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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/2151: 100 Jahre russische Revolution, Teil 4


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 6 · Juni 2017
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

100 Jahre russische Revolution, Teil 4
Die Rolle der bäuerlichen Bevölkerungsmehrheit

von Manuel Kellner


Der Sturz der Kapitalherrschaft durch Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräte hat viele spätere antikapitalistische Bewegungen inspiriert. Die bürokratische Diktatur diskreditierte jedoch die sozialistische Idee. 1991 wurde die Sowjetunion aufgelöst. Was bleibt 100 Jahre nach der Oktoberrevolution?(*)


Einer der vielen kontrafaktischen Gemeinplätze aus der Stalinschen Fälscherschule ist die Behauptung, Trotzki habe die «Bauernfrage» unterschätzt. In Wirklichkeit steht in Trotzkis Ergebnisse und Perspektiven (geschrieben unmittelbar nach der russischen Revolution von 1905) das Gegenteil. Die entscheidende Frage war demnach schon damals seiner Meinung nach, die Aufgaben der bürgerlichen Revolution zu lösen, in deren Mittelpunkt die Agrarreform stand, also die Frage der Befreiung der bäuerlichen Bevölkerungsmehrheit aus den halbfeudalen Verhältnissen.

Welche von beiden entgegengesetzten Gesellschaftsklassen konnte diese Frage lösen und den Bauern das Land geben? Aus Trotzkis wie aus Lenins Sicht war das russische Bürgertum dazu nicht in der Lage. Das Proletariat, die Arbeiterklasse, konnte und musste dieses Problem im Bündnis mit der Bauernschaft lösen.

Im Gegensatz zu Lenin bis Anfang 1917 war Trotzki allerdings außerdem der Meinung, dass die Arbeiterklasse zusammen mit den ärmsten Schichten der Bauernschaft dafür die politische Macht erobern und einen - nationalen wie internationalen - Prozess der «permanenten Revolution» auslösen musste, wozu auch erste «sozialistische Maßnahmen» im eigenen Interesse gehören würden. Umgekehrt würde die russische Arbeiterklasse die politische Macht niemals erobern können, ohne sich auf die bäuerliche Bevölkerungsmehrheit und deren Kampf gegen Großgrundbesitzer, Kirchen- und Klöstereigentum zu stützen.

Das Kapitel «Die Bauernschaft» in Trotzkis Geschichte der russischen Revolution beginnt mit dem Satz: «Das Fundament der Revolution bildete die Agrarfrage». Nach der Februarrevolution war es auf dem Lande zunächst verhältnismäßig ruhig geblieben. Die jungen Männer waren als Soldaten an der Front, die älteren erinnerten sich an furchtbare Strafexpeditionen. Doch ab März zeigten sich die ersten Erscheinungen des Bauernkriegs. Die Bürgerlichen und die ihnen beipflichtenden «gemäßigten» Sozialisten warnten davor, die Lösung der Agrarfrage zu schnell zu forcieren - aus Angst davor, die Agrarbewegung könnte aus dem Ruder laufen. Erste handfeste Konflikte ergaben sich, als die Gutsbesitzer die Frühjahrsaussaat zurückhielten, und das obwohl der Boden angesichts der schwierigen Ernährungslage nach Bebauung schrie. Außerdem begannen die Gutsbesitzer aus Angst vor Enteignungen, ihre Güter zu liquidieren, indem sie sie an reiche Bauern, Kulaken, verkauften, die ihrer Meinung nach eher um Expropriationen herumkommen würden.

Die Formen, die der bäuerliche Kampf annahm, wurden im Lauf der Monate immer radikaler. Zu Anfang dominierte der Wunsch, die Konflikte nicht zuzuspitzen, sondern die Großgrundbesitzer durch Argumente und gute Worte zu überzeugen. Der I.Gesamtrussische Kongress der Bauerndeputierten in Petrograd im Mai drückte noch die gemäßigten Stimmungen aus.

Wie meist bei repräsentativen Körperschaften blieb er hinter dem sich rasant entwickelnden Bewusstsein an der Basis zurück. Der rechte Flügel der Sozialrevolutionäre gab den Ton an.

Immerhin forderte der Kongress: «Übergang des gesamten Bodens in den Besitz des Volkes zur ausgleichenden werktätigen Benutzung ohne jegliche Ablösung.» Diese Formel verstanden die Großbauern als Gleichstellung mit den Großgrundbesitzern. Von den kleinen Bauernfamilien und den Landarbeitern wurde sie aber radikal-demokratisch interpretiert. Dieses «kleine Missverständnis», kommentiert Trotzki, würde sich erst in «der Zukunft» auflösen. Ohne dieses «Missverständnis» wäre der Oktoberumsturz jedoch nicht denkbar gewesen.

Die Sozialrevolutionäre verurteilten im Mai jegliche «eigenmächtige» Landaneignung. Sie koppelten die Durchführung der Agrarreform an die Einberufung der Konstituierenden Versammlung. Aber die bürgerlichen und die «gemäßigten» sozialistischen Kräfte schoben ja auch die Einberufen der Konstituierenden Versammlung immer weiter hinaus. Ein bürgerlicher Liberaler wollte ein geflügeltes Wort schaffen mit der Behauptung: «Je linker die Regierung, desto rechter das Land». Lenin antwortete ihm in einer Weise, die den meisten seiner Zuhörer als Paradox erschien: In Wirklichkeit seien die Massen, die Arbeiterinnen, Arbeiter und armen Bauern, tausendmal linker als die «gemäßigten» sozialistischen Führer und sogar noch hundertmal linker als sogar die Bolschewiki: «Wenn Sie leben werden, werden Sie es sehen.»

Anfang Juni trat der I.Gesamtrussische Kongress der Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten zusammen, dominiert von Menschewiki und Sozialrevolutionären, wenn auch die Bolschewiki in den Sowjets nun stärker vertreten waren als bislang. Dieser Kongress bemühte sich, der von der Provisorischen Regierung beschlossenen Offensive an der Front eine politische Deckung zu geben. In der Hauptstadt Petrograd fand eine sehr große Demonstration von Arbeiterinnen, Arbeitern und Soldaten statt, zu der Sozialrevolutionäre, Menschewiki und Bolschewiki gemeinsam aufgerufen hatten. Diese Demonstration «schlug um in eine bolschewistische Demonstration gegen die Versöhnler», wie Trotzki schrieb. Das war das Vorspiel zu den «Julitagen», jener wichtigen Etappe auf dem Weg zum Oktoberumsturz.

Anmerkung:
(*) In Teil 3 ging es um den Ersten Weltkrieg und seinen Klassencharakter.

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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/2146: 100 Jahre russische Revolution - Teil 3

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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 6, 32. Jg., Juni 2017, S. 21
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Juni 2017

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