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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1950: Ernest Mandel - Politische Ökonomie im 20. Jahrhundert...


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 7/8, Juli/August 2015
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

Ernest Mandel (1923-1995)
Politische Ökonomie im 20. Jahrhundert und das neue sozialistische Projekt

Von Ingo Schmidt


Marxistische Analysen der kapitalistischen Warenproduktion, ihrer Widersprüche und Krisentendenzen sind gewiss keine Mangelware. Was fehlt, ist eine Gesamtschau, die Zusammenfassung von Analysen verschiedener Ausschnitte kapitalistischer Wirklichkeit in einer Art und Weise, die es der Arbeiterbewegung und anderen sozialen Bewegungen erlauben würde, Ansatzpunkte für politisches Eingreifen zu bestimmen.


Aus Analysen einzelner Bereiche, zum Beispiel der Arbeits- und Finanzmärkte, lassen sich in aller Regel konkrete Reformvorschläge ableiten. Gleichzeitig streiten Krisentheoretiker darüber, ob ein politisch regulierter Kapitalismus überhaupt eine realistische Alternative zum Neoliberalismus darstellt oder ob der Kapitalismus, gleich welcher Ausprägung, durch eine sozialistische Ökonomie zu ersetzen sei. Solange der Sozialismus aber nur negativ, als Gegensatz zum Kapitalismus, bestimmt wird, bleibt er zu abstrakt, um die Kämpfe für einzelne Reformen zu einer Bewegung zu verdichten, die die jetzigen kapitalistischen Zustände in ihrer Gesamtheit aufheben könnte.

Ohne eine derartige strategische Orientierung bleiben Kämpfe um einzelne Reformen jedoch isoliertes Stückwerk, eine Sisyphusarbeit, die immer wieder auf ihre Anfänge zurückgeworfen wird. Gemessen an ihren orientierenden Beiträgen zur sozialistischen Politik steht die marxistische politische Ökonomie weniger gut da, als man aufgrund der regen Produktions- und Veröffentlichungstätigkeit vermuten könnte.


Theorie und Praxis

Damit befinden sich marxistische Ökonomen heute (trotz teils gravierender Unterschiede) in einer ähnlichen Lage wie Ernest Mandel Anfang der 60er Jahre, als er seine Marxistische Wirtschaftstheorie veröffentlichte. Damals befand sich der Kapitalismus in einer historisch einmaligen Prosperitätsphase. Die subalternen Klassen konnten durch Sozialreformen integriert werden, ohne dadurch die Profitrate zu bedrohen.

Die Bereitschaft, solche Reformen zu akzeptieren, wurde durch die Existenz der Sowjetunion noch erhöht. Solange Arbeitsplätze im Westen reichlich vorhanden und halbwegs sicher waren und dabei zunehmend besser entlohnt wurden, war der Befehlssozialismus im Osten wenig attraktiv.

In der Hoch-Zeit des Nachkriegsaufschwungs bemühten sich Sozialisten wie Mandel um die Ausarbeitung einer sozialistischen Politik, die am aufkeimenden Unbehagen an einer total verwalteten Welt anknüpfte, sich darüber hinaus aber auf das Ende der Prosperität und die damit absehbare Verschärfung von Verteilungskämpfen einstellte. Dabei standen sie vor dem Problem, dass der an der Arbeiterbewegung und den antiimperialistischen Bewegungen orientierte Marxismus in den Dogmen sowjetischer Legitimationsschablonen gefangen war, während der westliche Marxismus die Stillstellung von Klassengegensätzen im Spätkapitalismus für so weitgehend hielt, dass sozialistische Politik nicht mehr als Klassenpolitik konzipiert werden konnte. Heute stehen wir vor dem Problem, dass sich der Klassengegensatz mit dem Untergang der verstaatlichten Arbeiterbewegungen im Osten und im Westen in alle Winde zerstreut hat.

Mit dem Zerfall organisierter Klassenbewegungen hat auch der kritische Marxismus, der aus den Bemühungen von Mandel und anderen im Laufe der 60er und 70er Jahre entstanden ist, seinen Bezugspunkt verloren. Damals wie heute stellt sich die Frage, ob die marxistische politische Ökonomie so erneuert werden kann, dass sie zur Ausarbeitung eines neuen sozialistischen Projektes beitragen kann.

Mandel und andere Sozialisten seiner Generation suchten aus den marxistischen Traditionen ihrer Zeit theoretische Innovationen zu entwickeln, die eine Analyse des Kapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg erlaubte.

Heute stehen wir vor der Frage, ob eine entsprechende Aneignung der um Mandel und andere erweiterten marxistischen Traditionen zum Verständnis des Kapitalismus seit dem Ende des Kalten Krieges beitragen und eine sozialistische Politik anleiten kann, die aus den gegenwärtig vorliegenden marxistischen Analysen nur wenig Anregungen ziehen kann.


Marxistische Wirtschaftstheorie und Spätkapitalismus

Mandel entwickelt die "Marxistische Wirtschaftstheorie" in seinem gleichnamigen, 1962 in französisch und 1968 auf deutsch erschienenen Buch in Auseinandersetzung mit geschichtlichen Entwicklungen. Die Diskussion urkommunistischer Gesellschaften und der neolithischen Revolution erlaubt ihm die Einführung der Begriffe "gesellschaftliches Mehrprodukt", "Arbeitsteilung", "Klassenteilung". Ein Blick auf die Geschichte des Handels, des Geldwesens und der Formen des landwirtschaftlichen Überschusses führt ihn zur Entstehung des Kapitals, dessen von periodischen Krisen immer wieder unterbrochene und vorangetriebene Entwicklung er über den Monopolkapitalismus und Imperialismus bis hin zum Spätkapitalismus verfolgt.

Den Spätkapitalismus charakterisiert er als Niedergangsperiode des Kapitalismus und Übergangsperiode zum Sozialismus. Kennzeichnend dafür sind die Einengung des Weltmarkts infolge der Ausbreitung des "Sowjetkommunismus" in Osteuropa sowie der chinesischen Revolution; der Konflikt zwischen Industrialisierungsprojekten und neokolonialer Herrschaft in den Peripherien; sowie keynesianische Wirtschaftssteuerung und dritte technologische Revolution in den Metropolen.

Die Marxistische Wirtschaftstheorie verzichtet auf Marx-Exegese und auf Bezüge zu bestimmten Traditionslinien des Marxismus. Mandel stellt die Theorie, so wie er sie versteht, im Kontext geschichtlicher Entwicklungen dar. Dabei ist er aber wenig innovativ. Mit Ausnahme seiner an Trotzki anschließenden Kritik der Sowjetunion hätte seine Interpretation der kapitalistischen Entwicklung auch mit Hilfe der von Sowjetmarxisten gepflegten Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus vorgetragen werden können.

Erst mit dem 1972 veröffentlichten Spätkapitalismus entwickelt Mandel eigenständige Positionen. Die in der Marxistischen Wirtschaftstheorie bereits angerissenen Merkmale des Spätkapitalismus rücken nun in den Mittelpunkt einer vertieften theoretischen Analyse.

Ausgangspunkt ist die These, dass Unternehmen Surplusprofiten nachjagen müssen, die über die Durchschnittsprofitrate hinausgehen. Dadurch verschaffen sie sich die Finanzmittel, mit denen sie in der Konkurrenz gegenüber anderen Unternehmen bestehen können. Diese Surplusprofite speisen sich aus monopolistischer Preisbildung, technologischen Innovationen und Kapitalexporten in die kapitalistischen Peripherien, in denen Arbeitskraft billiger zu haben ist als in den Metropolen.

Damit ist der Rahmen abgesteckt, in dem Mandel die Rolle des Staates sowie die davon abgesicherte Monopolpreisbildung im Spätkapitalismus analysiert. Zu nennen sind hier insbesondere Wirtschaftsprogrammierung, die permanente Rüstungswirtschaft und die von Zentralbanken und Tarifparteien moderierte, permanente Inflation. Er untersucht aber auch technologische Revolutionen und die beginnende Internationalisierung des Produktionsprozesses, die monopolistische Praktiken immer wieder bedrohen und die Konkurrenz auch im Spätkapitalismus aufrechterhalten.

Darüber hinaus bezieht er die Reaktion der subalternen Klassen auf die verschiedenen Strategien der Kapitalakkumulation in seine Analyse mit ein. Die empirisch zu beobachtende Akkumulation des Kapitals ist demnach nicht die Verwirklichung einer im Kapitalverhältnis angelegten, ehernen Logik, sondern Resultat von Konkurrenz und Klassenkampf.


Lange Wellen und das Ende des kurzen 20. Jahrhunderts

Der Spätkapitalismus erschien kurz vor dem Ende des langen Nachkriegsaufschwungs und inmitten des Aufschwungs von Arbeiterkämpfen sowie neuer sozialer und antiimperialistischer Bewegungen. Mandels Prognose, dass lange Wellen den Niedergang des Kapitalismus nicht dauerhaft aufhalten und schließlich zu neuen Krisen und Klassenkämpfen führen würden, war damit aufs glänzendste bestätigt. Für den Umgang mit den Niederlagen der Linken - vom Militärputsch in Chile über die Wahlen Thatchers und Reagans bis hin zum Zusammenbruch der Sowjetunion - gaben aber weder der Spätkapitalismus noch spätere Werke Mandels strategische Hilfestellungen.

Die zuerst 1980 auf englisch erschienenen Langen Wellen im Kapitalismus stellten zwar eine theoretische Innovation dar, weil sie ausdrücklich eine Beziehung zwischen den langen Wellen der Kapitalakkumulation und den Klassenkämpfen herausarbeiten. Die Anwendung dieser Innovation auf die Wirklichkeit ist aber problematisch, weil vom Ende des Nachkriegsaufschwungs weiterhin auf einen Aufschwung der Klassenkämpfe von unten geschlossen wird, während zu jener Zeit bereits eine Kapitaloffensive von oben im Gang war. In späteren Werken, so in Die Krise - Weltwirtschaft 1974-1986 und in dem mit Winfried Wolf zusammen verfassten Cash, Crash & Crisis wird die weitere Entwicklung des Kapitalismus samt seiner Krisen sorgfältig nachgezeichnet.

Der Frage, ob die im Spätkapitalismus bereits angedeutete Internationalisierung, der damit verbundene Schub an Kapitalexporten sowie die Ausbreitung neuer Informationstechnologien zu einem neuen langen Aufschwung des Kapitalismus führen werden, weicht Mandel jedoch aus. Ebenso vermeidet er die Frage nach den Auswirkungen, die ein Scheitern des "Gorbatschow-Experiments" auf den Weltkapitalismus haben könnte. In dem gleichnamigen 1989 erschienenen Buch arbeitet er zwar die Grenzen einer von der Bürokratie ausgehenden Reform des Sowjetsystems heraus, untersucht aber nicht die Hindernisse, die der Neukonstitution einer autonomen Klassenbewegung von unten im Wege stehen.

Mit der Sowjetunion ist auch der von Mandel analysierte Spätkapitalismus im Strudel der neoliberalen Globalisierung untergegangen. Damit haben sich auch die Bemühungen erledigt, sozialistische Alternativen in Abgrenzung von Sowjetkommunismus und Sozialdemokratie zu entwickeln.

Gleichzeitig ist unklar, wie die kapitalistische Entwicklung seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion einzuschätzen ist. Gemessen an dem langen Nachkriegsaufschwung von den 50er Jahren bis Anfang der 70er Jahre nehmen sich die seither in den kapitalistischen Zentren erreichten Wachstumsraten eher bescheiden aus. Trotzdem kann angesichts der Wiederherstellung eines weltumspannenden Kapitalismus und der Entstehung neuer Wachstumspole, allen voran China und Indien, kaum von einem kapitalistischen Niedergang gesprochen werden. Eher könnte man vermuten, dass wir es von Anfang der 90er Jahre bis zum Finanzkrach und der Weltwirtschaftskrise 2008/2009 mit einem nicht ganz so langen Aufschwung zu tun hatten, der mittlerweile in eine Stagnationsphase eingetreten ist, die auch einige der neuen Wachstumspole erreicht hat.

An der Kapitalismusanalyse gilt es weiterzuarbeiten, ebenso wie an der Neubestimmung sozialistischer Politik. In den 60er Jahren sahen sich Mandel und andere einer ähnlichen Aufgabe gegenüber und haben zu diesem Zweck den Marxismus ihrer Zeit neu interpretiert und weiterentwickelt. So müssen wir es heute mit den Ideen einer damals neuen Linken auch machen.

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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 7/8, 30. Jg., Juli/August 2015, S. 18
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Juli 2015

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