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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/2318: Kein deutscher Oktober


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 11 · November 2018
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

Kein deutscher Oktober
Die kurze Blüte der deutschen Revolution

von Manuel Kellner und Angela Klein


Die Massenmedien erinnern heute an den 9. November als "Geburtsstunde der Demokratie". Damals aber wollten sie davon nichts wissen. Erst die nicht wegzudiskutierende Niederlage im Krieg und die Wucht der revolutionären Bewegung mit der Schaffung potentieller Organe der Gegenmacht in Form der Räte nötigte die alten Machthaber, abzudanken.


Die bürgerlichen Liberalen und die Sozialdemokraten machten sich sofort daran, die neuen Strukturen kalt zu stellen, der revolutionären Bewegung mit dem Versprechen der Sozialisierung der Wirtschaft die Spitze zu nehmen und alles niederzuschießen, was das neue Machtzentrum um den Rat der Volksbeauftragten und die Spitze der Generalität hätte in Frage stellen können. Diese Kräfte hatten kaum einen Anteil an der "Geburtsstunde der Demokratie", was vielleicht erklärt, warum am 9. November bis heute in Deutschland der Pogromnacht 1938 gedacht wird, nicht aber der deutschen Revolution.


Wie war die Lage im Reich?

Von Februar bis Dezember 1916 gab es große Verluste für die deutsche Armee, 240.000 Soldaten fielen vor Verdun, im Dezember beginnt die Gegenoffensive der Entente. Hindenburg und Ludendorff, an der Spitze der Reichswehr, setzen den mörderischen U-Boot-Krieg durch, dessen Scheitern im April 1917 offensichtlich wird. Die proletarischen Haushalte leiden unter der immer schlechteren Versorgung mit Grundnahrungsmitteln. Auch in der Bauernschaft wächst die Unzufriedenheit. Die russische Revolution vom Februar 1917 fegt das Zarenregime hinweg. Aber war die sozialdemokratische Zustimmung zu den Kriegskrediten und zum Krieg nicht mit dem Kampf gegen das "Blutzarentum" gerechtfertigt worden? In der Bevölkerung wachsen die Zweifel und das Bestreben, mit dem Krieg Schluss zu machen. Hugo Haase von der USPD fragt im Reichstag den Reichskanzler, ob er denn wünsche, dass die Massen in Deutschland anfangen "russisch zu sprechen"?

Im April 1917 entsteht eine Streikbewegung, die mehrere große Städte umfasst. Gefordert wird insbesondere die Anhebung der Kohle- und Brotrationen, eine Regierungsinitiative für einen Frieden ohne Annexionen, die Aufhebung des Belagerungszustands und der Zensur, die Freilassung der politischen Gefangenen, die Einführung des allgemeinen unbeschränkten Wahlrechts auf allen Ebenen. Betriebliche Vollversammlungen sprechen sich für die Wahl von Räten aus.

Auf Kriegsschiffen entsteht ein verdeckt arbeitendes Netzwerk von Matrosen. Ermutigt durch die russische Revolution lesen sie linke Publikationen, treten mit USPD-Mitgliedern in Kontakt, organisieren unerlaubtes Verlassen der Schiffe und Hungerstreiks. Am 26. August wird ihre Organisation zerschlagen, fünf von ihnen werden zum Tod verurteilt. Am 5. September 1917 werden ihre herausragenden Leiter Max Reichpietsch und Albin Köbis erschossen.

Ab Ende Oktober 1918 meutern die Matrosen der in Kiel und Wilhelmshafen liegenden Hochseeflotte gegen die Flottenführung, die - im Gegensatz übrigens zur Reichsregierung - die Kriegsschiffe auslaufen und weiter Krieg führen lassen will. Die Werftarbeiter treten in den Streik und solidarisieren sich mit den Matrosen. Innerhalb einer Woche breitet sich die Revolution wie ein Lauffeuer in ganz Deutschland aus. Überall entstehen Arbeiter- und Soldatenräte als faktisch einzige politische Macht. Wilhelm II. dankt ab und flieht in die Niederlande. Max von Baden wird Reichskanzler und setzt unter dem Eindruck Hunderttausender auf den Straßen Berlins und der fehlenden Bereitschaft aller anwesenden Truppenteile, auf die Bevölkerung zu schießen, am 9. November den SPD-Vorsitzenden Friedrich Ebert zum neuen Reichskanzler ein. Um ihn wird ein sechsköpfiger Rat der Volksbeauftragten aus drei SPD- und drei USPD-Mitgliedern gebildet, den der Berliner Vollzugsrat der Arbeiter- und Soldatenräte zur Regierung bestimmt.


Kein deutscher Oktober

Auf der Linken hat sich lange Zeit der Mythos gehalten, im November 1918 hätte die Revolution siegen können, wäre nur die SPD nicht gewesen. Ein deutscher "Oktober" wie ein Jahr zuvor in Russland sei möglich gewesen. Die neuere historische Forschung, auch die linke, widerspricht dem.

In Russland hatten die Bolschewiki, die anfänglich ebenfalls eine kleine Minderheit in den Räten waren, neun Monate Zeit, die Mehrheit in ihnen zu erobern. Ihre "gemäßigten" Gegner - Menschewiki und Sozialrevolutionäre - wollten wie in Deutschland eine bürgerlich-demokratische Republik, ohne die Macht der Kapitalisten und Großgrundbesitzer anzutasten. Lange und geduldige Überzeugungsarbeit sowie die wache Verarbeitung neuer Erfahrungen waren nötig, um die Masse der Arbeitenden davon zu überzeugen, dass der Krieg nur beendet werden konnte, wenn die Bolschewiki die Macht übernahmen.

Anders als die radikale Linke in der SPD konnten die Bolschewiki auf eine langjährige Erfahrung als eigenständige Strömung und organisierte politische Kraft blicken. Und es gab mit der Revolution von 1905 eine Art Generalprobe, die den Beteiligten 1917 noch gut in Erinnerung war. In Deutschland fiel im Herbst 1918 alles wie ein Kartenhaus zusammen. Außerdem waren die Frauen in Russland - im Gegensatz zu Deutschland, und zwar in beiden Revolutionen! - Vorreiterinnen und Auslöserinnen der revolutionären Bewegung gewesen.


Sozialistische Einigkeit

Wer mit dem Fernglas auf die deutsche Geschichte schaut, mag sich wundern: Hatte die SPD nicht 1914 vor aller Augen kläglich versagt, indem sie sich dem imperialistischen Kriegstreiben unterwarf und dem "Burgfrieden" mit dem Kapital zustimmte? Wie konnte sie dann 1918/19 so viel Autorität behalten? Nehmen wir also die Lupe. Die Anhänglichkeit der sozialdemokratischen Arbeiter an ihre Partei war groß, und sie hofften, dass sie im Frieden wieder zu ihrer früheren Größe zurückfinden würde. Die neu politisierten Schichten waren für Frieden, Demokratie und soziale Errungenschaften, und nicht für die sozialistische Revolution. Sie wandten sich zuerst der SPD zu. Die USPD war nur entstanden, weil die SPD im Krieg alle auch nur halbwegs Oppositionellen rausgeworfen hatte - diese wollten eigentlich ihre Positionen weiter in der SPD vertreten. Nun hatte die USPD Hunderttausende Mitglieder und war vielerorts sogar stärker als die SPD.


Übergang zur Konterrevolution

Die Stimmung der Massen im November war fröhlich und gutmütig, sie glaubten das Wesentliche schon erreicht, waren für sozialistische Einigkeit und eher irritiert von dem, was sie an innerlinkem Streit mitbekamen. Regelmäßig traten sie für gemeinsame Vollzugsorgane von SPD, USPD und radikalen Linken ein. Der SPD-Führungsapparat, mit allen Wassern bürokratischer Manövrierkunst gewaschen, beutete diese Stimmung bis zur Neige aus. Wo immer die SPD in den Räten in der Minderheit war - oft sogar eine kleine - setzte sie die Drittelparität durch; wo aber die linkeren Kräfte in der Minderheit waren, verwies sie kühl auf die Proportionalität und regierte alleine durch.

In Berlin hatte Ebert am 24. Dezember gegen die noch etwa 1000 Mitglieder starke Volksmarine-Division, denen die Löhnung versagt wurde und die man auflösen wollte, im Einvernehmen mit seinen Gesprächspartnern in der Obersten Heeresleitung Truppen schicken lassen. Das Donnern der Geschütze rief eilig große Massen herbei, die zu Hilfe eilten. Die Matrosen, die sich zuvor ihre Löhnung mit sanfter Gewalt selber geholt hatten, schlugen den Angriff ab. Am 29. Dezember verließen die drei USPD-Mitglieder den Rat der Volksbeauftragten. Nur noch SPD-Mitglieder blieben und unterschrieben schon die erste Erklärung - einen Aufruf für "Ruhe und Sicherheit" - nur noch mit "Reichsregierung".

Diese Episode ist wichtig zur Beurteilung der Ereignisse vom 5. bis 12. Januar 1919, die immer noch kontrafaktisch als gescheiterter "Spartakus-Aufstand" bezeichnet werden. Ende Dezember war der Spartakusbund aus der USPD ausgetreten und hatte zusammen mit den "Linksradikalen" aus Bremen und anderswo die KPD mit etwa 50.000 Mitgliedern gegründet. Der Gründungskongress war von ultralinken Stimmungen geprägt - z.B. entschied er gegen den Rat von Rosa Luxemburg, an den kommenden Reichstagswahlen nicht teilzunehmen. Hinter den Kulissen des Kongresses scheiterten die Verhandlungen zum Beitritt der Revolutionären Obleute von Berlin. Bis Ende 1920 musste die KPD somit ohne die Blüte der proletarischen Vorhut jener Zeit auskommen - auch das ein wichtiger Unterschied zu den Bolschewiki, die schon vor der Revolution eng mit der Arbeitervorhut in den Betrieben verbunden waren.

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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 11, 33. Jg., November 2018, S. 13
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. November 2018

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