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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1515: Europäische Börsen geraten über Revolte in Libyen in Panik


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 3 - März 2011
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

Lieber Diktatur als Umsturz
Die europäischen Börsen geraten über die Revolte in Libyen in Panik

Von Bernhard Schmid


Libyen, ein seit wenigen Jahren dem Westen lieb gewordener Geschäftspartner, gerät durch die Revolte ins Wanken - trotz brutaler Unterdrückung.


Diktaturen sind gut, jedenfalls besser als ihr Umsturz, denn sie wahren die Stabilität für die Geschäfte: Dieses Signal geht derzeit von mehreren europäischen Börsen aus. Die Revolten in Libyen gegen das Regime von Muammar al-Gaddafi versetzen sie in Unruhe und Panik. Am 21.2. verzeichnete der französische Aktienindex deshalb ein Minus von 1,5%, die Mailänder Börse stürzte um über 3,5% ab. "Wegen der innigen wirtschaftlichen Verflechtung zwischen beiden Ländern", schreibt die Wirtschaftspresse.

Am Dienstag, dem 22.2., schloss die Mailänder Börse um 11 Uhr "aufgrund eines technischen Problems". Das libysche Regime hat einen Teil seiner Petrodollars in italienischen Unternehmen wie UniCredit, Finmeccanica oder ENI angelegt, ein Drittel der Ölproduktion des Landes wird nach Italien geliefert. Umgekehrt hat das italienische Kapital zahlreiche Investitionen in dem nordafrikanischen Staat getätigt. Vor allem seitdem Premierminister Silvio Berlusconi im August 2008 die von 1911 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs begangenen italienischen Kolonialverbrechen in Libyen anerkannt hat - um neue Geschäfte einzufädeln und das libysche Regime in die europäische Politik der Migrationsabwehr einzubinden.

Das libysche Regime ließ sich darin einbinden. In den letzten Tagen drohte es aber, "die Kooperation bei der Einwanderungsbekämpfung einzustellen" und unerwünschte Emigranten ungehindert in die Festung Europa hinein zu lassen - "falls die EU nicht aufhört, die Demonstranten bei uns zu ermutigen", indem sie die brutale Repression verurteilt. Berlusconi forderte zunächst, man möge Gaddafi "in Ruhe lassen", so wie er angesichts der demokratischen Revolution in Ägypten den Präsidenten Hosni Mubarak als "weisen Mann" bezeichnet hatte. Am 21.2. verurteilte aber auch er den blutigen Kampf des libyschen Regimes gegen die Protestierenden.

An den Börsen dagegen ist man eher über die Unruhen als über ihre Niederschlagung besorgt. Neben dem ideologischen Moment, das die Psychologie der Anleger beeinflusst, haben diese Befürchtungen zumindest in einigen Wirtschaftssektoren einen materiellen Kern. Die Erdölfirmen verzeichnen Produktionseinbußen, nachdem Konzerne wie Total, Statoil oder Repsoil in den letzten Tagen ihr Personal aus Libyen - dem viertgrößten Ölproduzenten auf dem afrikanischen Kontinent - abgezogen haben. Zudem fürchten sie ein mögliches "Auseinanderbrechen" des libyschen Staates, dessen Osthälfte derzeit zum Teil von Rebellen oder meuternden Truppenteilen kontrolliert wird, während die Armee des Gaddafi-Regimes im Westteil des Landes die protestierende Bevölkerung brutal attackiert.


Ströme von Blut

Am 21.2. flog die libysche Luftwaffe Angriffe auf Stadtviertel von Tripolis, da die Protestwelle am Vorabend Teile der Hauptstadt erreicht hatte. Die Internationale Menschenrechtsvereinigung FIDH, mit Sitz in Brüssel, sprach von mindestens 300-400 verbürgten Todesfällen, die Dunkelziffer dürfte weitaus höher liegen.

Derzeit versagen immer mehr libysche Diplomaten, darunter jene bei den Vereinten Nationen, Gaddafi ihre Loyalität und verurteilen sein Vorgehen aufs Schärfste. Als erster trat der Botschafter Libyens in Indien, Ali Essaoui, am 21.2. zurück und erklärte, "sich der Revolution anzuschließen". Ihm folgten Libyens Botschafter in Tunesien, Polen, China, den USA und bei der Arabischen Liga. Gleichzeitig trat in Tripolis der Justizminister Mustafa Abdel Jalil zurück, er kritisierte die "überzogene Gewaltanwendung" durch das Regime.

Der Clan Gaddafis und das engere Machtzentrum fangen also an, sich nicht nur international, sondern auch auf innenpolitischer Ebene zu isolieren. Dies hält Muammar al-Gaddafis Sohn und designierter Nachfolger, Seïf el-Islam ("Schwert des Islam") Gaddafi, nicht davon ab, den Widersachern zu drohen. In einer Fernsehansprache in der Nacht vom 20. zum 21.2. stellte er die Bevölkerung vor die Alternative: Entweder "ist es aus mit dem Öl, mit dem Gas, und es wird das Chaos einkehren" - oder aber sie akzeptiert "das neue Libyen", das die Herrschenden vorbereiteten, unter anderem durch eine Reform des Strafrechts. Vater Gaddafi und die Seinen aber würden "Libyen auf keinen Fall aufgeben", sondern "bis zum letzten Mann, zur letzten Frau, zur letzten Kugel kämpfen". Für diesen Fall kündigte Gaddafi junior "Ströme von Blut" an.


Ende der "Volksmassenherrschaft"

So also endet die Behauptung der libyschen Diktatur, sie sei eine "Volksmassenherrschaft" - so lautet übersetzt die offizielle Staatsbezeichnung, "Jammahirriya", eine Wortschöpfung Gaddafis. Diese Staatsform zeichnet sich laut offizieller Darstellung dadurch aus, dass es keine politischen Parteien gibt, welche die Gesellschaft spalten, sondern "das Volk direkt und unmittelbar die Herrschaft ausübt". Da es "das Volk" als homogenen Körper aber hier wie anderswo nicht gibt, verbirgt sich hinter diesem Anspruch lediglich das Verbot von politischen Parteien und Gewerkschaften. An ihrer Stelle organisierte sich die politische Basis der Regierung in so genannten "Volkskomitees". Angeblich gibt es in Libyen deswegen auch keinen Staatsapparat. In Wirklichkeit aber existiert sehr wohl der Apparat einer staatlichen Diktatur, in den aber im libyschen Falle traditionelle und patriarchale Stammesstrukturen integriert wurden, d.h. neben Günstlingen des Gaddafi-Clans wurden auch traditionelle Autoritäten wie Stammesfiguren oder "Älteste" bei der Ämtervergabe berücksichtigt.

Gleichzeitig, und deswegen, kennzeichnete die zentrale Regierung in Tripolis immer auch die Vorherrschaft einzelner Bevölkerungsgruppen, die sich durch lokale Zugehörigkeit und Abstammung definieren. Insbesondere drei frühere "Stammesgruppen" teilten sich den Löwenanteil der Macht und der Verwaltungsposten, unter ihnen die Gaddafa, der die regierende Familie entstammt.

Traditionell vernachlässigt ist der Osten Libyens. Denn die Cyrenaika, die Landschaft an der östlichen Mittelmeerküste des Landes, stellte unter der früheren Monarchie von König Idriss I. - den Gaddafi und eine Gruppe junger Offiziere am 1. September 1969 stürzten - die soziale Hauptbasis des alten Regimes dar. Seitdem wurde diese Gegend systematisch bei der Verteilung der Öleinnahmen, bei Ämtern und Funktionen benachteiligt.

In den 90er Jahren existierte hier eine islamistische Opposition. Letztere nahm zwar auch an den jüngsten Demonstrationen in der ostlibyschen Regionalmetropole Benghazi teil, doch ausgelöst wurde letztere eher durch Menschenrechtsaktivisten: Die ersten Protestmärsche wurden dort in der Nacht vom 15. zum 16.2. von Anwälten und Richtern angeführt, nachdem Rechtsanwalt Fethi Tarbel inhaftiert worden war. Er vertritt die Angehörigen von Häftlingen, die bei einer Schießerei 1996 im Gefängnis Abu-Salim in Tripolis getötet worden waren. Durch seine Inhaftierung wegen "Verbreitung falscher Nachrichten" wollten die Behörden einem "Tag des Zorns" vorbeugen, zu dem für den 17.2. - nach ägyptischem Vorbild - über Facebook aufgerufen worden war.


Söldner und Sklaven

Im Osten Libyens konnten die Protestierenden auch schneller greifbare Erfolge erzielen. Die drittgrößte Stadt des Landes, El-Baïda ("Die Weiße"), befand sich schon am 19.2. in der Hand von Rebellen. Auch in der zweitgrößten Stadt, Benghazi, konnten am 20. und 21.2. abtrünnige Truppenteile zusammen mit Protestierenden zeitweilig die Kontrolle übernehmen. Inwiefern sie diese noch ausüben, ist derzeit nicht genau überprüfbar. In diesen Städten wehte deswegen das von vielen Einwohnern als "echte" libysche Fahne betrachtete Emblem in den Farben rot, schwarz und grün mit einem hellen Halbmond. Diese alte Nationalflagge hatte Gaddafi nach dem Sturz der Monarchie abgeschafft und durch eine grüne Flagge ersetzt. Diese libysche Anti-Gaddafi-Fahne wehte auch bei den Solidaritätsdemonstrationen in Genf, Paris, London, New York, auf der Insel Malta, in Istanbul wie auch in Kairo, Tunesien, Algier und Rabat.

Erheblich stärker als in den bevölkerungsreichen und von verbreiteter Armut geprägten Staaten der Region wie Ägypten spielen in Libyen politische Faktoren eine Rolle in den Protesten. Bedeutenden Teilen der Bevölkerung geht es vor allem darum, nicht länger Behördenwillkür, Schikanen und einer seit über 41 Jahren währenden Herrschaft ausgesetzt zu sein. In sozialer Hinsicht profitieren viele Libyer noch immer davon, dass ihr Land erdölreich und bevölkerungsarm ist. Die 5-6 Millionen Libyer haben jedenfalls geringere materielle Sorgen als ihre ägyptischen und algerischen Nachbarn, denn das Proletariat und Subproletariat besteht vor allem aus den 1-2 Millionen "legal" und "illegal" im Lande lebenden Schwarzafrikanern. Arbeiter- und kleinere Handwerkstätigkeiten werden zum Teil von mehreren zehntausend Tunesiern ausgeübt.

Da gleichzeitig schwarzafrikanische Söldner - etwa aus dem von chronischen Bürgerkriegszuständen geschüttelten Nachbarland Tschad - Repressionsaufgaben im Dienste des Gaddafi-Regimes ausüben, kehrt sich der Zorn von Teilen der Bevölkerung auch gegen diese Gruppen. In einigen Städten kam es zu Ausschreitungen gegen Einwohner aus dem subsaharischen Afrika oder aus Tunesien.


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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 3, 26.Jg., März 2011, S. 17
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. März 2011