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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1955: Die türkische Vielfachkrise ...


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 9, September 2015
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

Die türkische Vielfachkrise ...
und das gefährliche Spiel mit der Eskalationsschraube

Von Murat Çakir[*]



Einleitung der SoZ-Redaktion:
Die Türkei ist in einer Vielfachkrise gefangen. Noch scheint keine Lösung in Sicht. Im Gegenteil, das gefährliche Spiel der AKP mit der Eskalationsschraube birgt das Risiko, dass die Vielfachkrise sich noch mehr vertieft und in einen bürgerkriegsähnlichen Konflikt mündet. Erdogan und seine AKP schrecken nicht davor zurück, die Staatsform in Richtung einer offenen Diktatur zu verschieben.


Im Heft 7/8 2015 der Zeitschrift Sozialismus hatten wir festgestellt, dass die Parlamentswahlen von Anfang Juni in der 13-jährigen AKP-Ära eine Zäsur darstellen. Die AKP-Regierung wurde abgewählt. Alles deutete auf eine Koalitionsregierung hin. Wochen später, nach der Konstituierung des neuen Parlaments gab Staatspräsident Erdogan dem amtierenden Ministerpräsidenten Davutoglu am 9. Juli den Auftrag, die 63. Regierung der Türkei zu bilden. Seitdem regiert das Davutoglu-Kabinett das Land kommissarisch. Da inzwischen die Koalitionsgespräche mit der CHP und der neofaschistischen MHP scheiterten und die verfassungsgemäße Frist zur Regierungsbildung am 23. August endet, droht eine Neuwahl.

Die Türkei ist in einer Vielfachkrise gefangen. Noch scheint keine Lösung in Sicht zu sein. Im Gegenteil, das gefährliche Spiel der AKP mit der Eskalationsschraube birgt das Risiko, dass diese Vielfachkrise sich noch mehr vertieft und die gesellschaftliche Spaltung in einem bürgerkriegsähnlichen Konflikt münden könnte. Erdogan, dessen Plan, ein Präsidialsystem zu etablieren, durch den Einzug der HDP ins Parlament einen empfindlichen Dämpfer bekommen hat, will sich nicht geschlagen geben. Sein derzeitiges Handeln deutet daraufhin, dass er das Wahlergebnis vom 7. Juni mit einer erzwungenen Neuwahl korrigieren will. Um eben dieses Ziel zu erreichen schrecken Erdogan und seine AKP nicht davor zurück, die "Staatsform in Richtung einer offenen Diktatur zu verschieben". (1)

Für westeuropäische Verhältnisse mag es sein, dass im 21. Jahrhundert in einer parlamentarischen Demokratie eine offene Diktatur unmöglich erscheint. Doch das parlamentarische System der Türkei fußt auf einer undemokratischen Junta-Verfassung und spätestens seit dem Verfassungsreferendum vom 2010 ist die Gewaltenteilung de facto aufgehoben. Die Junta-Verfassung gibt dem Staatspräsidenten, der erstmals 2014 direkt gewählt wurde, weitgehende Befugnisse. Nach dem die AKP in den letzten drei Legislaturperioden ihrer Alleinregierung die Staatsapparate unter ihre Kontrolle gebracht hat, sind diktatorische Maßnahmen - trotz Verlust der Parlamentsmehrheit - leicht umzusetzen. Für die AKP, die in der Kontinuität des neoliberalen Regimes der Militärjunta von 1980 steht, wäre das nichts Ungewöhnliches. Immerhin hat sie genug Erfahrung darüber sammeln können, so z.B. 2011, wo sie das Land sechs Monate lang mit "Erlassen in Gesetzeskraft" regiert hat. Insofern hat Gehrings Feststellung durchaus Hand und Fuß. Ein kurzer Blick auf die Ereignisse der letzten Wochen macht das deutlich.


Kriegszustand in Kurdistan

In den Tagen nach den Parlamentswahlen mied Erdogan die Öffentlichkeit und erklärte bei seinem ersten Auftritt, dass "alle Akteure ihre Egos beiseite stellen und für eine stabile Regierung sorgen sollen". Kommentatoren der bürgerlichen Medien deuteten dies als "Akzeptanz der Absage der Wählerschaft an das geplante Präsidialsystem". Es keimte die Hoffnung an eine Koalitionsregierung, die ein breites gesellschaftliches Fundament hat und dazu sorgen könnte, das parlamentarische System zu restaurieren. Doch schon bei der Konstituierung des Parlaments konnte man sehen, wie trügerisch diese Hoffnungen waren. Die AKP konnte sich mit der Unterstützung der neofaschistischen MHP das Amt des Parlamentspräsidenten, der zugleich Stellvertreter des Staatspräsidenten ist, sicherstellen. Nachdem diese wichtige Hürde genommen war, beauftragte Erdogan den abgewählten Ministerpräsidenten Davutoglu mit der Regierungsbildung.

Davutoglu nahm sich für Koalitionsgespräche reichlich Zeit. Während diese Gespräche mit der CHP schleppend vorangingen, überschlugen sich die Ereignisse: Am 20. Juli wurde auf ein linkes Jugendcamp in Suruç an der türkisch-syrischen Grenze ein Bombenanschlag ausgeübt. 31 Sozialist*innen starben, Hunderte wurden verletzt. Die Jugendlichen waren auf dem Weg nach Kobanê, um dort den Wiederaufbau zu unterstützen. Inzwischen hat sich die Zahl der Toten auf 34 erhöht.

Obwohl bis heute kein Bekennerschreiben des "Islamischen Staates" (IS) vorliegt, wurde von der Regierung der IS dafür verantwortlich gemacht. Kurze Zeit später wurden zwei Polizisten, denen Kollaboration mit der IS vorgeworfen wurde, erschossen. Dafür wurde die PKK verantwortlich gemacht. Danach wurde bekannt, dass sich die Türkei und die USA geeinigt hätten und die US-Luftwaffe den Luftwaffenstützpunkt Incirlik für ihre Angriffe benutzen darf. In den westlichen Medien wurde kommentiert, dass die Türkei "nun endlich in der Anti-IS-Koalition mitkämpft". Am 24. Juli bombardierten türkische F16-Jets vier IS-Stellungen. Doch gleichzeitig begann eine großangelegte Luftoffensive gegen PKK-Stellungen in den nordirakischen Kandil-Bergen und eine Verhaftungswelle im Inland. Die AKP-Regierung erklärte, dass "die Türkei den Terrororganisationen der IS, PKK und der DHKP-C den Krieg erklärt habe".

In der ersten Welle wurden über 1.300 Personen festgenommen. Türkische Medien berichteten, dass rund 100 Personen IS-Verdächtige wären, der Rest aber Mitglieder der PKK und der linksradikalen DHKP-C. Spezialkräfte der inzwischen paramilitarisierten Polizei gingen dabei äußerst brutal vor. In dem überwiegend von Linken und Aleviten bewohnten Istanbuler Stadtteil Gazi wurde eine Frau in ihrem Schlafzimmer regelrecht hingerichtet. Selbst deren Begräbniszeremonie in einem alevitischen Zentrum wurde drei Tage lang von der Polizei belagert und angegriffen. Provokationen, Verhaftungen, Angriffe und Bombardierungen wurden fortgeführt und dauern noch an. In Agri wurden zwei Bäckerhelfer, 15 und 16 Jahre alt, von Spezialkräften erschossen. In Varto, nahe Mus wurde eine getötete Guerilla ausgezogen und nackt fotografiert, was im ganzen Land für Aufsehen sorgte. Zwölf Regierungsbezirke in den kurdischen Gebieten wurden zu "Besonderen Sicherheitsregionen" erklärt. Es herrscht de facto das Kriegsrecht. Während linke und kurdische Aktivist*innen weiterhin festgenommen werden, wurden inzwischen sämtliche IS-Verdächtige freigelassen.

Nach dem Suruç-Attentat und dem Beginn der Luftoffensive begann die PKK mit Vergeltungsaktionen, die wiederum mit neuen Bombardierungen und Verhaftungen beantwortet werden. Innerhalb weniger Wochen wurden in 56 Städten HDP-Büros Ziel von Pogromen und Anschlägen. Als Reaktion auf die Luftoffensive gegen die PKK und Militäroperationen gegen zivile Kräfte haben kurdische Kommunen begonnen die autonome Selbstverwaltung auszurufen. Die Eskalation der Gewalt führte auch dazu, dass binnen eines Monats 48 Soldaten und Polizisten getötet wurden. Die von Liveberichterstattung begleiteten Begräbniszeremonien für "Gefallene" werden von Erdogan und Regierungsmitgliedern als Bühne für politische Reden instrumentalisiert. Zwar genießen Erdogan und die AKP innerhalb der sunnitisch-konservativen Mehrheitsgesellschaft weiterhin Unterstützung, aber inzwischen sind auch von den Familienangehörigen von "Gefallenen" Proteste zu hören. Erst vor kurzem wurde der stellvertretende Ministerpräsident Akdogan bei einem Soldatenbegräbnis von einer wütenden Menge mit Wasserflaschen beworfen, worauf er fluchtartig den Ort verlassen musste.

Dennoch, Erdogan und die AKP drehen weiterhin an der Eskalationsschraube. Provokationen und militärische Operationen in den kurdischen Siedlungsgebieten dauern an. Silvan, ein Vorort von Diyarbakir und Semdinli sind von der Armee belagert. Häuser wurden in Brand gesteckt und Geschäfte von Gewehrkugeln durchlöchert. In Silopi versuchen sich die Einwohner*innen mit aneinander genähten Bettlaken, die sie zwischen ihre Häuser aufhängen, vor den Scharfschützen der Polizei zu schützen. Während regierungsnahe Medien von getöteten "Terroristen" sprechen, melden die wenigen unabhängigen Zeitungen und soziale Medien, dass die mutmaßlichen "Terroristen" unschuldige Zivilisten seien. Untersuchungskommissionen der HDP berichten von Massakern in den kurdischen Städten, werden aber in den gängigen Medien nicht gehört. Die Menschen informieren sich nur noch über die sozialen Medien, weshalb inzwischen die Telefonnetze und Internetzugänge in diesen Regionen abgeschaltet wurden. In Kurdistan herrscht nun wieder Kriegszustand.


Kapitalfraktionen auffällig ruhig

Erdogan hat längst mit dem Wahlkampf begonnen. In seinen aktuellen Auftritten spricht er nur noch von der "Notwendigkeit des Präsidialsystems" und sagt: "Die Regierungsform der Türkei hat sich faktisch geändert. Nun muss die Verfassung an diese Realität angepasst werden". Regierungsvertreter und AKP-Abgeordnete stimmen sich diesem Chor ein und erklären im Bezug auf die Eskalation der Gewalt, dass "das parlamentarische System an seine Grenzen gekommen" sei und "das Land aus dieser Situation nur mit dem Präsidialsystem herauskommen" könne.

Seit 2011 ist Erdogan bemüht, für sein autoritäres Präsidialsystem zu werben. Dabei kritisierte er stets die Gewaltenteilung. Schon damals schreckte er bürgerliche Verfassungsrechtler auf, als er sagte: "Wir wollen für unser Wachstum große Investitionen tätigen. Aber die Oligarchie der Gerichte will uns dabei hindern. Es kann nicht sein, dass irgendein Verwaltungsrichter wegen Umweltvorgaben für das Land wichtige Investitionen verhindert. (...) Die Türkei ist ein starker Staat und muss wie eine Aktiengesellschaft regiert werden. Gewaltenteilung darf uns dabei nicht behindern". Obwohl die Medien gleichgeschaltet sind und der Justizapparat, genau wie die Polizei und das Militär längst unter seiner Kontrolle gebracht wurde, will Erdogan der erste Präsident der "neuen Türkei" werden.

Im Grunde genommen ist das Präsidialsystem ein Protektionsversprechen an die klein- und mittelständige sunnitisch-konservative Kapital, die bei der schärfer werdenden Konkurrenz zu den internationalen Monopolen auf die Unterstützung des Staates angewiesen ist. Eng verwoben mit den internationalen Monopolen stellt sich das türkische Großkapital, das einen Großteil der industriellen Produktion und des Exportes unter seiner Kontrolle hält, dagegen. Erdogans Präsidialsystem wurde vom Großkapital als eine Vormundschaft der kapitalistischen Konkurrenz bewertet. Der prowestliche Unternehmensverband TÜSIAD setzte auf das parlamentarische System und unterstützte die Forderungen nach Stärkung des Parlaments. Mit dem Wahlergebnis vom 7. Juni schienen Erdogan und ihn unterstützende Kapitalfraktionen bei dem Kampf um die politische Form der Organisierung der kapitalistischen Konkurrenz eine vorläufige Niederlage erhalten zu haben. (2)

Nun drängt Erdogan auf eine endgültige Entscheidung. Obwohl die Kapitalakkumulation stagniert, das Wirtschaftswachstum rückgängig ist und die Lasten der Vielfachkrise immer größer werden, sind die Kapitalfraktionen z.Zt. auffällig ruhig. Dabei ist die Situation alles andere als rosig: Die Auslandsverschuldung der Privatwirtschaft hat die 212-Milliarden-Dollar-Marke überschritten. In den nächsten 12 Monaten sind insgesamt 69,8 Milliarden Dollar an Tilgungszahlungen fällig, was eine neue Umschuldung wahrscheinlich macht. Die Türkische Lira (TL) verliert weiterhin an Wert: in der dritten Augustwoche kostete 1 Dollar fast 2,90 TL. Bald könnte die 3,00 TL-Marke überschritten werden. Auch die türkischen Banken bekommen Schwierigkeiten: Laut einem Bericht des Risikozentrums der Türkischen Bankenunion (TBB) hat sich das Volumen der sog. faulen Kredite der Privatwirtschaft um 25,8 Prozent auf 40,9 Milliarden Dollar erhöht.

Aber allgemein betrachtet kann z.Zt. nicht von einer Entwicklung gesprochen werden, die den Interessen der Kapitalfraktionen widersprechen würde. Zum einen sind von der Auslandsverschuldung eher die klein- und mittelständigen Unternehmen betroffen, nicht aber das Großkapital. Die sunnitisch-konservativen Kapitalfraktionen wiederum können sich bezüglich der Verschuldung und fauler Kredite staatlicher Unterstützung sicher sein. Das Davutoglu-Kabinett hat längst neue indirekte Steuern beschlossen. Auch bei den Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst ist der Staat nicht willens, einer Lohnerhöhung über der Inflationsrate zuzustimmen. Aufgrund des Wertverlustes der TL hat der gesetzliche Mindestlohn inzwischen eine Kaufkraft von nur noch 341 Dollar. Insofern können alle Kapitalfraktionen zu recht davon ausgehen, dass die Rechnung der Krise den Beschäftigten und privaten Haushalten präsentiert wird.


Ein weiterer Faktor: Das angespannte Umfeld

Auch wenn in den westlichen Medien der türkische Krieg in Kurdistan weitgehend verschwiegen wird, so kommen sie nicht umhin, Ankaras Haltung in der Syrienfrage zu kritisieren. Es steht außer Frage, dass auch die Kriege im Irak und in Syrien für die Krisen der Türkei mitverantwortlich sind. Zumal die AKP-Regierung Syrien zu einem innenpolitischen Thema erkoren hat. Der Grund ist nicht nur die Assad-Gegnerschaft der AKP, sondern in erster Linie die eigene Kurdenproblematik.

Der erfolgreiche Kampf gegen den IS, die Befreiung Kobanês und davor die Evakuierung der ezidischen Bevölkerung aus den Schengal-Bergen sowie die Gründung der Kantone Rojavas auf der Grundlage eines demokratisch-geschlechtergerecht verfassten Gesellschaftsvertrages hat der kurdischen Bewegung von Abdullah Öcalan in der internationalen Öffentlichkeit große Sympathien eingebracht. Bei ihrem - wenn auch zaghaften - Vorgehen der USA gegen die IS sind die Volkverteidigungseinheiten YPG und die Frauenverteidigungseinheiten YPJ in Rojava für die USA zu unverzichtbaren Partnern geworden. Das ändert zwar nichts daran, dass die USA die Schwesterorganisation der YPG, die HPG-Guerilla der PKK weiterhin als "terroristische Organisation" betrachten, aber ein militärisches Vorgehen der Türkei gegen die YPG wird von den USA nicht zugelassen.

Die Kantone in Rojava wurden für die Türkei zu einer doppelten Herausforderung: als ein Hindernis für die Erweiterung der türkischen Einflusssphäre in Syrien und als Modell für die kurdische Bevölkerung in der Türkei. Deshalb erklärt Erdogan bei jeder Gelegenheit, dass "die Türkei ein staatliches Gebilde an seinen syrischen Grenzen nicht zulassen" werde. So war es auch kein Zufall, dass türkische Kampfjets, die Angriffe auf IS-Stellungen flogen, "fälschlicher Weise" auch einige YPG-Stellungen bombardierten.

Im Grunde genommen bedeuten die türkischen Luftangriffe auf PKK-Stellungen in Nordirak eine Schwächung des Kampfes gegen den IS, weil die PKK in Nordirak gemeinsam mit nordirakischen Kräften das Vordringen der IS-Miliz nach Rojava verhindert. Aus diesem Grund ist es nachzuvollziehen, wenn die kurdische Bewegung die türkische Luftwaffe als "Luftwaffe des IS" tituliert. Die Türkei will mit aller Macht die Vereinigung der Kantone Rojavas verhindern. Seit Beginn des syrischen Bürgerkriegs fordert Ankara die Einrichtung einer "Pufferzone" - inzwischen "Schutzzone" - im Norden Syriens. Bis jetzt fanden zwei NATO-Treffen auf der Grundlage des Art. 4 des NATO-Vertrages statt, die von der Türkei initiiert waren und in denen die Türkei ihre Forderungen stellte. Aber die führenden NATO-Länder erteilten Ankaras Wünschen immer wieder Absagen. Selbst nach der Öffnung des Luftwaffenstützpunktes Incirlik konnte die Türkei die Zustimmung der USA für eine "Schutzzone" nicht bekommen. Der inzwischen beschlossene Abzug deutscher und US-amerikanischer Patriot-Systeme kann als eine weitere Niederlage der türkischen Außenpolitik bewertet werden.

Es ist offensichtlich, dass die unmittelbaren Interessen der kapitalistischen Hauptländer USA und BRD in Syrien stark von denen des türkischen Staates divergieren. Während die Türkei islamistisch-terroristische Gruppen als Gegenmacht zu den kurdischen Einheiten in Rojava erhalten und für ihre Politik gegen das Assad-Regime weiterhin unterstützen will, verfolgt die USA eine Strategie, die darauf abzielt, mit Unterstützung der kurdischen Einheiten das Einflussgebiet des IS zu begrenzen, ohne den IS gänzlich zu zerschlagen, da dies das Assad-Regime stärken könnte. Die US-iranische Annäherung, die Zersplitterung der sog. syrischen Opposition, die erfolglosen Ausbildungsversuche von sog. "gemäßigten islamischen Kämpfern", der weiterhin vorhandene gesellschaftliche Rückhalt des Assad-Regimes in Syrien, die Aktivitäten der israelisch-saudischen Allianz, die Rolle Russlands und das Vorgehen der Türkei machen die Situation in Syrien völlig unübersichtlich. Noch kann nicht vorausgesagt werden, wie eine Annäherung der divergierenden Interessen der USA, BRD und der Türkei hergestellt werden kann. Im weiteren Verlauf des Bürgerkrieges werden wir sicherlich die Antworten darauf bekommen. Feststeht aber, dass für die USA die Nutzung von Incirlik eine positive Entwicklung ist. Aber wenn nicht bald "Erfolge" vorgezeigt werden können, könnte die Bedeutung von Incirlik zweitrangig werden. Für die USA steht mit der Kurdischen Regionalregierung im Nordirak, wo Nahe Erbil ein US-Stützpunkt im Format des kosovarischen Camp Bondsteel geplant ist, eine weitere Alternative bereit. Die Barzani-Regierung hat das Potential, als "Stabilitätsanker" für die US-Interessen in der Region zu fungieren.

Aber hier sollte ordnungshalber auf die perfide Doppelmoral der US-Administration und der Bundesregierung hingewiesen werden. Sowohl die USA als auch die BRD "mahnen" die Türkei, den Friedensprozess mit der PKK nicht zu gefährden, geben aber der Türkei für ihren schmutzigen Krieg gegen die eigene kurdische Bevölkerung weiterhin Rückendeckung. Besonders die Bundesregierung ist unglaubwürdig. Solange die BRD mit Rüstungsexporten und dem repressiven Vorgehen gegen kurdische Aktivist*innen hierzulande weiter macht, solange wird sie sich den Vorwurf gefallen lassen müssen, aus rein wirtschaftlichen und geostrategischen Interessen an den Massakern Ankaras Mitverantwortung zu tragen.


Wie sehen die Perspektiven aus?

Die außenpolitischen Niederlagen, das Stocken der Kapitalakkumulation, die Schwächung der Binnenkonjunktur, die schwache globale Nachfrage, das chronische Leistungsbilanzdefizit, die Verschuldung, die ungelösten Nationalitäten- und Minderheitenfragen, Korruptionen, Legitimations- und Repräsentationskrisen, undemokratische und unsoziale Gesetzgebung, die Eskalation militärischer Gewalt, der autoritäre Neoliberalismus und die Islamisierung u.v.a.m. bilden in ihrer Gesamtheit die türkische Vielfachkrise. Die lange vom Westen gepflegte Erzählung von "dem türkischen Wirtschaftswunder" hat sich als eine Seifenblase erwiesen. Es ist offensichtlich, dass Erdogan und ihn unterstützende Kräfte den Weg aus der Vielfachkrise im Krieg, im autoritären Präsidialsystem und der Errichtung eines "Sicherheitsregimes" suchen. Dadurch potenzieren sich die Gefahren, nicht nur für das Land selbst, sondern für die gesamte Region.

Doch wie wird es weitergehen? Wie sehen die Perspektiven aus? Mit dem Stand vom 20. August kann angenommen werden, dass Erdogan mit einer von ihm berufenen Regierung die Neuwahlen ansteuern wird. Es mag paradox erscheinen, aber Erdogan hat mit seiner Strategie, eine Koalitionsregierung durch Verschleppung zu verhindern, die Niederlage vom 7. Juni zu einem vorläufigen Sieg verwandelt und steht gegenüber dem Parlament mächtiger als je zuvor. Laut Art. 116 der türkischen Verfassung hat der Staatspräsident in dieser Situation das alleinige Recht, ein Kabinett zu berufen. Zwar sagt der Art. 116, dass "der Staatspräsident in Beratung mit dem Parlamentspräsidenten den Beschluss fassen kann, binnen einer Frist von 45 Tagen nach der Wahl des Parlamentspräsidiums die Wahlen zu erneuern"(3), aber das ist eine Kann-Bestimmung. Ob Erdogan tatsächlich und für welches Datum Neuwahlen ausrufen wird, liegt in seinem Ermessen.

Es gibt genügend Anzeichen dafür, dass Erdogan für diese Entscheidung sich viel Zeit nehmen wird. Zum einen bescheinigen derzeitige Wahlumfragen, dass eine Neuwahl an dem derzeitigen Parlamentstableau wenig ändern würde. Laut den Umfragen würde die HDP wieder die Wahlhürde überwinden und die AKP, die 1 bis 2 Punkte zulegt, wäre wieder auf einen Koalitionspartner angewiesen. Zum anderen würde Erdogan mit einer vorzeitigen Entscheidung seine derzeitige Machtposition verlieren.

Erdogan hat jetzt viele Möglichkeiten, die er je nach Situation nutzen kann. Die Oppositionsparteien haben sich durch eigene Fehler seinem Willen ausgeliefert. Nach den Wahlen hatten CHP und HDP verlautbart, dass Erdogan "illegitime Macht ausübt" und sie "niemals" seinen Amtssitz aufsuchen würden. Heute erklären beide Parteien, dass sie aus Staatsräson bereit sind, einer kommissarischen Regierung Minister zu stellen. Erdogan hat sie in eine Bittsteller-Situation gedrängt und wird nun selber bestimmen, wen er aus diesen Parteien in das Kabinett beruft - wenn überhaupt. Die CHP und HDP haben sich in eine Lage manövriert, in der sie nur ein Spielball Erdogans sein können.

Abdüllatif Sener, ein guter Kenner Erdogans und zwischen 2002 und 2007 sein stellvertretender Ministerpräsident, inzwischen erbitterter Gegner, meint, dass Erdogan über zwei realistische Möglichkeiten nachdenkt (4): die erste Möglichkeit ist, mit einer von ihm berufenen AKP-Regierung die Neuwahlen zu organisieren. Dabei wird er an der Eskalationsschraube weiterdrehen, um mit Hilfe der kontrollierten Gewalt nationalistische Wähler*innen an sich zu binden. Es ist offensichtlich, dass er dafür den Tod von weiteren Soldaten und Polizisten hinnimmt, denn mit jedem "Gefallenen" sieht er die AKP-Zustimmung wachsen. Zu dem wird sicherlich wie zuvor mit fingierten Umfrageergebnissen versucht werden, eine Stimmung zu erzeugen, in der man von einem AKP-Sieg ausgeht und so die Wahlbeteiligung niedriger gehalten wird. Eine niedrige Wahlbeteiligung bedeutet vor allem das Fernbleiben von laizistischen Wähler*innen. Es sind auch Pläne bekannt geworden, die Wähler*innen in den ländlichen Gebieten in die Städte fahren zu lassen. Damit wären Wahlfälschungsversuchen Tür und Tor geöffnet. Zu dem wird mit der Aufrechterhaltung von "Besonderen Sicherheitsregionen" die HDP-Wählerschaft unter Druck gestellt.

Die zweite Möglichkeit, von der Sener spricht, ist der Transfer von 18 Abgeordneten, die eine AKP-Alleinregierung ermöglichen würden. Für türkische Verhältnisse wäre das nichts Ungewöhnliches. In der Vergangenheit wurde dieses Mittel mehrfach angewendet. Die Tatsache, dass zum einen die Neuwahl für einige Oppositionsabgeordnete das Ende ihrer parlamentarischen Karriere bedeutet und zum anderen, die AKP und MHP zum größten Teil das gleiche Wähler*innen-Reservoir, nämlich die sunnitisch-konservative Mehrheitsgesellschaft ansprechen und den gleichen Kapitalfraktionen nahestehen, vereinfacht diese Option.

So abwegig sind die Äußerungen von Sener nicht. Ähnlich stellt Gehring fest: "Die gegenwärtige politische Lage markiert also geradezu eine Explosion von Möglichkeiten, bei der die vielen gegenwärtigen Instabilitäten der politischen Lage durch den Souverän machiavellistisch im Sinne eines fragilen Gleichgewichts ausbalanciert werden können. Entscheidend ist dabei, dass die verschiedenen Instabilitäten nicht etwa die AKP gefährden, sondern ihr vielmehr jenen politischen Spielraum geben, den sie im Falle der Konfrontation mit einer geschlossenen Opposition nicht hätte. Der de facto herrschende Ausnahmezustand ist eben die Stunde der Exekutive - selbst wenn diese abgewählt ist. Gleichwohl zeigen die Entwicklungen der letzten Jahre, dass die AKP in immer kürzeren Abständen zu immer stärkeren Methoden der Polarisierung greifen muss. Der Besitz der Staatsapparate und die Zersplitterung der Opposition werden für die AKP dabei immer wichtiger." (5)

Welche Möglichkeit nun Erdogan auch wählen wird, eine nachhaltige Lösung wird er trotzdem nicht haben können. Selbst wenn bei einer Neuwahl die AKP wieder eine Alleinregierung stellen und gar mit einer Verfassungsänderung das Präsidialsystem einführen könnte, würden sich die vorhandenen Krisen vertiefen, da mindestens die Hälfte der Gesellschaft weiter in Feindschaft gegenüber der AKP stehen würde. Nicht auszumalen, wenn die PKK, die derzeit in einer "Verteidigungsposition" steht, sich für einen aktiven bewaffneten Kampf entscheiden würde.

Absolute Annahmen gibt es natürlich nicht. Noch ist nicht klar, ob die Opposition so zersplittert bleibt, wie bis jetzt und ob nicht sich neue Widerstandspotentiale ergeben. Noch ist auch nicht klar, ob auf dem Parteikongress der AKP im September der mögliche Kontrahent Erdogans und ehemaliger Staatspräsident Abdullah Gül eine wesentliche Rolle spielen kann. Von den möglichen Entwicklungen in der Region ganz zu schweigen. Aber unabhängig davon steht fest, dass der Türkei blutige Wochen bevorstehen, welche die derzeitige Eskalation der Gewalt unkontrollierbar machen können. Ungeniert davon spielt Erdogan mit dem Feuer und kann sich auf die Unterstützung seiner strategischen Partner im Westen verlassen.


Anmerkungen:

(1) Siehe: Axel Gehring, "Die Stunde der abgewählten Executive. Ende des Friedensprozesses in der Türkei", in: Infobrief Türkei,
http://infobrief-tuerkei.blogspot.de/2015/08/die-stunde-der-abgewahlten-exekutive.html

(2) Siehe: Errol Babacan, "Die Türkei nach den Wahlen - Politischer Autoritarismus und kapitalistische Dynamiken", in: Infobrief Türkei,
http://infobrief-tuerkei.blogspot.de/2015/06/die-turkei-nach-den-wahlen-politischer.html

(3) Siehe: Die Türkische Verfassung (Türkisch),
https://www.tbmm.gov.tr/anayasa/anayasa_2011.pdf

(4) Siehe: Interview mit Abdüllatif Sener, in: Internetprotal T24,
http://t24.com.tr/haber/abdullatif-sener-cumhurbaskani-45-gun-dolduktan-sonra-da-secim-karari-vermez,306463

(5) Siehe: Axel Gehring, a.a.O.


[*] Der Schattenblick veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Autors die ungekürzte Fassung des Artikels.

*

Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 9, 30. Jg., September 2015, S. 19
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. September 2015

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