil nach Guinea vertriebene rechtmäßige ghanaische Präsident: "Der Wechsel des Regimes und die Einsetzung einer Marionettenregierung stützten sich auf massive Gewalt."

Damals Ghana - heute Afghanistan und Libyen. Und morgen? Man muß den "Rebellen" und ihren Auftraggebern rechtzeitig in den Arm fallen. Überall.

RF, gestützt auf "The Guardian", Sydney

Raute

Ein Amokläufer signalisiert das Maß der faschistischen Gefahr

Schockstarre in Norwegen

Norwegens fünf Millionen Staatsbürger, von denen 12,2 % im Ausland geboren wurden, stehen noch immer unter dem Schock der beiden Massenmorde, die sich am 22. Juli mit beispielloser Grausamkeit in der Landeshauptstadt und im Feriencamp des der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei nahestehenden Jugendverbandes auf der Insel Utøya zutrugen und 77 Opfer forderten. Dem verheerenden Bombenanschlag im Osloer Regierungsviertel folgte der Amoklauf des zwar geständigen, sich aber für schuldlos haltenden 32jährigen Anders Behring Breivik, der zuvor nur im Internet auffällig geworden war.

Auf seiner Homepage hatte der Verursacher des furchtbaren Blutbades unmittelbar vor beiden Taten ein 1516 Seiten umfassendes Schriftstück mit dem Titel "2083: Eine europäische Unabhängigkeitserklärung" veröffentlicht, die augenscheinlich Ereignisse wachrufen will, welche sich 1683 zutrugen. Damals hatten die christlichen Armeen des Polen-Königs Jan Sobieski die islamischen Truppen des Ottomanischen Reiches vor Wien zurückgeworfen und so die Einnahme der Donaumetropole durch die Türken verhindert. Breivik wählte für sein von Haß gegen Andersdenkende - vor allem Moslems, Einwanderer und Marxisten - triefendes Elaborat offenbar bewußt das Pseudonym Andrew Berwich - eine Referenz an James Fitzjames, den Erzherzog von Berwich, einen illegitimen Sohn des Königs James II. von England, der als General ebenfalls gegen die Türken zu Felde gezogen war.

Der Anschlag von Oslo richtete sich gezielt gegen die in der Einwanderungsfrage liberale Dreierkoalition von Ministerpräsident Jens Stoltenberg, die aus seiner Arbeiterpartei, der Sozialistischen Linkspartei und der bürgerlichen Zentrumspartei besteht.

In seinem "Manifest" bezeichnet Breivik sich selbst als Teil einer Bewegung zur Wiedergeburt der Templer, deren Orden im Jahr 1120 während der Kreuzzüge geschaffen worden war, um den Islam in Palästina auszurotten. Übrigens hat sich Breivik - im Unterschied zu den meisten anderen Rechtsradikalen - keineswegs als Antisemit zu erkennen gegeben. Im Gegenteil: Er bezeichnet sich als Bewunderer Israels, das zu den "standhaftesten Verbündeten im Kampf gegen die Moslem-Invasion" gehöre.

Norwegen ist zwar der NATO, nicht aber der EU beigetreten. Nach Breiviks Anschlägen hat Oslo seine vier Kampfflugzeuge aus Afghanistan mit der Begründung zurückbeordert, sie würden "zum Schutz der eigenen Seegrenzen im Norden" benötigt.

Die Herostraten-Taten des Amokläufers - Breivik will offenbar wie einst Herostratos, der den Tempel der Diana auf der Akropolis anzündete, um so in die Geschichte einzugehen, zu trauriger Berühmtheit gelangen - richteten sich vor allem auch gegen Immigranten. Die Einwanderungsquote nach Norwegen ist seit Jahren recht hoch: Unter den neuen Landesbürgern befinden sich 60.000 in Polen Geborene, während 32.000 aus Pakistan und 28.000 aus Irak stammen. Die meisten Neu-Norweger haben sich in Oslo und größeren Städten angesiedelt.

Alle politischen Parteien des skandinavischen Königreichs - von ganz rechts bis zu den Kommunisten - haben die Massenmorde Breiviks auf das schärfste verurteilt und ihre Treue zur verfassungsmäßigen Ordnung bekundet. Dennoch dürfte sich dieser in Kreisen der mittlerweile fast ganz Europa regierenden rechtskonservativen und bürgerlich-liberalen Parteien durchaus geheimer Sympathien erfreuen. Im Herrschaftsbereich der Camerons, Berlusconis und Sarkozys - von Ungarns …rban und dessen baltischen Blutsbrüdern ganz zu schweigen - ist so mancher vermutlich froh, daß man jetzt nach der Devise "Haltet den Dieb!" auf Breivik zeigen und dessen Schreckenstaten anprangern kann, zumal die einhellige Verurteilung eines Massenmörders von der Tatsache ablenkt, daß dessen Ideologie hier oder dort von der eigenen "Weltsicht" gar nicht so weit entfernt ist.

RF, gestützt auf "People's World", USA

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Geburtstagsgrüße an Fidel

Fidel Castro - dem standhaften Kommunisten, unbestechlichen Führer der kubanischen Revolution und Vorkämpfer für soziale Menschenrechte - gingen zu seinem 85. Geburtstag am 13. August Glückwünsche aus aller Welt zu. Unter den Gratulanten befanden sich auch die beiden Vorsitzenden der Linkspartei, Gesine Lötzsch und Klaus Ernst. Der in ihrem Namen übermittelte Text entsprach dem Anlaß und drückte die Gefühle vieler Menschen in der BRD aus - nicht zuletzt der Genossinnen und Genossen der AG Cuba Sí.

Die SPD-nahe und antikommunistische PDL-Rechte zog sofort wütend vom Leder. Während sich Fraktionschef Gregor Gysi auf die "feine englische Art" distanzierte, indem er erklärte, der Glückwunsch sei zwar o. k., er selbst hätte ihn aber völlig anders geschrieben, gaben sich die beiden Unterzeichner als von Mitarbeitern des Karl-Liebknecht-Hauses "Überrumpelte" aus. Ein Selbsttor mehr!    RF


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Fidel und Nelson Mandela, Havanna, 1991 - Venezuelas Präsident Hugo Chávez betrachtet Fidel Castro als Vaterfigur und Vorbild.

Raute

Westbengalen - Indiens für uneinnehmbar gehaltene rote Trutzburg - fiel nach 34 Jahren an die Rechte

Die bittere Lektion von Kalkutta

Westbengalen mit seiner 11-Millionen-Metropole Kalkutta steht - der Bevölkerungszahl nach - an vierter Stelle unter Indiens Unionsstaaten. Dort leben 90 Millionen Menschen.

Bis zu den Wahlen im Mai amtierte seit 1977 ohne Unterbrechung eine von der Kommunistischen Partei Indiens (Marxistisch) geführte Regierung der Linksfront. Doch das einst für unvorstellbar Gehaltene, das sich bereits vor geraumer Zeit abzuzeichnen begann, trat ein: Die Linke wurde an den Urnen nicht nur - wie von Meinungsforschern prognostiziert - knapp geschlagen, sondern erlitt eine erdrutschartige Niederlage.

Die Gründe für das Debakel der KPI (M) und ihrer Bündnispartner sind nicht in erster Linie politischer, sondern vor allem sozialökonomischer Natur: Die sich im Wahlresultat niederschlagende Frustration der Stadtbevölkerung ergab sich besonders aus der alle europäischen Maßstäbe sprengenden Arbeitslosigkeit des überwiegenden Teils der Erwerbsfähigen. Während es in den urbanen Zentren schon früher rumorte, ist die Unzufriedenheit in den ländlichen Regionen als eine neue Erscheinung zu betrachten. Sie hängt nicht zuletzt mit dem bürokratischen Arbeitsstil etlicher Funktionäre der Linksfront bei der forcierten Erfassung von Bauland für die objektiv dringend notwendige Industrialisierung Westbengalens zusammen.

Nach dem zügigen Verlauf des als "Operation Barga" bekanntgewordenen Bodenverteilungsprogramms für landlose Bauern und die Dorfarmut hatten die Kommunisten zunächst einen hohen Popularitätszuwachs verbuchen können, der "das Dorf" als ihre uneinnehmbare Festung erscheinen ließ. Doch dieser Kredit ist offenbar weitgehend aufgebraucht. Nach Ansicht des indischen Journalisten Kumar Sarkar ist der KPI (M) nach ihrer überaus erfolgreichen Kampagne gegen die feudalen Kräfte auf dem Lande jetzt "der Dampf aus den Kesseln entwichen", da sie keine weiteren Schritte zur systematischen Überwindung der anachronistischen Lebensbedingungen in diesen Regionen mehr unternommen hat. Der dadurch ausgelöste Enttäuschungseffekt wurde von rechten Demagogen geschickt genutzt.

Hinzu kommt augenscheinlich, daß saturierte Funktionäre allzusehr davon überzeugt waren, die Linksfront könne "auf ewige Zeiten" weiterregieren und werde auch diesmal "ganz automatisch" die dafür nötigen Stimmen auf ihrer Liste vereinen. Das aber war eine Fehlkalkulation. Rechtsgerichtete und chauvinistische Kräfte wurden nicht nur an die Spitze des Unionsstaates geschwemmt, sondern übernahmen auch die Verwaltungshoheit in dessen Hauptstadt Kalkutta.

Zum politischen Erdrutsch in Indien gehörten auch Verluste im südlichen Unionsstaat Kerala - der zweiten traditionellen Hochburg der Kommunisten. Dort war der Rückschlag allerdings nicht so dramatisch wie in Westbengalen. Nach Auffassung journalistischer Beobachter hatte sich die KPI (M) durch ihre lange Regierungsdauer politisch abgenutzt, ihren anfangs scharfen Biß weitgehend verloren und sich Schritt für Schritt in eine Partei mit teilweise sogar reformistischen Zügen verwandelt, wenn diese auch nicht von der Art der westlichen Sozialdemokratie waren. Sieben aufeinanderfolgende Siege bei den Wahlen zur Gesetzgebenden Versammlung des Unionsstaates führten trotz engagierten Einsatzes einer disziplinierten und parteiergebenen Mitgliedschaft in Führungskreisen der Linksfront zu Erscheinungen ungesunder Selbstzufriedenheit.

Unter Indiens zentralistischem Fiskalsystem besitzen die einzelnen Unionsstaaten nur äußerst begrenzte finanzielle Spielräume. Ohne eine rasche und umfassende Industrialisierung, die neue Jobs in größerer Zahl bereitstellen würde, kann der urbanen Arbeitslosigkeit der Boden nicht entzogen werden. Unter den geschilderten Umständen ist bei breiten Schichten der proletarischen und halbproletarischen oder an den sozialen Rand gedrängten Bevölkerung eine klassenbewußte Haltung nicht einmal in Ansätzen zu beobachten. Solche Wähler unterstützen bei populären Angeboten bereitwillig die Linke, schwenken aber bei einer sich plötzlich verändernden Situation und populistischen Gegenofferten der Rechten ebenso leicht zu dieser um. Überdies gilt es zu beachten, daß 34 Jahre ununterbrochener "Machtausübung" im Maßstab eines so großen und einwohnerstarken Unionsstaates wie Westbengalen ganze Scharen von Karrieristen hervorbringen, die sich - ohne tatsächliche ideologische Bindung an die Partei oder die Sache - für Kommunisten ausgeben, um so den "Futtertrögen" näher zu sein. Auch das Phänomen hier und dort um sich greifender Korruption dürfte zur Schwächung der Linksfront beigetragen haben. Diese Vertrauensverluste wurden vom regionalen Trinamuh-(Graswurzel-)Kongreß und der Allindischen Kongreß-Partei - den beiden Hauptformationen der Reaktion - geschickt ausgenutzt. Unter der Maske von Anwälten für "sauberes Regieren" sowie für "Recht und Ordnung" auftretend, stellten sie zugleich "zahlreiche neue Arbeitsplätze" in Aussicht.

Eine ganz maßgebliche Rolle spielten wie anderswo auch die Medien im Dienste der Bourgeoisie und der Feudalen. Deren "Nachrichtengebung" und "Informationspolitik" attackierten unablässig die Linksfront, deckten deren Defizite gnadenlos auf und streuten Salz in die Wunden. Die von ihnen systematisch und hochdosiert betriebene Irreführung verfing bei großen Teilen der schwankend gewordenen Wählerschaft.

Das Scheitern der Linksfront in Westbengalen und deren Verluste in Kerala sind zweifellos empfindlich. Die Scharte dürfte kaum kurz- oder mittelfristig auszuwetzen sein und ist mehr als ein bloßer Warnschuß vor den Bug. Doch die erfahrene kommunistische Bewegung des Milliardenvolkes im Riesenland am Ganges - vor allem die KPI (M) und die parallel zu ihr bestehende KPI - sind nach wie vor ein wichtiger Teil des politischen Spektrums und besitzen auch weiterhin solide Positionen sowie hinreichenden Einfluß, um - durch die jüngsten Erfahrungen bereichert - den Kampf unbeirrt fortzusetzen.

RF, gestützt auf "The New Worker", London


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Mitglieder der KP Indiens (Marxistisch) bei einer Demonstration in Kalkutta am Vorabend der Wahlen zum Parlament des Unionsstaates Westbengalen

Raute

In Brest trotzten Rotarmisten 32 Tage dem faschistischen Ansturm

Heldengedenken in Belarus

In der Nacht vom 21. zum 22. Juni befanden wir uns kurz nach drei Uhr auf dem Weg zur Heldenfestung von Brest. Die Stadt liegt in der Republik Belarus, am Zusammenfluß von Bug und Machawez. Ganz Brest schien in dieser Nacht auf den Beinen zu sein.

Es war ein historisches Datum: Genau 70 Jahre zuvor wurde der weißrussische Vorposten zu dieser Stunde von hitlerfaschistischen Aggressoren unter konzentrischen Artilleriebeschuß genommen. Die Wehrmacht hatte Befehl, die Zitadelle der Festung innerhalb von acht Stunden zu erobern. Doch sie hatte nicht mit dem erbitterten Widerstand der Verteidiger gerechnet. Heldenhaft wehrten sich Rotarmisten aus 30 Nationalitäten der UdSSR. 32 Tage hielten sie stand! Flächenbombardements der Luftwaffe, massiver Artilleriebeschuß und der Einsatz von Flammenwerfern verhalfen den übermächtigen Belagerern schließlich zum Erfolg. Inschriften, die von den Überlebenden mit dem Bajonett in die Mauerreste geritzt wurden, künden Heroisches: "Ich sterbe, aber ich ergebe mich nicht. Lebe wohl, Heimat! 20. Juli 1941." Solche Worte zeugen davon, daß die militärische Übermacht der Faschisten zwar gesiegt hatte, die Moral der roten Kämpfer aber ungebrochen war.

Die Verteidigung der Festung Brest wurde zur ersten großen Belastungsprobe für den Widerstandsgeist und die Opferbereitschaft der Roten Armee. Sie legte den Grundstein für die späteren Siege vor Moskau, in Stalingrad, im Kursker Bogen und schließlich in der großen Schlacht um Berlin. Die Feier, an der wir teilnehmen durften, ging zu Herzen. An der ewigen Flamme des Ehrenmals mit seinem 100 Meter hoch in den Himmel ragenden Obelisk legten Abordnungen in Uniform und Zivil Blumen und Kränze nieder. Auch unsere Gruppe, zu der Abgesandte der GBM, der GRH, von ISOR und dem jungen NVA-Traditionsverband gehörten, beteiligte sich tief bewegt an dieser Ehrung.

Tags zuvor hatte auf Einladung der Gebietsverwaltung und der Brester Puschkin-Universität eine Konferenz zum Thema "Das Jahr 1941 - Tragödie, Heldentum, Gedenken" stattgefunden. In ihrem Verlauf äußerten sich Abgesandte aus elf Ländern zu den Lehren des gerechten Verteidigungs- und Befreiungskrieges gegen den Faschismus. In seiner Eröffnungsansprache bezeichnete der Vorsitzende der Brester Gebietsverwaltung Beginn und Verlauf des Krieges als eine schreckliche Tragödie, die von bitterem Leid und durch herausragende Heldentaten wie die Verteidigung der Festung gekennzeichnet gewesen sei. Es gelte, das Vermächtnis all jener, welche gegen die Nazi-Okkupanten gekämpft hatten, auf ewig wachzuhalten.

Wie ein roter Faden zog sich die Erkenntnis durch die anschließende Debatte, daß es ein unumstößliches Verdienst der Roten Armee sei, die Völker der Welt von der Barbarei des Faschismus erlöst zu haben. Deshalb müßten die Auffassungen gewisser Historiker, den Großen Vaterländischen Krieg zu einer Auseinandersetzung "zwischen zwei Diktatoren" - Hitler und Stalin - umzudeuten, entschieden zurückgewiesen werden.

Bruno Mahlow, Mitglied des Ältestenrates der Partei Die Linke und Mitglied des Präsidiums des Europäischen Friedensforums, der für unsere Delegation auf der Konferenz sprach, stellte fest, zur Diffamierung des Sozialismus und der Sowjetunion gehöre die Gleichstellung von Hitler und Stalin. Sie diene als Totschlags-Argument. Totalitarismus und Stalinismus seien antikommunistische Kampfbegriffe und in Wahrheit nichts anderes als die Gleichstellung von Kommunisten und Faschisten.

Redner aus dem In- und Ausland betonten auf der Brester Konferenz, daß es heute darum gehe, Solidarität mit Belarus, seiner Führung und seinen Bürgern zu üben. Im 70. Jahr nach dem Überfall des faschistischen Deutschlands auf die UdSSR sei die Verbundenheit mit Belorußland, das im Krieg die größten menschlichen und materiellen Opfer aller früheren Sowjetrepubliken habe erbringen müssen, eine besondere Verpflichtung. Das Land verfolge heute seinen eigenen Weg, der allerdings den Interessen und Vorstellungen gewisser Mächte des kapitalistischen Europa zuwiderlaufe.

Im Museum der Brester Heldenfestung konnten sich die Konferenzteilnehmer davon überzeugen, daß den Besuchern ein anschauliches und wahrheitsgemäßes Bild des Großen Vaterländischen Krieges vermittelt wird.

Eine Grafik von Ronald Paris mit dem Titel "Die Toten leben länger als die Lebenden", welche unsere Abordnung überreichte, war mehr als ein bloßes Dankeschön. Sie drückte aus, was wohl jeder nach dem Museumsrundgang empfand.

Jochen Fischer, Berlin

Raute

Portugals "Avante!" würdigt Courage der "jungen Welt"

Die in Lissabon erscheinende Wochenzeitung "Avante!" hat die inzwischen bereits historische Aufmachung der "jungen Welt" vom 13. August gewürdigt. Kurz vor seinem diesjährigen Volks- und Pressefest auf der Quinta de Atalaia, an dem wieder Hunderttausende begeisterte Besucher teilnahmen, brachte das von Februar 1931 bis April 1974 illegal erschienene Organ der Portugiesischen Kommunistischen Partei (PCP) eine Reproduktion der zur Scheidelinie zwischen Linken und Rechten, Roten und Rotdrapierten gewordenen jW-Titelseite mit einem ausführlichen Begleittext.

Darin hieß es u. a.: "An jenem Tag, an dem die deutschen Behörden den 50. Jahrestag des Baus der Berliner Mauer mit einer heftigen Verteufelung des sozialistischen Regimes begingen, schrieb die Tageszeitung 'junge Welt' auf ihrer Titelseite:

'Wir sagen hier einfach mal Danke!'"

Im folgenden wurden die 13 Gründe der jW für deren Bekenntnis erwähnt.

"Avante!" berichtete auch über die aufrechte Haltung der PDL-Politikerin Marianne Linke, die ihre Stimme des Widerspruchs gegen den antikommunistischen Chor erhoben habe.

RF

Raute

Zur Lüge vom sowjetischen Verrat am Warschauer Aufstand

Kaum ein Jahrestag des Warschauer Aufstandes (er wurde Anfang August 1944 ausgelöst) vergeht, ohne daß der Roten Armee unterstellt wird, sie habe die polnischen Kämpfer im Stich gelassen. "Die tapferen Aufständischen haben vergeblich auf die Hilfe der Roten Armee gewartet", hieß es in einer ZDF-Dokumentation, nachdem man noch kurz zuvor eingeräumt hatte, daß "die Aufständischen Warschau vor dem Eintreffen der Roten Armee unter ihre Kontrolle bringen wollten". Nun ist es zumindest unredlich, einer Armee, der man selbst zuvorkommen wollte, ihr Nichteingreifen vorzuwerfen. Aber alles ist erlaubt, kann man den "Russen" etwas am Zeug flicken.

Dieses Jahr unterließ es auch die ARD nicht, eine alte Lüge zu wiederholen: "200.000 Polen starben vor den Augen der Roten Armee, die nicht in die Kämpfe eingriff."

Im Rahmen der Sommeroffensive der sowjetischen Streitkräfte waren die Truppen der 1. und 2. Belorussischen Front sowie die 1. Polnische Armee aus Richtung Minsk kommend nach schweren Kämpfen bis zur Weichsel vorgestoßen. Die Soldaten waren erschöpft und ihre Einheiten ausgeblutet, die Forcierung des Flusses am Ende der Offensive war nicht mehr möglich, so daß man zur Verteidigung überging.

Der sowjetische Marschall Shukow erinnert sich: "Ende September 1944 ­... erhielt ich vom Obersten Befehlshaber den Auftrag, in den Raum Warschau an die Abschnitte der 1. und 2. Belorussischen Front zu fahren. Vor allen Dingen wollte ich die Lage in Warschau selbst prüfen, wo sich die Einwohner vor einigen Wochen gegen die deutschen Okkupanten erhoben hatten. Die faschistische Führung war besonders brutal gegen die Aufständischen vorgegangen und hatte sich an der Bevölkerung grausam gerächt.

Das Oberkommando der Front und die Führung der 1. Polnischen Armee waren von Bor-Komorowski (Befehlshaber der Armia Krajowa, H. E.) über den bevorstehenden Aufstand der Warschauer nicht unterrichtet worden. Er hatte es unterlassen, ihn mit den Handlungen der 1. Belorussischen Front zu koordinieren. Die Führung der sowjetischen Truppen erfuhr erst von Einwohnern Warschaus, die über die Weichsel geschwommen waren, vom Aufstand. Auch das Hauptquartier war nicht davon in Kenntnis gesetzt worden." Und das hatte seinen Grund.

Polens Regierung, die im Vorfeld des Kriegsbeginns jedes sowjetische Beistandsangebot abgelehnt und sich auf Frankreichs und Großbritanniens diesbezügliche Erklärungen verlassen hatte, war nach der Niederlage im September 1939 zunächst nach Rumänien, dann nach Großbritannien geflohen. In London hielt sie Hof und spann ihre Fäden. Durch die mit der Exilregierung in Verbindung stehende "Armia Krajowa" (AK) - die sogenannte Landesarmee - sollten der "Warschauer Aufstand" ausgelöst, Polens Hauptstadt unter die Kontrolle der alten Regierung gebracht und so deren Hoheitsrechte über Polen manifestiert werden, ehe die sowjetischen Truppen Warschau erreicht hätten. Der Heroismus der Aufständischen war bewundernswert, die Abenteuerlichkeit des Vorhabens jedoch unverantwortlich. Tausende kamen dabei ums Leben. Die Stadt wurde bis auf die Grundmauern zerstört. Aber der Aufstand forderte nicht nur Opfer unter Polen, sondern kostete auch sowjetische Menschen das Leben.

"Im Auftrag des Obersten Befehlshabers", so berichtet Marschall Shukow weiter, "sprangen zwei Verbindungsoffiziere mit Fallschirmen über der Stadt ab. Bor-Komorowski empfing sie jedoch nicht. Zur Unterstützung der Warschauer überwanden sowjetische und polnische Truppen im Auftrag des Oberkommandos der 1. Belorussischen Front die Weichsel und bildeten auf dem Westufer Brückenköpfe. Doch Bor-Komorowski tat wiederum nichts, um zu uns Verbindung herzustellen. Nach etwa einem Tag zog der Gegner bedeutende Kräfte heran und begann uns zurückzudrängen. Es entstand eine schwere Lage. Wir hatten große Verluste. Nach Erörterung der entstandenen Situation beschloß das Oberkommando der Front, da wir noch nicht dazu in der Lage waren, Warschau zu befreien, die Truppen auf das Ostufer zurückzuziehen." Trotzdem leistete die 1. Belorussische Front den Aufständischen während der ganzen Zeit Hilfe; ihre Flugzeuge versorgten sie mit Nahrungsmitteln, Medikamenten und Munition. Angesichts dieser Tatsachen ist die Lüge vom "Im Stich Lassen" besonders dreist.

Am 2. Oktober kapitulierten die tapferen Warschauer. Am 13. Januar 1945 wurde die Hauptstadt an der Weichsel durch die 1. Polnische Armee und Teile der Belorussischen Front befreit.

Marcel Reich-Ranicki, der sich damals in einem Warschauer Vorort auf der rechten Seite der Weichsel aufhielt, beschreibt in seinen Erinnerungen den Tag seiner Befreiung: "... Am 7. September war morgens gegen neun Uhr ein ungeheuerlicher Kriegslärm zu hören, alles bebte - und unsere Laune wurde immer besser: Nie habe ich Krach mehr genossen, nie hat mir Lärm mehr gefallen. Denn das war die Rote Armee, das war ihre von uns erwartete, erhoffte, ersehnte Offensive. Schon nach einer Viertelstunde befand sich unser Haus zwischen den Fronten. Aus dem Fenster der westlichen Seite sah man, erschreckend nahe, deutsche Artilleristen, auf der östlichen in einiger Entfernung - wir trauten unseren Augen nicht - tatsächlich russische Infanteristen. Dann pochte jemand kräftig, offenbar mit einem Gewehrkolben, an die Haustür. Bolek öffnete sie zitternd und mit erhobenem Haupt. Vor ihm stand ein müder russischer Soldat und fragte laut: 'Nemzew njet ...?' - 'Keine Deutschen hier?'"

Heinz Ehrenfeld, z. Zt. Kreta

Raute

Volkssänger und Kampfgefährte der Kommunisten

Woody Guthrie - eine Legende des "Anderen Amerika"

In diesem Jahr hat der Verlag "University of Illinois Press" eine von Fairneß durchdrungene Schrift Will Kaufmans über einen großen Folksinger herausgebracht. Unter dem Titel "Woody Guthrie: Ein amerikanischer Radikaler" wird der kämpferische Lebensweg eines in seiner Art einmaligen Künstlers dargestellt, der schon zu Lebzeiten in die Annalen der "Folksong Culture" der USA eingegangen ist. Der Begriff umreißt eine relativ lang anhaltende und äußerst bedeutsame Etappe im Liedschaffen jener gesellschaftlich progressiven und künstlerisch reichen antikapitalistischen Basisbewegung, die man als das "Andere Amerika" bezeichnet.

Woody Guthries Werk umfaßte über 1000 Songs. Viele von ihnen waren voll beißender Ironie und Ausdruck eines geradezu wilden Aufbegehrens. Aber nicht selten besang er auch die Schönheit seiner nordamerikanischen Heimat.

Heute eine Legende, wurde der 1912 geborene Songwriter auf dem Höhepunkt seiner Schaffensperiode unablässig von FBI-Agenten beschattet, weil ihn die herrschende Klasse der USA als Teil einer nur folkloristisch getarnten Verschwörung zum Sturz der gottgewollten Ordnung betrachtete. Der Grund: Er hatte sich ganz und gar der Arbeiterklasse und anderen Entrechteten verschrieben. Guthrie kämpfte mit den damals jungen Gewerkschaften des CIO und geißelte "Jim Crow", wie man den gegen Schwarze gerichteten Rassismus personifizierte. Fast ganz allein auf sich gestellt, war er der Begründer eines neuen Liedgenres: des Protestsongs. In den Augen nicht weniger galt der große Folklorist als ein Revolutionär mit bisweilen anarchistischen Zügen. Die viele Facetten umfassende linke Kulturbewegung (Left Cultural Movement) der 30er und 40er Jahre begann mit dem Aufgreifen alter Volksweisen, bevor sie der Radikalismus der Industriearbeiterschaft und die Leitidee des Marxismus erreichten. Woody Guthrie verband sich in jener Zeit mit organisierten Kräften der Arbeiter- und der Bürgerrechtsbewegung, folgte dem Ruf nach Frieden, engagierte sich im Kampf gegen den Faschismus und die innenpolitische Unterdrückung durch die in den Vereinigten Staaten herrschende Reaktion.

In seinen Texten - Poesie wie Prosa - war er von dem Gedanken, seine Ablehnung des Bestehenden in die Öffentlichkeit hinauszuschreien, beseelt. Dabei neigte er bisweilen auch zu ultralinken Übertreibungen. Insgesamt aber schuf Woody einen Schatz wertvoller und leicht handhabbarer Texte. Mit der KP der USA kam der Künstler zuerst über seinen Song "Mr. Tom Mooney is Free", den er nach der Begnadigung des aktiven Gewerkschafters, den die USA-Klassenjustiz trotz erwiesener Unschuld für mehr als 20 Jahre ins Gefängnis gesteckt hatte, in Kontakt.

Guthrie stand auch dem kommunistischen Romancier John Steinbeck nahe. Mit dem Autor von "Früchte des Zorns" gab er u. a. ein Konzert. Über die Grenzen der USA hinaus ist wohl Guthries berühmtes Lied "This Land is Your Land" (Dies Land ist Dein Land) am populärsten geworden. In Kaufmans Buch finden auch andere kommunistische Kulturschaffende jener Periode wohlwollende Erwähnung.

Übrigens wurde Woodys unerschütterliche Ergebenheit in die Sache der KP der USA, deren Mitglied er nie war, bisweilen auch auf den Prüfstand gestellt. Die Konfliktgründe dürften wohl nicht immer nur bei ihm gelegen haben.

Unter den bedeutenden Musikschaffenden, mit denen Guthrie in Verbindung stand, befand sich der längere Zeit als Emigrant in den USA lebende Hanns Eisler, der spätere Komponist der DDR-Nationalhymne.

In Zusammenarbeit mit Pete Seeger kam das wertvolle Liederbuch "Hard Hitting Songs for Hard Hit People" (Hart treffende Songs für hartgetroffene Leute) zustande. Es bringt Guthries ganze Wut auf den Kapitalismus, die sich in seinem Ruf nach der sozialistischen Revolution Bahn bricht, wohl am deutlichsten zum Ausdruck.

Die Darstellung der Verbundenheit Woodys mit der KP der USA, deren "Kulturattaché" er manchmal genannt wurde, durchdringt Kaufmans gesamte Biographie. Während des Krieges gegen die faschistischen Achsenmächte Deutschland, Italien und Japan empfand sich Guthrie geradezu als Frontsoldat: Seine Rundfunkaufzeichnungen, Artikel und Songs aus jener Zeit legen Zeugnis davon ab. Zu seinen engen Freunden zählten übrigens auch die Almanac-Singers, deren revolutionäre Disziplin er sich indes nicht zu eigen machen wollte. Kurz nach ihrer Ankunft in New York hatte sich die Gruppe zum Parteihauptquartier begeben und war dort geschlossen in die KP eingetreten.

Als es in der ersten Nachkriegsphase zu einer Spaltung zwischen den ideologisch festgebliebenen Genossen und der Gruppe um den seinerzeitigen Generalsekretär Earl Browder, der die KP zugunsten einer nebulösen Vereinigung mit dem Namen Communist Political Association aufgelöst hatte, gekommen war, stand Guthrie auf der Seite jener, die für eine Wiederherstellung der Bewegung als Partei eintraten. In der Zeit der antikommunistischen Hexenjagden Senator McCarthys und des berüchtigten Ausschusses zur Untersuchung Unamerikanischen Verhaltens sowie als Teilnehmer des von Faschisten attackierten Paul-Robeson-Konzerts in Peekskill erlebte Woody Guthrie eine der schlimmsten Niedergangsphasen der kommunistischen Bewegung in den USA.

In seiner letzten Lebensspanne wurde der große Songwriter durch eine ihn zur Tatenlosigkeit verurteilende schwere Krankheit weitgehend außer Gefecht gesetzt. Er starb am 3. Oktober 1967.

RF, gestützt auf "The Guardian", Sydney

Raute

Führt die Wissenschaft unter kapitalistischen Bedingungen "automatisch" zum Schwinden menschlicher Beschränktheit?

Der Knall mit dem "Urknall"

Im Mai-RF wirft Rudolf Dix die Frage auf: "Sollte Einstein aber auch mit der Unendlichkeit der Dummheit der Menschen recht behalten?" Er beantwortete sie folgendermaßen: "Das zu vermuten, würde bedeuten, einen Stillstand in der Entwicklung von Wissenschaft und Technik zu akzeptieren. Doch beide - von Menschen betrieben - schreiten stürmisch voran."

Der Verfasser hat leider die Frage "Wohin?" unterlassen. Und das ist nicht der einzige Wermutstropfen, den ich in seinen Becher der Freude perlen lasse. Er übersieht nämlich, daß es sich erstens nicht um irgendeine, sondern um bürgerliche Wissenschaft handelt, die dem Diktat der Profit- und Kommerzidiotie unterworfen ist.

Zweitens haftet der Entwicklung generell die Eigentümlichkeit an, auch rückläufig sein zu können, was keineswegs immer offen zutage treten muß. Das Gegenteil ist häufig der Fall. Schließlich kann sich der Rückschritt sogar stürmisch entwickeln, wofür die Gegenwart leider mehr als genug Anschauungsunterricht erteilt. Beiläufig empfiehlt sich auch ein Blick auf das Militär und die Geheimdienste des Imperialismus, deren Verfügung über enorme Potenzen der Wissenschaft nicht gerade ein Springquell heller Zuversicht ist. Schließlich stellt sich die Frage, aus welchen Quellen der stürmische Fortschritt von Wissenschaft und Technik seine unendlich sprudelnde Triebkraft schöpft.

Es gehört schon einige Verwegenheit dazu, in Leuten, die nicht einmal mehr richtig lesen und schreiben können, deren Begriffsvermögen von der eigenen Sprache, und mithin deren Denken überhaupt unaufhaltsam und mit atemberaubender Geschwindigkeit einem Zustand aus Analphabetismus und Infantilismus entgegengeführt wird, Hoffnungsträger eines soliden Verstandes zu wittern. Und wo noch solide Bildung ein Asyl findet, wird sie unbrauchbar, weil sie in dieser historisch impotenten Gesellschaft keine Verwertung mehr findet. Und an dieser geistigen Verwüstung sind die bürgerlichen Wissenschaften mit ihrem maßlosen Devotismus gegenüber dem Kapital tatkräftig beteiligt, was sie schon oft genug unter Beweis gestellt haben.

Mit der Aufklärung hat das Bürgertum eine rigorose geistige Aufrüstung betrieben. Heute ist es ebenso rigoros mit der geistigen Abrüstung beschäftigt - die einzige, bei der es Konsequenz und Zuverlässigkeit nicht vermissen läßt. - Eines der unsterblichen Verdienste der Aufklärung war die Befreiung der Wissenschaft von der Theologie. Heutzutage feiert der religiöse Fanatismus fröhliche Urständ und verbindet sich mit dem Größenwahn gewisser Physiker zu einer denkwürdigen Synthese. Diese apostrophieren ihr Fach in aller Bescheidenheit als die Naturwissenschaft. Ihr "Urknall" ist die adäquate Form einer Synthese mit der Theologie. Werden sie mit der Wahnidee vom unverursachten Wunder aus dem Nichts des akuten und unaufhebbaren Beweisnotstandes überführt, weil sie als selbsternannte Sachwalter der Naturgesetze damit gewissermaßen gegen alle Naturgesetze verstoßen, ficht es sie keineswegs an. Sie verkünden ihren unheiligen Katechismus, dem sie skrupellos alles unterwerfen, als absolute Wahrheit.

Tatsächlich ist die sogenannte Urknall-Theorie keine Umwälzung der Wissenschaften, sondern nichts anderes als die Selbstentleibung der Physik als Wissenschaft. Ihre Erfinder haben - wie der Berliner zu sagen pflegt - einen Knall!

In ihrem Alleinvertretungsanspruch und als Abonnentin der absoluten Wahrheit macht der Physik inzwischen die Genetik erfolgreich Konkurrenz. Alles sei eine Sache der Gene, sogar soziale Verhaltensweisen - Stichwort: Kriminalitäts-Gen.

In völliger Ahnungslosigkeit in bezug auf Bedingungen und Gesetze menschlicher wie gesellschaftlicher Existenz stapelt man soziale Phänomene, die bereits vor gut hundert Jahren zufriedenstellend erklärt wurden, zu gigantischen Weltenrätseln hoch, deren Lösung selbstverständlich nur in den Genen zu suchen sein könne. Davon beflügelt, marodieren Genetiker munter durch die Welt der Wissenschaften, wildern in fremden Revieren, bringen deren Eigner in Rechtfertigungszwänge und verwickeln sie in Abwehrschlachten, bei denen sich die so Attackierten zugrunde richten. Schließlich regiert der Kommerz. Auf dem Gen ist indes lediglich die Eiweißsynthese codiert. Soziales Verhalten bleibt allein eine Sache des ganzheitlichen Menschen und hat mit seinen Genen nichts zu tun - es sei denn, daß ein Gendefekt körperliche Schäden verursacht, die Verhaltensstörungen zur Folge haben.

Noch ein anderer Aspekt "menschlicher Dummheit": Ich brauche meinen Computer, bin auf ihn als Arbeitsinstrument angewiesen. Verfolgt man jedoch aufmerksamer, was sogenanntes Homebanking, Homeshopping und Homejobbing anrichten, kann man schwerlich ignorieren, daß der Computer - geradezu die Lichtgestalt der "künstlichen Intelligenz", die gemeinhin als der Inbegriff des sich stürmisch entwickelnden Fortschritts gilt - die Arbeit als Tätigkeit in Gemeinschaft und folglich die Grundlage menschlicher Existenz überhaupt, systematisch ausschaltet. Aber er tut es nicht als Computer schlechthin, sondern als Produktionsinstrument in den Händen einer Gesellschaft, die - längst schon in den Zustand ihres historischen Hirntodes eingetreten - in ihrer ganzen Daseinsweise maßlos geworden ist, falls es jemals anders war.

Rolf Bullerjahn, Berlin

Raute

Über einstige Staßfurter Lehrerstudenten, die sich in den großen Jahren der DDR als "Bauherren" bewährten

Unsere Spur der Steine

Wer zwischen 1958 und 1961 am Institut für Lehrerbildung (IfL) in Staßfurt studierte und von seinen Erinnerungen an diese Zeit berichten soll, kommt sicher zuerst auf den "Bau der Jugendhalle" zu sprechen. Das IfL - dort wurden ab 1946 und bis 1985 insgesamt 3625 Neulehrer, Fachlehrer und Unterstufenlehrer im Direktstudium und 1306 Horterzieher im Fernstudium ausgebildet - besaß keine Turnhalle. Der Sportunterricht mußte deshalb in mehrere Kilometer entfernten Schulen stattfinden. Verschiedene Objekte waren nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar. Am IfL fehlte es überdies an einem geeigneten Raum für Veranstaltungen mit allen Studenten. Dazu mußte in Kulturhäuser der Staßfurter Großbetriebe oder in Klubräume ausgewichen werden.

1958 wurden Studenten, die sich als Erntehelfer betätigt hatten, zu einer Feier nach Wolmirsleben eingeladen. Dort nutzten die LPG-Bauern eine alte Scheune für kulturelle Zwecke. Der Raum, in dem das Erntefest stattfand, gefiel den teilnehmenden Studenten so gut, daß sie auf den Gedanken kamen, im IfL etwas Ähnliches zu schaffen. Doch ebenso groß wie die Begeisterung für dieses Vorhaben waren die Hürden der Bürokratie. Lange Zeit gab es keine Baugenehmigung. Vor allem die W-Klassen, in denen sich Werktätige auf den Lehrerberuf vorbereiteten, ließen indes nicht locker.

Unter dem Eindruck von "Wolmirsleben" berief die FDJ-Grundorganisation des IfL im November 1958 eine als "Ökonomische Konferenz" deklarierte Beratung ein. Diese beschloß den Plan zum Bau einer Mehrzweckhalle. Dabei sollten keine staatlichen Mittel eingesetzt werden. Die Initiative stieß bei den Studenten auf lebhafte Resonanz. Sämtliche FDJ- und Seminargruppen bekundeten Zustimmung. Sofort begannen konkrete Vorbereitungen. Ein "Bau-Aktiv" wirkte als Lokomotive. Im November 1959 ging es dann tatsächlich los. Aus Abrißhäusern, ehemaligen Werkhallen, einer stillgelegten Tankstelle und anderen Objekten barg man in mühevoller Handarbeit alle noch verwendbaren Steine und schaffte sie zum IfL. Das Abputzen der Ziegel übernahmen dort meist die Mädchen. Am 8. Mai 1960 erfolgte auf der Baustelle der erste Spatenstich, der dem Institutsdirektor zukam. Am 17. September wurde dann das Richtfest gefeiert.

So einfach, wie sich das heute schreibt und liest, ging das Ganze natürlich nicht über die Bühne. Auch Konflikte mit Behörden, lustige Episoden und gefährliche Situationen gehörten dazu.

Anfangs wurden zehn Studenten aus den W-Klassen von ehemaligen Maurern aus unseren eigenen Reihen als Hilfsmaurer angelernt. Auch ich gehörte dazu. Als die Fundamente gelegt waren, standen wir auf der Rüstung und mauerten "in der Wand", was das Zeug hielt. Unsere "Profis" zogen die Ecken hoch, setzten Zwischenwände und kümmerten sich um die Fenster. Zehn weitere Studenten schleppten Steine und Mörtel heran, der per Schippe gemischt werden mußte. Viele putzten weiterhin Steine und sorgten so für den Nachschub. Ab Mai 1960 waren wir fast täglich im Einsatz. Nur extrem schlechtes Wetter konnte unseren Elan bremsen. Während wir vormittags im Hörsaal saßen oder im Seminarraum büffelten, zogen wir uns nachmittags die Maurerklamotten an und arbeiteten meist bis zur Dämmerung.

Am 8. Juli 1961 wurde die Jugendhalle, wie sie inzwischen hieß, feierlich eingeweiht. An jenem Tag fand auch unsere Exmatrikulation statt. Doch die Lehrerausbildung war damit noch nicht abgeschlossen. Nach dem zweijährigen Direktstudium gingen wir als Lehramtsanwärter an die Schulen und betrieben bei voller Stundenzahl nebenbei noch ein einjähriges Fernstudium.

Man muß damals dabeigewesen sein, um verstehen zu können, wie in einer so kurzen Zeit unter derartigen Bedingungen ein solches Bauwerk entstehen konnte. Bei entsprechender Motivierung sind junge Menschen - wie man sieht - tatsächlich dazu imstande, "Berge zu versetzen".

Kann man heute noch unsere Gefühle in den großen Aufbruchsjahren der DDR nachempfinden? Wir erhielten unsere Zeugnisse und hatten damit einen zweiten Beruf. Für über 500 Stunden geleisteter Arbeit an unserer Halle erhielt ich die Aufbaunadel in Gold und wurde als Jungaktivist ausgezeichnet, während man meinem Seminar den Titel "Sozialistische Studentengruppe" zuerkannte.

Ab Juli 1962 war ich Unterstufenlehrer. Lehrend lernte ich weiter, um 1970 als Lehrerbildner an die mir lieb gewordene Stätte zurückzukehren.

Dr. Wolfgang Reuter, Magdeburg

Raute

Wie sich der HR-Konzern die "Arbeit mit den Menschen" vorstellt

Schweizer Erfahrungen

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

Raute

Archies Berliner Odyssee

Vor genau 40 Jahren sagte Helene Weigel, die Prinzipalin, zum Dramaturgen Archie, als dieser wieder einmal über den Hof des Berliner Ensembles gehinkt kam, was sie vom Intendanz-Zimmer aus sehen konnte: "Jetzt schicke ich Dich aber ins Polizeikrankenhaus, wozu haben wir schließlich einen Vertrag mit dem ..." Sie rief gleich dort an, und Archie mußte sich sofort in den Trabbi setzen, um zum Hospital in der Scharnhorststraße zu fahren.

Dieses war 1853 als Garnisonslazarett eröffnet worden, dann seit 1920 Zentrales Krankenhaus der Polizei, bevor es nach dem Kriegsende zum Krankenhaus der Volkspolizei wurde. Dort nahm man ihn gleich in Empfang, befragte, untersuchte und verarztete ihn gründlich, verpaßte ihm Spritzen und Medikamente und brachte nach einer Mehrfachbehandlung seine Schmerzen zum Verschwinden.

An diese Episode mußte Archie denken, als er 40 Jahre später in einem Krankenwagen in das ehemalige VP- und jetzige Bundeswehrkrankenhaus gebracht wurde. Sein Urologe, der noch aus DDR-Zeiten einen Draht zu dort weiterhin tätigen Ärzten hatte, überwies ihn. Auf der Hinfahrt wurde - des schnelleren Durchkommens wegen - vom Treptower Park aus der Umweg über den Potsdamer Platz angesteuert. Das Ganze entwickelte sich indes zu einer regelrechten Stadtrundfahrt. Als der Wagen auf der Höhe jenes Platzes angekommen war, an dem sich einst der Palast der Republik befunden hatte, ging Archie die Diskussion über Baukunst und Baukrempel durch den Kopf, die vor allem um das sogenannte Humboldt-Forum im Gewand des ehemaligen Schlosses, das dort aufgestellt werden soll, kreist. Als sie in Richtung Potsdamer Platz fuhren, wurde ihm bewußt, daß er nach dem Wegfall der Mauer nie Zeit gehabt hatte, Westberlin genauer kennenzulernen, doch bei Stadtrundfahrten fand er viele der Neubauten wenig gelungen. Als sie den Hauptbahnhof passierten, fiel ihm wieder der Spruch ein, Berlin sei "mehr als ein Haufen Steine". Traf das auch für diese Gegend zu?

Der Gendarmenmarkt hingegen soll - einer TV-Umfrage zufolge - nach wie vor das schönste Areal der Spree-Metropole sein.

Am Potsdamer Platz kam ihm das Erstaunen eines geklonten Schafes in den Sinn: "Ich wußte gar nicht, daß man Städte auch klonen kann." Die Sanitäter verstanden den Witz zwar nicht, den Archie ihnen da erzählte, erwiderten aber wie aus der Pistole geschossen: "Für uns ist nicht nur Stadtmitte eine Verkehrskatastrophe, sondern ganz Berlin ... Den Palast der Republik hätte man ruhig stehen lassen können, aber die da oben sind ja alle bekloppt ... Die Industrie schüttet die Stadt mit Autos zu, und anschließend wird Tempo 30 verlangt ... Oder eine Autobahn mitten durch bebautes Gebiet." Stimme des Volkes, dachte Archie, die aber keiner hören will, wo und wann auch immer.

Teure Prestigeobjekte und bröckelnde Schulen bundesweit, Schülertoiletten, die kaum noch benutzbar sind, Schwimmbäder, die geschlossen werden ... Das ist die Realität.

Am Bundeswehrkrankenhaus und in dessen Umgebung hätte Archie nichts mehr wiedererkannt, obwohl der Komplex, folgt man dem Lexikon, als historisches Revier unter Denkmalsschutz stehen soll. Die jungen Ärzte dort waren höflich, hörten ihm genau zu und drehten ihn einen Tag lang durch die Mangel, wie man zu sagen pflegt. Sie ließen nicht locker und kamen zu einem für Archie ebenso überraschenden wie erfreulichen Ergebnis: Die OP sei nicht erforderlich, sein Organ eher zu klein als zu groß, keine Hyperplasie. So hatte nämlich die Einlieferungsdiagnose gelautet. Am Abend rief dann auch noch eine Ärztin bei Archie an und ließ ihn wissen, daß die Laborergebnisse erfreulich seien. Der war glücklich, einer OP zu entrinnen, kam jedoch über die Unterschiedlichkeit von Diagnosen ins Grübeln.

Während er dieses Krankenhaus mit einem recht günstigen Eindruck verließ, stellte er sich die Frage nach dem Zustand des Gesundheitswesens in seiner Gesamtheit. Aus der "Berliner Zeitung" hatte Archie erfahren, daß allein 700 Land-Praxen in der BRD wegen Ärztemangels geschlossen worden seien. Im Radio erfuhr er das Schicksal eines Patienten, der täglich ein Medikament zur Krebsbekämpfung einnehmen muß, das 110 Euro kostet. In wie vielen Ländern der Erde könnte so etwas überhaupt finanziert werden?

Als ihn Leute vom Krankentransport am späten Nachmittag des Behandlungstages aus dem Militärhospital nach Hause brachten, nahmen sie ihren Weg über stark frequentierte Verkehrswege.

In der Friedrichstraße stand ihr Fahrzeug mehr als es sich bewegte, auch auf der Weidendammer Brücke mit ihren schmiedeeisernen Ziergittern und den auf beiden Seiten in der Mitte thronenden übergroßen Metalladlern erwischte sie der Stau.

Dabei fiel Archies Blick auf das Haus des Berliner Ensembles am nahegelegenen Schiffbauerdamm. Vor 40 Jahren war er Tag für Tag über diese Brücke zum BE gelaufen oder gefahren, ganz locker und entspannt. Damals war er - wie bereits erwähnt - bei Brecht und Weigel Dramaturg gewesen. Jetzt kam ihm die Gegend so vor, als sähe er sie zum ersten Mal. Der Fahrer des Krankenwagens meinte: "Himmel, Mensch und Autos, und jeder ist sich in seiner Karre selbst der Nächste."

Archie fielen dazu aus Schillers "Wilhelm Tell" die Worte ein: "Hier ist keine Heimat - jeder treibt / Sich an dem andern rasch und fremd vorüber / Und fraget nicht nach seinem Schmerz."

Manfred Hocke

Raute

Leserbriefe an RotFuchs

Am 6. August 1945 explodierte die erste USA-Atombombe 500 m über dem Zentrum der japanischen Millionenstadt Hiroshima. Es entwickelte sich eine so ungeheure Hitze, daß Steine und Ziegel schmolzen. Von den Menschen blieb nichts oder nur ein in den Beton gebrannter Schatten übrig. Dem Feuersturm und der Druckwelle folgte die radioaktive Strahlung, die auch jene erreichte, welche bisher überlebt hatten. 141.000 Menschen starben im Jahr des Abwurfs, über 200.000 sind es bis heute.

Am 5. August 1945 ordnete USA-Präsident Truman die Zündung einer zweiten A-Bombe über Nagasaki an. Dort starben annähernd 80.000 Menschen sofort.

Die USA sind bisher die einzige Macht, die Atomwaffen einsetzte, wobei das für den Ausgang des II. Weltkrieges keine Bedeutung mehr hatte. Japans Kapitulation stand kurz bevor. In Wirklichkeit ging es darum, die UdSSR einzuschüchtern und zu erpressen. Zugleich wollte Washington den Weltherrschaftsanspruch der USA unterstreichen.

Spätestens seit Fukushima wissen wir, daß eine Wende in der Energiepolitik im Interesse des Überlebens der Menschheit unumgänglich ist. Die Forderung, sämtliche nukleare Massenvernichtungsmittel sofort zu vernichten, ist dringender denn je, zumal auch in der BRD - in Bühl/Eifel - über 20 einsatzbereite USA-Atomwaffen lagern.

Uwe Moldenhauer, Altena


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In der "Ostthüringer Zeitung" (OTZ) erschien unter Anzeigen für Jena auch eine Annonce dieses Wortlauts:

"In memoriam Bruno Pardon, Diplom-Bauingenieur, Jena, geboren am 30. Juni 1951 - getötet im Herbst 1989. Du hast so gerne gelebt, Eva-Maria und Deine Tochter Marie-Luise geliebt, Dein Heim gebaut, Deine Arbeit als Oberbauleiter verantwortet und Dich gesellschaftlich engagiert.
Die 'friedliche' Konterrevolution marschierte '89 auf in Jena und andernorts. Die Verderber kamen wieder angekrochen und zeigten sich offen - da glaubtest Du noch Gorbatschow, wolltest von dessen Verrat nichts wissen. Und dann war Dir Dein Leben genommen worden. Kampf den Verderbern und ihren Handlangern, denn der Schoß ist fruchtbar noch... Du bleibst für uns unvergessen.

Dein Bruder Dr. Michael Pardon."

Übermittelt von Uwe Becker, Camburg/Saale


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Alles, was im RF über den 13. August 1961 und die Errichtung des antifaschistischen Schutzwalles geschrieben wurde, unterstütze ich aus vollem Herzen.

Leider sehen das einige Funktionäre meiner Partei Die Linke etwas anders. Die Erklärung ihrer Historischen Kommission zu diesem Thema ist dafür ein markantes Beispiel. Ich betrachte es als Einknicken gegenüber früheren Äußerungen und Dokumenten.

In der ARD-Sendung "Berlin direkt" am 31. Juli machte Gesine Lötzsch insgesamt eine gute Figur. Allerdings - mit ihren Antworten auf Fragen zur Mauer hat sie mich enttäuscht. Ich hoffte auf ein klares Ja zu deren Notwendigkeit, weil das Ausbluten der DDR gestoppt, Westberlin als "billigste Atombombe" durch die militärische Komponente der Grenzsicherung entschärft, die akute Gefahr eines Weltkrieges abgewendet wurde.

Und das, was Hans-Dieter Schütt am 1. August im ND schrieb, ist DDR-feindlicher antikommunistischer Journalismus im feuilletonistischen Stil.

Oberst a. D. der Grenztruppen Hans Linke, Suhl


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Daran, daß die Mauer seinerzeit notwendig war, dürfte es für denkende Menschen eigentlich keinen Zweifel geben. Ich halte ihren Bau sogar für einen genialen staatspolitischen Schachzug. Aber wie danach mit der Existenz dieser Mauer umgegangen wurde, erscheint mir im nachhinein politisch engstirnig. Wenn Mitbürger über Nacht ihre Familienangehörigen, Eltern, Kinder, Geschwister oder "die große Liebe" nicht mehr sehen konnten, dann waren das äußerst tiefe Einschnitte in ihr Leben. Ich glaube nicht, daß es notwendig war, die Mauer absolut undurchlässig zu machen.

Ewa Babarnus, Berlin


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Freya-Maria Klinger erklärte während der Debatte zum 50. Jahrestag des Mauerbaus im Sächsischen Landtag: "Die Mauer hat die Menschen in der DDR ihrer Menschenrechte beraubt. Für den Mauerbau und das Unrecht in der DDR gibt es keine Rechtfertigung, keine moralische, keine politische, keine historische. Die Linke bedauert das von der SED zu verantwortende Unrecht zutiefst."

Wer ist schuld an einer solchen Entgleisung einer jungen Genossin, die jene Zeit des Mauerbaus überhaupt nicht erlebt hat? Mußte sie sich nicht nach den offiziellen Bewertungen im Parteivorstand richten?

Auch das Buch von Keßler und Streletz "Ohne die Mauer hätte es Krieg gegeben" und die Schrift des US-Politikberaters Frederick Kempe "Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt" konnten der Erklärung der Historischen Kommission zum 50. Jahrestag des Baus der Mauer keine andere Wertung entlocken. Solange sich Die Linke nicht endlich zur DDR bekennt - einem Staat der Arbeiter und Bauern, der erstmals auf deutschem Boden die Macht der Kapitalisten und ihr Gesetz des Maximalprofits gebrochen hatte -, so lange werden wir solche Entgleisungen auch aus den Reihen der PDL zu hören bekommen.

Das Sich-Einbringen in den Chor der gewollten Meinungsbildung des selbsternannten Rechtsstaates ist für Die Linke keine Lösung. Wenn sie so weitermacht, wird sie ihre Basis verlieren.

Werner Feigel, Chemnitz


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Am 13. August 1961 war ich als Mitarbeiter des Amtes für Zoll und Kontrolle des Warenverkehrs am Grenzbahnhof Staaken-Spandau eingesetzt. Unsere Aufgabe bestand darin, das illegale Verlassen der DDR zu verhindern und den Schmuggel wichtiger Produkte zu unterbinden. In der Nacht vom 12. zum 13. August versetzte man uns, die wir schon im Juli von Dresden nach Berlin beordert worden waren, in Alarmzustand. Nach kurzer Lageerläuterung ging es per LKW zum Einsatzort. Als Zöllner standen wir in vorderster Linie der nach ihrem damaligen Präsidenten Dr. Stumm benannten Westberliner "Stumm-Polizei" gegenüber. Auch wir haben dazu beigetragen, die besonnene Politik der DDR und des Warschauer Vertrages durchzusetzen. Ich bin stolz, dabeigewesen zu sein.

Günther Hengst, Bad Schandau


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Das Buch von Heinz Keßler und Fritz Streletz ist außerordentlich wertvoll und durch seine innere Logik überzeugend. Als jemand, der - seit der Kindheit - fast 80 Jahre lang das politische Geschehen aufmerksam verfolgt hat, unterschreibe ich auf Grund zahlreicher persönlicher Eindrücke jedes Wort. Die DDR wurde stets zum Reagieren auf Attacken und Anschläge ihrer Gegner genötigt. Von ihr gingen für das Nachkriegsdeutschland keine Gefahren aus! Die separate Währungsreform war, wie in dem Buch klargestellt wird, politisch und ökonomisch die eigentliche Mauer.

Prof. Dr. Erich Buchholz, Berlin


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Am 13. August ist - wie üblich - nur die Sicht der Sieger zur Sprache gekommen. Diese entspricht aber nicht der historischen Wahrheit.

Konkret: Ein Brot kostete in den 50er Jahren in Westberlin bereits etwa 1,70 Westmark, ein Brot bester Qualität in der DDR, 0,91 Ostmark. Geht man vom durchschnittlichen Wechselkurs (1:5) aus, dann zahlten Westberliner für ein "Ost-Brot" ganze 0,182 Westmark. Mit anderen Worten: Sie machten einen Gewinn von 934 Prozent! Und jeder konnte ungehindert vom Westen in den Osten fahren, um dort nach Belieben einzukaufen. Ich habe dieses Beispiel deshalb angeführt, weil Brot das Synonym für Leben ist.

Ein zweiter gezielter Aderlaß war die Abwerbung von Angehörigen der Intelligenz der DDR. Auch hier konkret: Von 20 Studierenden meines Seminars erhielten 19 ein Stipendium, mit dem sie ohne Nebenjob bei niedrigen Lebenshaltungskosten auskommen konnten. Von meinen Kommilitonen ging nach dem Staatsexamen einer in den Westen. Er hat die DDR viel Geld gekostet, stellte sich aber in den Dienst der BRD. - Fragt man mich heute, ob der Bau der Mauer richtig war, so antworte ich: Sie kam zehn Jahre zu spät. Eine Mauer ist immer eine schlechte Lösung. Aber sie war die einzige Möglichkeit der DDR, sich gegen weiteres Ausbluten zu wehren und den Sozialismus zu erhalten.

Dieter Hainke, Magdeburg


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Als sich Präsident Kennedy im Sommer 1961 mit seinem UNO-Botschafter Stevenson zu einem Geheimgespräch traf, ging es um die Situation in Berlin. Der Diplomat brachte die ihm vom sowjetischen UNO-Botschafter übermittelte Position Moskaus mit. Im Verlauf des Gesprächs äußerte Kennedy: "Hoffentlich fällt Chruschtschow etwas ein. Und wenn es eine Mauer wäre."

Wenige Tage danach traf Kennedy im Rosengarten des Weißen Hauses mit dem Stabschef des State Departement Walt Rostow zusammen. Dieser erinnerte sich später, daß der Präsident zu ihm gesagt habe: "Wenn Chruschtschow nur etwas mit Ostberlin macht und nichts gegen Westberlin, dann werden wir und die Verbündeten nichts unternehmen."

Aufschlußreicherweise war hier nie von der Regierung der DDR die Rede. Man sollte deshalb die Kirche im Dorf lassen und historisch korrekt bleiben, wenn es um den Bau der Mauer geht. Jene Delegierte, die sich am 13. August beim Landesparteitag der PDL in Mecklenburg-Vorpommern nicht von den Plätzen erhoben, müssen sich nicht schämen. Sie befanden sich auf der richtigen Seite.

Horst Joachimi, Berlin


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Erschüttert reagierte die Welt auf die 77 Menschenleben fordernden Massaker in Oslo und auf der Insel Utøya. Wut und Verachtung gelten zu Recht einem christlich-fundamentalistischen Fanatiker, der vermutlich als faschistoider Einzelkämpfer seinen Privatkrieg eröffnete.

Kein Privatkrieg hingegen ist der NATO-Mordfeldzug in Libyen. Gemeinschaftlich klinken "ehrenhafte" Offiziere seit März ihre Bomben über dem nordafrikanischen Land aus. Die Luftstreitkräfte verschiedener NATO-Länder finden ihre "militärischen Ziele" auch in Krankenhäusern, Wohnblöcken und Fernsehstationen. Diese Piloten, die Tripolis zu großen Teilen in Schutt und Asche legten, aber handeln nur im Auftrag der Staats- und Regierungschefs der westlichen "Wertegemeinschaft". Ursprünglich hatte man den Luftterror, der nur durch ein fehlendes russisch-chinesisches Veto im UN-Sicherheitsrat ermöglicht wurde, ja damit begründet, Zivilisten vor Angriffen Gaddafis schützen zu wollen.

Wer gegen Mord ist, muß sich nicht nur gegen einen faschistoiden Amokläufer in Norwegen, sondern vor allem auch gegen die NATO-Mörder an Libyens Himmel wenden.

Horst Neumann, Bad Kleinen


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Der Beitrag "Rebellen als 5. Kolonne der NATO" im RF 163 legte wichtige Zusammenhänge bloß. Politiker und Militärs der NATO eskalierten den "Schutz von Zivilpersonen" nach der Resolution Nr. 1973 des UN-Sicherheitsrates zu einem Krieg gegen das libysche Volk. Auch die BRD unterstützte diese verbrecherische Aggression mit einem Kredit von 100 Mill. Euro, der den "Rebellen" angeblich zum Kauf humaner Güter gewährt wurde. Tatsächlich richtet sich der Humanismus der Kapitalisten ausschließlich auf den Raub von Erdöl und Erdgas sowie das Ergattern der in den USA und anderswo eingefrorenen libyschen Staatsgelder.

Oberst a. D. Joachim Wolf, Strausberg


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Obwohl ich mich den im RF veröffentlichten Antworten Fulvio Grimaldis größtenteils anschließe, möchte ich es in Sachen Libyen nicht beim Beten bewenden lassen, zumal ich keine Ahnung habe, welcher Gott da zuständig wäre.

Solange in Tripolis noch eine grüne Flagge weht, müssen wir dieses Symbol der Souveränität schützen. Und wenn die letzte Fahne gefallen ist, gilt es um so fester zusammenzuhalten, denn dann steht der Angriff der NATO auf das nächste arabische Land unmittelbar bevor.

Gudrun Huhn, Essen


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Der Imperialismus arbeitet mit Verwirrspielen. Am libyschen Beispiel erkennt man die Zweckdienlichkeit sinnentfremdeter Begriffe. Eigene Handlanger heißen dann auf einmal "Rebellen". Erst unterstützten Pentagon und die CIA die Muhadjedin, die Vorgänger der Taliban. Dann wurden diese über Nacht Todfeinde eines "freien Afghanistan". Erst arrangierte man sich mit Gaddafi, dann eröffnete man die Jagd auf ihn. Solcherlei Sprachgebrauch ist Teil der psychologischen Kriegführung, um möglichst breite Schichten der Bevölkerung im eigenen Land unterstützungswillig zu halten.

Gerald Müller, Oberhof


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1989 war ich seit vier Jahren 1. Sekretär der SED-Kreisleitung Neubrandenburg. Nun denke ich schon über 20 Jahre darüber nach, warum wir - jeder einzelne von uns - nicht mehr für die Verteidigung des Sozialismus getan haben. Ohne Zweifel hatten die damals aufgetretenen Probleme ihre Ursachen nicht nur in den letzten Jahren der DDR und auch keineswegs nur im eigenen Land. Ein fatales Fehlurteil betraf den Stand der Bewußtseinsentwicklung der DDR-Bürger. Wir - auch ich - haben ihn sehr überschätzt. Viele, die in der DDR eine gute Berufsausbildung oder ein Studium absolviert hatten, betrachteten die Errungenschaften ihres Landes als Selbstverständlichkeit, über die kein Wort mehr verloren werden mußte. 1989/90 hegten sie die Illusion, jetzt könne man zu den Vorzügen des Sozialismus auch noch die Segnungen des Westens erhalten. Wer damals einer solchen Meinung widersprach, wurde als Dogmatiker abgestempelt, als jemand, der überhaupt nicht verstand, was gerade lief.

Und auch das ist festzustellen. Die Wirkung unserer Agitation und Propaganda haben wir über viele Jahre hinweg stark überbewertet. Fortschrittliche Auffassungen einzelner oder von Gruppen der Bevölkerung wurden oftmals als typisches Stimmungs- und Meinungsbild betrachtet. Den Einfluß unserer politischen Gegner, insbesondere der Feinde im eigenen Land, haben alle Verantwortlichen erheblich unterschätzt.

Für Verwirrung sorgte der von der sowjetischen Führung eingeschlagene Kurs. Da standen plötzlich "allgemein-menschliche Werte" im Mittelpunkt, während von Klassenkampf und Systemauseinandersetzung keine Rede mehr war. Statt dessen erfand man das "Haus Europa". Mich machte besonders stutzig, daß sogar Leute, die früher absolut keine Freunde der Sowjetunion waren, plötzlich die Forderung erhoben, von Moskau zu lernen.

Die Ursachen unserer Niederlage sind komplexer Natur. Sie müssen weiter offen und ernsthaft untersucht werden. Dabei wäre es wenig hilfreich, die Fehler nur bei "denen da oben" oder bei anderen zu suchen.

Helmut Timm, Groß Nemerow


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Ich möchte den Autoren des RF ein Lob für diese vom Klassenstandpunkt ausgehende und Klugheit ausstrahlende Zeitschrift sowie deren menschliche Wärme, die man beim Lesen spürt, aussprechen. Es schmerzt mich schon sehr, einen Walter Ruge nicht persönlich kennenzulernen. Möge ihm noch eine gute Zeit beschieden sein!

Steffen Czubowicz, Ludwigshafen


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Am Jahrestag der Ermordung Ernst Thälmanns nahm ich an einer von der VVN in Bautzen organisierten Veranstaltung teil. An der Außenmauer der dortigen Justizvollzugsanstalt befindet sich eine Gedenkstätte für den Führer der KPD, der hier inhaftiert war, bevor man ihn ins KZ Buchenwald brachte und dort ermordete.

Besonders aufschlußreich war für mich, daß der Redner der Partei Die Linke u. a. davon sprach, wie die Rolle Thälmanns in der PDL neu definiert worden sei und daß man "den Kult um ihn" längst überwunden habe.

Nicht gehört habe ich, daß zu der wenige Meter entfernten Gedenktafel für einen Sowjetsoldaten etwas gesagt worden wäre. Dieser wollte Thälmann befreien und fiel beim Sturm auf das Zuchthaus. Ihm und seinen Genossen war nicht bekannt, daß der KPD-Führer zu dieser Zeit schon nicht mehr lebte. Auch der Sowjetsoldat und dessen Mitkämpfer haben eine Ehrung verdient.

Höhepunkt war für mich, die im Originalzustand erhaltene Zelle Ernst Thälmanns besichtigen zu können. Der Verantwortliche für Öffentlichkeitsarbeit der JVA informierte uns sachlich und betonte, die Erhaltung der Zelle sei "politisch gewollt".

Peter Pohlmann, Berlin


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Seit einigen Jahren bin ich aufmerksame Leserin des RF. Jeden Monat überrascht mich aufs neue, mit welcher Gründlichkeit die verschiedensten Themen von der Redaktion aufgegriffen werden. Ich habe auf diese Weise schon viele Argumente erhalten, so daß ich inzwischen mutiger diskutieren kann.

Mir "armem Umsiedler-Kind" war es in der DDR möglich, nach dem Schulbesuch eine kaufmännische Lehre zu absolvieren und später mit Kleinkind ein Direktstudium bei 70 % meines vorherigen Nettoverdienstes wahrzunehmen und erfolgreich abzuschließen. Auch als alleinstehende Mutter konnte man seinen Weg zielstrebig gehen. Da gab es die nette Hausgemeinschaft, das Arbeitskollektiv, welches mich zum Studium delegiert hatte, und Freunde, auf die man sich verlassen konnte. Natürlich bestand das Leben in der DDR nicht nur, wie immer behauptet wird, aus Arbeit und Kampf. Jeder, der das wollte, hatte viel Spaß, ohne unbedingt eine Kreuzfahrt machen zu müssen. Hier und heute kann man theoretisch an jeden Ort der Welt gelangen. Doch das scheitert in sehr vielen Fällen an engen materiellen Grenzen.

Ich wünsche dem RF noch viele gute Argumente.

Karin Beisbier, Bornow b. Beeskow


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Mit dem 18. Lebensjahr wollte ich wie mein Vater Kriminalist werden. Doch statt dessen nahm ich eine Tätigkeit im damaligen Staatssekretariat für Staatssicherheit im Ministerium des Innern auf. Ich fand mich dort in einem völlig neuen Metier wieder und mußte buchstäblich in Wochenfrist das Maschineschreiben und die Bedienung eines Fernschreibers erlernen. 1956 wurde ich - anfangs als Schreibkraft - vom MfS eingestellt. In den folgenden Jahren holte ich mehrere Facharbeiterabschlüsse, ein juristisches Fachschulstudium und ausgewählte Hochschul-Teilabschlüsse nach. Damit qualifizierte ich mich für verantwortungsvollere Aufgaben und konnte so ein Mosaiksteinchen zur Bekämpfung der Feinde der DDR und zur Sicherung des Friedens beitragen. Nachdem ich geheiratet und Kinder geboren hatte, mußte ich mich beruflich in keiner Weise einschränken. Unsere Kinder konnten sich umfassend bilden und die Ziele, die sie sich gestellt hatten, erreichen.

Ich bin stolz darauf, meinem sozialistischen Vaterland gedient zu haben.

Oberstleutnant a. D. Helga Plache, Berlin


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Ronald Brunkhorsts Vorschlag im August-RF, Walter Ruges 96. Geburtstag zum Feiertag zu erklären, las ich schmunzelnd, hatte ich doch selbst ähnliches im Sinn. Am 6. Juni, einen Tag vor Walters "Wiegenfest" - ist in unserer Familie ein dritter kleiner "RotFuchs" geboren worden. Es fehlt also nicht an Nachwuchs, lieber Walter!

Zur "Unrechtsstaat"-Debatte möchte ich anmerken: Wäre die DDR wirklich ein solcher Staat gewesen, dann hätten die Leute wohl kaum so viele Kinder in die Welt gesetzt. Auch Babyklappen mußte es nicht geben. In der DDR wurden weder Schulen noch Kindergärten massenhaft geschlossen, wie das 1990/91 geschah! Die Frauen konnten schon als 20jährige Kinder zur Welt bringen und dennoch voll am Arbeits- und Gesellschaftsleben teilnehmen. Heute mit 20 ein Kind zu wollen und sich damit ins finanzielle Aus zu katapultieren, können sich nicht sehr viele leisten. So ist es durchaus logisch, daß etliche Frauen als 40jährige ihr erstes Kind gebären.

Andrea Sternel, Hannover


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Mit dem Dank für den August-RF möchte ich eine Bemerkung zur Beilage verbinden. Besonders berührte mich - und keineswegs nur mich - die Hamburger Thälmann-Rede des Genossen Egon Krenz. Ich habe sie sofort mehrmals kopiert und an meine Freunde und Verwandten gesandt. Besser hätte man Thälmann nicht würdigen können.

Dipl.-Ing. Hermann Ziegenbalg, Riesa-Weida


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Egon Krenz hat in seiner Hamburger Rede die Meinung geäußert, er gedenke Stauffenbergs aus Überzeugung, weil auch dieser "sein Leben für Deutschland gelassen" habe. Dazu möchte ich ergänzend bemerken: Stauffenberg und andere hohe Militärs der faschistischen Wehrmacht haben Hitlers Krieg mit vorbereitet und aktiv geführt. Erst nach der Erkenntnis der drohenden Niederlage sind sie aktiv geworden und haben das Attentat auf den "Führer" verübt. Selbst wenn dieses gelungen wäre, erscheinen Zweifel berechtigt, daß sich die Alliierten zehn Monate vor Kriegsende und angesichts der Verbrechen Nazi-Deutschlands noch auf irgendwelche Verhandlungen mit Berlin eingelassen hätten.

Reinhard Melzer, Moritzburg/OT Boxdorf


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Als gelegentlicher Leser Ihrer Zeitschrift erlaube ich mir, Ihnen Anerkennung für Ihre aufklärerische und journalistisch gediegene Arbeit auszusprechen. Doch besonders möchte ich Ihnen für die August-Ausgabe danken. Die Beiträge über Aktivitäten der FDJ im Westen während der 50er Jahre stimmen vollständig mit dem überein, was ich aus eigenem Erleben als damaliges FDJ-Mitglied im Ruhrgebiet wahrgenommen habe. Mich beeindruckte besonders auch die Beilage mit der Rede von Egon Krenz. Überzeugend im Intellektuellen und eindringlich im Sprachlichen hat Krenz den Kommunisten, den Menschen Ernst Thälmann dargestellt. An der historischen Größe dieses Proletariers prallt jegliche Verleugnung und Verleumdung ab.

Der Redaktion wünsche ich weiterhin eine erfolgreiche journalistische und politische Arbeit.

Manfred Adam, Rostock


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Mit großem Interesse habe ich den Artikel "'Überlistete' Lenin die Geschichte?" (RF Nr. 163) von Dr. Rudolf Dix gelesen, der einen Widerspruch zwischen Lenin und Stalin konstruiert.

Der Autor bezieht sich auf den bekannten Brief Lenins an den 13. Parteitag. Um diesen richtig zu bewerten, muß beachtet werden, daß Lenin damals bereits schwer krank und daher nicht mehr über alle politischen Vorgänge unterrichtet war, als er den Brief formulierte. Auf Grund ärztlichen Anratens hatte das Politbüro nämlich beschlossen, Lenin nicht mit dem politischen Tagesgeschäft zu belasten.

Schaut man in seine früheren Schriften, dann stellt man fest, daß Lenin immer in höchsten Tönen von dem "fabelhaften Georgier" gesprochen hat. Wie kam es nun zu dieser unerwarteten Aussage über Stalin? Ausschlaggebend war ein Streit zwischen Stalin und Lenins Frau Nadeshda Krupskaja. Der Hintergrund war folgender: Sie hatte eingewilligt, sich von dem todkranken Lenin ein Dokument diktieren zu lassen, was Stalin sehr erboste. Beim Streit mit Krupskaja hat sich Stalin wohl im Ton vergriffen. Lenins Einschätzung scheint also nicht auf langjährigen politischen Erfahrungen, sondern eher auf einer emotionalen Überreaktion auf das singuläre Ereignis zu beruhen.

Tim Carlitscheck, Köln


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CSU-Generalsekretär Dobrindt hat, wie das bei Leuten dieses Schlages vorkommt, laut über ein Verbot der Linkspartei nachgedacht. Das geschah sicher nicht zufällig zwei Jahre vor der Bundestagswahl. Leider war für mich die Reaktion des Kovorsitzenden der attackierten Partei politisch nicht so souverän, wie ich es mir gewünscht hätte.

Wenn es der Linkspartei gelingen würde, derlei Angriffe unterhalb der Gürtellinie offensiv zurückzuweisen, könnte sich ihre Wahrnehmung in der Öffentlichkeit verbessern und in Stimmenzuwachs umwandeln lassen.

Karl-Heinz Noack, Mittweida


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Mein Geburtsjahr 1951 war für die sozialistische und kommunistische Arbeiterbewegung ein sehr schwieriges Jahr. Der FDJ wurde die Legalität entzogen, das schändliche Verbotsverfahren gegen die KPD auf den Weg gebracht. Erstmals verurteilte man wieder Kommunisten zu langjährigen Freiheitsstrafen, die Remilitarisierung wurde von Adenauer durchgepeitscht.

Heute haben wir den "RotFuchs", der sein Ziel, Sozialisten und Kommunisten eines Tages in einer hoffentlich wieder schlagkräftigen revolutionären Partei zusammenzuführen, mit langem Atem und Beharrlichkeit verfolgt. Für uns "Jüngere" vermittelt er auch immer wieder Kenntnisse über ein wichtiges Kapitel der neueren Geschichte der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung.

Eine Spende von 250 Euro habe ich heute überwiesen, da ein kleiner Sparvertrag in diesem Monat für mich fällig geworden ist.

Gerd-Rolf Rosenberger, Bremen-Nord


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Trotz fehlenden Haarschmucks stehen mir die Haare zu Berge, wenn ich lese, zu welchem Blödsinn sich sogenannte Vordenker hinreißen lassen: Aus lauter Eitelkeit sägen sie am Ast, auf dem sie selbst sitzen - sie wollen die "junge Welt" an die Wand fahren, fahren aber statt dessen die eigene Bewegung an den Baum. Verdammte Eitelkeiten! Gregor Gysi hätte ich so viel Unsinn nicht zugetraut. In dieser pluralistischen Partei werden harte Bandagen eines Bosses angelegt: "Keine Annoncen!", primitiver geht's kaum noch. Wie steht eigentlich die Basis dazu?

Walter Ruge, Potsdam


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Mein erster Eindruck von Sahra Wagenknechts neuestem Buch "Freiheit statt Kapitalismus": Nun gibt es neben dem "realen" und dem "echten" der MLPD auch noch den "kreativen Sozialismus" Sahra Wagenknechts, der jenseits von Plan- und "sozialer Marktwirtschaft" zu einem neuen Aufschwung der Partei Die Linke führen soll. Ins Alltagsdeutsch übersetzt bedeutet dieser "kreative Sozialismus" indes wohl eher den ökologisch-sozial weichgespülten "Wohlfahrtstaat" im Sinne des modernen Keynesianismus. Denn die Erhardsche Losung "Wohlstand für alle!" war, ist und wird immer eine demagogische Floskel der Jünger des staatsmonopolistischen Kapitalismus bleiben. Sie ist weder kreativ noch sonderlich marxistisch.

Karsten Schönsee, Nürnberg


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Dimitroffs Sicht auf den "Faschismus an der Macht" läßt mir das Wesen der BRD in einem anderen Licht erscheinen. Faktisch herrscht sie heute "von der Maaß bis an die Memel" ... Die BRD ist nicht nur der selbsterklärte Rechtsnachfolger des 3. Reiches, sondern setzt auch dessen Expansionspolitik fort. Nach dem Fall des antifaschistischen Schutzwalls hat sie diese geradezu nahtlos übernommen. Die "Hitler" unserer Tage sind schwerer auszumachen als ihre uniformierten Vorgänger in den 20er und 30er Jahren. Sie kommen in feinem Zwirn daher, versprechen "freedom and democracy", werben mit tausend Farben und errichten überall gutbestückte Supermärkte. Sie erobern die Macht auf dem Weg durch die Institutionen.

Peter Pöschmann, Döbeln


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Kompliment zum Juli-RF. Falsch ist lediglich die Behauptung des Berliner Genossen Harry W. Schröder (S. 31), 1936 sei in der UdSSR bereits versucht worden, Brot unentgeltlich zu verteilen. In jenem Jahr wurden indes nur die Lebensmittelkarten für Brot und einige andere Produkte abgeschafft.

Den Versuch einer kostenlosen Bereitstellung in Kantinen habe ich 1962 als Aspirant in Leningrad miterlebt. Zuvor hatte die Scheibe Brot - in Rußland Teil des Mittagessens - auch nur eine Kopeke gekostet. Doch die gute Absicht, gar keinen Preis zu fordern, verfehlte insofern ihr Ziel, als sich nicht nur der Brotkonsum verdreifachte, sondern auch unzählige angebissene Scheiben weggeworfen wurden. So blieb es bei dem Test.

Dr.-Ing. Peter Tichauer, Berlin


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Die neue Lesergruppe Holzhau führte im Sommer am RF Interessierte zu einer Veranstaltung mit Oberstleutnant a. D. Manfred Liebscher zusammen. Die gastgebende Jugendherberge trug zu DDR-Zeiten den Namen der ermordeten kommunistischen Widerstandskämpferin Hilde Coppi. Nach 1989/90 tilgten die neuen Machthaber nicht nur den Namen, sondern zerschlugen auch die der Antifaschistin gewidmete Gedenktafel. Die heutigen Herbergseltern errichteten für Hilde Coppi einen Gedenkstein, an dem die Teilnehmer der RF-Veranstaltung Blumen niederlegten.

Lothar Hunger, Brand-Erbisdorf


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Eine gute Freundin meiner Familie, als Künstlerin in Neuenhagen auch kulturpolitisch aktiv, erzählte mir von Schabowskis beabsichtigtem Auftritt im dortigen Kulturhaus. Wolfgang Priem schilderte den Vorgang ja in einem Leserbrief. Ich lehnte eine Teilnahme mit Hinweis auf die Kürze des menschlichen Lebens ab. Dieser Herr solle lieber die Klappe halten, statt in Ex-Landen der DDR auf Dummenfang zu gehen.

Ich habe den cholerischen "Vollblutjournalisten des Sozialismus", wie er in einer Grußadresse des ND-Kollegiums zum 50. Geburtstag genannt wurde, nach seiner "Läuterung" nicht wiedererkannt. "Schabbo" - so nannten wir ihn -, was ist nur aus Dir geworden? Bei seinen schäbigen Auftritten in den schwarzen Kanälen drehte ich wie andere alte Kumpels einfach ab.

Herr Schabowski, der als Senkrechtstarter sehr rasch in die politische Spitze aufstieg, fühlte sich im Unterschied zu den Arbeitern verbundenen Chefredakteuren wie Hermann Axen als jemand, der von seiner "hohen Warte" aus nicht mal mehr wußte, daß zum Zeitungsmachen auch Setzer, Texterfasser, Drucker, Repro-Fotografen - kurzum ein Stück Arbeiterklasse - gehörten.

Als wandelndes Betriebsgeschichtsbuch der ND-Druckerei kann ich mich nicht daran erinnern, daß der "Genosse" Schabowski jemals vor uns aufgetreten wäre. Zu diesem Bild paßt wie die Faust aufs Auge sein übles Agieren in Neuenhagen.

Klaus J. Hesse, Berlin


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Es gehört bei den deutschen Seicht-Sendern eher zur Ausnahme, Verlierer aus der DDR-Wirtschaft zu befragen. Einige frühere Mitarbeiter der ZEKIWA - des größten europäischen Kinderwagen-Herstellers in Zeitz - durften vor einiger Zeit im MDR ihre einstige Arbeitswelt vorstellen. Diese war im Zuge der "Wirtschaftsunion" in Gänze zusammengebrochen. Das hätten sie sich 1990 so nicht ausmalen können, berichteten die nun Befragten. Übereinstimmend sagten sie nur Gutes über das Betriebsklima und die sozialen Bedingungen im VEB. Sie beklagten sich nicht über "Drangsalierung" oder "Gängelei", die bis heute sozialistischen Betrieben unterstellt werden. Während sie die Standardvorwürfe unerwähnt ließen, schilderten sie ihre indirekte Ausbeutung durch Niedrigstpreise zahlende westdeutsche Abnehmer. Das betraf übrigens alle Westexportbetriebe. Unerwähnt blieben in dem Gespräch die finanzielle Perspektive der einstigen Belegschaftsangehörigen und der Stadt Zeitz sowie das Ausmaß der Wirtschaftsfluchtbewegung in den Westen.

ZEKIWA Zeitz kann für sich in Anspruch nehmen, als Musterbeispiel für das Schicksal aller volkseigenen Betriebe der DDR zu dienen.

Joachim Spitzner, Leipzig


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Herzlichen Dank für die Erinnerung an den Pressezeichner Gerhard Vontra, mit dem ich als junger Reporter der FDJ-Zeitung "Junge Welt" viele Male auf Reisen gewesen bin. Gerhard beteiligte sich oft an Informationsausstellungen des DDR-Friedensrates in westlichen Ländern. Dabei zeichnete (und verschenkte) er Tag für Tag unentwegt an Ort und Stelle angefertigte Porträts von Ausstellungsbesuchern. Auf die an ihn gerichtete Frage, was ihm bei seinen Abstechern in den Westen besonders aufgefallen sei, antwortete er: "Viel mehr Zahnlücken als bei uns."

Fritz Wengler, Berlin


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In Bautzen bildete sich eine Standortgruppe des NVA-Traditionsverbandes e.V. Beim jüngsten Treffen, an dem vom Gefreiten bis zum Oberst viele Ehemalige teilnahmen, herrschte Konsens: Ziel muß die Anerkennung der Lebensleistung mehrerer Generationen von DDR-Militärs sein - parallel zu der aller anderen Bürger unseres 1990 untergegangenen Staates. Wir stützen uns dabei in der Vereinsarbeit auf Verlautbarungen führender BRD-Politiker und Militärs. So erklärte ein Beauftragter des Bundesinnenministeriums am 3. Dezember 2010: Geht man davon aus, daß ehemalige NVA-Soldaten ihren Teil zur Stabilität des Kalten Krieges beitrugen und sich in der Phase zwischen Wende und Wiedervereinigung als gewisser Stabilitätsanker erwiesen, gehört ihnen ein gewisser Respekt."

Aus der Behördensprache ins Deutsche übersetzt: Stabilität im Kalten Krieg heißt, daß die NVA dazu beitrug, daß der kalte nicht zu einem heißen Krieg wurde. "Stabilitätsanker" bedeutet, daß die NVA 1989/90 ihre Waffen - dem Namen und dem Auftrag einer sozialistischen Armee entsprechend - nicht gegen das eigene Volk einsetzte.

Hauptmann a. D. Horst Gröger, Bautzen


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Wenn Ihr im RF gelegentlich eine Ecke frei habt, könntet Ihr dort vielleicht einmal Eigenwerbung betreiben. Mein Textvorschlag ist ganz kurz: "RotFuchs" gelesen - auch Dein Nachbar hat einen Briefkasten!" oder: "RotFuchs" gelesen - auch Deine Freunde und Bekannten könnte er interessieren!

Wir sollten vermeiden, daß der RF - sicher nur in Einzelfällen - nach der Individuallektüre in die blaue Tonne wandert.

Dietmar Hänel, Flöha


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Ein Mensch kann seine Vergangenheit vergessen wollen, sie verteufeln, glorifizieren, verschweigen - oder offen über sie reden. Er kann sich rechtfertigen wollen - oder sein Handeln zu erklären suchen. Er kann heucheln und lügen - oder die Wahrheit sagen. Er kann denunzieren, um von sich und seinem Tun abzulenken - oder die Verantwortung übernehmen. Er kann Jahre seines Lebens verleugnen - oder sich zu ihnen bekennen.

Das alles kann er privat oder öffentlich tun. Er kann enttäuscht, verbittert und gesenkten Hauptes einhergehen - oder aufrecht als selbstbewußter Bürger der BRD Position beziehen.

Wie immer er sich entscheidet - er muß seinen Mitmenschen dabei stets in die Augen blicken können.

Weil ich das kann, habe ich mich für das Oder entschieden! Das alles sagt Euch ein Mauererbauer von einst.

Oberst a. D. Hein Friedriszik, Berlin

Raute

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Einen festen Preis gibt es nicht. Die Zeitschrift kommt jeweils am letzten Werktag eines Monats zum Versand.

Raute

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Der im Februar 1998 gegründete "RotFuchs" ist eine von Parteien unabhängige kommunistisch-sozialistische Zeitschrift für Politik und Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft.

HERAUSGEBER: "RotFuchs"-Förderverein e. V.

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(Redaktionsadresse)

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Redaktionsschluß ist jeweils der erste Tag eines Monats.

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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Dezember 2011