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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1650: Leiharbeiter in der indischen Autoproduktion


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 5 - Mai 2012
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

Leiharbeiter in der indischen Autoproduktion
Kampf für unabhängige Gewerkschaften

Von Heiner Köhnen



Am 27. Februar 2012 gelang es den Beschäftigten von Maruti-Suzuki, dem größten indischen Autoproduzenten, nach neunmonatigen Auseinandersetzungen eine unabhängige Gewerkschaft zu gründen. Dies ist ein historischer Durchbruch in der nach China weltweit am stärksten expandierenden Volkswirtschaft. Maruti steht für ein Wachstumsmodell, das auf verschärfter Ausbeutung und Gewerkschaftsfeindlichkeit basiert.


Mit einem jährlichen Wirtschaftswachstum von 8-10% in den letzten sieben Jahren ist Indien eine stark expandierende Volkswirtschaft. Eine der Schlüsselindustrien ist die Autoindustrie.

Indien gehört zu den "Gewinnerregionen" des seit der Krise veränderten Weltautomobilmarkts. Zwischen 2001 und 2010 hat sich die Autoproduktion Indiens mehr als verdoppelt, das Land produzierte 2010 3,5 Mio. Kraftfahrzeuge. Für 2015 werden 5,1 Mio., für 2020 gar 9,7 Mio. Kfz erwartet. Nimmt man neben Pkw auch die Produktion von Nutzfahrzeugen, Zwei- und Dreirädern hinzu, so wurden 2011 bereits 17,9 Mio. Fahrzeuge produziert (www.siamindia.com).

Alle globalen Autoproduzenten haben in Indien inzwischen eigene Werke errichtet, wobei die Produktion von einigen großen Konzernen wie der Suzuki-Tochter Maruti mit einem Marktanteil von 46% im Pkw-Sektor, oder Tata mit einem Anteil von 64% bei Nutzfahrzeugen dominiert wird. Zusammen bestritten diese Unternehmen bis vor kurzem drei Viertel der indischen Kfz-Produktion.


Die Lage der Leiharbeiter

Beeindruckend ist auch die Entwicklung der Beschäftigung. Die Automobilbranche beschäftigt heute mehr als 700.000 Arbeiter. Zählt man die Beschäftigten der Zwei- und Dreirad-Produktion hinzu, so werden sogar 13 Millionen direkt und indirekt Beschäftigte genannt. Nach offiziellen Angaben sollen in den nächsten drei Jahren weitere 5 Millionen Arbeitsplätze entstehen, bis 2016 erwarten Industrie und Regierung 25 Millionen Beschäftigte. Dies würde den Sektor zu einer der größten Beschäftigungsmaschine dieses Jahrzehnts machen.

In den letzten zehn Jahren lässt sich zudem ein enormer Anstieg der Arbeitsproduktivität beobachten. Dabei fällt zunächst die starke Spaltung der Belegschaften in Festangestellte und Leiharbeiter und andere prekär Beschäftigte auf. Geschätzte 67% der Beschäftigten arbeiten im Durchschnitt als Leih- oder Zeitarbeiter, in den neuen Unternehmen liegt ihr Anteil bei 60-80%. In älteren Firmen arbeiten prekär Beschäftigte fast ausschließlich in Dienstleistungsbereichen, während sie in den neueren Werken die gleichen Tätigkeiten wie Festangestellte im Produktionsbereich ausüben.

Leiharbeiter werden zudem in vielerlei Hinsicht diskriminiert. Sie haben zumeist keine wirkliche Chance auf eine Festanstellung, sondern sind im selben Werk dauerhaft als Zeitarbeiter tätig. Dabei erhalten sie wesentlich geringere Löhne. Der indische Gewerkschaftsverband NTUI gibt die Lohnunterschiede mit 3:1 bis zu 7:1 an.

Erzwungenermaßen arbeiten prekär Beschäftigte deshalb im Durchschnitt wesentlich länger als Festangestellte (eher 12 als 8 Stunden pro Tag). Des Weiteren zahlen Unternehmen für prekär Beschäftigte oft keine Sozialversicherung, weshalb sie trotz rechtlicher Zusicherung ohne Krankenversicherung bleiben; der Staat reagiert darauf kaum.

Prekär Beschäftigte berichten von vielfältigen Erfahrungen von Entwürdigung und Respektlosigkeit. In manchen Betrieben erhalten sie entweder kein Essen in der Kantine oder nicht das gleiche Essen wie Festangestellte, keine Arbeitskleidung, keine individuellen Schutzmittel wie Schuhe oder Handschuhe. Prekär Beschäftigte dienen als Druckmittel zur Produktionssteigerung, denn ihnen wird mit Entlassung gedroht, wenn sie nicht "spuren". Sie haben vor allem Angst und das Gefühl, "alles akzeptieren zu müssen".

Festangestellten wiederum wird durch die Arbeit der Prekären signalisiert, dass auch sie jederzeit austauschbar sind. In der Regel sind Zeitarbeiter nicht gewerkschaftlich organisiert, und die Gewerkschaften unternehmen nur wenige Versuche, dies zu ändern. Zeitarbeiter tragen Arbeitskonflikte deshalb, wenn überhaupt, nur spontan und "unorganisiert" aus.

Beschäftigte berichten inzwischen von einer Vielzahl von Entwicklungen, die Belegschaften in der internationalen Autoindustrie nur allzu bekannt sind. So wurden in den letzten Jahren in den neueren Betrieben Teamarbeit und, damit verbunden, neue Formen der Hierarchisierung eingeführt. Teamleiter übernehmen Managementfunktionen und tragen damit neue Formen der Konkurrenz und Kontrolle in die Belegschaften. Nach der Aufspaltung von Unternehmen in Kostenstellen und verschiedene "Einzelunternehmen" werden einzelne Bereiche ausgegliedert und Teile der Produktion verlagert. Seitdem gibt es eine Standortkonkurrenz mit Werken in anderen Bundesländern oder im Ausland.

Innerbetrieblich erleben Beschäftigte eine enorme Steigerung der Arbeitsintensität. Neue Produktionsstandards werden zuerst über Prämienanreize erzielt und danach als neue Standards definiert. Immer wieder werden dabei Überstunden erzwungen und der gesetzlich zustehende Urlaub verweigert.


Vorreiter Suzuki

Die Metallindustrie hat beim Einsatz von Leihbeschäftigten und einer neuen Produktionsorganisation eine Vorreiterrolle eingenommen. Entscheidend für diesen Umbruch war die Auseinandersetzung beim Branchenführer Maruti-Suzuki in Gurgaon in der Nähe von Delhi (Bundesstaat Haryana).

Das Unternehmen war bis 2001 gewerkschaftlich organisiert und ein Symbol dafür, dass es möglich ist, auch Privatunternehmen gewerkschaftlich zu organisieren. Ende der 90er Jahre kam es mehrfach zu Auseinandersetzungen um die Produktivität. 2000/2001 sollte das Produktivitätsprämienmodell geändert werden - dieser Frontalangriff auf die festangestellten Beschäftigten wurde zur Vorbedingung für weitere Umstrukturierungen. Der Konflikt mündete in eine dreimonatige Aussperrung, in deren Folge zunächst rund 500 Trainees ihren Job verloren.

Nach Ende der Aussperrung setzte das Unternehmen ein Frühverrentungsprogramm durch. 1000 Festangestellte verließen dadurch das Werk, statt ihrer wurden Leiharbeiter eingestellt. Durch Einschüchterung, Entlassungen und "freiwillige" Vorruhestandsregelungen wurden weitere Beschäftigte abgebaut. 2006 waren nur noch 1300 Produktionsarbeiter fest angestellt, aber bereits 3700 Beschäftigte Leiharbeiter. "Wenn sie Ärger machen, werden sie gekündigt", äußerte ein Aktivist des Gewerkschaftsverbands NTUI. Es war dem Unternehmen also gelungen, in diesem für die Arbeitsbeziehungen strategischen Werk die Gewerkschaft auszuschalten und den Einsatz von Leiharbeitern zu ermöglichen.

Die Produktivität stieg dramatisch. 2001 stellte ein Beschäftigter pro Jahr noch 50 Fahrzeuge her, 2006 bereits 110. Gleichzeitig haben Stresserkrankungen stark zugenommen. Der damalige Geschäftsführer des Unternehmens erklärte rund sechs Jahre später in der Economic Times, ohne die Auseinandersetzungen von 2001 wären die "neuen Arbeitsbeziehungen" nicht umsetzbar gewesen.

Parallel zum Angriff auf die Festangestellten strukturierte das Unternehmen seine Kette von Zulieferern um. Die Anzahl an direkten Zulieferer reduzierte sich von 800 im Jahr 1998 auf 400 im Jahr 2000.


Der Durchbruch 2011

Die Auseinandersetzungen bei Maruti waren kein Einzelfall. Auf den Maruti-Streik folgten viele weitere Auseinandersetzungen in der Region zwischen 2000 und 2010: bei Honda HMSI, Hero Honda, Shivam Autotech, Delphi und anderen. Sie alle waren geprägt von Repression und Polizeigewalt gegen aktive Beschäftigte und Gewerkschaften, von Beschimpfungen und Aussperrungen bis hin zu psychischer und physischer Gewalt gegen die Arbeiter durch angeheuerte Aufpasser und Schläger. "Es hat in den letzten zehn Jahren keine gewerkschaftlichen Organisierungsversuche in neugebauten Fabriken gegeben, die nicht zu Schikanen und Opfern unter den Beschäftigten geführt hätten. Und wenn es gelungen ist, Gewerkschaften zu gründen und diese haben überlebt, dann müssen diese darum kämpfen, dass sie Kollektivverhandlungen führen können", sagt Gautam Mody, Gewerkschaftsführer der NTUI. Dort, wo kämpferische Gewerkschaften existieren und nicht durch Repression ausgeschaltet werden konnten, wurden zum Teil unternehmerfreundliche Gewerkschaften aufgebaut.

Die jüngste Auseinandersetzung im Werk Maruti steht in dieser Tradition. Beschäftigte wehrten sich gegen schlechte Arbeitsbedingungen und gegen die vom Unternehmen eingesetzte Betriebsgewerkschaft. Den Beschäftigten war es nicht erlaubt, während der Arbeit Wasser zu trinken oder auf die Toilette zu gehen. Das sollten sie in der Tee- oder Mittagspause tun. Bei vermeintlichen "Verstößen" wie die Nichterreichung von Produktionszielen wurden die Beschäftigten zu unbezahlten Überstunden gezwungen. Trotz anderslautender Verpflichtungen in ihren Arbeitsverträgen erhielten sie keine Gesundheitsversorgung.

Gegen diese Bedingungen streikten die Beschäftigten im Juni 2011 13 Tage lang, sie forderten eine unabhängige Gewerkschaft. Ungewöhnlich war die Einheit zwischen den Vollzeitbeschäftigten und den prekär Beschäftigten, die den Streik unterstützten. In den darauffolgenden Monaten wurden Verhandlungen geführt, die zu weiteren Arbeitsniederlegungen, Entlassungen und sogar zu einem Gefängnisaufenthalt für die Gewerkschaftsführer und wiederum zu einem 14-tägigen Streik im Oktober führten. Der Staat verweigerte lange Zeit die Anerkennung der neuen Gewerkschaft mit der Begründung, sie habe zu einem illegalen Streik aufgerufen. Die Beschäftigten hielten durch. Am 27. Februar 2012 wurde die unabhängige Gewerkschaft Maruti Suzuki Workers Union (MSWU) offiziell anerkannt.

Für die Region hat das Symbolwirkung. Mit ihrem Kampf haben die Arbeiter bei Maruti-Suzuki gezeigt, dass es möglich ist, der Unternehmenswillkür eigene Interessen entgegen zu setzen.


Eine eindrückliche Schilderung der Situation von prekär Beschäftigten und Zeitarbeitern, ihrer Arbeitskonflikte und Streiks findet sich in der Broschüre "Gurgaon, Indien: Neue Stadt, neues Glück, neue Kämpfe?". Sie wurde von Wildcat 2008 veröffentlicht, (siehe www.wildcat-www.de/wildcat/82).
Siehe auch: Heiner Köhnen, "Umbruch der indischen Automobilindustrie und die Rolle der Gewerkschaften", Standpunkte International, Nr.9, 2011, (www.rosalux.de/internationale-politik/publikationen.)


Kasten
AUTOEXPORT IN BRIC-STAATEN

Seit den 70er Jahren schwelt in der Automobilindustrie eine globale Überproduktionskrise mit zyklischen Ausbrüchen. Diese wird auf lange Sicht dazu führen, daß mehrere der zwölf großen global agierenden Unternehmen verschwinden. Zugleich verschieben sich die Zentren von Produktion und Absatz: weg von Europa und Nordamerika hin zu den BRIC- Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China) und weiteren Schwellenländern Asiens und Lateinamerikas, die im Zuge ihrer kapitalistischen Entwicklung gerade eine Phase der Automobilisierung erleben.

2011 wurden in den BRIC-Staaten 20,8 Millionen Autos verkauft, das sind 33,9% der weltweit abgesetzten Fahrzeuge. Bis 2015 wird der Absatz voraussichtlich auf 25 Millionen Fahrzeuge jährlich und damit auf 35,7% aller weltweit verkauften Pkw steigen, prognostiziert Ferdinand Dudenhöffer, Automobilexperte der Universität Duisburg/Essen. Das Wachstum sei aber nicht mehr so rasant, da die neue Mittelschicht dieser Länder, 15 bis 20% der Bevölkerung, langfristig ein relativ begrenztes Käuferpotenzial bilde.

Neben den BRIC-Staaten zählen zu den wichtigsten Wachstumsregionen der Autobranche vor allem 15 Schwellenländer, u. a. Türkei, Mexiko, Indonesien, Malaysia, Thailand, Südafrika, Kolumbien und Bangladesh. Für Bangladesh mit einer Bevölkerung von 160 Millionen Menschen rechnen Ökonomen bis 2020 mit einer Verzehnfachung der Fahrzeuge (derzeit weniger als eine Million).

2014 wird voraussichtlich jedes dritte Auto in Brasilien, Russland, Indien und China abgesetzt werden. Ein sich immer stärker spaltender globaler Automobilmarkt führt dazu, dass die hierzulande schon lange vor der aktuellen Finanzkrise spürbare Beschäftigungskrise weiter andauern wird. Der Arbeitsplatzabbau hat schon lange begonnen - besonders deutlich in den USA. Dort ging er einher mit einem starken Machtverlust der Automobilarbeitergewerkschaft. Das könnte auch in europäischen Ländern geschehen.

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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 5, 27.Jg., Mai 2012, Seite 18
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Mai 2012