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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/2369: Warum der SPD das Linksabbiegen so schwer fällt


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 4 · April 2019
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

Warum der SPD das Linksabbiegen so schwer fällt

Von Ingo Schmidt


"Das Geld erklärt dem ganzen Menschengeschlecht den Krieg"
(Pierre de Boisguillebert, 1704)  

Egal was in den Medien über eine von Merkel sozialdemokratisierte CDU zu lesen war. Egal wie sehr sich Die Linke abmüht, in die Fußstapfen der SPD zu treten, der SPD wird Umfragen zufolge in Sachen sozialer Gerechtigkeit immer noch mehr zugetraut als Konservativen, Linken oder anderen. Und das Thema steht auf der politischen Prioritätenliste weit oben. Egal wie viele nationale Antworten die AfD auf die soziale Frage gibt.


Zu Beginn des Bundestagswahlkampfs genügten Martin Schulz ein paar vage Andeutungen, die Partei werde sich unter seiner Führung aufs sozialdemokratische Kerngeschäft konzentrieren, um Wählergunst und Mitgliederzahlen in die Höhe zu treiben. Umso tiefer die Enttäuschung, als Schulz den Wahlkampf nach fulminantem Start auf dem Dritten Weg verstolperte. Trotzdem warten immer noch viele auf die gute alte SPD.

Im Frühjahr unternahm die Partei einen neuen Versuch der Rückbesinnung. Statt Personenkult um den Mann aus Würselen gab es diesmal Programmatisches: eine Grundrente ohne Bedürftigkeitsprüfung, die Verlängerung von ALG I für ältere Arbeitslose und die Abschaffung des Soli - nur nicht für die oberen 10 Prozent der Einkommensbezieher. Als Beleg, endlich wieder auf der Seite der kleinen Leute zu stehen, verwies die SPD-Führung auf die Ablehnung ihrer Vorschläge durch CDU und Unternehmerverbände. Deren Reaktion ließ in der Tat vermuten, die SPD habe den Übergang zum Sozialismus verkündet.

Hat sie aber nicht. Vielmehr gab sie mit ihren Vorschlägen zur Sozial- und Steuerpolitik ein Bekenntnis zum Bündnis mit dem Koalitionspartner ab. Das Bekenntnis zum «Weiter so» nahm der Ankündigung des Aufbruchs zu sozialdemokratischen Ufern die Glaubwürdigkeit.

Es gibt derzeit keine Anzeichen, dass sich die SPD vom Mantra der Schwarzen Null befreien wollte. Finanzminister Scholz warnt zwar vor einem Ende üppiger Steuereinnahmen. Zu der Frage, wie die jüngsten sozialpolitischen Vorschläge der Partei krisenfest gemacht werden können, schweigt er sich jedoch aus.

Wenn die SPD das Thema soziale Gerechtigkeit anderslautenden Bekundungen zum Trotz links der Großen Koalition liegen lässt, sollte man vermuten, dass Die Linke oder außerparlamentarische Bewegungen es aufgreifen. Zwecks Eindämmung der linken Konkurrenz müsste sich die SPD dann über Absichtserklärungen hinaus nach links bewegen. Andernfalls müsste sie sich mit den Grünen um den sozialliberalen Teil des Wählermarkts kabbeln. Leider gibt es wenig Anzeichen für eine linke Auffangposition.


Linke Niederlagen

Die Gründe für die Schwäche der Linken im weitesten Sinne lassen sich bis in die 1970er Jahre zurückverfolgen. Der Sozialstaat, dessen Wiederherstellung sich heute so viele wünschen, konnte in den vergangenen Jahrzehnten auch deshalb so stark zurechtgestutzt werden, weil es der alten Linken und den neuen sozialen Bewegungen in den 1970er Jahren nicht gelang, die damals bestehenden Sozialstaaten zu einem Ausgangspunkt weitergehender sozialer und ökologischer Reformen zu machen.

Seither ist eine Situation entstanden, in der es keine Alternativen gibt, diese jedoch immer wichtiger werden und vielleicht auch geschaffen werden können. Selbst wenn es nur um die Beantwortung der sozialen Frage in einem reichen Land wie Deutschland geht, müssen künftige Alternativprojekte die Spaltung der Welt in reiche und arme Länder, die Zerstörung der Natur und die Verhältnisse zwischen bezahlter und unbezahlter Arbeit berücksichtigen.

In den 1970er Jahren wurde der Sozialstaat weitgehend als eine Entwicklungsstufe kapitalistischer Gesellschaften angesehen. Ein Zurück zum Kapitalismus ohne Sozialstaat war kaum vorstellbar. Aber es gab jede Menge Kritik.

- Umweltschützer machten deutlich, dass die auf endloses Wachstum zielende Produktion schon damals massive ökologische Zerstörungen verursachte, mit der Realität begrenzter Ressourcen nicht vereinbar ist und dass die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse durch Produktion von mehr Gütern und Dienstleistungen zunehmend dem Ziel der Produktion um des Profits willen untergeordnet werde. Der Kapitalismus habe es sogar dazu gebracht, aus der Behebung vermeidbarer Umweltschäden ein Geschäft zu machen.

- Dritte-Welt-Gruppen wiesen darauf hin, dass die ehemaligen Kolonien zum Verkauf billiger Rohstoffe und Agrarprodukte sowie zum Kauf immer teurer werdender Industrieprodukte aus den Ländern des Westens gezwungen würden. Dieser ungleiche Tausch subventioniere die Produktion in den ohnehin schon reichen Ländern und trage dort zur Entschärfung des Verteilungskonfliktes bei.

- Feministinnen wiesen auf eine andere Variante des ungleichen Tausches hin. Um ihren Anteil am Familienlohn zu bekommen, müssten Frauen nicht nur die eigene, sondern auch die Arbeitskraft ihrer Männer und Kinder reproduzieren. Zudem müssten sie das Familieneinkommen immer häufiger durch eigene Lohnarbeit aufstocken, würden dabei aber regelmäßig in schlechter bezahlten Jobs als Männer enden.

- Arbeiterinnen und Arbeiter fühlten sich nach Jahren niedriger Arbeitslosigkeit ermutigt, ihren Forderungen nach höheren Löhnen, kürzeren Arbeitszeiten und besseren Arbeitsbedingungen gegebenenfalls auch durch Streiks Nachdruck zu verleihen.

Die Erfüllung dieser Forderung, ebenso wie vieler Forderungen der neuen sozialen Bewegungen, hätte zusätzliche Nachfrage schaffen und dadurch den ins Schwächeln geratenen Nachkriegsaufschwung wiederbeleben können. Allerdings wäre damit eine Umverteilung von den Profiten in den reichen Ländern zu Löhnen und öffentlichen Sektoren in diesen Ländern sowie zugunsten der Dritten Welt einhergegangen. Profitrate und Macht des Kapitals in der Ersten Welt wären gesunken. Dies galt es zu vermeiden.

Die Sozialdemokratie sah sich zwischen den Forderungen alter und neuer sozialer Bewegungen und der Besitzstandswahrung auf Seiten des Kapitals zerrissen. Ihr rechter Flügel suchte sich dem Kapital als Juniorpartner anzudienen, der den Gewerkschaften Lohnzurückhaltung abtrotzen und außer Kontrolle geratene Protestbewegungen in ihre Schranken weisen könnte. Teile ihres linken Flügels suchten dagegen die Zusammenarbeit mit diesen Bewegungen, während andere in den Gewerkschaften die Basis eines sozialistischen Reformismus sahen. Die Stimmenvielfalt auf der Linken war gleichzeitig eine Stärke, weil sie viele Menschen mobilisieren konnte, aber auch eine Schwäche, weil sie dem Schreckgespenst der Unregierbarkeit Vorschub leistete und eine Linksverschiebung innerhalb der Sozialdemokratie verhinderte. Zumindest solange diese an der Regierung war.


Rechte Erfolge

Nachdem die SPD-Rechte den Schwenk zur Inflationsbekämpfung, Haushaltssanierung und Senkung von Sozialstandards eingeleitet und damit dem Bündnis von FDP und CDU den Weg bereitet hatte, näherte sich die oppositionelle SPD den neuen sozialen Bewegungen an. Aber es waren geschlagene Bewegungen, deren Reste sich mit den Grünen einen organisatorischen Zusammenhalt schaffen konnten, ihren früheren Radikalismus aber zugunsten einer Mischung aus Bürgerrechts- und Marktliberalismus ablegten.

Am augenscheinlichsten wird dies vielleicht am Begriff der Nachhaltigkeit, der im Entstehungskontext der Umweltbewegung dem Wachstumszwang des Kapitalismus entgegensteht. Angewendet auf die Finanzpolitik dient er der Zurückdrängung des öffentlichen Sektors und Sozialstaates zugunsten privater Investitionen. In diesem Sinne wurde er über die Grünen hinaus von Konservativen, Liberalen aber auch von der SPD übernommen.

Der Feminismus durchlief einen ähnlichen Bedeutungswandel: Aus der bürgerlichen Bewegung für das Frauenwahlrecht und der sozialistischen Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts kommend, wurde er durch die neuen sozialen Bewegungen der 70er Jahre mit allen Widersprüchen zwischen Ansprüchen auf individuelle Selbstverwirklichung und soziale Gleichheit wiederbelebt.

Nachdem neue soziale Bewegungen sowie SPD- und Gewerkschaftslinke geschlagen waren, wurde das Gleichheitsstreben zunehmend aufgegeben und die Selbstverwirklichung dem Markt überantwortet. Allerdings waren die Chancen, sich auf dem Markt zu verwirklichen, immer ungleicher verteilt. Dafür sorgte erstens das weitere Fortschreiten der Einkommens- und Vermögenskonzentration und zweitens die wirtschaftliche Konkurrenz aus dem Süden. Die Niederlage der antiimperialistischen Revolte öffnete dem globalen Kapital Stützpunkte im Süden, von denen aus die noch bestehenden Sozialstaatsbastionen des Nordens angegriffen werden konnten. Dieser globale Klassenkampf von oben vertiefte bereits bestehende Unterschiede zwischen verschiedenen Gruppen der arbeitenden Klassen dieser Welt. Zunehmender Unmut verlor sich immer mehr in vereinzelten Rückzugsgefechten oder symbolischen Revolten.


Utopieverlust

Eine zum Markt bekehrte Sozialdemokratie hatte angesichts zunehmender Ungleichheiten nichts anzubieten als die Verteidigung des Standorts gegen die Konkurrenz aus dem Süden. Dafür mussten Opfer gebracht werden. Der als Ort der Selbstverwirklichung gepriesene Markt sortiert im Norden immer mehr Menschen aus der Wertschöpfungsgemeinschaft aus oder stuft sie soweit herab, dass viele Betroffene sich auf Südländerniveau zurückgesetzt fühlen. Aber die Lohnangleichung nach unten betrifft nicht alle, viele wünschen sich soziale Schutzmechanismen, um nicht selber heruntergestuft zu werden. Aus diesem Wunsch geht die Sehnsucht nach dem guten alten Sozialstaat hervor, den die SPD manchmal und DIE LINKE dauernd zu bedienen versucht.

Er ist aus Sicht einzelner nachvollziehbar und gesellschaftlich sinnvoll. Das bereits bestehende Elend zeigt hinreichend, dass die Verdammten dieser Erde nicht automatisch aufstehen und die Proletarier aller Länder sich nicht vereinigen, wenn es ihnen nur dreckig genug geht. Ohne eine Vorstellung, wie die eigene Lage zusammen mit anderen, die sich in anderer, aber ebenfalls als unzumutbar empfundener Lage befinden, verbessert werden kann, wird sich nichts ändern.

Die Sozialdemokratie ist historisch als Teil einer Bewegung entstanden, die schrittweise Verbesserungen ebenso ins Auge fasste wie die große Umwälzung. Diese Mischung aus Utopie und Strategie hat nach vielen Niederlagen erheblich Fortschritte gebracht, sich dabei aber in der Sozialstaatsverwaltung erschöpft. Danach gelang es der marktradikalen Rechten, nicht der neuen Linken, die Utopie zu einer politischen Kraft zu machen.

Mittlerweile ist die Marktutopie in der Finanzmarktverwaltung erschöpft. In dieser Situation linke Kräfte um eine neue Utopie zu scharen bzw. diese überhaupt erstmal zu schaffen, braucht Zeit. Auf dem Weg dahin wird es noch viele theoretische Kontroversen, Organisationsansätze und Proteste geben. Die SPD wird noch manches Mal links blinken und auf dem Dritten Weg weiterfahren. Daran wird sich erst etwas ändern, wenn sich auf Linken mehr tut als gegenwärtig der Fall ist.

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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 4, 34. Jg., April 2019, S. 12
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
SoZ-Verlag, Regentenstr. 57-59, 51063 Köln
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. April 2019

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