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STREIFZÜGE/025: Zeitschrift des Kritischen Kreises, Nr. 52, Sommer 2011


Streifzüge Nummer 52 / Sommer 2011

Zeitschrift des Kritischen Kreises - Verein für gesellschaftliche Transformationskunde




INHALT

Tomasz Konicz: Die ökologischen Grenzen des Kapitals.
Wieso es keinen "grünen" Kapitalismus geben kann

Daniela Holzer: Lerne, soviel du kannst! Helfen wird es trotzdem nicht.
Lebenslanges Lernen als fiktive Erzählung

Franz Schandl: Fiktives.
Sprunghafte Hypothesen zu Ökonomie und Ideologie des Kapitals

Franz Hörmann: Fiktion und Berechnung.
Welche Berechtigung hat die Mathematik in unserer Gesellschaft?

Emmerich Nyikos: Reductio ad fictionem

Ilse Bindseil: Im Reich der Fiktion.
Über die wahre Heimat der Menschenrechte

Franz Schandl: Anästhesie des Daseins.
Alphabetisches Puzzle zu einem eiligen Medium

Fiction live: mit Beiträgen von Martin Scheuringer,
Severin Heilmann, Lorenz Glatz, Maria Wölflingseder

Peter Pott: Die Leidenschaft hat die Vernunft, die dem Verstand fehlt

Thorsten Endlein: Notizen zur Solidarischen Ökonomie

Kolumnen
Dead Men Working: Maria Wölflingseder
Immaterial World: Stefan Meretz
Rückkopplungen: Roger Behrens

Rubrik 2000 abwärts
Martin Pühringer (M.P.)
Franz Schandl (ES.)
Dominika Meindl (D.M.)

Raute

Einlauf

von Franz Schandl

Wer diesen Zuständen ausgesetzt ist, kann nur verrückt werden. Aber schlimmer noch als dies zu konstatieren, ist es, dies überhaupt nicht zu begreifen. Der Kapitalismus gilt ja als eherner und letzter Hort der Rationalität. Die Aufklärung hat er so groß geschrieben, dass diese selbst gar nicht mehr Gegenstand derselben sein darf. Gegen die Ökonomie etwa ist die Philosophie, ja selbst die Theologie eine harte Wissenschaft, wenn wir es schon in dieser rationalen Sprache der Irrationalität ausdrücken, einer Sprache, die permanent mit ihren Begriffsvorgaben Realitäten schafft. Tatsächlich leben wir heute in einer Welt der größtmöglichen Verzauberung oder weniger bezaubernd ausgedrückt: Befangenheit und Fesselung sind noch nie so absolut gewesen wie jetzt, auch wenn wir als souveräne Wesen gelten und uns das auch einbilden.

Fiktion ist freilich ein breites Thema. Man kann sich da alles Mögliche vorstellen. Wo verlaufen die Konturen? Und auch wohin? Das Gebiet abzustecken ist nicht so leicht und so wurden gegebenenfalls auch Stecken eingeschlagen, wo wir uns dann vielleicht etwas wunderten. Der Fiktionen sind viele. Lässt man sich mit ihnen ein, bekommt man stets welche ab. Manches mag etwas disparat oder schräg klingen, aber unsere Linie ist es, keine Linie vorzugeben, sondern bloß eine Richtung. So finden sich recht unterschiedliche, aber doch sehr akzentuierte Artikel in dieser Nummer.

Das nächste Mal geht es wieder an ein ganz klassisches Thema: An die Kritik der Arbeit. Deren Abschaffung steht nämlich noch immer aus. Wir wünschen eine abwechslungsreiche Lektüre und einen erholsamen Sommer.

P.S.: Alle in Deutschland Ansässigen mögen bitte beachten: Wir haben unsere Bankverbindung in Nürnberg aufgelöst. Alle Zahlungen gehen in Zukunft auf unser Wiener Konto (mit BIC und IBAN).

P.P.S.: Fein wäre es auch, wenn sich unsere Abozahlen wieder erhöhten. Ewig auf 300 zu sitzen, kann ja nicht das größte Glück auf Erden sein. Unsere Fiktionen bewegen sich hier in ganz anderen Sphären.

Raute

Die ökologischen Grenzen des Kapitals

Wieso es keinen "grünen" Kapitalismus geben kann.

von Tomasz Konicz

Alles soll anders werden - damit alles bleiben kann, wie es ist. Auf diese inhaltliche Essenz lässt sich der derzeitige Aufstieg der Partei der "Grünen" reduzieren, wie er im Gefolge des japanischen Nuklearbebens den deutschen Politikbetrieb erschüttert. Während Wahlprognosen die "Grünen" bundesweit stabil bei 25 Prozent sehen und in Baden-Württemberg der erste grüne Ministerpräsident vereidigt wurde, scheinen Essentials grüner Programmatik zum politischen Mainstream zu mutieren. So scheint die Abkehr von der Atomkraft ausgerechnet von der liberal-konservativen Regierungskoalition initiiert zu werden, die wenige Monate vor Fukushima noch eine Laufzeitverlängerung für die deutschen Atommeiler durchsetzte. Die "Energiewende" zu einer umfassenden regenerativen Transformation des Energiesektors der BRD wird inzwischen von allen Bundestagsparteien zumindest in Sonntagsreden begrüßt. Mit Milliardenbeträgen will die Bundesregierung in seltener Einheit mit den "Grünen" die "Elektromobilität" fördern und bis 2020 eine Million Elektroautos auf Deutschlands Straßen bringen - Künast forderte sogar Kaufprämien von 5000 Euro pro Elektroauto.

Der Ideologie eines "grünen" Kapitalismus fällt angesichts der sich global häufenden ökologischen Krisenerscheinungen künftig eine zentrale Rolle bei der Legitimierung der kapitalistischen Produktionsweise zu. Der Irrglaube an einen ökologisch "nachhaltigen" Kapitalismus, wie er von den "Grünen" propagiert wird, ist Ausdruck einer diese politische Strömung zutiefst prägenden Verlogenheit, die sich innerhalb der Dekaden ihres opportunistischen "Gangs durch die Institutionen" ausformte. Die Erfahrung von Jahrzehnten in politischem Selbstverrat - die einigen "Grünen" Karrieren vom Steineschmeißer zum Bombenschmeißer ermöglichten - versetzt das grüne Personal in die Lage, das weit verbreitete dumpfe Gefühl, dass "es so nicht mehr weitergehen kann", in ein Bekenntnis zur Fortführung eben dieser kapitalistischen Tretmühle umzuformen. Die Ahnung, dass die kapitalistische Produktionsweise global an ihre ökologischen Grenzen stößt, können die "grünen" Kapitalismusapologeten ohne Weiteres in ein Plädoyer für einen "grünen Kapitalismus" verwandeln. Dieses ideologische Vorgehen ist charakteristisch für ein politisches Milieu, das die weitgehende Entrechtung der auf dem Arbeitsmarkt Überflüssigen im Rahmen der "Hartz-IV-Gesetze" unter der zynischen Parole "Fördern und Fordern" verkaufte und den ersten Angriffskrieg in der Nachkriegsgeschichte Deutschlands auf die Bundesrepublik Jugoslawien als eine "humanitäre Intervention" legitimierte.

Das ökonomische Fundament des Aufstiegs der "Grünen" zu einer deutschen Volkspartei bildet die implizite Hoffnung auf ein neues Akkumulationsregime: auf den "Green New Deal", ein umfassendes Programm zur ökologischen Transformation der kapitalistischen Gesellschaft, bei der "ökologische" und "regenerative" Industriezweige ihren Durchbruch erfahren und die Rolle von Leitsektoren der Wirtschaft einnehmen sollen. Hierdurch soll die Krise der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft überwunden werden, die spätestens seit der Erschöpfung des fordistischen Nachkriegsbooms im Zuge der dritten industriellen Revolution der Mikroelektronik in den 80er Jahren nahezu alle Industrieländer erfasst und zu den gesellschaftlichen Zerfallserscheinungen in weiten Teilen der kapitalistischen Peripherie geführt hatte.

Insofern verwundert es nicht, dass der erste grüne Ministerpräsident Deutschlands ausgerechnet im industriellen Zentrum dieser europäischen Hegemonialmacht vereidigt wurde. In gewisser Weise soll den Solarmodulen und Windrädern nun dieselbe Funktion eines Konjunkturtreibers zukommen, wie sie das Auto in den 50er, 60er und 70er Jahren innehatte. Der Atomkatastrophe von Fukushima würde diesen Vorstellungen zufolge die Rolle eines Wendepunkts zukommen, bei dem ein neues, "grünes" Akkumulationsregime den Fordismus beerben würde. Aus der atomar verseuchten Asche von Fukushima würde demnach die kapitalistische Warenproduktion einem Phönix gleich auferstehen und zu einer neuen Expansionsphase ansetzen.


Automobilmachung

Die gesamtgesellschaftliche Durchsetzung des Automobils, die fordistische "Automobilmachung" der führenden Industriegesellschaften, brachte zuletzt solch eine umfassende Umgestaltung des gesamten Kapitalismus mit sich, die auch zu einem ungeheuren konjunkturellen Aufschwung führte, der erst in den 1970er Jahren des 20. Jahrhunderts erlahmte. PKWs und weitere neuartige Produkte, die mit arbeitsintensiven, neuartigen Produktionsmethoden einhergingen, eröffneten der Kapitalverwertung neue Märkte, und sie ließen in vielen Industriestaaten Vollbeschäftigung und Arbeitskräftemangel entstehen. Den Staatsapparaten flossen hierdurch die Steuermittel zu, mit denen die notwendige Verkehrsinfrastruktur geschaffen wurde, deren Aufbau nicht im Rahmen von Marktprozessen bewerkstelligt werden kann. Mit der Automobilmachung des Kapitalismus ging ein umfassender infrastruktureller Umbau der kapitalistischen Volkswirtschaften einher: vom Zupflastern ganzer Landstriche mit Autobahnen und dem Aufbau eines Händler-, Werkstatt- und Tankstellennetzes bis hin zur Schaffung ausgedehnter Parkplatzwüsten in unseren Städten.

Es ist aber kaum vorstellbar, dass bei der Produktion der alternativen Energiequellen solch hohe Beschäftigungseffekte erzielt werden können, wie sie im Zuge der Automobilmachung des Kapitalismus in den Fünfziger- oder Sechzigerjahren erreicht wurden. Solarzellen und Windkrafträder werden effizient nicht in der Art und Weise produziert wie Autos vor 40 Jahren, als Tausende von Proleten im Schweiße ihres Angesichts auf endlosen Montagebändern in genau festgelegten Zeitintervallen stupide Handgriffe tätigten, um nach Hunderten von Arbeitsschritten - die je ein Arbeiter ausführte - ein Fahrzeug herzustellen. Bei dem heutigen allgemeinen Stand der Automatisierung der Produktion gelten tendenziell auch für die Herstellung alternativer Energiequellen ähnliche Probleme der "Überproduktivität", die die deutsche Autowirtschaft und der Maschinenbau nur durch vermehrte Exportoffensiven auf Kosten anderer Volkswirtschaften zu kompensieren befähigt sind.

Aufgrund dieses allgemeinen Abschmelzens des Anteils der Lohnarbeit am Produktionsprozess verschob sich längst das Verhältnis zwischen den Feldern der Kapitalverwertung und den notwendigen staatlichen Aufwendungen für Infrastruktur, die im Verlauf der Umsetzung eines "Green New Deal" entstehen und anfallen würden. Die staatlichen Aufwendungen zur Errichtung der entsprechenden energetischen Infrastruktur - die im Rahmen marktvermittelter Kapitalakkumulation nicht realisierbar sind - würden niemals durch die Steuereinnahmen aus den Industriezweigen der "regenerativen Energien" finanziert werden können. Allein ein Atomausstieg würde, vorsichtigen Schätzungen zufolge, Infrastrukturaufwendungen in Höhe von 200 Milliarden Euro nach sich ziehen. Die Kosten für einen Umbau der gesamten energetischen Infrastruktur, der bei einer Durchsetzung der regenerativen Energieträger unerlässlich wäre, würden sich ebenfalls allein in der BRD auf Hunderte von Milliarden Euro summieren. Das auf zentralisierte Energieerzeugung ausgelegte Stromnetz müsste eine totale Umstrukturierung erfahren, eine neue Verkehrsinfrastruktur bei der Etablierung der angepeilten "Elektromobilität" müsste ebenfalls aus dem Boden gestampft werden.

Solche Ideen eines kapitalistischen "Green New Deals" sind übrigens fast nur noch in der BRD überhaupt denkbar, die aufgrund der Leistungsbilanzüberschüsse, die der dominante deutsche Exportsektor generiert, sich noch nicht in solch einer dramatischen Finanzlage befindet wie die Opfer dieser aggressiven Exportstrategie. Der deutsche Exportsektor - dessen Exportoffensiven zu den ökonomischen Desintegrationstendenzen in der südlichen Peripherie der Eurozone maßgeblich beigetragen haben - würde somit die "ökologische" Transformation der deutschen Wirtschaft kofinanzieren. In den am Rande der Staatspleite taumelnden südlichen Euro-Ländern wie Griechenland, Spanien oder Portugal ist von einem "Green Deal" keine Rede, obwohl diese Staaten eigentlich aufgrund der klimatischen Verhältnisse für solch eine energetische Transformation prädestiniert wären. Die grünen Wunschträume einer "Energiewende" in Deutschland wurden durch die Defizite des Südens der Eurozone gegenüber dem ehemaligen "Exportweltmeister" erkauft.


Green New Deal?

Ein kapitalistischer "Green New Deal" scheitert somit am Kapitalismus, also an der Frage seiner "Finanzierung". Die Mehrheit der hierzu notwendigen, technisch längst machbaren Transformationsschritte - die vor allem die gesamtgesellschaftliche Infrastruktur betreffen - können nicht mehr als neue Felder der Kapitalverwertung erschlossen werden; sie bilden Aufwendungen, die eigentlich als "Nebenkosten" durch Prozesse erfolgreicher Kapitalverwertung finanziert werden müssten. Selbst für Deutschland, das als Profiteur der europäischen Defizitkreisläufe alljährlich enorme Leistungsbilanzüberschüsse erwirtschaftet, stellen die notwendigen finanziellen Aufwendungen eine kaum zu schulternde Herausforderung dar. In den südeuropäischen Pleitestaaten und den Zusammenbruchsregionen des globalen Südens würden die grünen Wunschträume des Green New Deal als reine Science Fiction aufgefasst werden.

Dabei weisen die ökologisch dringend notwendigen und technisch längst machbaren Möglichkeiten einer umfassenden ökologischen Gesellschaftstransformation längst über das kapitalistische System hinaus. Zum einen ist es die dezentralisierte Struktur konsequenter regenerativer Energiegewinnung, die in Konflikt mit dem von hoher Kapitalkonzentration gekennzeichneten kapitalistischen Energiesektor tritt. Die Konzentration der Energieerzeugung auf einige wenige Produktionsstandorte, die durch enorme Investitionen errichtet werden müssen, bildet die entscheidende Hürde bei der infrastrukturellen wie auch systemischen Umgestaltung des Energiesektors. Allein aufgrund einer stark dezentralisierten - eher kollektive Eigentumsverhältnisse begünstigenden - Produktionsstruktur in einem potentiellen, unter massivem Einsatz von Solar- und Windkraft zu errichtenden regenerativen Energiesektor, könnte die Marktherrschaft einiger weniger, ein Oligopol bildender Konzerne kaum aufrechterhalten werden. Mit Tausenden von Windkraftanlagen und Hunderttausenden von Solarmodulen würde praktisch jeder, der über eine geeignete Fläche verfügt, zum Stromproduzenten. Die neuen, auf regenerative Energien gestützten Produktivkräfte geraten in Konflikt mit den durch Öl- und Energiekonzerne monopolartig dominierten Produktionsverhältnissen im Energiesektor der Industriegesellschaften. Deswegen bemühen sich die Energiemultis auch schon, die Gewinnung regenerativer Energie weitestgehend durch Großprojekte zu monopolisieren.

Es sind nicht nur die unlösbaren Fragen der "Finanzierung" wie auch der Kapitalkonzentration im Energiesektor, die das Konzept eines "grünen" Kapitalismus zu einer ideologischen Wahnidee verkommen lassen, sondern die innerste Antriebsdynamik und grundlegende Produktionsstruktur des Kapitalismus bilden im Endeffekt das logische Gegenteil einer ressourcenschonenden Wirtschaftsweise.

Da ist zum einen die marktvermittelte kapitalistische Produktionsweise vermittels konkurrierender Privatunternehmen, die zu einer beständig zunehmenden Externalisierung der Produktionskosten führt. Es ist gerade die scheinbare Effizienz der einzelbetrieblichen Kalkulation, der Kosten-Nutzen-Rechnung eines Unternehmens, die im Widerspruch zu den gesamtgesellschaftlichen und ökologischen Folgekosten kapitalistischer, privatwirtschaftlicher Produktion steht. Das einzelne Unternehmen kommt direkt nur für einen Bruchteil der Kosten auf, die es während der Warenproduktion verursacht. Bekanntlich bilden etwa die Verkehrsinfrastruktur und das Bildungswesen solche betriebswirtschaftlich externalisierten Voraussetzungen kapitalistischer Warenproduktion, deren Finanzierung dann auf volkswirtschaftlicher Ebene gewährleistet wird - zumindest solange die Kapitalverwertung auf gesamtgesellschaftlicher Ebene weitestgehend intakt bleibt.

Jedes Unternehmen und jeder Industriezweig ist aber beständig bestrebt, immer mehr Kosten zu externalisieren. Im Fall des Klimawandels wird nun dieser ökologische Widerspruch auf die Spitze getrieben: Die globalen Kosten des Klimawandels werden den Unternehmen nicht direkt angelastet, es bestehen kaum Möglichkeiten einer gesamtwirtschaftlichen kapitalistischen Kostenrechnung der Folgen des Klimawandels, weil die unendlich komplexen klimatischen Wechselwirkungen sich nicht in das enge Korsett der Geldform pressen lassen. Autohersteller oder Ölmultis kommen selbstverständlich nicht für die Folgen von Klimakatastrophen auf, wie sie sich immer häufiger in Dürren, Überschwemmungen oder Sturmschäden manifestieren, da ja niemals eindeutig geklärt werden kann, dass ein konkretes, einzelnes Ereignis auf den Klimawandel und nicht auf "normale" Wetterphänomene zurückzuführen ist. Unter Ausblendung/Externalisierung dieser ökologischen Folgekosten können so die wahnsinnigsten Wirtschaftsstrukturen und Kreisläufe entstehen, bei denen etwa Waren über den halben Globus transportiert oder unter besonders hohem Rohstoff- und Energieaufwand in "Schwellenländern" hergestellt werden.

Andererseits muss das Kapital seinem ureigensten Antriebsgesetz folgend immer größere Mengen an Energie und Rohstoffen "verfeuern". Der Ressourcenbedarf des globalen kapitalistischen Verwertungsmotors wird weiter ansteigen, bis er an seine "äußere Schranke" stößt, die in der Endlichkeit der Ressourcen unseres Planeten besteht. Dieser permanente Wachstumszwang des kapitalistischen Systems resultiert aus dem Wesen des Kapitals selber. Als Kapital fungiert Geld, das durch einen permanenten Investitionskreislauf vermehrt, also "akkumuliert" oder "verwertet" werden soll. Das Wirtschaftswachstum ist hierbei nur der volkswirtschaftlich sichtbare Ausdruck der Kapitalakkumulation, die tatsächlich an eine "stoffliche Grundlage" gebunden ist. Spätestens seit dem Ausbruch der Finanzkrise ist klar geworden, dass dieser Prozess der Kapitalakkumulation an die Warenproduktion gekoppelt ist und nicht auf den Finanzmärkten aufgrund reiner Spekulationsprozesse dauerhaft aufrechterhalten werden kann.

Kapitalistischer, sich in Warenfülle äußernder "Reichtum" muss tatsächlich produziert werden: Der Kapitalist investiert sein als Kapital fungierendes Geld in Rohstoffe, Arbeitskräfte und Energie, um in Fabriken hieraus neue Waren zu schaffen, die mit Gewinn verkauft werden. Das hierdurch vergrößerte Kapital wird in diesem uferlosen Verwertungsprozess in noch mehr Energie, Rohstoffe etc. investiert, um wiederum noch mehr Waren herzustellen. Dieser potentiell endlose Kernprozess kapitalistischer Produktion hat die Selbstverwertung, also das unaufhörliche Wachstum des Kapitals zum Ziel - niemand investiert sein Geld, um danach weniger oder genauso viel zu erhalten. Hiermit müssen auch die Aufwendungen - Rohstoffe und Energie - für diesen Verwertungsprozess permanent erhöht werden. Deswegen wird auch künftig der Rohstoff und Energiehunger der kapitalistischen Verwertungsmaschinerie anschwellen, und er wird - wenn er nicht durch gesellschaftlichen Widerstand gestoppt wird - erst durch die nächste Weltwirtschaftskrise oder den ökologischen und zivilisatorischen Kollaps unterbrochen oder oder zum Scheitern gebracht werden.


Blinde Verbrennung

Das Kapital strebt somit nach einer möglichst hohen "Selbstvermehrung"; es ist Geld, das zu mehr Geld werden will. Dieser "hohle", selbstbezügliche Prozess ist allen gesellschaftlichen oder ökologischen Folgen seiner beständig anwachsenden, alle Weltregionen und Gesellschaftsbereiche erfassenden Verwertungstätigkeit gegenüber blind. Der permanent anschwellende Prozess der Kapitalakkumulation, der die innerste Treibfeder des kapitalistischen Konjunkturmotors bildet, "verbrennt" somit die Rohstoffe der Erde, die für unser Überleben notwendig sind. Die zusehends schwindenden Ressourcen unserer Welt bilden das immer enger werdende Nadelöhr, durch das sich dieser Prozess der Kapitalverwertung unter immer größeren Friktionen hindurchzwängen muss. Beide ökologischen Krisenprozesse - die Ressourcenkrise wie die Klimakrise - werden durch diesen Verwertungsprozess des Kapitals maßgeblich befördert.

Das Kapital ist somit aufgrund dieser Notwendigkeit permanenter Expansion das logische Gegenteil einer ressourcenschonenden Wirtschaftsweise, die notwendig wäre, um ein Überleben der menschlichen Zivilisation zu sichern. Das Kapital stellt sozusagen einen Prozess der "effizientesten Ressourcenverschwendung" dar, der keine menschlichen Bedürfnisse kennt, sondern nur die zahlungskräftige "Nachfrage" derjenigen Menschen, die noch nicht aus dem Prozess der Kapitalverwertung herausgeschleudert wurden. Deswegen herrscht ja auch in den Hungergebieten der Dritten Welt keine Nachfrage nach Lebensmitteln, während zugleich fünf Prozent der weltweiten Getreideproduktion zur Deckung von 0,3 Prozent der weltweiten Energienachfrage verwendet werden. Die vermittels des kulturindustriellen Dauerbombardements konstruierte Marktnachfrage steht somit im Gegensatz zu den Bedürfnissen der überwiegenden Mehrheit der Menschheit wie auch zur notwendigen größtmöglichen Schonung natürlicher Ressourcen.

Zudem gilt auch auf globaler Ebene, was am Beispiel der angestrebten Energiewende in der BRD ausgeführt wurde. Ein Großteil des notwendigen vielschichtigen infrastrukturellen Auf- und Umbaus, mit dem etwa die Folgen des Klimawandels im Agrarsektor gemildert werden könnten, kann nicht mehr vermittels der Prozesse der Kapitalverwertung realisiert werden. Es sind reine Kosten, die an der Frage ihrer "Finanzierung" scheitern. Die Arbeit verschwindet zwar aus dem Verwertungsprozess, aber es bleibt ungeheuer viel zu tun, um eine tatsächliche soziale und ökologische Transformation der Welt zu vollführen, die angesichts des bereits rasant fortschreitenden Klimawandels und der allgemeinen Ressourcenverknappung zumindest die Chance offenließe, einen zivilisatorischen Zusammenbruch auf globaler Ebene zu verhindern.

Und überdies sind etliche der angepeilten grünen "Zukunftsmärkte" bereits jetzt von Ressourcenengpässen geplagt, wie etwa die Auseinandersetzungen um die sogenannten "Seltenen Erden" offenbarten, die gerade bei der Produktion von Elektroautos oder Windkraftturbinen eine wichtige Rolle spielen (Dauermagneten). Ähnliche Förderengpässe zeichnen sich auch bei dem "Zukunftsrohstoff" Lithium (Akkus) ab. Die Initiierung eines neuen Akkumulationsregimes (das mit permanent ansteigenden Rohstoffverbrauch einherginge!) auf solch einer dünnen Rohstoffbasis scheint vollends illusionär.

Der von der Kulturindustrie zur "Normalität" entfremdete Irrsinn einer auf Wachstumszwang beruhenden kapitalistischen Wirtschaftsweise, die einen permanent steigenden Energie- und Rohstoffverbrauch voraussetzt, war nur dank der im Überfluss vorhandenen fossilen Energieträger über solch eine lange Zeitperiode aufrechtzuerhalten. Die ungeheure Energiedichte zuerst von Kohle, ab Mitte des 20. Jahrhunderts dann von Erdöl ermöglichte überhaupt erst diese alle Weltregionen und Lebensbereiche erfassende und sukzessive verwüstende, blinde und wucherungsartig verlaufende Wachstumsdynamik.

In den fossilen Energieträgern war die Sonnenenergie von Millionen von Jahren gespeichert, und die Kapitaldynamik hat sie in einem erdgeschichtlichen Wimpernschlag unwiederbringlich verbrannt, um hierdurch einen irrationalen, irren Selbstzweck möglichst lange aufrechtzuerhalten: dass aus Geld mehr Geld werde. Mit dem Ausbrennen dieser fossilen Verwertungsmaschine geht dem kapitalistischen Wachstumszwang auch die energetische Basis zur weiteren Expansion verloren - eine ökologische, postkapitalistische Gesellschaft, die auf größtmögliche Ressourcenschonung und die Befriedigung zumindest der elementaren Bedürfnisse aller Menschen ausgerichtet sein müsste, ist nur jenseits von diesem aus der Kapitalakkumulation resultierenden, blinden Wachstumszwang überhaupt noch denkbar.

Raute

Lerne, soviel du kannst! Helfen wird es trotzdem nicht

Lebenslanges Lernen als fiktive Erzählung

von Daniela Holzer

Lerne lebenslang! In dieser Proklamation ist die Rede von Nützlichkeiten und Notwendigkeiten, von Programmen und Planungen, von Instrumentarien und deren Wirksamkeiten. Emotionslos und mit ernstem Unterton wird proklamiert, dass lebenslanges Lernen unumgänglich sei: zur beruflichen Weiterentwicklung, zur Senkung von Beschäftigungslosigkeit, zur Sicherstellung von Wohlstand und Fortschritt etc. Mit passend interpretierten Datenmaterialien wird dies unterfüttert und so regelmäßig in Äußerungen von politischen EntscheidungsträgerInnen, Interessensvertretungen und Unternehmensführungen propagiert, dass kaum noch Zweifel an der Realität aufkommen. Genauere Betrachtungen zeigen jedoch damit verbundene Illusionen, Täuschungen und Fiktionen.

Ich erlaube mir, von einem vereinfachten Begriff der "Fiktion" auszugehen, der in vielen Aspekten mit illusionären und täuschenden Aussagen synonym stehen kann. Als fiktiv bezeichne ich die Erzählung des lebenslangen Lernens insofern, als einiges an Kreationen mit einfließt, die nicht eines realen Kerns entbehren, sich aber dennoch der Realität entheben, indem (auch) Annahmen und Vorstellungen verbreitet werden, die einer kritischen, realistischen Überprüfung nicht standhalten, selbst unter der Voraussetzung, dass Realität als brüchig und uneindeutig verstanden wird. Im Unterschied zu künstlerischen Fiktionen, die als solche erkennbar sein sollen, sehe ich bei Fiktionen im gesellschaftlichen Kontext fließende Übergänge zu Illusionen und Täuschungen: Der fiktive Charakter kann mit entsprechenden Kenntnissen und kritischer Reflexion offensichtlich werden, bleibt aber dennoch für viele verborgen. Die Fiktionen werden selbst von den verbreitenden ProtagonistInnen teilweise als Realität verstanden. Gleichzeitig lassen sich aber auch viele handelnde Personen und Institutionen ausmachen, die diese Realität mit ihren fiktiven Erzählungen vom lebenslangen Lernen gezielt verschleiern und nach ihren Interessen formen wollen. Fakten werden verdreht, missinterpretiert, ignoriert. Realitäten werden ausgeblendet, wegdiskutiert und verschwiegen.


Fiktion 1: Lerne und Du wirst erfolgreich sein!

In verschiedenen Ausformulierungen findet sich die Grundaussage: Lerne und Du wirst erfolgreich sein! Ob nun Weiterbildungskurse damit verkauft werden - der marktförmige Charakter des Weiterbildungsgeschehens klingt bereits durch - oder in diversen Karriereseiten diese Aufforderung platziert wird, die Stoßrichtung bleibt die gleiche: Bemühe Dich um Weiterbildung, sei ständig lernbereit und -willig, und wenn Du das Richtige zur richtigen Zeit gelernt hast, wird dem beruflichen Erfolg nichts im Wege stehen. Damit wird eines deutlich: Wenn von lebenslangem Lernen die Rede ist, ist damit selten alles Lernen über die gesamte Lebensspanne gemeint, sondern in erster Linie berufliche Weiterbildung. Entstehungskontext dieser Konnotation sind zum einen bildungspolitische Programme, unter anderem der EU, in denen lebenslanges Lernen weitgehend mit Weiterbildung gleichgesetzt und von einem wirtschaftlichen Interesse ausgehend berufliche Aspekte in den Vordergrund gerückt werden.

Auch wenn in jüngeren Programmen eine Erweiterung des Begriffs stattgefunden hat, bleibt die beschäftigungsbezogene Konnotation dennoch aufrecht, z.B. sei aktive Teilhabe an der Gesellschaft nur über Beschäftigungsbeteiligung erreichbar (vgl. Europäische Kommission 2006). Zum anderen zeigt die Entwicklung im Weiterbildungsgeschehen auch abseits politischer Programme eine eindeutige Tendenz zur Vorherrschaft beschäftigungsbezogener Lernaktivitäten. Ich verwende die Begriffe des lebenslangen Lernens und der Weiterbildung daher auch gezielt in diesem berufsorientierten Verständnis. Von der historischen Entstehung der Erwachsenenbildung als eines emanzipatorischen und politischen Projekts ist nicht mehr viel übrig. Zudem ist in letzter Zeit wahrnehmbar, dass der Begriff des "Lernens" wieder verstärkt Anwendung findet. Ich wage die These, dass ein Grund darin liegt, dass "Lernen" leichter instrumentalisierbar ist und scheinbar frei von Interessen verstanden und eingesetzt werden kann.

Wenn es also heißt, Lerne und Du wirst erfolgreich sein, werden fiktive Annahmen mittransportiert. Zunächst wird vermittelt, dass beruflicher Aufstieg durch Weiterbildung und Lernen möglich sei. Bezug genommen wird dabei auf Beispielkarrieren, die allerdings eher selten sind. Hingegen verweisen inzwischen viele Studien darauf, dass beruflicher Aufstieg durch Weiterbildung kaum möglich ist, dass Gehaltserhöhungen oder andere Vorteile kaum erreicht werden. Vielmehr zeichnet sich ab, dass Weiterbildung manchmal gerade noch dazu dienen kann, den Verbleib am Arbeitsplatz zu sichern.

Zur Nährung der Fiktion werden Daten gezielt missinterpretiert: Aus der geringeren Beschäftigungslosigkeit von AkademikerInnen wird vom Arbeitsmarktservice, von der Bildungspolitik, aber auch von diversen Kammern inklusive jener, die sich für die Interessen der Beschäftigten einsetzen sollte, der Schluss gezogen: Höhere Qualifikation vermindert Beschäftigungslosigkeit, ergo verringert Höherqualifizierung die Beschäftigungslosenquote. Diesen Aussagen und dem damit verbundenen Versprechen an beschäftigungslose Menschen, durch Weiterbildung Zugang zur Beschäftigung zu erhalten, stehen gleich mehrere Realitäten entgegen: Selbst bei noch so hoher Lernaktivität entstehen keine neuen Arbeitsplätze und das Verhältnis offener Stellen zu beschäftigungssuchenden Menschen verschiebt sich dadurch nur in unerheblichem Ausmaß. Zudem zeigt sich, dass formale Qualifikationen bei Bewerbungen zwar vorausgesetzt werden, weitere angeblich notwendige soziale und persönliche Kompetenzen aber selten ausschlaggebend sind. Wirksamer sind hier vielmehr soziale, symbolische und kulturelle Kapitalien im Sinne von Bourdieu. Der Aufforderung zu lernen und dem Versprechen individuellen Erfolgs stehen also reale, vor allem strukturelle Bedingungen entgegen, die jene als Fiktion entlarven.


Fiktion 2: Lernen nützt Dir!

In der zweiten Fiktion, Lernen nützt Dir, klingen zwei Aspekte durch: Lernen ist nützlich und Lernen ist vor allem für das lernende Individuum von Vorteil. Abgesehen von der gerade beschriebenen meist nur geringen Nützlichkeit steht nun aber die individualisierende Argumentation im Vordergrund. In bildungspolitischen Programmen ebenso wie in Marketingstrategien für Weiterbildungsangebote und in der wissenschaftlichen Diskussion wird häufig der individuelle Vorteil in den Mittelpunkt gerückt. Lernen und Weiterbildung können zwar grundsätzlich als individueller Aneignungsprozess, nicht aber losgelöst vom sozialen Umfeld und gesellschaftlichen Bedingungen verstanden werden. Solidarisches Handeln oder die Bekämpfung von Ungleichheit sind sogar in manchen Bildungsverständnissen explizite Orientierungspunkte.

In der nun vorherrschenden beruflich und utilitaristisch orientierten Weiterbildung werden diese Gesichtspunkte aber ausgeklammert und zurückgedrängt, werden individuelle Perspektiven betont. Befragt nach realistischer oder fiktiver Substanz gilt es festzuhalten, dass - neben der schon erwähnten geringen nützlichen Auswirkung - der Individualisierung eine strategische und eine thematische Dimension innewohnt. Die strategische Dimension äußert sich darin, solidarisches und an strukturelle Bedingungen gekoppeltes Denken und Handeln zu verhindern und die individuelle Konkurrenz- und Leistungsdimension zu betonen. Die thematische Dimension aber ist ebenso tiefgreifend: Es wird suggeriert, dass jedes Lernen subjektiv sinnvoll sei. Betrachten wir aber die thematischen Ausrichtungen an beruflicher Verwertbarkeit und der Nutzung von "Humankapital", so wird deutlich, dass in erster Linie jene Kräfte von dieser Weiterbildung profitieren, die sich Profite, Ressourcenoptimierung und Produktivitätssteigerung erwarten. Von ökonomischem Vorteil ist, auf eine große Masse gut qualifizierten und lernwilligen Personals zugreifen zu können, dieses dann allerdings dequalifizierend einzusetzen, gering zu bezahlen und auszuscheiden, wenn es "verbraucht" ist. Die Fiktion individuellen Nutzens zeigt sich auch darin, dass vermutlich viele Erwachsene - hätten sie wirklich die Wahl - nur geringes persönliches Interesse aufbringen würde, ihre Kenntnisse in Prozessmanagement, CNC-Fräsen oder Marketing zu vertiefen.


Fiktion 3: Wenn Du Lernen willst, kannst Du auch!

Eine Fiktion, die ebenfalls in engem Zusammenhang zu den beiden bisher diskutierten steht, ist die Aussage: "Wenn du willst, kannst Du auch!" Damit wird vermittelt, dass Motivationen und individueller Leistungswille ausschlaggebend für die Inanspruchnahme und erfolgreiche Absolvierung von Weiterbildungsmaßnahmen sind. Gleichzeitig wird die Verantwortung damit wieder individualisiert und ebenso ein eventuelles Scheitern. Genauere Analysen von Weiterbildungsteilnahme und -abstinenz zeigen hingegen, dass weiterhin Benachteiligungen, strukturelle Barrieren und strategische Hindernisse zu Exklusionen führen. Unterstützungen, Angebotsstrukturen, Möglichkeiten etc. sind ungleich verteilt. Insbesondere von Benachteiligungen betroffene Gruppen sind: Frauen, Personen mit Pflichtschulabschluss, MigrantInnen, Personen mit geistigen oder körperlichen Beeinträchtigungen, Menschen in Beschäftigungen mit wenig Handlungsspielräumen etc. (vgl. Holzer 2004). Hier individuellen Willen als einziges Hindernis hervorzuheben, gleicht einer zynischen Ignoranz einer Systematik, die zwar Teilhabe verlangt, Ausschluss aber systematisch betreibt.


Fiktion 4: Lernen ist notwendig! Lernen an sich ist gut und sinnvoll!

In dieser Fiktion bewegen wir uns noch stärker von der individuellen Ebene weg hin zu einer strukturellen und inhaltlichen Dimension. Weiterbildung und lebenslanges Lernen wird als notwendig und per se gut und sinnvoll konstruiert, indem auf die Erfordernisse des Beschäftigungsmarktes, der Gesellschaft und - wieder - auf Sinnhaftigkeiten auf subjektiver Ebene rekurriert wird. In genauer analytischer Betrachtung handelt es sich eigentlich um zwei unabhängige Fiktionen. Ich fasse sie hier allerdings zusammen, weil sehr häufig die eine mit der anderen argumentiert wird. Eine Argumentationslinie lautet, dass gesellschaftliche Veränderungen, Fortschritt und ökonomische Entwicklungen ständiges Lernen erfordern, um nicht "hinterherzuhinken", nicht "unter die Räder zu kommen" und "mithalten zu können". Die Rhetorik weist einen deutlich drohenden Unterton aus. Notwendig ist Lernen also nicht nur auf individueller Ebene, sondern wird strukturell und gesellschaftlich argumentiert. Lernen sei notwendig für Standortsicherung, für den Beschäftigungsmarkt, für wirtschaftlichen Fortschritt. Fatal und ebenfalls fiktiv ist die rhetorisch und strategisch hervorgerufene Konnotation dieser Notwendigkeit mit Lernen als hohem Gut an sich. Diese Verknüpfung rekurriert auf historische Entwicklungsprozesse von Bildungsverständnissen, die ihren Ausgangspunkt in humanistischen, aufklärerischen Idealen haben. Diese bürgerliche Bildungsvorstellung wirkt bis heute fort, ist aber nicht mit aktuell vorherrschenden nutzbarkeitsorientierten und berufsbezogenen Weiterbildungsforderungen in Einklang zu bringen. Diese Konnotation erschwert jedoch, der Argumentation von Notwendigkeiten zu widersprechen, da sich das Gegenüber darauf berufen kann, dass doch wohl zumindest die grundsätzliche Sinnhaftigkeit von Lernen und Weiterbildung nicht in Frage zu stellen sei.

Insbesondere handelnde Personen der Bildungswissenschaft und -praxis ziehen sich häufig auf diese Argumentation zurück, ohne weiter zu differenzieren, von welcher Weiterbildung und welchem Lernen im jeweiligen Zusammenhang die Rede ist. So wird gerade die Fiktion der grundsätzlichen Sinnhaftigkeit von jenen Personen hochgehalten, die als FachexpertInnen wesentlich an der Gestaltung von Lern- und Bildungsprozessen mitwirken. Die eigene Disziplin kritisch zu reflektieren und bei Bedarf radikal zu hinterfragen scheint besonders schwer zu fallen, wird damit doch gleichzeitig das eigene Handeln und sogar die eigene Person in Frage gestellt.

Lebenslanges Lernen und Weiterbildung sind aber nicht per se notwendig oder sinnvoll. Da die Notwendigkeit mit kapitalistischen Interessen argumentiert wird, würde sich diese erübrigen, sobald andere Produktionsbedingungen und -verhältnisse durchgesetzt werden könnten. Außerdem zeigt sich, dass Weiterbildung nicht die suggerierte Wirkung hat: z.B. werden Standortverlegungen nicht von Weiterbildungsanstrengungen beeinflusst, sondern von ganz anderen Kräften und Bedingungen. Ebenso ist Sinnhaftigkeit von Interessen bestimmt und in historische und gesellschaftliche Zusammenhänge eingebettet und entsprechend veränderlich und kontextgebunden. Dass selbst unter derzeitigen Bedingungen Weiterbildung für Erwachsene nicht sinnvoll sein muss, zeigen Studien zu Widerstand gegen Weiterbildung (vgl. Bolder/Hendrich 2000, Faulstich/Bayer 2006). Es ist also die Frage zu diskutieren, welches Lernen wofür und für wen notwendig und sinnvoll ist.


Fiktion 5: Lernen löst...!

Eine letzte Fiktion sei noch angesprochen: Lernen und Weiterbildung habe Lösungskapazität für beinahe jede gesellschaftliche Problemstellung. Vom erklärten Einfluss auf Beschäftigung habe ich bereits gesprochen, hier seien noch beispielhaft ein paar weitere Problemlagen angeführt, denen mit Lernen begegnet werden soll. Diese reichen von betrieblichen Abläufen über ökologische Probleme bis hin zu sozialen Problemlagen, z.B. in Bezug auf Minderheiten oder Randgruppen. Bei Beschwerden werden KundInnen besänftigt, indem betriebliche Schulungen versprochen werden. Müll-, Abgas- oder Energieprobleme führen zu Rufen nach dem Lernen von ökologisch nachhaltigem Handeln. Schwierigkeiten im sozialen Zusammenleben unterschiedlicher Lebensentwürfe erfordern angeblich vor allem Lernanstrengungen (zumeist auf Seiten der "Problem"gruppe).

Ich möchte nicht widersprechen, dass Bildung ein Mittel sein kann, gegenseitiges Verständnis und solidarisches Zusammenleben zu fördern oder für ökologisches Handeln zu sensibilisieren. Dies sind allerdings Bildungsprozesse, und Bildung verstehe ich als Ermöglichung von kritischen, reflexiven Auseinandersetzungen, von Erkenntnisprozessen, um Komplexitäten zu durchschauen und zu verstehen und von Handlungserweiterungen, die auch widerständige Praktiken miteinschließen. Aber auch hierin sind Fiktionen eingewoben, denn Bildung allein wird ohne soziale Aktion kaum emanzipatorischen Charakter entwickeln können. Dennoch: Von Bildung in kritisch-emanzipatorischem Sinn ist selten die Rede, sondern vielmehr von Lernprozessen im Sinne von Instrumentarien, die selektiv auf bestimmte Themen und Problemsituationen beschränkt bleiben und lediglich der Aufrechterhaltung der aktuellen gesellschaftlichen Verfasstheit dienen. Sowohl Lernen als auch Bildung sind aber in jedem Fall lediglich ein Teilaspekt gesellschaftlicher Einflussnahme.

Trotzdem wird an der Fiktion der Pädagogisierung gesellschaftlicher Problemlagen festgehalten. Obwohl wir prinzipiell immer lernen (das lässt sich kaum verhindern), ist das nicht dasselbe wie Lernen zum Prinzip zu erheben, mit dem alle Probleme gelöst werden können. Problemlösungen erfordern - meist sogar in hohem Ausmaß - strukturelle Eingriffe in Machtverhältnisse und Bedingungen. Was nützt die lernende Sensibilisierung für ökologisch sinnvollen Einkauf von ortsnahen Lebensmitteln, wenn lediglich die Wahl zwischen z.B. Knoblauch aus China oder Argentinien gegeben ist? Oder: Im Zuge einer Burnout-Prävention zu lernen, sensibel mit sich selbst umzugehen, ist nur Symptombekämpfung, solange Beschäftigungsbedingungen unverändert bleiben.


Die Moral von der Geschicht': Hauptsache Lernen - oder nicht?

In den bisherigen Ausführungen sind die Hintergründe und Ziele der fiktiven Erzählung von lebenslangem Lernen bereits angeklungen. Sie sollen an dieser Stelle noch kurz auf den Punkt gebracht werden. Die Dimensionen reichen von dahinterliegenden kapitalistischen Verwertungsinteressen bis zu Techniken der Implementierung von Fiktionen im Alltag. Kreiert werden diese Fiktionen, um das Bild zu schaffen, dass dem Lernen nicht zu entrinnen sei. Dadurch entsteht eine normative Erwartung an die Einzelnen, sich ständig lernbereit und -willig zu halten. In den Erzählungen werden subjektive Vorteile versprochen, für Zuwiderhandeln wird subtil Strafe angedroht. Damit wird erreicht, ständig verwertbares "Humankapital" zur Verfügung zu haben, und die Pflicht und das Risiko der Bereitstellung den Individuen überantwortet. Spätestens mit den Euphemisierungen subjektiver Vorteile und den gewollten Anklängen von Lernen und Weiterbildung als etwas Gutem und Sinnvollem werden gouvernementale Selbsttechniken implementiert, damit Erwachsene sich ihr Lernen sogar selbst auferlegen (vgl. Pongratz 2010). Anders Denken und Handeln kann so verhindert werden, denn es bleibt weder Zeit noch Energie noch Raum für Bildungsprozesse. Die Fiktionen werden aber hartnäckig weiter erzählt und als Realitäten akzeptiert und erhalten dadurch den Charakter gezielter Täuschungen. Diese gilt es kritisch aufzudecken und weiter die Frage zu verfolgen: Warum lernen und warum vielleicht auch nicht. Und vor allem auch: was? und wozu?


Literatur

Bolder, Axel / Hendrich, Wolfgang: Fremde Bildungswelten. Alternative Strategien lebenslangen Lernens, Opladen 2000.
Europäische Kommission: Erwachsenenbildung: Man lernt nie aus, Brüssel, 23.10.2006.
Faulstich, Peter / Bayer, Mechthild (Hrsg.): Lernwiderstände. Anlässe für Vermittlung und Beratung, Hamburg 2006.
Holzer, Daniela: Widerstand gegen Weiterbildung. Weiterbildungsabstinenz und die Forderung nach lebenslangem Lernen, Wien 2004.
Pongratz, Ludwig A.: Kritische Erwachsenenbildung: Analysen und Anstöße, Wiesbaden 2010.

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Am Anfang steht der Glaube

Weil die meisten ZeitgenossInnen von klein auf gelernt haben, in ökonomischen Kategorien zu denken, fällt es gar nicht mehr auf, dass am Ursprung der ökonomischen Wissenschaften Annahmen stehen. Aber die Tatsache, dass es kaum noch auffällt, ändert nichts an der Tatsache, dass es sich um Fiktionen handelt.

In unserer kapitalistisch geprägten Gesellschaft glauben die meisten Menschen, dass es für sie gut ist, wenn sie über viel - in Geldeinheiten gemessenen - Reichtum verfügen. Es gehöre zur Natur des Menschen, dass er immer mehr wolle. Das ist einfach so. Die Tatsache, dass Menschen in vorkapitalischen Zeiten und nicht-kapitalischen Gesellschaften nicht nach diesem Glaubenssatz gehandelt haben, wird dabei geflissentlich verdrängt. Nach wie vor gilt: viel arbeiten, viel konsumieren, wenig über das eigene Leben nachdenken.

Indes, der Glaube an die Segnungen von Geld und Wert scheint Risse bekommen zu haben: Ist es wirklich so, dass wir in einem Meer von Überfluss so unsagbar glücklich geworden sind? Oder nehmen nicht sogar psychische Erkrankungen und Lebensfrust zu? Könnte es sein, dass ein erfülltes Leben außerhalb der Logik der Wertvermehrung liegt, also außerhalb von Arbeit, Kauf und Konsum? Zweifellos, der kapitalistische Glaube ist brüchig geworden. Je mehr Menschen sich von ihm abwenden, desto brüchiger wird das System.

M.P.

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Fiktives

Sprunghafte Hypothesen zu Ökonomie und Ideologie des Kapitals

von Franz Schandl

Fiktionen spielen in unserem bürgerlichen Dasein eine große Rolle. Permanent stellen wir uns etwas vor und permanent wird uns etwas vorgestellt.

1.

In unserer Disposition reagieren wir beinahe reflexartig auf die Erfahrungen des Alltags, wozu nicht nicht nur klassisch Produktion, Zirkulation und Konsumtion gehören, sondern immer mehr und immer wichtiger auch die virtuellen Welten von Fernsehen oder Internet. Fiktionen zielen auf Reproduktion. Es geht darum, dass das, was ist, wieder ist. Fiktionen sind Bestandteil unserer Realkonstitution, eine geistige, ja geistliche Leistung warenförmiger Ganglien, eine Art Urvertrauen in die Bestandsfähigkeit des Kapitals. Und dieses liegt außerhalb unserer Entscheidung, es ist nämlich vorentschieden durch den praktischen Vollzug geschäftlicher Tätigkeiten. Unsere Fiktionen sind Figurationen oder besser noch Konfigurationen unserer bürgerlichen Existenz.

Das positive Denken etwa ist eine Anleitung, alle Geschehnisse unter einem gewissen Blickwinkel wahrzunehmen, sich weniger zu fragen, wie denn die Verhältnisse sind, sondern diesen a priori einen positiven Stempel, ein Gütesiegel des Soseins, zu verleihen. Nicht die kritische Frage zeichnet diesen Reflex aus, sondern eine unkritische Zusage. Was ist, muss auch vernünftig sein, ansonsten wäre es nicht. Es ist der gesunde Menschenverstand, der sich mit dem abfindet, was er vorfindet. Es gilt sich in den Verhältnissen nicht nur einzurichten, sondern sie auch noch zu bejahen.

Eine ganze Industrie ist heute darauf aus, die richtigen Fiktionen zu stützen, resp. uns zu ihnen zu verhelfen. Affirmation ist somit überdeterminiert. Praktisch werden jene nicht nur durch unsere alltäglichen Tätigkeiten hervorgerufen, sondern auch noch zusätzlich ideologisch aufgepeppt: sei es durch Medien, Reklame oder Unterhaltung. Diese stets reproduzierten Fiktionen wirken sich übermächtig aus, vor allem in unserem Kaufverhalten, in unserem Kulturkonsum, in unseren Einschätzungen und Geschmäckern. Wir sind Gefangene einer Matrix, die uns geistig, emotional und körperlich in Griff hält. Wir gehören nicht uns, sondern gehorchen. Wir sind Arrestanten einer Vorstellungswelt. Unsere Freiheit beginnt erst dort, wo wir begreifen, dass dem so ist und wir das so nicht wollen können.

Jede Einbildung ist eine Vorstellung, aber nicht jede Vorstellung ist eine Einbildung. Wenn wirklich ist, was wirksam geworden ist, dann ist viel Unwirkliches wirklich. Die Grenze zwischen Fiktion und Realität ist porös, sich ständig verschiebend und nie genau festlegbar. Allerdings ist uns diese Unterscheidung doch elementar, reden wir keiner Auflösung das Wort. Die Differenzierung ist also eine ständig operationale Aufgabe, keine vorgegebene Zuordnung vermag sie zu ersetzen.


2.

Das Fiktive ist nicht einfach unwahr, es wirkt um vieles gerissener, ja abgefeimter. Wir sitzen keiner Lüge auf, sondern der immanenten Täuschung des gesellschaftlichen Seins. Und der Kern dieser Täuschung liegt im Tausch und der ihm zugrunde liegenden abstrakten Arbeit: etwas für etwas anderes zu halten, indem wir es über abstrakte Arbeit vermittelt aufeinander beziehen, um es (als gleichwertig) auszutauschen. Die Annahme absoluter Vergleichbarkeit und Berechenbarkeit von allem und jedem ist erstes kommerzielles Gebot.

In den Metamorphosen des Kapitals und insbesondere im Tausch (Geschäft, Handel) sind die Fiktionen allgegenwärtig. Das eine ist das andere und das dritte auch. Es wechselt sich permanent aus und um. Registrieren, Kalkulieren, Spekulieren, das ist damit verbunden. Wessen Wert könnte es sein? Die Konzentration richtet sich zwar auf die Objekte der Begierde, aber nicht direkt, sondern nur vermittelt über den Wert. Es wird auf jeden Fall alles doppelt gedacht, als Gebrauchs- und Tauschwert. Deswegen sprechen wir auch von Waren.


3.

Warum eigentlich Kredite? Banal gesprochen, sagen sie doch nur aus, dass Dinge gemacht und geleistet werden könnten, dass das menschliche und technische Potenzial also vorhanden wäre, nur das leidige Geld fehle. Und das bürgerliche Subjekt kann sich um die Burg nicht vorstellen, es einfach zu tun, wenn es doch finanziert werden muss. Es geht nicht anders. Indes, nur Fetischisten können so normal denken. Mit dem Kredit wird ein Problem gelöst, das es elementar gar nicht gibt, das erst gesellschaftlich geschaffen werden muss, um es monetär beheben zu können. Natürlich ist das völlig verrückt, aber so ticken wir.

Mit dem Kredit will das Kapital die Grenzen des Warenkapitals überschreiten. "Andererseits ist der Kredit dann auch Form, worin das Kapital sich im Unterschied von den einzelnen Kapitalien oder das einzelne Kapital [sich] im Unterschied von seiner quantitativen Schranke zu setzen versucht", sagt Karl Marx. (MEW 42: 560-561) Das Kapital wächst hier über seine Substanz hinaus, versucht sich an seiner eigenen Vervielfältigung. Kapital scheint durch Kapitalisierung beliebig multiplizierbar.


4.

"Nicht jede Vermehrung des leihbaren Geldkapitals zeigt wirkliche Kapitalakkumulation oder Erweiterung des Reproduktionsprozesses an." (MEW 25: 502) Im fiktiven Kapital geben sich verwertetes, noch zu verwertendes und irreales Kapital (Schwindel) ein Stelldichein. Die Grenzen sind nicht fix, wie Kapital überhaupt stets eine Gallerte seiner Metamorphosen darstellt. Verwertetes Kapital kann sich auch entwerten, das zu verwertende nie verwerten und der Schwindel prächtige Geschäfte tätigen. Natürlich wäre es Unsinn, fiktives Kapital als reines Phantasieprodukt zu begreifen, indes muss ein großer Schuss Halluzination doch beigemischt sein.

Fiktives Kapital bewegt real. Es ist wirksam auf gar vielen Ebenen. Es ist also mehr als eine Einbildung, selbst wenn es sich a posteriori als reine Einbildung entpuppen sollte. Geld wird dadurch real, weil behauptet wie geglaubt wird, dass es wirklich werden könnte. Die Dimension des Vorgriffes übersteigt inzwischen das, was man Realökonomie nennt, um ein Vielfaches. Die Funktionstüchtigkeit der fungierenden Warenwirtschaft ist geradezu von den Geldspritzen des fiktiven Kapitals abhängig. Die Finanzmärkte sind der Motor. Auch Investitionen und Konsum werden zusehends mehr aus fiktivem als aus realem Kapital finanziert.

Es wird mich einmal geben, daher tun wir so, als gäbe es mich schon heute. Das Vertrauen in mich muss gegeben sein oder erzeugt werden. Ich bin weder falsch noch richtig, ich bin eine Annahme, die sich erfüllt oder auch nicht. Setzt auf mich! - So spricht das fiktive Kapital. Kapitalisierung ist Spekulation auf eine erst zu tätigende Verwertung. Es ist sodann etwas in den Büchern, was es (noch) nicht gibt, aber in der Übereinkunft seiner Geschäftspartner einmal geben wird (sollen). In der Zukunft erwirtschaftetes Geld wird in die Gegenwart gebeamt. Fragt man das fiktives Kapital nach seinem Gehalt, dann verweist es auf eine noch zu tätigende Wertschöpfung. Es mag nicht da sein, aber es wird kommen. Es ist wie ein Erlösungsversprechen, das sich immer wieder mit dem gleichen Verweis verschieben lässt. Stets upgedatet, ist es frisch wie die Kurven des jeweiligen Börsentages. Ob alte Hoffnungen zerrinnen, ist egal, zentral ist, dass neue Hoffnungen keimen. Es herrscht eine erregende Erwartung. In seinem Trieb, neue Anlagen zu kreieren, ist das Kapital absolut eifrig und erfinderisch.


5.

Akkumulation hat Verwertung nicht zur Voraussetzung, sondern jene kann auch rein spekulativ als Einsatz zukünftiger Verwertung verstanden werden.

Im fiktiven Kapital setzt der Konjunktiv sich gegenüber dem Indikativ durch. Was ist schon das Reale gegen das Mögliche? Die Fiktion ist das wahre dynamische Element. Dieser Konjunktiv gibt Tempo und Orientierung vor. Er treibt an. Intention und Investition sollen primär in diese Richtung gehen.

Das fiktive Kapital entkommt gar der Verunreinigung durch den Gebrauchswert, weil es unmittelbar keine reale Gestalt annehmen muss. Es besteht lediglich aus Eigentumstiteln und Rechtsansprüchen. Zukünftige Gewinne erscheinen deswegen sogar als Erfolg versprechender als schon in Wert gesetzte. Auf Optionen kann auf einer komsumtiven Ebene eben noch nicht zugegriffen worden sein. Kurzum: man kann von noch nicht gezeugten Kühen das Rindfleisch nicht essen, wohl aber kann man auf die Geschäftstüchtigkeit ihrer Züchter setzen, auf die Kapazitäten des Marktes wetten und Aktien der Schlachthöfe kaufen, ohne je eine Kuh, einen Züchter oder einen Schlachthof gesehen zu haben. Zukünftige Tauschwerte lassen sich in der Gegenwart realisieren, zukünftige Gebrauchswerte aber nicht.


6.

"Die Bildung des fiktiven Kapitals nennt man kapitalisieren. Man kapitalisiert jede regelmäßig sich wiederholende Einnahme, indem man sie nach dem Durchschnittszinsfuß berechnet, als Ertrag, den ein Kapital, zu diesem Zinsfuß ausgeliehen, abwerfen würde; (...) Aller Zusammenhang mit dem wirklichen Verwertungsprozess des Kapitals geht so bis auf die letzte Spur verloren, und die Vorstellung vom Kapital als einem sich durch sich selbst verwertenden Automaten befestigt sich." (MEW 25: 484.)

Die Bewegung G-G' möchte uns beweisen, dass Geld selbst Geld abwirft, dass der Umweg über den Gebrauchswert gar nicht mehr nötig ist, ja die besseren Geschäfte überhaupt auf dem Finanzmarkt zu tätigen sind. (Vgl. MEW 25: 404ff.) Der Gebrauchswert ist scheinbar im Tauschwert aufgegangen, das Kapital vollzieht eine tautologische Bewegung. Geld wird hergegeben, um mehr Geld zurückzuerhalten. Kapital will sich im monetären Himmelreich seiner Metamorphosen den alltäglichen Zumutungen und Ansprüchen entziehen, es will überhaupt nicht mehr fix werden, nur noch ein geradezu phantastisches Leben in seinen Zahlenkolonnen der Buchungen führen.

Die Brutstätte des fiktiven Kapitals ist der Markt. Die Zirkulation wird zur Sphäre der Produktion (sic!) fiktiven Kapitals durch Etablierung von Eigentumstiteln und Rechtsansprüchen. Fungierendes Kapital realisiert sich in der Zirkulation, und zwar nach Schaffung des Werts in der Produktion, fiktives Kapital realisiert sich ebenfalls in der Zirkulation, aber bereits vor Schaffung des Werts. Ob es diese Schaffung je geben wird, ist fraglich, indes ist der Glaube daran, die Fiktion, fundamental. Ist sie erschüttert, dann platzen die Blasen, schon allein deswegen, weil die Kapitaleigner (Inhaber, Teilhaber, Anleger, Aktionäre, Versicherte, Bankkunden) ihr Kapital abziehen und retten wollen. So wird das ideologische Moment immer wichtiger.

Was uns erscheint, das lassen wir erscheinen. Das ist der Käfig unserer Befangenheit, unsere Matrix. Fiktives Kapital mag nicht gedeckt sein, aber es "existiert" trotzdem. Es ist ein reelles Trugbild, an das geglaubt wird, weil andere ebenfalls daran glauben. Es ist aber keine individuelle Halluzination, es ist eine kollektive Fiktion. Hier herrscht die ganze Kraft der großen Verzauberung, der wir mit aller Energie dienen. Man schaukelt sich gegenseitig hoch und stützt sich gegenseitig ab. Man verlässt sich auf die, die sich auf uns verlassen. Man verlässt sich gegenseitig, ohne es zu merken. So die Grundformel, die freilich weit komplexere und kaum überschaubare Formen annimmt. Und bricht etwas zusammen, dann hat das nie System, sondern im Gegenteil: bei den Verlässlichen haben sich Unverlässliche eingeschlichen und die nunmehr Verlassenen wurden und werden kräftig abgecasht. Denn das Geld, so die bürgerliche Psyche, ist stets vorhanden und kann auch gar nicht verschwinden, höchstens, es wird gestohlen. Also muss es gestohlen worden sein.


7.

Eine tatsächliche Abschöpfung hochgerechneter Werte ist zwar nicht gänzlich auszuschließen, aber doch eher selten. Vor allem ist sie auch nur zu einem geringen Prozentsatz möglich, soll nicht sofort der Zusammenbruch erfolgen. Die Gewinne sind nicht einfach konsumierbar. Verfressen, versaufen, versegeln geht nicht. Die funktionale Aufgabe der Aktionäre besteht nicht darin, an der Börse abzucashen und sich ein arbeitsfreies Leben zu gestalten, sondern auf ewig im Turm des Geldes mitzuspielen. Steigen die Kurse, dann ist es nicht ratsam, auszusteigen, fallen die Kurse, wäre es erst recht blöd, auszusteigen. Aussteigen ist also tatsächlich keine Option. Kapital, egal welches, will immer wieder reinvestiert werden um sich verwerten zu können.

Der Großteil der Gewinne sind Buchungsgewinne, die nicht oder nie ausbezahlt, sondern wiederum eingesetzt werden. Kapitalisieren geht vor konsumieren. Das Spiel will keine Ende kennen. It's a never ending game. Ad infinitum. Geschäfte sollen gar keinen Abschluss finden, sondern sich als unendliche Kapitalbewegung veranstalten. Als Selbstläufer. Geschäfte gelten als geglückt, wenn eine unüberschaubare Reihe von Besicherungen und Optionen gegeben sind. Geld, Maß des Tauschwerts, versucht und versteht sich als sein eigener Gebrauchswert zu setzen. Geld machen wird von einem Mittel zum Zweck zum Selbstzweck. Es wird tendenziell zu einer selbstreferenziellen Größe, die sich aus sich selbst akkumulierend antreibt. So zumindest die Fiktion.


8.

Das Wort "Kredit" legt es nahe. Das Versprechen hält so lange, so lange es geglaubt wird. Glaubwürdigkeit ist also sein wahres "Kapital". Viele Finanzgeschäfte funktionieren wie Pyramidenspiele. Solange sich Mitspieler finden, kann das Spiel laufen, sobald jedoch zu viele Ketten unterbrochen werden, droht der Kollaps. Können die Schulden oder gar die Zinsen nicht mehr gedeckt oder zumindest umgeschuldet werden, dann entpuppt sich die Struktur als nicht tragfähiges Kartenhaus. Im fiktiven Kapital wird die zukünftige Verwertung als Möglichkeit wahrgenommen, als Wahrscheinlichkeit behauptet und als Wirklichkeit propagiert. Ob diese Wahrnehmung der Wahrheit entspricht, ist zumindest heute egal. Aber es ist, so will es scheinen, auch morgen egal, weil man sodann den getätigten Verlust, der als mittelfristiges Minus erscheint, ja durchaus wieder durch einen Kredit ersetzen kann. Fiktives Kapital spielt auf Zeit.

Ob einzelne Kredite nicht bedient werden können, ist gesamtökonomisch ziemlich unerheblich. Problematisch wird es erst, wenn ganze Sparten (Konzerne, Versicherungen, Immobilien, Banken oder gar Staaten) crashen. Gehen diese Rechnungen in Summe nicht auf oder wird der Glaube daran massiv erschüttert, dann platzen die Blasen. Indes, bisher sind die Folge platzender Blasen sich neu bildende Blasen. Solange der Kapitalherrschaft dieses Kunststück der Fiktionen gelingt, wird sie nicht zusammenbrechen.


9.

Aktuell erleben wir wiederum einen Boom der Casino-Ideologie auf allen Fronten. Es geht aufwärts. Es wird aufwärts gehen. Es muss aufwärts gehen. Es ist immer noch aufwärts gegangen. Permanent geht es darum, Fiktionen auf allen Gebieten und in allen Sphären herzustellen und sich daran zu klammern. Zahlen werden präsentiert. Die Stimmung steigt. Man verfolge nur die Medien, wie da der Aufschwung herbeigeschrieben und die Konjunktur hochlizitiert wird.

Stimmungen sind dazu da, die Geschäfte zu stimulieren, nicht das Kapital in Frage zu stellen, sondern eben die aktuellen Fragen des Kapitals zu stellen: Wo gibt es wie viel zu holen? Wir stehen vor einem neuen Wirtschaftswunder, entnehmen wir den Zeitungen an einem dieser sonnigen Maientage. Wir wundern uns auch.

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Gespenstisch 1

Glaubte man zu Beginn des Reaktorunfalls in Fukushima noch, die Welt ginge gleich unter, so ist es jetzt geradewegs so, als wäre fast gar nichts geschehen. Eine irre Bagatellisierung hat den jenseitigen Alarmismus abgelöst. So ein GAUcherl halten wir locker aus, das soll uns gar nicht erschüttern, da werden noch einige folgen. That's life! Vor allem brauchen wir die Atomenergie für unsere Wirtschaft. Und außer im Sonderwasserkraftwerkland Österreich stimmt das auch. Der Kapitalismus muss auf diese Risikotechnologie setzen. Und er wird es auch weiterhin tun, aller Aufregung zum Trotz. In die Sackgasse geraten, kann dieses System nur noch beschleunigen. Berlakovichs Stresstest werden alle AKWs in Europa, die ihn bestehen sollen, bestehen. Die in Nebenmeldungen konstatierte und zugegebene Kernschmelze in drei japanischen Reaktoren, die werden wir, die wir den Strom brauchen, doch aushalten? - Eben!

Tatsache ist, man ist bereit, ganze Gebiete abzuschreiben. Nicht nur Japan, Russland oder Frankreich werden weiter machen. Als Standort fürs Kapital dürfen sie nicht ins Hintertreffen geraten. Und alle anderen auch nicht. Menschen müssen eben Opfer bringen, notfalls hält auch Menschen, selbst welche, die erst in vielen Jahren das Licht dieser Welt erblicken und dann einer Überdosis an Strahlung ausgesetzt werden, die ihnen ihre netten Vorfahren hinterlassen haben. Doch was ist schon das Leben von morgen gegen den Profit von heute? Die Grenzwerte hat man ja inzwischen vorsorglich erhöht.

Der "emotionale Analphabetismus" (Günther Anders) ist erschreckend, aber so richtig beizukommen ist ihm trotz aller Katastrophen nicht. Wachstum und Verwertung, Konkurrenzfähigkeit und Konsum, das ist allemal wichtiger, auch wenn es Selbstmord auf Raten sein mag, den da das Kapital an seinem Personal durch eben dieses Personal in schöner Regelmäßigkeit vollziehen lässt.

F.S.

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Fiktion und Berechnung

Welche Berechtigung hat die Mathematik in unserer Gesellschaft?

von Franz Hörmann

Die menschliche Gesellschaft wird in der modernen Zivilisation überwiegend vermittels Zahlen gesteuert. Im naturwissenschaftlichen Kontext erwies sich diese Praxis auch als erfolgreich. Physikalische Maßgrößen wie Länge, Gewicht oder Geschwindigkeit verlangen eben nach mathematischer Repräsentation. Weniger plausibel scheint der Einsatz der quantitativen Methoden jedoch im sozialen Kontext. Weder Durchschnittswerte der Lebenserwartung, des Einkommens oder medizinischer Messergebnisse noch in Geld dargestellte Größen scheinen im Leben der Mehrheit der Bevölkerung wirklich hilfreich zu sein. Jeder Mensch erlebt sich selbst eben stets als Individuum, damit als etwas Besonderes, sodass der Durchschnitt für ihn jeder Lebenswirklichkeit entbehrt. Ein besonders schwerwiegender Denkfehler scheint zudem der Verwendung finanzieller Größen in mathematischen Modellen zugrunde zu liegen. Vor allem finanzielle Rechenwerke besitzen daher zumeist kaum einen relevanten Bezug zum sozialen Umfeld. Ursprung und Folgen dieses Denkfehlers sollen im nachfolgenden Beitrag zunächst erklärt und danach zur Diskussion gestellt werden.


Die Funktion der kleinsten Einheit

Mathematik ist in ihrer Anwendung nicht unabhängig von Vorbedingungen. Wenn mathematische Berechnungen einen Sinn ergeben sollen, so ist auf das der Mathematik zugrundeliegende Axiom der Abzählbarkeit zu achten. Mathematische Methoden können also nur dort sinnvoll verwendet werden, wo der Betrachtung eine wohldefinierte und im Zeitablauf konstante kleinste Einheit zugrunde liegt. Nicht ohne Grund wurde das Urmeter seinerzeit in Form eines X-Profils aus einer besonders robusten Metall-Legierung in Paris hinterlegt. Später wurde diese Art der Definition durch ein Vielfaches einer blauen Lichtwellenlänge ersetzt, weil dadurch Einflüsse der Temperatur auf das Längenmaß noch besser unterbunden werden konnten. Das Meter besitzt eben keine Länge, sondern es ist lediglich die Maßeinheit zur Messung der Länge von Gegenständen.

Hinterfragen wir aber nun einmal diese Grundlagen im Zusammenhang mit finanziellen Maßgrößen. Wie ist denn die kleinste Einheit einer Währung heute definiert? Was "ist" denn die Definition eines US-$ oder eines Euro? Zu den Zeiten des Goldstandards bestand eine fixe Relation zwischen einer Feinunze Goldes (also einer physikalischen Gewichtseinheit) und 35 US-$. Dennoch wurde aber z.B. Gold selbst wiederum in US-$ bepreist (Londoner Goldpreisfixing), sodass es zu einem absurden Zirkelschluss kam, denn Gold = $ = Gold = $ ...

Heute aber unterliegen Währungen im Inland der Inflation (als Maßgröße politisch gesteuert durch willkürlich gewählte Warenkörbe) und im Verhältnis zum Ausland einem sog. Wechselkurs, der von den mächtigsten Spekulanten des Planeten jederzeit bewegt werden kann zum Zwecke der Generierung ihres leistungslosen Einkommens zu Lasten der Realwirtschaft. Während Spekulanten also ihren unermesslichen Reichtum der Manipulation der Wechselkurse verdanken, müssen sich Leistungsersteller der Realwirtschaft teuer und aufwändig dagegen "absichern" und an beiden Geschäftsmodellen (sowohl an der Spekulation als auch an den Kurssicherungsgeschäften) verdienen ausschließlich die Banken.

Die heute weltweit verwendeten ungedeckten Währungen (das sog. fiat money, also Geld ohne Deckung, das rein buchungstechnisch "aus Luft", also ohne Gegenwert, von den privaten Geschäftsbanken geschöpft wird) erhalten ihren Wert als Ergebnis der Machtverhältnisse auf den Finanzmärkten, nach "Angebot und Nachfrage". Würde auch das Metermaß jeweils nach "Angebot und Nachfrage" bestimmt, also sich z.B. vor einem riesigen Bretterstapel entsprechend verlängern (aufgrund der gestiegenen Nachfrage) und vor einem einzigen Brett drastisch verkürzen (aufgrund der geringen Nachfrage), dann kann auch ein Laie sofort erkennen, dass die Messfunktion nicht erfüllt werden kann und daher keine einzige Bretterbude mit einem solchen "Maßsystem" errichtet werden kann.

Mit Geld werden Preise bezahlt. Preise stellen jedoch Wertverhältnisse dar. In einem Verhältnis, also einem Bruch, einer Relation, kürzt sich die Dimension weg. Das Verhältnis der Länge zweier Bretter, die je 3m und 2m lang sind, ist 3/2 oder 1,5. Es handelt sich dabei im Ergebnis aber nicht um Meter! Verhältnisgrößen (wie auch Preise) müssen daher immer dimensionslos sein - Zusätze wie $ oder € sind absurd und daher inhaltsleer. Ihre aktuelle Existenz verdanken sie lediglich dem Missbrauch durch Spekulanten (Kursmanipulation) und Banken (Erpressung durch Zahlungsmittelverknappung). Geschichtlich lassen sich die Zusätze wie "Mark" oder "Krone" (also die Namen der Währungen) einfach so erklären, dass die adeligen Herrscher der damaligen Zeit auf diese Art mit ihrem Siegel direkt auf den Geldscheinen die Erlaubnis zur wirtschaftlichen Tätigkeit zum Ausdruck brachten. Es handelt sich also um Symbole zur hoheitlichen Genehmigung der wirtschaftlichen Tätigkeit in einem geografischen Herrschaftsgebiet. Erst die Banken haben daraus, nach Verdrängung des Adels, ein "Ding mit Eigenwert" geschaffen. Alle volkswirtschaftlichen Paradoxien, wie etwa der Umstand, dass wirtschaftlich starke Länder aus ebendiesem Grund mit ihrer Währung unter Aufwertungsdruck geraten, der ihre Produkte auf den ausländischen Märkten dann wieder verteuert, sind im Kern nur auf diesen absurden Umstand zurückzuführen, dass Währungen heute eben nicht als bloße Maßzahlen ohne Eigenwert (wie Meter oder Kilo) definiert sind, sondern als primitives Warengeld (wie etwa Goldstücke), ohne dass dahinter tatsächliche Werte als Deckung vorhanden wären.


Bilanzen: Das Rechnen mit Äpfeln und Birnen

Damit beginnt aber erst die absurde Pseudomathematik, unter der weltweit die Gesellschaft leidet. Betrachten wir doch einmal die Welt der Bilanzen aus mathematischer Perspektive. Falls die in diesen fragwürdigen Rechenwerken ausgewiesenen Beträge tatsächlich Geldbeträge wären, dann wäre die Erstellung und Überprüfung effizient und einfach. Geld, das tatsächlich vorhanden ist, würde einfach den zum Stichtag bestehenden Zahlungsverpflichtungen gegenübergestellt. In der Praxis stellt aber die Position "Kassa" einen sehr geringen, wenn nicht sogar vernachlässigbaren, Posten der Aktivseite der Bilanzen dar. Schon die Bankguthaben sind ja rechtlich bloß Forderungen und nicht wirklich Geld. Alle anderen Aktiva sind als Geld in Wahrheit nicht vorhanden. Für sie wurde Geld bezahlt. Sie werden in Zukunft vielleicht gegen Geld veräußert werden. Sie sind erforderlich, um in der Zukunft Umsatzerlöse zu erzielen. Alle diese Umstände können aber nicht als Begründung dafür herangezogen werden, unter ihrem Titel einfach willkürliche Geldbeträge auf der Aktivseite auszuweisen. Ebenso absurd gestaltet sich die Passivseite. Die Verbindlichkeiten besitzen unterschiedliche Fristigkeiten. Rückstellungen oder Abgrenzungsposten werden je nach Bilanzierungstheorie, also nach ideologischen und politischen Kriterien "errechnet" - Mathematik wird flächendeckend missbraucht!

Einfache Menschen glauben praktisch alles, solange man dies in ein Korsett aus Zahlen verpacken kann. Und zu den allereinfachsten gehören leider die Aktionäre, die, wie Carl Fürstenberg sagt, "dumm und frech" sind. "Dumm, weil sie ihr Geld anderen Leuten ohne ausreichende Kontrolle anvertrauen und frech, weil sie Dividenden fordern, also für ihre Dummheit auch noch belohnt werden wollen." Nach dem Missbrauch der Mathematik durch das Fehlen der wohldefinierten kleinsten Einheit auf der Ebene der Währungen stellen somit Bilanzen die zweite, darüber liegende Ebene des Missbrauchs dar. Keine Zahl einer Bilanz gestattet die Prognose zukünftiger Zahlungsströme. Alle Bewertungen sind vergangenheits- bzw. stichtagsorientiert. Zukünftige Zahlungsflüsse (Cash Flows) werden immer dann, wenn sie für Berechnungen benötigt werden, einfach "geschätzt", das bedeutet vom Vorstand des Unternehmens übernommen. Es kann niemanden verwundern, wenn diese "Berechnungsmethoden" dann regelmäßig versagen!


Mythologische Planungsrechnungen

Finanz- und Investitionspläne führen jedoch die Absurdität zum Höhepunkt. Im klassischen Kapitalwertmodell werden etwa alle zukünftigen Ein- und Auszahlungen des Investors auf der Zeitachse eingetragen und die Nettoüberschüsse (also die Differenzen der Ein- und Auszahlungen) pro Periode auf den Planungszeitpunkt abgezinst und dort addiert. Was in diesem "Planungsmodell" jedoch sorgsam verschwiegen wird, ist der triviale Umstand, dass jede Einzahlung im Plan dieses Unternehmens natürlich eine Auszahlung im Plan eines anderen (Lieferanten- oder Kunden-)Unternehmens sein muss. Während das planende Unternehmen also hofft, dass seine zukünftigen Einzahlungen in voller Höhe eingehen werden, ist jedes Lieferanten- bzw. Kundenunternehmen nach besten Kräften bestrebt, diese Zahlungen seinerseits zu minimieren, da es sich dabei natürlich um Teile seiner Auszahlungen handelt. So agieren also die Akteure schon in der Planungsphase unmittelbar gegeneinander. Würde man einfach die Pläne aller beteiligten Unternehmen wertfrei nebeneinanderlegen, so wäre sofort offensichtlich, dass sie einander widersprechen und sie sich daher in dieser Form keinesfalls umsetzen werden lassen. Da dies jedoch in der Wirtschaftspraxis nicht geschieht (die Planung erfolgt regelmäßig in der Abgeschiedenheit des Elfenbeinturms des Unternehmensvorstands), flüchten sich alle Beteiligten in den Mythos der "Unsicherheit zukünftiger Entwicklungen". Niemand erwartet, dass sich Pläne in der Realität jemals wirklich umsetzen lassen. Bereits zum Planungszeitpunkt ist allen beteiligten Managern klar, dass es sich um bloße Illusionen handelt. Sie müssen jedoch ihre Unwissenheit akribisch in den Sitzungsprotokollen dokumentieren, denn der wichtigste Rechtsgrundsatz im Kapitalismus lautet schließlich: "Unwissenheit schützt vor Strafe" - die Umkehr gilt nur für den "kleinen Mann"!

Anlegergelder können also jederzeit verspielt oder privat entnommen und verwendet werden, solange sichergestellt ist, dass die eigene Unwissenheit in Bezug auf zukünftige Entwicklungen in den Sitzungsprotokollen ausreichend dokumentiert ist. Schließlich gilt als Leitsatz der Finanzwirtschaften der Zusammenhang, dass der (Ertrags-)Zinssatz mit zunehmendem Risiko steigt. Je größer daher die dokumentierte Unwissenheit, desto höher die Bezüge und Boni der Beteiligten. Offensichtlich handelt es sich hierbei um die hochtrabend ins Englische übersetzte Version der Volksweisheit "Je dümmer der Bauer, desto größer seine Kartoffeln"!

Weshalb bereits zum Entscheidungszeitpunkt eine konkrete Zahl (noch dazu als Barwert) errechnet werden sollte, ist ebenfalls nirgends aus der Fachliteratur zu erschließen. Die gewählten Zinssätze werden regelmäßig willkürlich gewählt und verdecken vor allem einen wichtigen Umstand: Es handelt sich wiederum um einen argumentativen Zirkelschluss! Mit dem Argument der "Hintergrundinvestition mit vergleichbarem Risiko" wird verschleiert, dass es prinzipiell unmöglich ist, aus Geld mehr Geld zu produzieren. Die in der Finanzierungstheorie immer wieder aufgestellte Behauptung, der "risikolose Zinssatz" entspräche dem Zinssatz für Staatsanleihen ist nämlich schlichtweg falsch. Erstens sind bereits zahllose Staaten Bankrott gegangen (ihre Staatsanleihen wurden somit wertlos), zweitens müsste der Lohn für ein Null-Risiko theoriegemäß ebenfalls gleich Null sein, wenn der Zinssatz tatsächlich eine Entlohnung für das Risiko des Investors darstellen soll. Aber so viel Logik darf man von Finanzierungstheoretikern wohl nicht verlangen.

Ein anderes Problem, das sich unmittelbar aus der zum Entscheidungszeitpunkt fehlenden Information ergibt, ist die aus Barwertmodellen folgende "systemische Gier". Diese lässt sich ganz einfach aus einem Gedankenexperiment erschließen. Stellen Sie sich vor, ein wohltätiger Multimillionär möchte Ihnen einen Geldbetrag schenken, damit Sie nie mehr für Ihren Lebensunterhalt arbeiten müssten. Die einzige Bedingung wäre, dass Sie ihm noch heute einen konkreten Betrag nennen. Wie würden Sie dieses Problem zu lösen versuchen? Man würde wohl beginnen eine lange Liste mit Beträgen zu erstellen. Zunächst die laufenden monatlichen Lebenshaltungskosten (Lebensmittel, Energie, Miete, Reparaturen, Kleidung etc.), danach die Kosten für einen oder mehrere Neuwägen bis zum Lebensende (wobei die Inflation berücksichtigt werden sollte), Kosten für geplante Urlaube und Reparaturen in Wohnung oder Haus, für Gesundheits- und Altersvorsorge, diverse Versicherungen. Danach folgen die Kosten für allfällige Gesundheits- und Pflegemaßnahmen für die eigenen Eltern. Schließlich kommen die eigenen Kinder an die Reihe. Sie sollen studieren, benötigen eine Startwohnung etc. Am Ende dieser Überlegungen steht ein unglaublich großer Geldbetrag. Seine enorme Höhe verdankt er aber nicht der persönlichen Gier des Entscheiders, sondern dem Umstand, dass hier zu einem konkreten Zeitpunkt eine Entscheidung getroffen werden muss, für welche die notwendigen Informationen noch nicht verfügbar sind. Kein Mensch kann wissen, welche gesundheitlichen Maßnahmen z.B. im Laufe seines restlichen Lebens noch notwendig sein werden. In solchen Zweifelsfällen wählen wir alle - zur "Sicherheit" - jeweils einen etwas höheren Betrag, und diese "Sicherheitspölster" summieren sich dann eben.

Eine alternative Sichtweise bestünde in folgender Vorgangsweise: Man fordert vom wohltätigen Spender lediglich einen einzigen Euro. Man verlangt danach, immer genau einen Euro mehr am Konto vorzufinden, als man zum jeweiligen Zeitpunkt ausgeben muss. Dies widerspricht zwar der ursprünglichen Forderung des Wohltäters, ist für diesen aber unvergleichlich preiswerter. Flexibilität senkt die Kosten, denn es wird erst dann über konkrete Beträge entschieden, wenn die dafür erforderlichen Informationen auch wirklich verfügbar sind.


Der Geldmythos am Ende

Die globale Schuldenkrise führt auch dem wirtschaftswissenschaftlichen Laien eindrücklich das Versagen des aktuellen Geldsystems vor Augen. Geld, welches schon im Entstehen mit einer gleich hohen Schuld belastet ist, kann eben nicht dazu verwendet werden, Schulden zurückzuzahlen. Daher sind alle "Rettungsschirme" und "-Fonds" nutzlos und werden bloß dazu führen, dass die Politiker einzelner Staaten aus innenpolitischen Gründen im Ausland Sündenböcke für die enormen Defizite verantwortlich machen wollen. Damit werden nun abermals Vorurteile und Nationalismen geschürt, anstatt die wahren Ursachen beim Namen zu nennen und der Bevölkerung den entscheidenden Schritt in eine neue Zukunft zu ermöglichen. Der einzige Ausweg wird von Wirtschaftsführern und Politikern abermals in einer Währungsreform gesehen, wobei jedoch die Bevölkerung in großem Umfang enteignet würde. Daher muss diese Entwicklung auch konsequent und solidarisch von allen Menschen abgelehnt werden, und zwar unter Hinweis auf bessere Alternativen. Wer eine für die Mehrheit der Bevölkerung nachteilige Politik als "alternativlos" bezeichnet, sollte mangels Kompetenz freiwillig zurücktreten.

Wie sehen die Alternativen nun aber aus, wenn eine Währungsreform und die damit verbundenen Verluste vermieden werden sollen? Zunächst muss die Geldschöpfung in öffentliche Hand verlagert werden. Damit ist jedoch kein finsteres, zentralistisches und intransparentes Ministerium zu betrauen, sondern diese sensible Aufgabe muss unter laufender öffentlicher Kontrolle und bei maximaler Transparenz von der gesamten Gesellschaft bewältigt werden. So wie die Versorgung mit Wasser oder Strom muss auch die Versorgung mit Kaufkraft eine öffentliche Aufgabe sein, welche keinesfalls privatwirtschaftlichen Gewinninteressen oder politischen Machenschaften untergeordnet werden darf. Jede Bürgerin und jeder Bürger sollte über eine Sozialversicherungsnummer verfügen. Diese könnte identisch mit seiner Sozialkontonummer sein, unter welcher für ihn aufgrund seiner Leistungen laufend die Geldschöpfung erfolgt. Zu Beginn werden alle Menschen mit einem "Blankokredit" ausgestattet, um über ausreichende Kaufkraft für das tägliche Leben zu verfügen. Danach wird bei jeder Leistungserstellung beim Leistenden der Preis zum Kontostand addiert, beim Empfänger hingegen zeitgleich subtrahiert. Geld wird so nur noch als Information sichtbar und verfügt über keine eigenständige Substanz. Die reine Zahl drückt den Wert der realwirtschaftlichen Leistung aus, ein wertbeständiges Medium als "Zwischenlager" wird überflüssig. Weil damit Geld nie wieder knapp sein kann (solange Menschen in der Lage sind, Leistungen zu erbringen), erübrigt sich auch die Notwendigkeit von Zinsen, die ja nur als Preis für knappes Geld fungieren. Geld muss auch nicht mehr ausgeliehen werden, um eine wirtschaftliche Tätigkeit entfalten zu können, denn mit jeder erbrachten Leistung wird ihr Wert einfach notiert bzw. elektronisch gespeichert.

Die in diesem System eingeräumten Kredite wären auch nicht mehr "dinglich gesichert". Da es sich hier ja nur um Zähleinheiten handelt (und keine wertvollen Tauschobjekte) gehen bei Kreditausfällen (d.h. bei Menschen, welche ihren Kontostand beständig im "Minus" führen) auch keine Werte verloren. Somit verschwinden auch Exekutionen und Enteignungen. Wie kann in diesem System dann aber sichergestellt werden, dass sich die Anzahl der Trittbrettfahrer in Grenzen hält? Dies wäre die Aufgabe der neuen "Bankmitarbeiter", sogenannter "Wegbegleiter". Fünf bis zehn Prozent der Bevölkerung könnten einen völlig neuen Beruf ergreifen, den des "Wegbegleiters". Hierbei handelt es sich um Psychologen, Heilpraktiker, Mediatoren, Coache etc., welche jeden Menschen durch sein Leben begleiten um sicherzustellen, dass sich das menschliche Potential maximal entfalten kann. Für junge Menschen wäre der Wegbegleiter ein Lehrer, für Menschen in mittleren Jahren ein Trainer, für ältere Personen u.U. ein Pfleger. Diese Mitglieder eines neuen Berufsstandes hätten nichts anderes zu tun, als 10-20 Menschen glücklich zu machen - indem sie diese nach Kräften dabei unterstützen, ihr menschliches Potential auszuschöpfen.

Rechtsformen von Unternehmen wären in diesem neuen Wirtschaftssystem vollkommen überflüssig, wir wären alle Unternehmer ("Ich-AGs"), die sich in Projekten freiwillig vernetzen können. Durch die zeitgleiche Dokumentation der erbrachten Leistung entsteht für alle Beteiligten sofort Kaufkraft - als bloße Zahl, als reine Information. Wenn ein Mitarbeiter eines mittelständischen Unternehmens, das über 500 Kunden verfügt, heute nichts zu tun hat, weil diese 500 Kunden z.B. momentan keinen Bedarf an Unternehmensleistungen aufweisen oder über zu geringe Kaufkraft verfügen, dann ist der Mitarbeiter zur Untätigkeit gezwungen. Dennoch wird er hoffen, seinen Arbeitsplatz und damit sein Einkommen weiter zu behalten, wenngleich er mangels Bestellung nicht produktiv werden kann. Könnte dieser Mitarbeiter aber seine Fähigkeiten der gesamten Branche anbieten (und nicht nur dem Unternehmen, in welchem er beschäftigt ist!), so könnte er z.B. in zwei Arbeitstagen seine Leistungen für die gesamte Branche erbringen. An den restlichen drei Arbeitstagen hätte er frei und zugleich verfügte er über ein wesentlich höheres Einkommen, da er ja die gesamte Branche mit seinen Leistungen versorgen kann und nicht nur ein einziges Unternehmen! Rechtsformen behindern die Effizienz der Wirtschaftsleistung durch Konkurrenz um Kunden. Die stets geringe Kundenanzahl (im Vergleich zu den Kunden der gesamten Branche) zwingt Menschen zur Untätigkeit, die aber dennoch in irgendeiner Form mit Kaufkraft versorgt werden müssen.

Auch das Bildungssystem bliebe von dieser gesellschaftlichen Veränderung nicht verschont. Schulkinder würden in kleinen Arbeitsgruppen gemeinsam mit einer Lehrkraft echte Probleme ihrer Gemeinde lösen: Für eine kranke Großmutter könnten Informationen von Patienten erhoben werden, die von der Krankheit genesen sind; ein Kräutergarten für eine Familie könnte fachgerecht angelegt oder ein Kreisverkehr geplant, simuliert und errichtet werden. Vermittels dieser Leistungen würden bereits Schulkinder (durch gemeinschaftsnützliche Kooperation) ihr eigenes Leistungsgeld schöpfen und damit mit Kaufkraft ausgestattet. Ältere Menschen der Gemeinde könnten die Leistungen der Schülerinnen und Schüler bewundern und wären stolz auf die Jungen - die Gesellschaft würde geeint, anstatt dass junge Menschen so wie heute in baufälligen Gebäuden kaserniert und von der Gesellschaft weitestgehend ausgeschlossen werden.


Fazit und Ausblick

Die Mathematik wurde in weiten Bevölkerungskreisen bereits in vorchristlicher Zeit als Betrugs- und Täuschungsinstrument eingesetzt. Sowohl die heutige Methode der Geldschöpfung (in Form verzinsten Schuldgeldes) als auch die meisten anderen finanzmathematischen Verfahren gehen nach wie vor von falschen Voraussetzungen aus, indem sie z.B. unhinterfragt das Nullsummenspiel des Geldsystems unterstellen und dadurch missachten, dass die für die Planung verfügbaren Informationen bereits selbst manipuliert und unzuverlässig sind. Erst ein modifiziertes Geldsystem, in welchem Geld selbst nur noch als Information ohne Eigenwert fungiert und daher den Fluss echter (und nicht zur Täuschung gedachter) Steuerungsinformationen ermöglicht, wird hier nachhaltig Abhilfe schaffen können. Diese Veränderung erzwingt jedoch entsprechende Anpassungen in praktisch allen Teilbereichen der Gesellschaft, v.a. auch im Bildungssystem. Aus diesem Grunde kann uns nur ein Multiparadigmenwechsel friedlich und nachhaltig aus der bestehenden Finanzkrise führen!

Raute

2000 Zeichen abwärts

Gespenstisch 2

Nur Ideologen und Idioten können glauben, dass es in Libyen um den Schutz der Zivilbevölkerung geht. Die war noch nie so bedroht wie jetzt. Und zwar alle, die Gaddafi-Treuen als auch die Oppositionellen als auch jene, die nur davonkommen wollen. Der Friedensmission geheißene Kampfeinsatz hat die potenziellen Gefährdungen multipliziert. It's no fiction. Soeben, am 7. Juni wurde in Tripolis ein Rundfunkgebäude plattgemacht. Dort liefen Propagandasendungen des Systems. Wer hätte das gedacht. Würden nach diesen Kriterien die Raketen abgeschossen, wie viele Sendeanstalten stünden noch?

Das Bombardement, einmal begonnen, wird systematisch ausgeweitet. Die NATO, einmal ausgezogen, kann sich gar nicht mehr zurückziehen. Das gliche einer Niederlage. Schließlich geht es um einen regime change. Daher muss sie die Gangart verschärfen. Notfalls hinterlässt man ein zerstörtes Land. Jetzt sind schon Drohnen im Anflug und Kampfhubschrauber, morgen ist auch eine Invasion mit Bodentruppen nicht mehr ausgeschlossen. Man ist entschlossen, vor allem auch, weil es keinen Widerstand in den Metropolen selbst gibt. Gaddafi hat sich zweifellos diskreditiert, zuletzt durch sein Zusammenspiel mit der menschenversenkenden Migrationspolitik der Europäischen Union. Deren Drecksarbeit erledigte er gegen much money, so als sei er ein guter und kein böser Schurke.

An Gaddafi stört weniger das, was stören sollte, als das, was nicht stören sollte. Was nicht störte, das war sein Bündnis mit der Frontexbande und ihren feinen Auftraggebern, und bis vor kurzem störten auch keine Menschenrechtsverletzungen. Was stört, ist, dass er die Energiekonzerne nicht frei schalten und walten lässt und der Westen an Libyen kein Bahrein oder Kuwait hat. Nun soll Libyen wieder Hinterhof werden, frei, also frei verfügbar. Die nördliche Phalanx will einmal mehr zeigen, wer Herr auf diesem Planeten ist und bleiben will. Am meisten forciert wird diese Politik übrigens von ehemaligen Linken, Kriegstreibern wie Levy oder Glucksmann oder den sattsam bekannten Antideutschen.

F.S.

Raute

Reductio ad fictionem

von Emmerich Nyikos

1.

"Kleider machen Leute" - Kleider und alles, was noch zum Erscheinungsbild gehört. Wovon ist die Rede? Von einem heruntergekommenen Aristokraten, der so tut, als ob in Wirklichkeit gar nichts vorgefallen wäre. Er weiß den Schein zu wahren, er agiert wie ein wahrer Aristokrat, der er allerdings gar nicht mehr ist, da das Vermögen - das Schloss, der Grundbesitz, die Jagden, also die objektive Basis seines Aristokratentums - verspielt, verjubelt, verjuxt sind. Er ist freilich so gewitzt, durch seinen Aufzug und sein Verhalten eine "Realität" vorzuspiegeln, die nicht existiert, die fiktiv ist, und das so täuschend echt, dass alle ihm anstandslos glauben; und er selbst im Grunde nicht minder. Paradox? Mitnichten. Denn die Kraft der Truggebilde kann nur demjenigen erstaunlich erscheinen, der nicht begriffen hat, dass der Anschein oberflächlich, daher zugänglicher ist als das, was sich dahinter verbirgt (oder auch nicht) - dass der Anschein "den Anschein für sich hat" -, sodass ihm gegenüber oft nur die Anstrengung der Negation, das permanente Misstrauen, hilft.


2.

Ein Verdacht drängt sich auf: Ist die bürgerliche Gesellschaft in ihrer post-modernen Phase nicht ein solch heruntergekommener Aristokrat? Tut sie nicht so, als ob sie noch bürgerliche Gesellschaft wäre, während sie in Wirklichkeit dies gar nicht mehr ist, auch wenn sie - zugegeben - noch nichts anderes ist?

Sie ist es und sie ist es auch nicht: Auf der Oberfläche, in der Erscheinungswelt, ist sie es, weil Waren, Geld und Austausch existieren, Privateigentum und Kapitaleigentümer, Besitzlosigkeit und bras nus, die über nichts weiter als ihr Arbeitsvermögen verfügen, und alles, was es dergleichen noch mehr an Charakteristika des Kapitalsystems gibt. Und sie ist es nicht mehr, weil dies alles nur noch eine reine Fassade, ein Paravent, ein Potemkinsches Dorf ist, hinter dem nach und nach die spezifische Substanz dieser Gesellschaft verschwindet - der Wert als Ausdruck des gesellschaftlichen Zusammenspiels in der Produktion des Lebens auf der Basis des Privateigentums.

Noch ein Paradoxon? Keineswegs. Denn es ist eine reale Ironie der Geschichte - oder sollte man sagen: ihre Dialektik? -, dass sie Resultate produziert, die ihren Ausgangspunkt negieren. Wir wissen dank Marx: Das Kapitalsystem in seiner spezifischen Performance sieht sich zwecks Produktion des relativen Mehrwerts gezwungen, das Produktivkraftsystem permanent zu forcieren, sodass auf kurz oder lang mit der Einverleibung der Wissenschaft in die Produktion - Kybernetik, Informatik, Fuzzy-Logik und dergleichen - die lebendige Arbeit durch automatische Anlagen aus der Produktionswelt verdrängt wird. Diese Trajektorie führt demnach zu einem hypothetischen Endpunkt, an dem die Vollautomatisierung der Produktion gleichbedeutend ist mit der Eliminierung des Werts, also des Ausdrucks des gesellschaftlichen Zusammenhangs der Arbeitstätigkeiten privaten Charakters, der sich in den Produkten dann als Tauschfähigkeit der Waren manifestiert. Zurück bleiben alleine die äußeren Formen, innerhalb deren dieses Zusammenspiel sich früher bewegt hat: der Austausch, die Ware, das Geld und so fort, also, wenn man so will, die Schale ohne den Kern.


3.

Mit der Eliminierung der lebendigen Arbeit beruht der Gebrauchswert, der in den automatischen Produktionsapparaten hergestellt wird, nur mehr auf der konkreten Arbeit der vergangenen Zeiten, auf "toter Arbeit" allein, auf der Arbeit also der Toten.

Hier findet das "Aussterben der Totengräber" sein konsequentes Finale: Waren die Lohnarbeiter einst nur "moralisch" gestorben - als "Klasse für sich" durch Assimilierung und Kooptierung in das System -, so sterben sie jetzt noch dazu eines "physischen" Todes: sie verschwinden als aktive, tätige Klasse und fristen ein Dasein als permanente Reservearmee, als Scheinklasse, die in Wirklichkeit ganz und gar obsolet und unbrauchbar ist.


4.

Aber nicht nur die Arbeiterklasse schafft sich selbst ab; auch die Bourgeoisie ist überflüssig geworden. Sie reduziert sich mit der Zeit auf ihre Dividende, da sie wesentlich nur mehr aus Aktionären besteht. Das Kapital emanzipiert sich von der Bourgeoisie, denn: Was auch würde sich ändern, wenn man die Aktientitel von den Aktionären auf ihren jeweiligen Hund übertrüge? Im Grunde genommen: überhaupt nichts. Die Kapitalmaschinerie würde wie gehabt weiterlaufen, da die Organisation der Produktion längst der Bürokratie des Managements zugefallen ist. Ja selbst die letzte Funktion, die den Kapitaleigentümern verblieb - die Umverteilung des Surplus an der Börse durch Spekulation und Hasardspiel -, könnte man Zufallsgeneratoren getrost überlassen. Denn auch hier sind, wie überall, der Automatisierung keinerlei Grenzen gesetzt.


5.

Bourgeoisie und Arbeiterklasse sind entbehrlich geworden. Anstatt sich jedoch diesem Faktum zu stellen, steckt man lieber den Kopf in den Sand und tut nach wie vor so, als ob im Grunde alles so ist, wie es war.

Man tut also so, als ob nach wie vor der Reichtum der Gesellschaft wesentlich der Plackerei ihrer Bürger bedürfte (oder derjenigen davon, die nicht das Glück haben, Kapitaleigentümer zu sein oder als solche geboren zu werden). Die Symptome dieser irrationalen Tendenz? Man zwingt durch Hartz IV oder ähnliche "Armengesetze" (die in der Tat fatal an die englische Gesetzgebung aus der Frühzeit des Kapitalsystems erinnern) die Arbeitslosen förmlich dazu, sich in das "Erwerbsleben" einzugliedern, wo es doch offen auf der Hand liegt, dass die Nachfrage nach Arbeitskraft, nach diesem Ladenhüter par excellence, mehr und mehr schwindet. Oder man sinniert über die "Rente mit 67", um allen Ernstes die Probleme des Pensionssystems zu lösen, während jetzt schon vielleicht nur mehr zwanzig Prozent derjenigen, die über sechzig sind, tatsächlich über eine Arbeitsstelle verfügen. - Man versucht eben verzweifelt, den Schein der bürgerlichen Gesellschaft zu wahren: so zu tun, als ob die Arbeit nach wie vor der Angelpunkt des Stoffwechsels mit der Natur, die Basis des Daseins der menschlichen Spezies, wäre, wobei man sich Arbeit dann nur als Lohnarbeit vorstellen kann.

Und man tut nach wie vor so, als ob die Bourgeoisie, die Kapitaleigentümer, wesentlich für die Organisation dieses Stoffwechsels mit der Natur sowie für die Anhebung des Niveaus der Produktivkräfte wären. Man präsentiert sie als "Leistungsträger" katexochen, von deren Segen bringendem Tun das Wohl der Gesellschaft abhängen würde. In Wirklichkeit aber braucht selbst das System sie nicht mehr.


6.

Arbeiterklasse und Bourgeoisie sind zu Pseudoklassen geworden. Was nicht heißt, dass die Gesellschaft aufgehört hätte, Klassengesellschaft zu sein. Denn wenn wir das Kriterium der Klassengesellschaft in Rechnung stellen wollen - die private Aneignung des gesellschaftlichen Surplus -, dann ist diese Gesellschaft mehr denn je eine Klassengesellschaft. Nur stehen sich als "Klassen" - wenn man die Dinge in der Perspektive betrachtet - nicht mehr lebende Akteure gegenüber, sondern die Toten, die in den Objektivationen ihrer vergangenen Arbeit präsent sind, und das Kapital als Gespenst, das ein Gespenst ist, eben weil es substanzlos, inhaltsleer ist, da es nicht mehr lebendige Arbeit, wie in früherer Zeit, kommandiert - nicht ein Verhältnis, sondern nur mehr tote, vergangene Arbeit, nur mehr Sache, kurz: nicht mehr das ist, was es seinem Begriffe nach sein soll.


7.

Die post-moderne Ära wird, wenn man sich denn auf eine Prognose einlassen will, als Epoche der Ideologie par excellence in die Geschichtsbücher eingehen. Denn Ideologie ist nicht so sehr "falsches Bewusstsein", sondern eine Praxisform, der es darum zu tun ist, das Erscheinungsbild der Welt nach dem "Bild von der Welt" aktiv zu gestalten.

Marx sagt im Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte: "Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen." (MEW 8, S. 115)

Es ist also klar, dass das Verhalten oder die Praxis bis zu einem bestimmten Punkt von den herrschenden Umständen, von der Form der Gesellschaft, bestimmt ist, dass man die Verhaltensweisen sich also nicht so ohne weiteres aussuchen kann. Nun scheint es ebenso klar, dass es auf lange Sicht keine Diskrepanz geben kann zwischen dem, was man tut, und dem, was man denkt. Denn dies würde unweigerlich jedes Tun unmöglich machen. Und da das Denken der schwächere Part ist - es ist flexibel, weil der Einbildung fähig -, ist es das Denken, das sich dem Verhalten bequemt. Und nicht vice versa. Das "Bild von der Welt" ist so eine mehr oder minder direkte Funktion des Verhaltens, des Tuns oder der Praxis des Alltags: Ich denke nur das, was meinem Verhalten nicht ins Gesicht schlagen kann. - Freilich, die Welt differiert ständig von dem, was man über diese Welt denken muss, um nicht aus dem moralischen Gleichgewicht zu fallen. Von daher der bestimmte Impuls zu ideologischer Praxis: zur Umgestaltung der Oberfläche der Welt, ihrer Erscheinung, dessen mithin, was einem manipulativen Eingriff zugänglich ist, im Sinne des "Bildes der Welt". Mit anderen Worten: der Impuls zur "Wahrung des Scheins", damit das Verhalten, das "Weltbild" und die Erscheinung der Welt zumindest tendenziell kongruieren.


8.

Differiert nun das, was ist, extrem von dem "Bild von der Welt" - wie es heute offensichtlich der Fall ist -, so wird man unweigerlich die Anstrengung der ideologischen Praxis verdoppeln, d.h. in verzweifelter Weise die Oberfläche der Erscheinungswelt dem "Bild von der Welt" anzupassen versuchen. Wir leben also heute in einem Universum, das mehr denn je ideologischer Praxis ausgesetzt ist.

Was also tun angesichts dieses doppelt irrationalen Verhaltens? Sicher: Man kann ein "Bild von der Welt", wie es uns Brecht noch vorgeschlagen hatte, nicht einfach "zertrümmern". Das geht nun mal nicht, und es geht insofern nicht, als dieses "Bild" für das (moralische) Überleben notwendig ist. Was man tun kann, ist allerdings, durch Kritik das Bestehende so weit "unmöglich zu machen", dass die Verhaltensweisen selbst, die nicht mehr notwendig, die im Prinzip veränderbar sind, ins Blickfeld geraten: die Irrationalität epimetheischer Praxis. Wie überall gilt aber auch hier: Quantität schlägt in Qualität um, die Kritik wird nur wahrnehmbar, wird nur zur Gewalt, wenn sie konzertiert und geballt, nicht als vereinzelter Schuss, sondern als Salve geübt wird.

Raute

Im Reich der Fiktion

Über die wahre Heimat der Menschenrechte

von Ilse Bindseil

I.

"Die Menschenrechte sind doch reine Fiktion", ist ein ernüchterter Schluss, zu dem man immer wieder kommt, aber meist nicht, weil sie offenkundig verweigert wurden, in unsern hochbürokratisierten Gesellschaften vielmehr eher, weil sich das mit ihnen zu Gewährende verkrümelt hat. Lässt man sich auf den abstrakten Zusammenhang ein, auf den der Satz verweist, und schreit aus Frust über die desillusionierende Erfahrung nicht einfach "Täuschung!", "Lüge!", dann geht einem freilich die komplexe Struktur des Fiktiven auf. So leicht ist es nicht mit der Fiktion, dass man sie als ein Synonym für Betrug gebrauchen kann, gibt es neben dem zynischen doch das hypothetische So-tun-als-Ob, das keineswegs nur als naive oder verspielte Variante der Heuchelei, vielmehr als Voraussetzung eines vernünftigen Tuns, als Probehandlung gilt, als Richtschnur oder, mit Kant zu reden, regulative Idee.

Wenn wir nur fest genug daran glauben, dass wir im Grunde nett sind, auch entschlossen so tun, als wenn dies der Fall wäre, uns freundlich gebärden, als kennten wir kein Ressentiment, lächeln, als trügen wir nicht Mordgedanken im Herzen, haben wir die Hälfte ja schon geschafft; denn auch der geheuchelte stimulus bleibt nicht ohne response und auch diese wiederum nicht ohne Antwort, und so arbeitet die Lüge sich sachte zur Aufrichtigkeit und Echtheit durch: unter dem Angriff fremden Lächelns, auch fremdartiger Worte im eigenen Mund, entspannen sich die verkrampften Züge, und manch gestellte Versöhnung stellt sich am Ende als vollzogen heraus. Womöglich ist dies sogar der normale Weg, auf dem das kantische Neue in die Welt kommt, im Gewand des Alten, denn nur auf diese Weise kann es neu werden, sprich: sich abgrenzen. Ach, so geht Lächeln, stellt man leichtsinnig fest, darauf vertrauend, wie im Grunde böse man ist, und schon, sagt der Volksmund, ist man ein bisschen gut.


Lügennetz und Hypothesenbildung

Nicht nur die pauschale Denunziation der Fiktion, auch die feinsinnige Unterscheidung zwischen Lügennetz und Hypothese wird dem Begriff also nicht gerecht, ist das eine vom andern doch nicht zu trennen; ja womöglich handelt es sich bei ersterem bloß um das dynamische Moment, den modus operandi des letzteren. Wer aber an den abstrakten Gegensätzen festhält, macht sich selbst zum Schlachtfeld. Er muss ausbaden, was an der Konstruktion nicht stimmt. Dass er sie betrachten und befragen kann, bedeutet ja nicht, dass er 'draußen' ist. Mit seiner Wahrnehmung und seinem Urteil, kurz allem, was ihm Halt gibt, ist er vielmehr involviert. Hat er es mit dem schwärzesten Zynismus oder mit einem hoffnungsvollen Projekt zu tun, fragt er sich im einen oder andern Fall konsterniert, verliert womöglich das Vertrauen, ohne den Dingen auf den Grund zu gehen, wird lieber selbst zynisch.

Statt den Begriffen eine im Grunde metaphysische, nämlich nur im Wollen oder im Wort existierende Unterscheidung abzuverlangen, sollte er sich lieber auf das Abenteuer einer vorurteilslosen Betrachtung einlassen und sich fragen, was die vielversprechende und die zynische Version der Fiktion jenseits des Scheins, der sie so schwer zu unterscheiden macht, tatsächlich miteinander gemein haben. Die Antwort kann nur lauten: eben diesen Schein natürlich. Dass sie das Nichtexistente handhaben, bringt sie zueinander, ist doch alles, was sie in die gesellschaftliche Debatte einbringen, nicht wirklich beziehungsweise, da auch das Fiktive zur Wirklichkeit gerechnet werden muss, nicht tatsächlich, sondern im einschränkenden oder erweiternden Modus der Fall, eben fiktiv. Womöglich ist diese Übereinstimmung wichtiger als etwa der Unterschied zwischen Gut und Böse, Richtig oder Falsch, der allenfalls ja auf so marginale Differenzen wie die zwischen Wahrheit und Illusion, Irrtum und Täuschung hinausläuft; diese Differenzen existieren bekanntlich nur im Kontext persönlicher Schuld oder wissenschaftlicher Erörterung, im Beichtstuhl oder vor der Akademie, nicht aber im Kontext der Geschichte. Wäre die Fiktion böse, ganz gleich, ob sie das Böse oder das Gute simuliert, und das Tatsächliche aus dem alleinigen Grund gut, weil es wirklich ist? Und wäre der Grund für diese merkwürdige Einteilung der, dass Willkür schlimmer als jede Tatsächlichkeit ist, und zwar nicht, weil man Schrecklicheres ausdenken als verüben kann, sondern weil das Tatsächliche das Ausgedachte nun einmal nicht trägt, und zwar ganz gleich, ob es schlecht oder gut ist? Denn das Fiktive enthält nun einmal andere "Abmessungen"; auf das Tatsächliche zurückprojiziert, zerstört es das primäre oder pragmatische Gleichgewicht von Wille und Faktum, Sache und Bedeutung. Mit Gewalt, durch lügnerische Ausreden und verschlimmbessernde Taten, ein ganzes invasives System der Rationalisierung und Wiedergutmachung wird dieser Bezug fortan im schwankenden Lot gehalten beziehungsweise das Ganze immer stärker auf die Seite der Fiktion gezerrt, sodass niemand dafür die Verantwortung übernehmen, es mit den eigenen Begriffen durchschauen und für seine immanente Vernunft einstehen kann.


II.

Von hier bis zu den Menschenrechten ist es nur ein Schritt. Ihr Status ist kompliziert, aber das schärft nur die Probleme, so wie nun einmal das Recht die Probleme des Begriffs schärft; denn der Rechtsbegriff tut all das absichtsvoll und explizit, was der gewöhnliche Begriff nur automatisch oder unfreiwillig tut: er setzt und schafft eine parallele Welt, indem die rechtliche Betrachtung als eine eigene Betrachtungsart sich auf eine Existenz sui generis bezieht. Man muss sich daher fragen: Gibt es die Menschenrechte überhaupt in der unmittelbaren Weise, in der die Menschen sich selbst wahrnehmen, als ihr Recht, oder gibt es sie nur in abstrakter Form, als Rechtstatsache nämlich, in einer unmittelbaren Zugehörigkeit also zum Recht? Als solche hätten sie mit den Menschen wenig und tendenziell - je mehr ihnen nämlich zum Recht verholfen wird - sogar immer weniger zu tun, wären von ihnen im Einzelfall lediglich einklagbar, nicht nur räumlich und zeitlich von ihnen so getrennt, wie, als im Wortsinn letzte Instanz, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg vom russischen Gefängnis oder der Internationale Strafgerichtshof im Haag von den Schauplätzen postkolonialer Verbrechen, sondern der Form wie der Sache nach ungewiss. Weiß man schließlich, ob und wann man sein Recht und darüber hinaus was man mit ihm bekommt?


Auge um Auge

Schmerzensgeld etwa, die moderne und zugleich so archaische Form der Versöhnung, findet am beschädigten Menschen kein Maß. Es stellt ihn nicht wieder her. Allenfalls, indem der Anspruch nämlich anerkannt und durchgesetzt wird, bedeutet es eine Wiederherstellung des mit Füßen getretenen Rechtsguts, nicht des womöglich mit Füßen getretenen Menschen. So dicht dran am einzelnen, wie es seinem ganzen Ausdruck nach scheint, ist es, auf ihn bezogen, doch willkürlich und fremd. Als konkreter Ausdruck eines Abstraktums ist es dagegen zugleich abstrus und original. Wo käme einerseits das Menschenrecht auf körperliche Unversehrtheit, Nicht-gefoltert-Werden zu sinnfälligem, nicht bloß deklamatorischem Ausdruck wenn nicht in der Summe, die dem Misshandelten von einem internationalen Gerichtshof zugebilligt wird; etwa in dem tristen Leben, das jemand im Zustand landläufiger Beschädigung führt, im Dschungel von Vorschriften, in den "Händen" von Apparaturen, in der tagtäglichen Furcht vor Ausgrenzung, Verelendung, je nachdem, wie sein seelisches Korsett ist, auch vor seinen eigenen Wahnideen, die ihn ungestraft und ungehindert foltern dürfen? Ja, wenn man den Täter misshandeln dürfte! Doch das wäre ein Ausgleich am Menschen, nicht am Rechtsgut, folglich wäre es unrechtlich und unzivilisiert, dafür sinnfällig und, da ja ein Mensch so gut wie ein anderer, der Täter also ein Repräsentant des Opfers, sein wahres Abbild ist, "gerecht".

Dass der Ausgleich andererseits nicht nur original, sondern zugleich unvermeidlich fiktiv, ja abstrus ist, liegt an der Willkür eines jeglichen Äquivalents in Bezug ebensowohl auf das Recht wie auf den Menschen. Hier fängt sich das Rechtssubjekt in seiner eigenen Falle: Die quantifizierbare Wiedergutmachung beleidigt das abstrakte, "höhere" Wesen des Rechts nicht weniger als den konkreten Menschen, der sich für etwas Höheres hält. Auf der Höhe des abstrakten Rechts wäre allein die einfache Feststellung des verübten Unrechts, so wie die Bitte um Verzeihung auf der Höhe des konkreten Menschen wäre, wäre der nicht eingebettet in ein alles andere als menschliches System. Das Opfer, das sich keineswegs als Rechtsperson, sondern als Rechtszweck begreift, sähe sich mit Worten für Schaden abgespeist.

Auch die Verhältnisse stärken keineswegs eine höhere Sicht auf die Dinge. Die Wahrheit wiegt auch im abstrakten gesellschaftlichen Verkehr nicht genug, als dass man auf ihre Feststellung allzuviel geben könnte, sie ändert den Lauf der Dinge nicht; kann es auch nicht. Diese Kalamität brachte die grässlichste aller neueren politischen Errungenschaften, ein geradezu manisches Beharren auf Entschuldigung für nicht im persönlichen Umgang begangenes Unrecht, hervor. Auch das schöne Wort von der Verantwortung, die man übernimmt, meint das Gegenteil, von dem, was es sagt: die Übernahme findet in den Wolken statt. Nur die Befreiung der Menschenrechte aus ihrer Eigentlichkeit, aus dem Gefängnis der Fiktion, im Grunde also die Befreiung der Menschen aus dem Gefängnis ihrer Rechte, ihre ausdrückliche Neuinstallation als Rechtlose, könnte den Widerspruch auflösen.


III.

Ein Großteil der engagierten Menschenrechts-Interventionen findet auf "realistischem" Fundament, aber im idealistischen Rechtsmilieu statt. Konsequent endet der Aufschwung in Aporien, einem ambivalenten Dauerzustand quälender Ohnmacht und Wut. Zunehmend wird daher der Versuch unternommen, die Menschenrechte, anstatt sie an das vermeintliche Naturrecht zu binden, einer streng historischen Betrachtung zu unterziehen, das heißt, sie ohne jegliche Transzendenz zu erklären, haben sie sich als Ausdruck eines vermeintlichen Soseins doch nachhaltig diskreditiert. Wo aber im pragmatischen Zusammenhang etwa mit den Bewegungen im Nahen Osten der "harte Kern" der Menschenrechte beschworen wird, muss der fiktive Charakter der Menschenrechte in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt, kurz, der Spaß am humanistischen Anliegen gründlich verdorben werden. Wie gezeigt, stellen die Menschenrechte nicht nur eine Parallelwelt dar, sie unterbrechen vielmehr den naturwüchsigen Gang der Dinge und bringen beängstigend unklare Mischgebilde aus Idealen und Fakten, rechte Zombies, hervor. Wenn etwa die Strafverfolgung von Verbrechen gegen die Menschheit durch einen x-beliebigen Staat übernommen wird, der notgedrungen selbst ein höchst ungeklärtes Verhältnis zu den Menschenrechten hat, ist Willkür - das meint die Gewalt, die die Normen ausüben, wenn sie als Tatsachen agieren -, die notwendige Folge.


Sozialisierung mit Verfolgungspotential

Das ist speziell dann der Fall, wenn eine Tat oder Untat, um die ihr eigene Willkür zu bekämpfen, aus dem Kontext der Umstände, in dem sie vergolten oder vergessen würde, heraus- und in den zeitlosen Kontext hypostasierter bürgerlicher Rechtsprechung hineingenommen wird, in dem sie zugleich hochdramatisch verhandelt und bloß symbolisch bestraft wird. Innovationen wie das Internet, auch der gesamte Komplex der Anwendbarkeit der DNA zur zeitüberhobenen Identifizierung von Tätern, haben dazu entscheidend beigetragen, sie materialisieren das ursprüngliche Ideal. Was Gustav Regler in seiner Autobiographie "Das Ohr des Malchus" gewissermaßen als eine Technik des Stalinismus entdeckt - "Unsere Zeit hat die neue Justiz erfunden, die zeitlich bedingte Dokumente zu lebenslänglich gültigen Corpora delicti macht und sie verwendet, wann immer es ihr gefällt" (Das Ohr des Malchus, Köln 1958, S. 446) -, das hat heute die Dimension einer zugespitzten Verfolgungstechnik verloren, die einer Sozialisierungstechnik mit Verfolgungspotential dagegen gewonnen.

Um ein harmloses Beispiel zu wählen: Erschlichene Doktortitel sind nur einerseits, als erschlichene eben, fiktiv, in ihrem treuherzigen Glauben an die fiktive Welt der Titel andererseits von einem geradezu rührenden Realismus (jenem höheren philosophischen, der an die Realität des Fiktiven glaubt). Die Sanktionsdrohung aber, die neuerdings über erschlichenen Doktortiteln schwebt, zehrt ebenso vom stalinistischen Prinzip, die Existenz des einzelnen als Rechtsbeweis gegen ihn zu verwenden, wie die massenmediale Anweisung, die eine moderne Kandidatur für was auch immer begleitet: Nehmt euch mal seine Titel, seine sexuellen Vorlieben, seine Hobbys vor ... Dass das stalinistische Verfahren Taten zu Untaten umwertet - ein Zeitgenosse Reglers hatte "im März 1939 den Alliierten vom September 1939 beleidigt", indem er behauptete, dass "England für dreißig Silberlinge die spanische Republik verkauft habe" (a.a.O.), und war dafür verhaftet worden -, die heutige "investigative" Form der Aufklärung dagegen, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Verbrechen, im genauen Gegenteil die schuldhaft versäumte Verfolgung nachholen will, ist vor der Identität der Verfahren und Konsequenzen eine formale Lappalie. Von der Zielbestimmung einer Gesellschaft, die mit sich einig ist, ist das eine wie das andere Lichtjahre entfernt.

Raute

Dead Men Working

Fiktion gegen Fiktion

von Maria Wölflingseder

Erstaunlich, wie unterschiedlich sich Fiktionen in den verschiedenen Sphären unseres Daseins auswirken. Im Reich der Kunst und der Sinnlichkeit, auch in der ganz alltäglichen Lebenskunst und Lebenslust sind Fiktionen das Um und Auf. Was wäre das Leben, wenn wir uns nichts vorstellen könnten? Was wären wir ohne Träume, Phantasie und Poesie? In diesem Reich ist die Fiktion zu Hause, hier gehört sie her. Und das soll auch so bleiben. Hingegen im herrschenden Reich des Wirtschaftens beschert uns die Fiktion einen wahren Alptraum.

Die Mechanismen, die zu diesem Alptraum führen, werden in den Streifzügen vielfach beleuchtet. Die Auswirkungen sind eklatante gesellschaftliche Widersprüche, die nicht wie in der Kunst zauberhaft aufgehoben werden können. Trotzdem wird die Illusion geschürt - sie ist Teil dieser Fiktion -, das multidimensionale, multimediale Spektakel der Perversionen geschehe zu unserem Besten. Im Reich der Kunst und der Sinnlichkeit wirkt Fiktion befreiend. Sie hat unendlich viele Facetten, die von allen entworfen werden dürfen. Im ökonomischen Reich indes wird uns allen eine einzige aufgeherrscht - ganz subtil, möglichst unbemerkt. Und wir machen uns notgedrungen, aber erstaunlich freudestrahlend untertänigst zu Sklaven dieser tödlichen Logik, dieser tödlichen Fiktion, die einem Dogma gleichkommt. Sie wird zwar selten benannt und erkannt, aber sie wirkt umso unausweichlicher. Tagein, tagaus sind wir mit purem Nonsens beschäftigt, um den Irrationalismus, um die verkehrte Welt am Leben und am Laufen zu halten.

Zum Beispiel: Warum gibt es einerseits ein Überangebot an warenförmigen, denaturierten Nahrungsmitteln, während andererseits ein großer Teil der Menschheit hungert und verhungert? Oder warum zerstören wir weltweit unsere ökologischen Ressourcen? Warum vermüllen wir unseren Planeten mit Warenschrott der giftigsten Sorte? Nur weil auf diese Art mehr Geld gemacht werden kann? Dass alle lebensnotwendigen Güter zum ersten Mal in der Geschichte ohne großen Aufwand und ökologisch verträglich und langlebig hergestellt werden könnten, ist keine Fiktion. Die Her- und Bereitstellung der materiellen, sozialen und gesundheitlichen Voraussetzungen eines guten Lebens für alle kann aber nur Wirklichkeit werden, wenn wir mit dem Wirtschaftssystem, dem auf Sand gebauten Luftschloss brechen. So bliebe uns jenseits der Grundversorgungstätigkeiten, die dann sicher auch keine so freudlose Angelegenheit wären, viel Zeit, um uns einander und dem Spiel zu widmen, den Künsten und der Philosophie, dem Gartenbau und der Landschaftspflege, dem Handwerk und der Esskultur, dem Naturschauspiel und dem Reisen.

Das Reich der Kunst wäre keines, wenn Fiktionen aus einem einzigen Dogma abgeleitet würden. Hier ist Vielfältigkeit die condicio sine qua non. Sogar gegen Eindeutigkeiten verwehrt sich hier alles. Oscar Wilde vertrat die Theorie, dass in der Kunst unter Wahrheit dasjenige zu verstehen sei, dessen Gegenteil ebenfalls zutreffe. Meisterhaft verstand er es, paradoxe, mehrdeutige und widersprüchliche Gedanken zu artikulieren. Überdies war Wilde mit einer großartigen menschlichen Begabung ganz besonders ausgestattet: mit Einfühlungsvermögen und Feinfühligkeit. Diese bei Künstlern, Liebenden und Heilenden wirksamen Fähigkeiten sind wesentliche Voraussetzung für ihre Fiktionen, für ihre Vorstellungen, Schöpfungen und Wirkungen. Im Bannkreis der Konkurrenzverhältnisse jedoch können sich diese Fähigkeiten kaum entfalten. Hier sind sie kontraproduktiv. Da gedeihen Vorbehalte, Verdächtigungen, Auf-der-Hut-Sein und das Prinzip des Jeder-gegen-Jeden.

Oscar Wilde, der größte Erzähler seiner Zeit, veränderte je nach Gegenüber ein und dieselbe Geschichte. Er rührte Salons voller Menschen mitten im geschäftigen Paris zu Tränen. Schmerzgeplagte wurden gesund. Sterbende wollten oft nur noch ihn sehen und hören. Besonders gekonnt setzte Wilde ironische Effekte mit seiner Stimme, indem er Komisches in getragenem, feierlichem Ton erzählte, Phantastisches dagegen, als ob er von Alltäglichem berichten würde. (Oscar Wilde - Tischgespräche, hg. von Thomas Wright, München 2002)

Während Ironie in der (Lebens-)Kunst Wunderbares vollbringt, würde sie im Reich der Ökonomie sogleich zum Zynismus mutieren. Und während Fakten im Reich der poetischen Fiktion ein willkommener Spielball sind, wird im Reich des Faktischen der Mensch zum Spielgeld der Fiktion.

In der Kunst ist Fiktion Wirklichkeit und Wahrheit oder sogar "mehr als Wahrheit, nämlich Dichtung" - wie es am Ende des Films Goethe! heißt. Im Reich der Ökonomie hingegen wird jedes Lügenmärchen millionenfach blutige Realität.

"Bei der Fiktion handelt es sich um eine bedeutende Kulturtechnik, die in weiten Teilen der Kunst zum Einsatz kommt." (Wikipedia) - Wenn sich aber die Sphäre der materiellen und sozialen Lebensvoraussetzungen in eine "eigene Welt" verwandelt, zieht sie sich selbst den Boden unter den Füßen weg. Da wird diese "bedeutende Kulturtechnik" zu einer Kultur- und Naturvernichtungstechnik.

Auch die Rollen der "Akteure" könnten entgegengesetzter nicht sein. Hier alle Gestaltungsfreiheit, alle Phantasie, alle Macht. Dort kein Entrinnen. Das Skript lautet für alle gleich: Produzieren und Konsumieren bis zum Umfallen und die aufgetischten Märchen für bare Münze nehmen.

Vieles deutet darauf hin, dass das Erzählen, das Erfinden von Geschichten ein anthropologisches Merkmal ist. Die Seemänner taten es, während sie mit ihrem Garn hantierten. Später wurde das Erzählen und Flunkern selbst nach dieser Tätigkeit benannt. Die Bäuerinnen taten es beim Spinnen und Weben. Nicht zufällig leiten sich die Wörter "Text" und "Textil" vom Lateinischen textum - Gewebe, Zusammenfügung - her. Die Rollen von Erzähler und Zuhörer können stets wechseln. Alle können ihrer Phantasie freien Lauf lassen. Alle können alle Kunstwerke genießen und sich von ihnen wiederum inspirieren lassen. Das Reich der rationalen Irrationalität dagegen hat keinen guten Boden für ein fruchtbares Miteinander.

Schließlich: Während aus künstlerischem Schaffen und aus dem Genuss von Kunst auf vielfältige Weise Selbstbestätigung des Menschen erwächst, ist in der Sphäre der Wertverwertung Selbstverleugnung das Nützlichste. Damit kommt man hier noch am ehesten heil davon.

Raute

Anästhesie des Daseins

Alphabetisches Puzzle zu einem eiligen Medium*

Streifzüge 52/2011

von Franz Schandl

"Ja, was tue ich denn da eigentlich? Ja, was tut man mir denn da eigentlich?"
(Günther Anders, Antiquiertheit I, München 1956, S. 101)


Kann ich fernsehen? Welch Frage! - Nun, die Situation ist offensichtlich: das Gerät läuft und ich sitze davor und schaue. Aber ist es ein Können? Vermag dieses Ich etwas? Ist es aktiv? Oder bloß reaktiv? Gibt es in diesen Momenten ein Ich? Ist nicht das Ich ausgeschaltet, wenn das Gerät eingeschaltet ist? Indes, auch wenn das Ich abgeschaltet ist, ist da noch immer etwas da, das der Beflimmerung affektiv und - auch wenn das als Widerspruch erscheint - beiläufig wie intensiv verbunden bleibt.


Aufzeichnung

Nehmen wir eine banale Geschichte. Im Winter 1998, ich schrieb gerade den Aufmacher für die Wiener Volksstimme (Besoffene Tage nationaler Euphorie, Volksstimme 9, 26. Februar 1998), besuchte ich den Ballhausplatz, um das Spektakel nach Hermann Maiers Rückkehr aus Nagano mitzuerleben. Indes, der Andrang zu dieser Veranstaltung hielt sich in Grenzen, da waren viel weniger zugegen, als das anschließende Abendprogramm des ORF suggerierte.

Aber zweifellos, da war keine Sequenz gelogen, doch die präparierte Konsequenz vermittelte eine große Lüge, die Lüge vom vollen Platz. Denn genau der war im Fernsehen zu sehen und wäre ich nicht direkt vor Ort gewesen, hätte ich die televisionäre Inszenierung keine Sekunde hinterfragt. Nicht, weil ich zu dumm zum Fragen bin, sondern weil mir in diesem Augenblick eine solche Fragestellung gar nicht geschossen wäre. Das Interesse an Maier war geringer als die Übertragung suggerierte. Diese trug dem Ereignis in ganz bestimmter Weise Rechnung. Sie rechnete es hoch. Doch wie das wissen?

Im Fernsehen wird jede Darstellung zur Vorstellung. Realität wird fiktiv aufgeladen wie reduziert. Wirklichkeit und Fiktion geraten nicht nur aneinander, sondern durcheinander, und sie werden von den Zuschauern kaum auseinander gehalten werden können. Ob etwas "echt" oder "wahr" oder "wirklich" ist, wie soll man das beim Televisionieren wissen? Da es schon sein könnte, wird es schon sein. Wahrscheinlichkeit ist zu einer zentralen Kategorie aufgestiegen. Wir sehen es im Fernsehen und vermögen nicht zu zweifeln. Die Dichte der Meldungen und Nachrichten lässt uns Wahrscheinliches, aber auch Unwahrscheinliches gleich Wahrem erscheinen. Ich hab's gesehen.

Keine Inszenierung wird ihrem Ereignis gerecht. Freilich gilt auch umgekehrt: Kein Ereignis kommt an seine Aufzeichnung heran. In Zeiten, wo als Ereignis nur noch das Event gilt, wird das Ereignis zu einem Produkt seiner Aufzeichnung. Die Welten verkehren sich. Kein Ereignis ohne Aufzeichnung! Ohne Aufzeichnung kein Ereignis! Die Aufzeichnung ist das Ereignis! Schon Günter Anders wusste: "Wenn das Ereignis in seiner Reproduktionsform sozial wichtiger werde als in seiner Originalform, dann muss das Original sich nach seiner Reproduktion richten, das Ereignis also zur bloßen Matrize ihrer Reproduktion werden." (S. 111)

Während jedes originäre Ereignis letztlich singulär, ein mit Handlungen, Geschehnissen, Blicken, Gesten, Düften, Schwingungen, Geräuschen, Ablenkungen, Atmosphären, Helligkeiten, Schattierungen, Nebensächlichkeiten erfülltes Kontinuum ist, ist jede Aufzeichnung unendlich multiplizierbar, ohne jedoch in Ansätzen den sinnlichen Reichtum der Situation wiedergeben zu können. Trotz aller Finessen (Vergrößerung, Verzögerung, Wiederholung, Kameraführung) ist mediale Performance immer aspektuell reduziert. Letztlich eine Kümmerform der Totalität und zwar gerade aufgrund der immensen technischen Möglichkeiten. Liegt die Qualität der Wirklichkeit in ihrer Vielfalt, so die der Fiktion in der Vervielfältigung.


Beeindruckungen

Der Universalismus der bewegten Tonbilder verändert unsere Eindrücke grundlegend, sie sind fortan primär Beeindruckungen, was meint, dass die Ausgangsorte über die Eingangsorte, die Objekte über die Subjekte bestimmen. Der Begriff der Videokratie ist nicht falsch, weil er diesen Vorrang eindeutig benennt. Die Technologie hat sich unser bemächtigt, uns umstellt und gefesselt, vernetzt und formatiert, wir dienen den Apparaten, obwohl das Versprechen doch andersrum in die Welt gekommen ist und dies auch immer noch behauptet wird. Es denkt sich uns, was wir zu denken haben. Wir sind ganz baff.

Das Staccato der Bilder in unseren Köpfen kann so nicht einmal reflektiert werden, weil es gar nicht als solches wahrgenommen wird. Wir nehmen es als Selbstverständlichkeit hin, erkennen keine Besonderheit. Es ist halt so. Warum sollte es nicht so sein? Dafür gibt es kein Register, geschweige denn ein Bewusstsein. Nicht, dass wir aus dem Staunen nicht rauskommen, ist das Problem, wir kommen in das Staunen erst gar nicht rein. Wie heißt es bei Debord: "Dort, wo sich die wirkliche Welt in bloße Bilder verwandelt, werden die bloßen Bilder zu wirklichen Wesen und zu den wirkenden Motivierungen eines hypnotischen Verhaltens." (Guy Debord, Die Gesellschaft des Spektakels, 1967, übers. von Jean-Jacques Raspaud, Berlin 1996, § 18, S. 19)

Die Kiste garantiert jedenfalls Andacht, ohne dass eins selbst dächtig wird. Andacht ergreift vom Objekt her das Subjekt. Dieses braucht sich seinen Gott gar nicht imaginieren, er ist da und legt los. Fernsehen gilt als inverses Beten. Wenn es zu uns kommt, braucht gar niemand mehr in sich zu gehen. Es geht automatisch. Es ist in uns. Man muss nichts leisten, alles wird für einen erledigt. Es meditiert uns.


Blick

Wie sehe ich Bildfolgen? Was dominiert den Blick? Der Blicker oder das Erblickte? Nun, beim Fernsehen, das die Bilder seriell vorgefertigt hat, liegt der Schwerpunkt wohl auf dem Erblickten oder besser noch: geht vom Erblickten aus. Womit nun die "reale Lebenswelt" nicht dahingehend interpretiert oder gar rehabilitiert werden soll, dass hier der Blicker als Souverän bezeichnet werden kann. Aber eines ist er zweifellos: souveräner. Das erlaubt alleine die Gemächlichkeit, die das Medium ja dezidiert ausgeschaltet hat.

Das herkömmliche Sehen ist dezentriert, es schweift durch die Gegend, der Blick fokussiert sein eigenes Bild, im Fernsehen hingegen ist der Blick durch die Mattscheibe bereits fokussiert. Nichts Überflüssiges soll sich meiner behelligen, ich soll konzentriert werden. Bilderfolgen nehmen mich zu sich. Wenn alles filmisch komprimiert ist, kann ich nicht schweifen. Die Sequenzen des Blicks sind vorgegeben, reduziert auf Sekunden und Sekundenbruchteile. Ein Foto kann mehr aufnehmen als ein Auge, aber ein Auge kann mehr sehen.


Fenster

Das Fernsehen ist kein Fenster zur Welt, sondern ein Fenster der Welt ins Zimmer. Ein einseitiges Fenster, eines von außen nach innen. Es kann nicht geöffnet, sondern nur aufgedreht werden. Mit dem Gerät erhalten wir einen ganz spezifischen Anschluss, ja Zugang zur Welt. We're connected. Die Welt kommt rein, aber wir kommen nicht raus. Ich kann mit dem Fernseher lediglich empfangen, aber nicht senden. Passivierung ist sogar oberflächlich, nicht wie am PC bloß hintergründig präsent. Ich erscheine als lediger Konsument.


Glück

Das Glück im Fernsehen hat seine Heimat im Glücksspiel. Millionenshows schauen überall gleich aus. Wenn es etwas zu gewinnen gibt, dann Geld. Unglück ist das Geld, das man nicht hat.


Kanäle

Die Menüpläne sind groß, wenn auch einander sehr ähnlich. Man speist nicht, man wird gefüttert, man trinkt nicht, man wird abgefüllt. Kanäle funktionieren wie Zuleitungen, die geflutet werden. Es sind Einbahnen. Die Behauptung einer Kommunikation oder gar Interaktion ist ein Luftschloss. Der Strom verläuft vom Medium zum Publikum. Meinungsumfragen und Quoten dienen bloß der Überprüfung, ob die Botschaften auch angekommen sind. Heute herrscht andauernd Überflutung. Die Unmenge der Reize ist jenseits unserer Aufnahmefähigkeit. Wir, die wir nicht genug bekommen, kriegen immer zu viel.


Kompromate

Wir leben in einer Welt der Kompromate. Kompromittierende Sendungen oder Mitschnitte gehören schon länger in das Arsenal medialer Intervention. Intimität ist antiquiert, Indiskretion obligat. Gerade das Private ist zu einer öffentlichen Sache geworden. Auch Sexualleben oder Krankheiten sind nicht mehr sakrosankt. Mental baut da viel auf Missgunst und Schadenfreude, die ja nicht unbedingt als Affekte der Emanzipation bekannt sind.


Läufig

Bilder haben im Film laufen gelernt und dann im Tonfilm auch noch sprechen. Auge und Ohr, die beiden Hauptsinnesorgane, werden hier abgefüttert. Television kennt nicht bloß ein dynamisches Element, sie besitzt eine dynamische Struktur. Diese Struktur ist permanent läufig, d.h. sie kann nicht still sitzen. Aufregung ist ihr Stachel, Empörung ihr Elixier. Es muss immer etwas los sein. Sensationieren! Skandalisieren! Eskalieren! Man könnte was versäumen. Die Läufigen haben auf dem Laufenden zu sein.


Magie

"Jede Fernsehbotschaft hat einen fiktiven Charakter. Alle Bilder und Töne erscheinen, als wären sie Symbole. (...) Dadurch wird die ganze Welt, welche das Fernsehen vorstellt - auch wenn es sie angeblich darstellt -, fiktiv. Die Folge ist ambivalent zu werten: Entweder verliert für den Empfänger der Unterschied zwischen Wirklichkeit und Fiktion jede Bedeutung oder er überlässt die Unterscheidung einem anderen. Beides sind Symptome einer perniziösen Entfremdung." (Vilem Flusser, Medienkultur, übers. von Stefan Bollmann, Frankfurt am Main 1997 S. 108-109)

Frei nach Flusser, der puncto Fernsehen von "magischen Spiele(n)" (S. 106) spricht, könnte man den Fernseher als moderne Zauberkiste beschreiben, die einen zentralen Platz in zentralen Räumen erobert hat und eingeschaltet ihren Flimmer verbreitet. Ausstrahlung ist Einstrahlung. Die Empfänger geben sich dem Zauber hin, einem Zauber, der zwar nicht unmittelbar aus ihrer Welt stammt, aber doch von dieser Welt ist.


Manipulation

Das Fernsehen kann zwar als ein großes Instrument der Täuschung verstanden werden, aber nicht in der Weise, dass da auf der einen Seite die Täuscher und auf der anderen Seite die Getäuschten sitzen. Es geht nur in begrenztem Ausmaß um Manipulation. Die "Manipulierten" manipulieren sich selbst durch ihr alltägliches Handeln, das direkt nach Illusionen schreit, um ja den Enttäuschungen zu entkommen. Das Fernsehen ist mehr eine Bestätigungs- als eine Betätigungsmaschine.


Mannigfaltige

"Die Einbildungskraft soll nämlich das Mannigfaltige der Anschauung in ein Bild bringen; vorher muss sie also die Eindrücke in ihrer Tätigkeit aufnehmen, d. i. apprehendieren." (Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, 1781, Werkausgabe, Band III, Frankfurt am Main 1990, S. 176). Das Mannigfaltige ist in der Television aber bereits zusammengefaltet, das Bild ist schon da. Der Grad der Vorfertigung ist so hoch, dass aus dem Apprehendieren ein Apportieren wird. Und das ist weniger eine Frage der inhaltlichen Vorgaben (das wohl auch), als vielmehr eine Folge der formalen Konstruktion der Television selbst. Die Form bedingt eine stete Reduktion des Objekts und somit auch seiner Anschauungs- und Interpretationsmöglichkeiten. Präsentation und Zurichtung werden methodisch vielfältiger (vergrößern, scannen, verzögern u.v.m.), aber sinnlich ärmer. Nur zwei Sinne werden angesprochen, und auch die beschnitten.

Außerdem lässt das Tempo der Maschine die Scheidung in vorher und nachher immer weniger zu; es wird simultan. Ein Erkennen, das mehr ist als ein Erfassen, gibt es aber immer nur als Mittelbares, nicht als Unmittelbares, es kann nicht mit dem Gegenstand der Erkenntnis zusammenfallen resp. sich direkt aus ihm ergeben. Es braucht Distanz, doch die ist beim Fernsehen nicht gegeben.

Die Frequenzen des Senders und die des Empfängers sind nicht synchron. Aber wenn sich jemand synchronisieren soll, dann immer der Empfänger. Er ist gefordert. Unsere Empathie ist dem Fernschauen nur partiell gewachsen, von unserer Sensibilität ganz zu schweigen. Wir stumpfen ab. Wir sehen nicht nur fern, wir fühlen uns auch fern.


Müll

Wir werden zugemüllt. Selten verfügen wir über Instrumente oder Sensoren der Mülltrennung. Denn wir sind zu. "Daher darf man den ganzen Müll, den man täglich hört und liest, auf keinen Fall abspeichern", schlägt Karli Sackbauer alias Klaus Rott im VOR-Magazin vor. Das wäre einfach. Denkste, wir verfügen über keine Knöpfe und auch über keine Säcke, die den Abfall ausschalten oder wegsperren könnten. Wir entscheiden nicht, was gemerkt und vergessen werden soll. "Bei einem Ohr rein, beim anderen wieder raus", funktioniert so nicht. Stets bleibt was hängen, mögen wir uns darüber Rechenschaft ablegen oder nicht. Der Zugriff ist nicht unserer, aber er hat uns fest im Griff. Wenn ich etwas nicht wissen will, heißt das nicht, dass ich es nicht weiß. Wir sind ein Resonanzkörper, unsere Schwingungen sind nicht unsere Schwingungen, aber doch schwingen wir. Fernsehen ist Schunkeln auf der Halde - der Müllhalde.


Müßiggang

Nach den anstrengenden Stunden sich vor die Kiste zu platzieren und berieseln zu lassen, das hat was. Diese Mühelosigkeit des Konsums ist geradezu komplementär: Wird der Tag schon nicht der Schöpfung gerecht, so der Abend der Erschöpfung. Das Matte und das Müde sind gute Voraussetzungen, auf denen das Fernsehen prächtig gedeihen kann. Es rundet sie ab, lässt den Tag beschaulich ausklingen. Das Fernsehen vermittelt eine falsche, aber reale Utopie der Entspannung. Man braucht sich nur fallen zu lassen. Man braucht nicht einmal mehr hingehen.

Fernsehen präsentiert sich als Bequemlichkeit par excellence. Man sitzt oder liegt und schaut. Selbst in die Schlafzimmer der Erwachsenen halten die Apparate Einzug und beschränken die Möglichkeiten der Bettgenossen beträchtlich. Genuss kommt fortan aus der Glotze. Je mehr action, desto weniger activity. Man kann sich hingeben, ohne dass es einen hernimmt, es läuft einfach ab, ohne dass wir etwas tun. In David Byrnes Film "True stories" (1986) liegt eine Frau ("Miss Rollings") schon jahrelang im Bett, lässt sich füttern und gurrt in die Glotze. "Ich glotz TV", sang einige Jahre zuvor Nina Hagen auf ihrem sehr gelungenen Debütalbum:
"Ich kann mich gar nicht entscheiden, is alles so schön bunt hier (...) TV is ne Droge! (...) TV macht süchtich!!!"


Nachricht

Jede Nachricht richtet uns nach. Wonach?, hätte also die notwendige, stets präzise wie präsente Frage zu sein.


Passivieren

In den Momenten, wo der Fernseher läuft, ist man irgendwie weggetreten, die reale Umgebung verliert gegen die fiktive Welt. In der Zeit, in der man fernschaut, lebt man nicht, man wird belebt, beschallt, beschirmt. Die Organe funktio-nieren zwar, aber nur noch passiv, man ist auf Look by geschaltet, im Wachkoma. Der Modus hat sich geändert. Fernschauen, das ist die Anästhesie des Daseins. Aber die haben wir nötig, bitter nötig. Man stelle sich vor, die Geräte werden abgeschaltet. Unaushaltbar wäre das. Es ist schlichtweg nicht falsch, wenn viele Menschen meinen, dass sie sich vor dem Fernseher entspannen. Nur wovon und wohin? Fernsehen ist eine unmittelbare Erleichterung, die zu keiner Veränderung führt.

Fernsehen kommt in die Nähe der reinen Passivität, wir müssen nichts tun, lediglich zusehen und zuhören - also nicht einmal wirklich sehen und hören! -, was da geboten wird. Aktivität scheint auf Null zu sinken. Reaktivität scheint ohne Zutun möglich. Wir liegen am Sofa und dämmern, während es flimmert. Im Fernsehen geht der Blick aber nicht auf, er geht unter. Die Sicht ist verstellt durch die ablaufenden Bilder. Wir kriegen nichts mehr richtig mit.

Phantasievorgabe hat Phantasie ersetzt. Ich brauche sie nicht zu entwickeln, sie ist als serielle Vorgabe vorhanden. Der Kasten spuckt sie mir ins Zimmer. Die Lust am Spiel ist vom Spielfilm eingefangen und wird durch ihn "befriedigt". Das Aktiv wechselt ins Passiv. Wir spielen nicht selbst, uns wird mitgespielt. Die Trennung der Zuschauer von der Aktivität ist konstitutiv. Wir bestimmen wenig, wir werden vielmehr bestimmt. Der Dienst besteht nicht nur darin, dass wir die Geräte kaufen und bei Zeiten erneuern müssen, wir sind auch ihrem Rhythmus, ihrer Lebensdauer und ihren Lebensverfügungen unterworfen. In doppeltem Wortsinne sind wir die Bedienten. Programmierung fällt nicht unter die Autonomie der Subjekte, sondern unter die Dominanz der Objekte. Fernsehen ist keine Tätigkeits-, sondern eine Leideform. Je mehr geliefert wird, desto mehr sind wir ausgeliefert.

Der Fernseher ist so etwas wie eine televisionäre Massenillustrierte, der niemand entkommt. Wer sich heute entschließt, keinen Fernseher haben zu wollen bzw. diesen aus dem Leben gänzlich zu verbannen, der beschließt auch, die anderen nicht mehr verstehen zu wollen. Nicht Kritik ist das, sondern Ignoranz. Man will gar nicht wissen, was die Leute zurichtet. Dies sind intellektuelle Dünkel.


Pausenlos

Die Freiheit, dass da zu irgendeiner Zeit keine Television läuft, die haben wir nicht. Wir sind programmiert. Fernsehen lässt sich im bürgerlichen Alltag kaum als bewusste Aktivität gestalten und einteilen. Auch kritische Zeitgenossen fallen immer wieder darauf rein. Sie möchten etwas Ausgewähltes sehen, und sehen sich dann alles Unmögliche an. Ähnlich wie im Supermarkt beim Einkaufen oder im Internet beim Surfen.

Fernsehen erfolgt nicht gezielt, sondern ziellos. Permanent läuft die Glotze, auch wenn gar niemand schaut, ja selbst wenn Besuch zugegen ist. Sie läuft einfach. Es gibt kaum noch fernsehfreie Zeiten und Räume. Interessant wären empirische Untersuchungen der Fernsehdichte in einem Haushalt. Wie viele Stunden? Wie viele Geräte? Vor allem auch die Standorte. Denn es ist schon noch ein Unterschied, ob der Apparat bloß im Wohnzimmer steht, oder auch im Kinderzimmer lagert oder gar schon im Schlafzimmer einen Stützpunkt errichtet hat. Die Geräte herrschen durch ihre Allgegenwart. Inzwischen ist das Medium pausenlos geworden. Das Fernsehen hat immer offen. Keine Bundeshymne und kein Testbild verkünden mehr Ende oder Unterbrechung des Programms.


Phantom

Da ist etwas, das nicht da ist, trotzdem da.


Quote

"Ich glaube nicht, dass man im Fernsehen viel sagen kann", sagt Pierre Bourdieu (Über das Fernsehen, übers. von Achim Russer, Frankfurt am Main 1998 S. 15). Das mag stimmen, doch es geht auch gar nicht darum, etwas zu sagen, sondern vor allem sich zu zeigen und wahrgenommen zu werden. Peter Weibel hat darauf hingewiesen: "Aber im Zeitalter der visuellen Massenmedien ereignet sich diese Dialektik nicht zwischen Subjekten auf der Ebene des Bewusstseins, sondern auf der Ebene des Blicks. Im Televisions-Zeitalter sind Herr und Knecht nicht Subjekte, sondern Objekte, die gesehen oder nicht gesehen werden. Die Dialektik entfaltet sich zwischen dem, was gezeigt und gesehen wird, und dem, was nicht gezeigt und verhüllt wird." (Gamma und Amplitude: Medien- und kunsttheoretische Schriften, Berlin 2004, S. 142)

Was nicht erscheint, ist nicht. "Das Fernsehen entscheidet zunehmend darüber, wer und was sozial und politisch existiert", schreibt Bourdieu (S. 28). Gewichtig wird etwas, wenn es durch die televisonären Leitmedien rüberkommt, den Weg durch die Kanäle findet und auf den Schirmen erscheint. Unsere Wahrnehmung ist auf das mediale Vorkommen konditioniert.

"Alle Programme sind im Grunde Werbung", meint Vilem Flusser (S. 109). Zweifellos, jede Sendung funktioniert wie Reklame. D.h. als unentwegte Anmache und Aufdringlichkeit, um ja Aufmerksamkeit zu erhalten und Quote zu erzielen. Denn die Quote ist es wiederum, die die Werbeaufträge lukriert. Sie ist das zentrale kommerzielle Kriterium der Konkurrenz. Zur Werbung gehört nicht nur die Täuschung, sondern ebenso die Selbsttäuschung, d.h. das Getäuscht-Werden-Wollen. Das bürgerliche Subjekt ist süchtig darauf, dass ihm vorgegaukelt wird, was es sich vorgaukelt. Das Fernsehen liefert genau das.


Realität

Das Bewusstsein der Fiktion kann beim Zuschauen nicht unmittelbar sein. Es ist nicht da, wenn man es braucht. Der Fernseher ist ein Gerät der Affirmation, ob man will oder nicht. Einmal eingeschaltet, schaltet er. "Massenmedien suchen und erzeugen den Konsens. (...) In ihrer Funktion sind die Medien redundant, sie bestärken das Bestehende." (Peter Weibel, S. 143) Das Fernsehen steht für eine große Synthesenmaschine, die stets behauptet, was zu sein sich behauptet. "Das Fernsehen überflutet die Realität. Die Realität wird zu kleinen Inseln im Ozean des Realen. Die Realität sind nur kleine Versatzstücke für die TV-Wirklichkeit, das Reale. Das Verhältnis dreht sich um. Nicht das Reale, das Fernsehen wird von der Realität umgeben, sondern das Reale, das TV umgibt, umschließt die Wirklichkeit." (ebenda, S. 160-161)


Schauen

Bezeichnend ist, dass sich die Fehlbezeichnung Fernsehen durchgesetzt hat und nicht Fernschauen. Zumeist ist man nämlich Schauer, nicht Seher. Schauen und Sehen sind nicht das Gleiche, ersteres meint die passive Aufnahme bewegter Tonbilder. Zweiteres bedeutet mehr, und zwar ein reflektiertes Wahrnehmen, ein Optimieren des Optischen, das immer skeptisch gegenüber dem schnellen Blick ist. Sehen ist langsam. Indes, wir können es uns nicht einfach aussuchen, ob wir bloß schauen möchten oder sehen wollen. Bezüglich der gesellschaftlichen Geschwindigkeiten herrscht Ohnmacht.


Scoopen

Auch der Zwang erster zu sein, ist omnipräsent. Indes, je früher etwas kommt, desto schneller muss es hergestellt sein. Sorgfalt und Prüfung verlieren aufgrund der strukturellen Zwänge jede Bedeutung. Idealtypisch hat die Fernsehnachricht schon vor dem Ereignis fertig zu sein. Und dieses soll sich dann gefälligst danach richten. Das heißt freilich auch, dass jedes reelle Geschehen formell wie inhaltlich möglichst auf seine optimale Reproduktion hin standardisiert wird. "Die Tagesereignisse müssen ihren Kopien zuvorkommend nachkommen." (Anders, Antiquiertheit I, S. 190)


Soaps

Interessant ist, dass Menschen die Probleme etwa in Soaps so besprechen und vor allem auch so fühlen, als ginge es um eine eigene Angelegenheit. Betroffenheit ist sodann eine Frage des medialen Make- Ups. Empfindungen sind schaltbar. Ob Cindy Gregg bekommt oder nicht, ob sie ihn haben soll oder doch lieber Frank, was die Mütter dazu sagen und die beste Freundin, darüber ereifern sich wahrlich die Gemüter, ohne dass ihnen die Verrücktheit überhaupt noch auffällt. Und wenn dann noch die Royals läufig werden, dann adeln unzählige Konsumenten sich in die geistige Nichtigkeit. Es schlägt die Stunde der Fans.


Spektakel

Um die Zuschauer im jeweiligen Kanal zu halten, ist eine ordentliche Portion Aufregung nötig. "Das Auswahlprinzip ist die Suche nach dem Sensationellen, dem Spektakulären. Das Fernsehen verlangt nach Dramatisierung..." (Bordieu, S. 25) Da muss was los sein. Schaltungen und Schnitte kommen plötzlich, abrupt beenden sie eine Sequenz, sie kennen wenig Aufbau und noch weniger kennen sie einen Ausklang, bloß einen Abgang. Sie kommen so rasch wie sie gehen. Es geht nichts zu Ende, schon steht man vor einem Aus. Fernschauen ist Pop. "To pop" heißt ja bekanntlich platzen. Immer platzt was rein. Es ist wie beim Populismus: Dort platzt immer wer was raus. Diese Verwandtschaft von Fernsehen, Populismus und Popkultur ist frappant, aber kennzeichnend für den medialen Stream. Hits und Charts nicht zu vergessen.


Talkshows

Egal ob da Politiker, Fachleute oder einfache Menschen diskutieren, mehr als mentale Darmspiegelungen hat das "bedeutungslose Geschwätz der Talkshows" (Bourdieu, S. 131) kaum zu bieten. Politischer Journalismus etwa interessiert sich mehr für Montage und Demontage von Politikern als irgendwelche Inhalte. Bei den Konfrontationen der Politiker gleicht das Studio einer Arena, wo Konkurrenten zum Hauen und Stechen verpflichtet werden und das auch bereitwillig tun. Dazwischen johlen Fans in Studios und an den Apparaten. Es sind Augenblicke der Akklamation. Es herrscht Kampf. Das Wort "wortgewaltig" sagt alles: Worte sollen als Gewalttäter zuschlagen können, Schlagworte sein, Schläge austeilen.


Tempo

Beim Fernschauen kann eins das Tempo nicht wählen, ist ausgeliefert, hat keine Eingriffsmöglichkeiten. Man sieht, was man zu sehen hat in der Geschwindigkeit, die vorgegeben ist. Dieses In-die-Ferne-Schauen ist jedoch kein In-die-Weite-blicken. Der Raum, der sich öffnet, ist eine enge Kammer, ein Kanal, aus dem es strömt. Der Vorgang ist einer der Formatierung.

Analyse ist fad. Und tatsächlich, sie braucht die lange Weile, sperrt sich gegen die kurze Sequenz, doch nur diese steht zur Verfügung. "Die Entfaltung denkenden Denkens ist unaufhebbar an Zeit gebunden." (Bourdieu, S. 40) Das Denken löst sich unter solchen Bedingungen in Gemeinplätzen und Phrasen auf, verkürzt sich auf Präsentieren und Registrieren. Reflexion braucht Zeit, Zeit, die sämtliche Beteiligte nicht haben. Stets leben sie aufgrund ihrer Terminisierung in bedrängten Fristen. Das Fernsehen ist wie das Huschen der Zeit in einem eilig verlaufenden Leben. Unsere Lebenszeit ist einer sich beschleunigenden Invasion unterworfen, die Disposition über sie wird immer geringer statt größer. Das Fernsehen ist eine zentrale Institution dieses Zeitraubs.

Die Beschleunigung der Bilder korrespondiert mit der Beschleunigung des Lebens. Charakteristisch ist das Verschwinden der Betulichkeit. Die Geschwindigkeit der optischen Abläufe, ja Überfälle ist atemberaubend. Man kommt nicht mit, aber man wird mitgenommen. Das Tempo, in dem der optische Eindruck über uns kommt, lässt uns immer nur reflexartig und nie reflektiert auf das Tonbild reagieren. Wir können uns gar nicht darauf einstellen, weil wir von einer Beeindruckung zur nächsten gerissen werden. Die Rasanz ist jenseits unserer kognitiven Kapazitäten.


Traumfabrik

Der Begriff von der Traumfabrik ist so falsch nicht. Tatsächlich vermittelt die Filmindustrie einen "traumlosen Traum" (Theodor W. Adorno, Prolog zum Fernsehen, 1953, Gesammelte Schriften 10.2, S. 507). Dieser Traum ist ganz von dieser Welt. "Eher werden die Menschen ans Unvermeidliche fixiert als verändert. Vermutlich macht das Fernsehen sie nochmals zu dem, was sie ohnehin sind, nur noch mehr so, als sie es ohnehin sind." (S. 508) "Bis heute realisieren die Utopien sich bloß, um den Menschen die Utopie auszutreiben und um sie aufs Bestehende und aufs Verhängnis desto gründlicher zu vereidigen." (S. 516)

Doch die Traumfabrik hat zugebaut. Sie funktioniert inzwischen auf doppelte Weise, als Illusionsmaschine und als Desillusionsmaschine. Simulierte das Fernsehen in seiner ersten Periode eine heile Welt, wo die Guten stets siegen und die Bösen unterliegen (gleich dem Märchen), so kommt inzwischen das Unheil selbst zu Ehren. Aufzeigbar wäre das auch durch die Relativierung und Eliminierung des Happy Ends (nicht bloß in Spielfilmen), sondern noch dezidierter in den Endlosschleifen. Episoden bestimmen hier eine Story, die am besten niemals enden soll. Man macht sich weniger vor als früher. Die unheile Welt wird nicht mehr bloß umnebelt, sie wird durchaus als solche akzeptiert. Seht, so ist es eben. Die Zumutung ist einem zumutbar. So ist aus der Traumfabrik auch eine Alptraumfabrik geworden, und niemanden stört's. "Das Spektakel ist der schlechte Traum der gefesselten, modernen Gesellschaft, der schließlich nur ihren Wunsch zu schlafen ausdrückt. Das Spektakel ist der Wächter des Schlafes", schreibt Guy Debord, im § 22 (S. 21).


Unterhaltung

Unterhaltung ist das Surrogat für Lust und Vergnügen, für Glück und Zufriedenheit. Was sollen wir mehr wollen? Jene prägt die Massenmenschen in all ihren Regungen, nicht nur den kommerziellen. Das Fernsehen ist eine der Hauptstützen dieser Entwicklung, neben dem Auto eines der zentralen Geräte unserer Zeit.


Zappen

Der Zuseher ist via Schaltung ein Vorbeischauer (noch deutlicher ist dieser Umstand im Internet ausgebildet), es ist ein Flitzen und Peepen. Zappen ist freilich ein Aktivismus, der nichts aktiviert, ein verächtliches Treiben, verbunden mit der Hoffnung, doch irgendwo hängen zu bleiben und in sich ruhen zu können. Indes, man darf nicht ruhen, spätestens der nächste Werbeblock lässt einen weiterschalten. Das Zappen erinnert an Verzweifelnde, die nicht mehr wissen, wie ihnen geschieht und was sie nun tun sollen. So zucken sie ziellos durch die Programme, entscheidungslos und unentschieden, aber unter dem steten Druck, sich entscheiden zu müssen, weil sie grenzenlose Freiheiten haben, sich entscheiden zu können. Unendliche Weiten der Belanglosigkeit tun sich auf. Die Konsumenten erfüllen ihre Pflicht, sie sind hemmungslos wie ratlos, vor allem aber hilflos. Immer mehr gilt: Fernsehen macht nervös. Zappen ist wie Zappeln, verdeutlicht Unruhe. Diese ist wohl auch ein Ausdruck dessen, dass sich so gar nichts mehr tut, aber unbedingt etwas geschehen sollte...


(*) Vergleiche zum Thema auch meine exemplarischen Programmkritiken an den Sendern MTV, Nick und ARD

Raute

2000 Zeichen abwärts

In Echt ist keine Frau dick

In Wahrheit sei es doch so, sagt Franz, dass nichts real sei. Da könne man in der Fiktion doch ruhig ein bisschen schwindeln. "Wirklich?", frage ich. Ja schon, denn im Virtuellen sei das Echte fiktional, sagt Franz. Der Weise wisse, dass ein authentisches Leben in Realität eine Vielzahl an Narrationen sei. "Herrjeh, du bist mir irgendwie keine Hilfe", seufze ich und trinke aus.

Wir schweigen lang genug, um das Thema wechseln zu können. "Ich muss weniger Bier trinken, ich gerate aus den Fugen", sage ich, meinen Bauch in Händen. Da sei ich wahrhaftig der nächsten verschleiernden Erzählung auf den Leim gegangen, ich litte in Echt unter Dysmorphophobie. "Soso, aha", brumme ich. Das sei die wahnhafte Überzeugung, körperlich defekt und ästhetisch deviant zu sein, sagt Franz. Realistisch betrachtet oktroyiere die kapitalistische Verwertungslogik den Damen, sie seien zu feist - und zwar alle. "Ich bin erleichtert, dass ich objektiv betrachtet tipptopp aussehe", antworte ich und mache mir den Knopf der letzten Hose auf, die mir noch passt.

In der Zwischenzeit haben zwei neue Biere unseren Tisch und unsere Schlünde erreicht. Von außen gesehen sei es ein Akt des Widerstandes gegen das Schweinesystem, sich zu berauschen, sagt Franz nach einer Pause. "Das habe ich irgendwo schon einmal gehört", meine ich. Nein, in Wahrheit seien wir ja schon so gleichgeschaltet, dass wir untertags willenlose Rädchen in der großen Maschine seien und abends unsere Rest-Resistenz durch televisionäre Konsumation kulturimperialistischer fiktionaler Machwerke im Keim erstickt würde. "Ja eh", ächze ich, denn Franz kommt beim dritten Bier stets auf diese Ansicht.

Was ich denn jetzt wirklich für die Streifzüge schreiben wolle, sagt Franz schließlich." Keine Ahnung, ich denk' mir irgendwas aus", sage ich und Franz sagt: "Echt?"

D.M.

Raute

Fiction live

Das Traummännlein

Wirklich anwesend bin ich selten. Ich mag zwar physisch da sein, aber ich bin nicht in meiner Physis. Nicht einmal in meiner Noesis verwirkliche ich mich. Dem Eindruck, mir passiere mein Leben, kann ich mich nicht entziehen. Die Tage, Wochen und Monate gehen dahin ohne bewusste Erinnerung an sie. Es gibt weniges, das sinnvollerweise memoriert werden müsste. Das, was aber im Gedächtnis bleiben sollte, hat auf Grund des Lern-Drucks der Berufswelt keinen Platz mehr.

Mein Denken und Handeln ist größtenteils durch die Anforderungen der sozialen Umwelt bestimmt. Meine Erkenntnis ist auf Sachverhalte gerichtet, die mich ohne den stummen Zwang der Verhältnisse bestimmt nicht beschäftigen würden. Mein Handeln erledigt Probleme, die ich ohne den stummen Zwang der Verhältnisse gar nicht haben würde. Ich arbeite.

Die meisten Menschen verfolgen ihr Arbeitsleben wie ein bürgerliches Trauerspiel als mitfühlende Zuschauer. Sie passen sich in die Arbeit ein und spielen den vorgegebenen Part. Sie sehen sich zu, ohne sich jenseits der Regieanweisungen zu gestalten. Sie begreifen nicht einmal, dass sie in einem großen Trauerspiel Rollen übernommen haben, sie geben sich der Fiktion hin, dieses Stück sei ihr wahres Leben.

Der freie Wille mag in einer philosophischen Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit von menschlichem Handeln eine wesentliche Rolle spielen, bei einer sozio-psychologischen Analyse der gebräuchlichen Begründungsmuster wird in unserer Gesellschaft große Homogenität zu finden sein. Eine im Freiheitsbegriff mitschwingende Diversität ist nicht zu finden. Die Darsteller sind gleich in Bezug auf das Denken, Handeln und Begründen, wenn es um die großen Fragen der Darstellung - Arbeit, Geld, Politik, Markt, Konkurrenz, Freiheit, Eigentum - geht.

Durch das Studium der Kritik vermochte ich mich zeitweise theoretisch aus der Rolle befreien und nahm das Stück ins Visier, dessen Regisseur und Autor ein fiktiver Prozess ist, der Denken und Handeln strukturiert. Dieser Prozess entsteht durch den Glauben an den ökonomischen Wert von Dingen und Handlungen. Die ökonomische Eigenschaft projizieren wir in Dinge und Handlungen hinein, weil es alle so machen. Ein gigantischer Begründungszirkel, der Münchhausen vor Neid erblassen lässt.

Was stelle ich nun in diesem bürgerlichen Theater dar? Ein ordentliches Mitglied einer demokratisch verfassten Gesellschaft mit Verwaltungsapparat und in freier Marktwirtschaft organisierten Unternehmen. Ich handle stets rational-technisch, begründe Entscheidungen ökonomisch und vertreibe meine Freizeit mit politischen Visionen. Wir alle spielen diese gleiche Rolle. Die Dialoge sind schlecht und platt, die Handlungen repetitiv und anstrengend.

Diese Fügung ins Fiktive bleibt nicht ohne Wirkung, es ist mir zu viel der Anpassung. Mir bleibt kaum Zeit, die Differenz zur Maske aufrechtzuerhalten. Diese freie Zeit wird zusehends ein unerreichbarer Wunsch, nur mehr ein Fluchtpunkt am Horizont, an den ich mich klammere um das Arbeitsleben durchzustehen. Voll im fiktiven Diesseits zu sein, ist ein Trauerspiel.

Gerne träume ich von meiner Verwirklichung, ich träume von mir im Kommunismus, in dem ich mich gemeinsam mit anderen ausprobieren und entfalten kann. In diesen Fantasien bin ich wirklich, da spüre ich mich, mein Begehren, im wachen Zustand, den ich in der durch die Fiktion strukturierten sozialen Wirklichkeit verbringe, bin ich nur scheinbar anwesend.

Ich will nicht mehr träumen müssen, um wirklich ich sein zu können.

Martin Scheuringer


*


Spieler

Zugegeben, das Nachdenken über Fiktion hat mich verwirrt. Je länger ich darüber sinne, umso verwaschener der Kontrast zur Realität. Worin liegt der Unterschied? Wenn Realität das ist, woran geglaubt wird, dann kann Fiktion nur das sein, woran (noch) nicht geglaubt wird. Die Realität ist also potentiell fiktiv, die geglaubte Fiktion real. Erst Täuschung und Enttäuschung lassen das eine als das andere erscheinen.

Was weiter wäre darüber zu sagen? Nun, meine persönliche metaphysische Grundannahme ist, dass Leben spielerischer Natur sei: Die prinzipielle Unmöglichkeit, Fiktion und Realität auseinanderhalten zu können, bietet nämlich auch die Möglichkeit, die beiden nicht auseinanderhalten zu müssen. Es ist der Anspruch an den Spieler, auch sein Privileg, sich mit angemessener Ernsthaftigkeit seinem Spiel zu widmen, darüber aber in keinem Augenblick den an sich unernsten Charakter des Spiels zu vergessen. Der Reiz des Spiels liegt eben darin, sich der Fiktion seiner gewählten Rolle hinzugeben und sie ebenso jederzeit ablegen zu können. Ohne Identifikation mit der Rolle bleibt das Spiel blutleer und leidenschaftslos. Doch völlig ohne Bewusstsein über die angenommene Gegebenheit des Spielcharakters wird es bitter ernst. Beides verunmöglicht jene spielerische Leichtigkeit, die das Wesen alles Lebendigen ist.

So ist das Spiel die Realisierung der Fiktion und genauso die Fiktionalisierung der Realität. In dieser Paradoxie dürfte meine anfängliche Verwirrung ihren Ursprung und nun gleichzeitig auch ein Ende haben.

"All the world's a stage
And all the men and women merely players"

(Shakespeare's As You Like It)

Severin Heilmann


*


Schönheit

Er "war keineswegs unempfindlich für Schönheit; er empfand sie im Gegenteil so tief, dass der Gegensatz dieser Welt der Schönheit zu jener, in der er lebte, und zu der Arbeit, die er selbst zu leisten hatte, ihn schmerzlich traf, sooft er sich seiner bewusst wurde." (G. Ellert, Das blaue Pferd, S.33) Ich war ganze vierzehn Jahre alt, als ich das las. Es gibt in meinem Leben immer wieder einmal ein "Das kommt mir nicht aus dem Sinn". Es mag jahrelang verschütt gehen, aber es kommt wieder. Weil es mich eben trifft.

Die Erkenntnis, dass ich jenes Gefühl teile, dass mein Leben weit hinter dem zurückbleibt, ja dem widerspricht, was ich als Schönheit erahne, hat sich in mein Gedächtnis eingefurcht. Was ich so durchlebe, übersteigt von Zeit zu Zeit sowieso das, was ich eigentlich aushalte, aber das ist vermutlich recht weit verbreitet, auch wenn eins das oft nicht wahrhaben will und sich das Unerträgliche schönredet. Mag sein, dass ich wehleidig bin, aber zu wenig bescheiden für die herrschenden Verhältnisse bin ich immer geblieben.

Gottseidank kommt und bleibt da immer auch Schönes, sonst würd ich ja schlapp machen. Aber von dem Ganzen, Umgreifenden, "Schönheit", von dem ich irgendwie weiß, ist das, bin ich, sind wir schmerzlich weit weg. Von dieser Schönheit Worte zu machen, bleibt weit hinter dem zurück, was es in mir ist, ein Traum, eine Art verrückte Erinnerung an eine Zukunft, die ich suche. In der unser freies, chaotisches Leben nicht an den Messlatten der Herrschaft gestutzt, gestreckt, verstümmelt und bewertet wird, sondern in freier Entfaltung schöne Gestalt annimmt. (Eine miese Übersetzung!)

Ich hasse mich nicht, aber ich glaube andererseits nicht, dass ich bei allem Unsinn, den ich schon verzapft habe, von mir je wie ein Fan von seinem Star gedacht und gesprochen habe. (Heute wird das angeblich für jedes Bewerbungsgespräch trainiert.) Und an mein gutes Leben zu glauben, so nach der Masche, dass ich noch immer viel besser drauf und dran bin als die Loser rundum, auch das habe ich nie allzu lang durchgehalten. Solchen doch recht erbärmlichen Illusionen ist immer meine "Fiktion" von Schönheit in die Quere gekommen.

Die sinnlichste Bedeutung von lateinisch fictio ist die "künstliche Gestaltung durch streichelnde Berührung". Davon ist nur die Vorstellung im heutigen Wort geblieben, aber im Falle der Schönheit auch das Begehren nach ihr, von der ich, von der wir nicht auf ewig getrennt sein sollen.

Da schlägt sie durch, die judäochristliche Ketzersehnsucht nach dem Millennium der Befreiung, das den ewigen Kreislauf des Elends der Weltgeschichte brechen und der Utopie Platz schaffen soll. Die antreibt zu den rabenschwarzen Gedanken der Kritik und ihr zugleich den bunten Horizont ihrer Bewegung setzt - und dem Leben die Aussicht öffnet auf Schönheit. Die ihm zusteht.

Lorenz Glatz


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Stellungen

Anstellungen und Verstellungen
"Wenn auch nur ein Mensch sein Leben voll und ganz ausleben würde, wenn es ihm gelänge, seinen Gefühlen Form zu geben, seinen Gedanken Ausdruck zu verleihen und seine Träume zu verwirklichen - die Welt bekäme einen neuen Antrieb zur Freude." (Oscar Wilde)

Ja, wenn unsere Vorstellungen vom Leben wirklich wären und wir uns nicht permanent verstellen müssten! - Wählen können wir nur zwischen zwei Extremen: Entweder wir rotieren im Hamsterrad, genannt Job, und sind finanziell gut oder zumindest halbwegs abgesichert. Oder wir wagen uns mehr oder weniger zu verwirklichen und werden ständig von Existenznöten geplagt. Heute wird vielen diese Entscheidungsmöglichkeit auch noch genommen: Sie sind gezwungen, unter verschärften Bedingungen zu überleben.

Im Projekt WÜST mit Lohnarbeitslosen, für das ich ein Jahr lang angestellt war, herrschte die einhellige Erkenntnis: Joblosen darf es gar nicht gut gehen. Sogenannte Arbeitslose sind überdies alles andere als untätig: Jobsuche und Kurse, das Betreuen von Kindern oder Alten, geringfügige Jobs, die gelegentliche Streichung des Bezugs halten auf Trab. Vielleicht bleibt zwischendurch auch einmal Zeit und Muße für persönliche Vorlieben und um gesünder zu leben: Sich mehr zu bewegen, in Ruhe zu kochen und zu essen. Aber trotz der finanziellen Notlage und dem Zwang zur ständigen Verfügbarkeit wird ihnen ihre Lage geneidet. Gesellschaftliche Erniedrigung folgt auf dem Fuß - trotz offensichtlicher "Schuldlosigkeit" der "Verdächtigten". Ebenfalls einhellig stellten alle fest: Ums Geld kann es wohl nicht gehen. Für die Summe, die Unterstützung plus Kosten der Verwaltung und "Kasernierung" von Joblosen ausmacht, wären die "Überflüssigen" gerne sinnvoll tätig. Aber dann würde für die "bessere Hälfte" die abschreckende Wirkung wegfallen. Die "Leistungsträger" sollen sich doch gut und richtig fühlen dürfen, wenn sie schon nicht auskönnen aus dem Hades.


Vorstellungen und Darstellungen
"Nichts ist ernst zu nehmen außer der Leidenschaft. Der Intellekt ist keine ernst zu nehmende Sache und war es auch nie. Er ist ein Instrument, auf dem man spielt."

"Ich habe keine Lust, mich meinen Gefühlen zu unterwerfen. Ich möchte sie auskosten, sie genießen und über sie bestimmen." (Oscar Wilde)

Manchmal wundere ich mich über mich selbst. Mein Drang zu Kreativität und Eigenständigkeit war offenbar stets stärker als der Unterwerfungszwang. Im Zuge meiner Arbeit beim Projekt WÜST ist mir wieder einmal klar geworden, wofür ich mich glücklich schätzen darf: Mitnichten bin ich geknickt, psychisch und gesundheitlich beschädigt wie viele andere durch jahrelange Joblosigkeit. Obwohl auch ich oft unter Getriebenheit bei gleichzeitiger Lähmung litt. Meine Fülle an Selbstverwirklichungen ist dennoch groß. Meine Erkenntnisse, meine interessanten, hauptsächlich selbst gewählten Tätigkeiten, all die Menschen, mit denen ich Schönes, Intensives, Inniges erlebe, und erst recht all die Kunstgenüsse. "Du gibst dich hin...!", erkannte ein Gegenüber sogleich, als wir neulich über meine Herzensangelegenheiten inklusive das Wasser sprachen - die "sinnlichste Substanz der Welt" (Huhki Henri Quelcum). Und eine Osteopathin, sie ist nicht die erste, die aus dem Häuschen war über meine außergewöhnliche Beweglichkeit, Leichtigkeit und Durchlässigkeit und über mein "Nur-so-Sprühen-vor-Kreativität". Diese erkannte sie, ohne etwas über mich zu wissen, an bestimmten körperlichen Merkmalen. Da staunte ich nicht schlecht und fühlte mich in meinen nächsten Vorhaben bestätigt. Im Reich der Kunst sind die Leidenschaften doch viel besser aufgehoben. Das Intellektuelle hingegen ist ein Instrument, um sich im Reich der Notwendigkeiten zu behaupten. Schule, Studium, Arbeit, die gesellschaftlichen Verhältnisse reizten mich stets zu Analyse und Kritik. Zu nicht viel anderem taugen sie.

Mit steigendem Alter werden nicht nur meine Ziele klarer, sondern das Erkennen meiner selbst wird zunehmend sonnenklarer. Ein interessantes Gefühl. Wie hieß der Titel eines Programms von Marie-Thérèse Escribano: "Umso älter desto ich". Ja, mit 50+ ändert sich das Leben, aber ich habe noch nichts Nachteiliges bemerkt.

Maria Wöflingseder

Raute

Die Leidenschaft hat die Vernunft, die dem Verstand fehlt

von Peter Pott

Das gibt es nicht! Sagt sich Adorno - und begnügt sich mit dem falschen. "Das beste Verhalten das Privatleben führen, solange die Gesellschaftsordnung und die eigenen Bedürfnisse es nicht anders dulden, aber es nicht so belasten, als wäre es noch gesellschaftlich substantiell und individuell angemessen." (Minima, 40ff) Adorno weiß, dass seine Lösung "eine Ideologie für die (ist), welche mit schlechtem Gewissen das Ihre behalten wollen". Aber was soll man machen? "Kein Einzelner vermag etwas dagegen."


Richtiges Leben im falschen?

Dagegen "meint man (Peter Pott in den Streifzügen Nr. 47) einwenden zu können", empört sich Robert Kurz: "'Zwei, drei, vier Menschen, die im Gespräch, im Tanz oder weiß wo sich als Fahrzeug zu schöner bewegtem Sein erfahren haben ..., vermögen durchaus etwas dagegen' (Pott, a.a.O.). Ausgerechnet die Aussage von Marx und Engels, der Kommunismus sei kein utopisches Projekt, sondern die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt, wird ihrer gesamtgesellschaftlichen Dimension entkleidet und gegen Adornos Verdikt gewendet. ... Die Potenzen der Vergesellschaftung werden nicht emanzipatorisch gewendet, sondern ignorant im Schein der Unmittelbarkeit ertränkt. ... Die 'wirkliche Bewegung' kann nur eine gesamtgesellschaftliche und transnationale sein, die sich aus der Immanenz der kapitalistischen 'Widerspruchsbearbeitung' heraus an den sozialen Fronten der Krisenverwaltung entwickelt bis zur realen Eingriffsmacht; nur darüber ist eine transzendierende Potenz gegen das unteilbare Ganze der herrschenden gesellschaftlichen Synthesis zu gewinnen." (Robert Kurz: Seelenverkäufer, http//exit-online.org.)

Die wirkliche Bewegung kann sich zu einer gesamtgesellschaftlichen ausweiten - und muss sich dazu ausweiten, wenn sie den jetzigen Zustand gesamtgesellschaftlich aufheben will. Dass die "'wirkliche Bewegung' ... nur eine gesamtgesellschaftliche und transnationale sein" kann, stellt die Bewegung auf den Kopf Die wirkliche Bewegung ist eine konkrete und keine allgemeine: die unmittelbare, leibhaftige und einzigartige Bewegung eines konkreten Individuums, "das wirkliche, sinnliche Gegenstände zum Gegenstand seines Wesens, seiner Lebensäußerung hat" (MEW 40, 578), die unmittelbar gesellschaftlich ist, wie Marx an anderer Stelle betont (MEW 40, 538). Sie muss dazu nicht erst noch erzogen werden. Nur daran erinnert werden. Das wird sie auch daran erinnern, dass das gesellschaftliche Leben wohl zu zweit und nur zu zweit beginnen, sich aber nicht auf zwei oder ein paar mehr Menschen beschränken kann.

"Die Menschen sogleich in ihrer Vielzahl zu betrachten, umgeht das, was die Beziehung zum anderen als Menschen bedeutet", erinnert Luce Irigaray (110). Kurz' Verdikt, die "wirkliche Bewegung kann nur eine gesamtgesellschaftliche und transnationale sein, die sich aus der Immanenz der kapitalistischen Widerspruchsbearbeitung heraus an den sozialen Fronten der Krisenverwaltung entwickelt bis zur realen Eingriffsmacht", ist geradezu ein Angriff gegen das gesellschaftliche Wesen des Menschen. Sie fixiert "die Gesellschaft wieder als Abstraktion dem Individuum gegenüber" (MEW 40, 538).


Die Vernunft hat immer existiert (Marx)

Richtiges Leben - "die Vernunft", Marx sagt - "hat immer existiert, nur nicht immer in der vernünftigen Form" (MEW 1, 345). Das heißt, dass es kein menschliches Leben gibt, das sich mit dem Gegebenen, das doch nie das richtige ist, klaglos zufrieden gibt. Was immer ihm widerfährt, erfährt es als ein Leiden, das es aufheben will. "Sinnlich sein ist leidend sein. Der Mensch als ein gegenständliches sinnliches Wesen ist daher ein leidendes und, weil sein Leiden empfindendes Wesen, ein leidenschaftliches Wesen. Die Leidenschaft, die Passion ist die nach seinem Gegenstand energisch strebende Wesenskraft des Menschen." (MEW 40, 579)

Die Leidenschaft hat die Vernunft, die der Verstand nicht hat: die Vernunft, die dem Menschen die Mittel vermittelt, die er zum Leben braucht, sich aber nicht wie ein Tier einfach schnappen kann. Weder sind "die menschlichen Gegenstände die Naturgegenstände, wie sie sich unmittelbar bieten, noch ist der menschliche Sinn, wie er unmittelbar ist, gegenständlich ist, menschliche Sinnlichkeit, menschliche Gegenständlichkeit" (ebd.). Deswegen ist "der menschliche Sinn, wie er unmittelbar ist", doch nicht ohne Vernunft. Sie hat, wie gesagt, "immer existiert, nur nicht immer in der vernünftigen Form. Der Kritiker kann also an jede Form des theoretischen und praktischen Bewusstseins anknüpfen und aus den eigenen Formen der existierenden Wirklichkeit die wahre Wirklichkeit als ihr Sollen und ihren Endzweck entwickeln." (MEW 1, 343) Ähnlich denkt auch Goethe, der es denn auch für eine "höchst wunderliche Forderung" hält, Erfahrungen "ohne irgendein theoretisches Band" darzustellen und es dem Verstand zu überlassen, sie theoretisch einzuordnen.

"Jedes Ansehen", heißt es im Vorwort zur Farbenlehre, "geht über in ein Betrachten, jedes Betrachten in ein Sinnen, jedes Sinnen in ein Verknüpfen, und so kann man sagen, dass wir schon bei jedem aufmerksamen Blick in die Welt theoretisieren. Dieses aber mit Bewusstsein, mit Selbsterkenntnis, mit Freiheit ... zu tun und vorzunehmen, eine solche Gewandtheit ist nötig, wenn die Abstraktion, vor der wir uns fürchten, unschädlich und das Erfahrungsresultat, das wir hoffen, recht lebendig und nützlich werden soll."


Revolutionäre Intelligenz

Wenn es die "Aufgabe der revolutionären Intelligenz" ist, nicht nur "die intellektuelle Vorherrschaft der Bourgeoisie zu stürzen", sondern auch "den Kontakt mit den proletarischen Massen zu gewinnen", dann hat sie vor diesem Teil ihrer Aufgabe, wie Benjamin ihr zu Recht vorwirft, "fast völlig versagt" (II.1, 309). Gegen dieses Versagen spricht nicht, dass sie, sich der ihr fehlenden Nähe zu den Massen bewusst, nach Dichtern, Musikern, Malern und anderen Künstlern rief, die ihre theoretischen Erwägungen versinnbildlichten. Statt "den Künstler bürgerlicher Abkunft zum Meister der 'Proletarischen Kunst' zu machen" (ebd.) und ihn damit für eine Sache zu instrumentalisieren, die ihn seines künstlerischen Genies beraubt, ist ihm nahezulegen, im "Kontakt mit den proletarischen Massen" einen Zustand mitzudenken, "der", wie Adorno sich ausdrückt, "das Schicksal der blinden Vereinzelung tilgt, in dem endlich das Gesamtsubjekt gesellschaftlich sich verwirklicht" (Noten, 126).

Der mitgedachte Zustand, "der das Schicksal der blinden Vereinzelung tilgt", ist der Masse nicht fremd. "Auch das Kollektivum ist leibhaft." (Benjamin II.1, 310) Auch sie hat ihren Witz, ist von Bildern bewegt, "wo die Nähe sich selbst aus den Augen sieht, ... die Welt allseitiger und integraler Aktualität" sich auftut (ebd., 309). Es ist die "Aufgabe der revolutionären Intelligenz", sich mit Witz des Witzes der Masse anzunehmen, die Masse mit den ihr eigenen Bildern, die gegen "das Schicksal der blinden Vereinzelung" revoltieren, zu konfrontieren, damit sie diese Bilder als das begreift, was sie in ihrer ganzen politischen und sachlichen Wirklichkeit sind: Produkte einer gesellschaftlichen Produktion, für die Massen von Individuen ihr eigensinniges Leben gelassen haben, die einen Anspruch darauf haben, dass es aufgegriffen und entsprechend produktiv bestätigt wird.

Man "betrügt", so Benjamin, "nicht ungestraft den Leib um seine Macht, mit den Geschicken sich auf seinem eigenen Grund zu messen und zu siegen" (IV.1, 142). Der betrogene Leib wehrt sich. "Vorzeichen, Ahnungen, Signale gehen ja Tag und Nacht durch unseren Organismus wie Wellenstöße." Sie erinnern uns an die Fragwürdigkeit unserer Identität. Daran, dass wir Natur in Natur sind, wie fertig wir sie auch gemacht haben: dass wir in Lebenszusammenhängen stecken, die uns wahrnehmen, wie wir sie wahrnehmen, auch wenn unsere "Schulweisheit" davon nichts wissen will. Sie erinnern uns unseres humanen Anspruches zum Trotz an unseren sinnlichen Kürper und dessen mit Lust und Leid empfundenen Austausch mit anderen menschlichen und nicht-menschlichen Körpern: an angenehme und unangenehme vergangene und gegenwärtige Erfahrungen; an ein geheimes Kräftespiel der Natur, dessen Geheimnis kein Begriff zu fassen vermag, so fortgeschritten das Begreifen auch sein mag. Sie verweisen auf eine "erste Komplizenschaft mit der Welt", die uns erst die Möglichkeit gibt, "von ihr und in ihr zu sprechen, sie zu bezeichnen und zu benennen, sie zu beurteilen und schließlich in der Form der Wahrheit zu erkennen" (Foucault, 33). Die Zeichen sind, wenn sie keinen Zweifel aufkommen lassen, Zeichen der Verzweiflung: Schreie der noch "lebendigen Arbeit", die in toter eingemauert ist. Es sei denn, sie wird als Ruf vernommen, der eine Antwort erwartet.

"Es hindert uns also nichts", schreibt Marx an Arnold Ruge, "unsere Kritik ... an wirkliche Kämpfe anzuknüpfen und uns mit ihnen zu identifizieren. ... Wir entwickeln der Welt aus den Prinzipien der Welt neue Prinzipien. Wir sagen ihr nicht: Laß ab von deinen Kämpfen, sie sind dummes Zeug; wir wollen dir die wahre Parole des Kampfes zuschrein. Wir zeigen ihr nur, warum sie eigentlich kämpft, und das Bewußtsein ist eine Sache, die sie sich aneignen muß, wenn sie auch nicht will. ... Es wird sich dann zeigen, daß die Welt längst den Traum von einer Sache besitzt, von der sie nur das Bewußtsein besitzen muß, um sie wirklich zu besitzen." (MEW 1, 343) Das ist der Traum, dass das Verhältnis des Menschen zum Menschen und sein Verhältnis zur Welt ein menschliches ist, Liebe nur gegen Liebe, Vertrauen nur gegen Vertrauen sich austauschen, Einfluss auf andere Menschen nur hat, wer "ein wirklich anregend und fördernd auf andere Menschen wirkender Mensch" ist (MEW 40, 567). Dieser Traum gründet in der körperlichen Organisation menschlicher Individuen "und ihr dadurch gegebenes Verhältnis zur übrigen Natur", das sich von dem der Pflanzen und Tiere dadurch unterscheidet, dass sie genötigt sind, "ihre Lebensmittel zu produzieren" und so "ihr materielles Leben selbst. ... Was die Individuen also sind, das hängt ab von den materiellen Bedingungen ihrer Produktion" (MEW 3, 20f.), die weder objektiv noch subjektiv "unmittelbar dem menschlichen Wesen adäquat vorhanden" sind (MEW 40, 579).


Die Erfahrung der Aura

Die Menschen kommen nicht mit dein Wissen auf die Welt, wie Mann die Fäuste ballt, eine Truppe bildet, erfolgreich zuschlägt, das Wild zur Strecke bringt, den Acker bestellt, ein Haus zimmert. Sie wollen das im Augenblick auch nicht wissen. Sie wollen wissen, was die Dinge, die es ihnen angetan haben, der Baum, der ihnen in die Augen fiel und wieder fällt, die Vögel, die ihnen zu Ohren kamen und schon wieder kommen, ihnen antun, was sie anderen antun und was zu tun ist, damit sich mit den Dingen leben lässt.

Statt die "seiner Leiblichkeit angehörigen Naturkräfte ... in Bewegung (zu setzen), um sich den Naturstoff in einer für sein eignes Leben brauchbaren Form anzueignen" (MEW 23, 192), sucht der Mensch erst einmal nach "Informationen" von und zu den Gegenständen der Natur, die ihn wissen lassen, was seine Sache ist. Dazu muss er sich auf die Sache, die seine noch nicht ist, geduldig einlassen, bei ihr verweilen, sie beschaulich ins Auge, hingabevoll ins Ohr usw. fassen - in der Erwartung, dass sie ihm etwas sagt. "Wo diese Erwartung erwidert wird", so Walter Benjamin, "da fällt ihm die Erfahrung der Aura in ihrer Fülle zu" (I.2., 646): ein "sonderbares Gespinst aus Raum und Zeit", wie Benjamin erläutert, die "einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag" (440); eine Naturerscheinung, die der menschlichen Ermunterung bedarf, damit sie erscheint. "Die Aura einer Erscheinung erfahren, heißt, sie mit dem Vermögen belehnen, den Blick aufzuschlagen" (646f.) - und mit dem sie Anblickenden eine Beziehung aufzunehmen, die diesem das Geheimnis ihrer - menschlichen - Natur offenbart.

Das sonderbare "Gespinst" ist wie das Gespinst der Spinnerin ein Kunstwerk, das sich im Unterschied zur Kunst der Spinnerin aber nicht zu einem greifbaren Stoff verfestigt. Es ist ein Gebilde, keine Konstruktion, das Gebilde passionierter Sinnestätigkeit, der Augen und Ohren und der anderen Sinnesorgane, von denen Goethe sagt, dass sie "Glieder der Erkenntnis" seien: das Gebilde einer sinnlichen Wahrnehmung der Wirklichkeit also, die offen für die Wahrnehmungen des 'Wahrgenommenen ist - und daran interessiert, in die eigene individuelle Wahrnehmung die 'Wahrnehmung des wahrgenommenen Gegenstandes einfließen zu lassen und so einen Hauch von Wirklichkeit zu atmen, mit dem das Individuum die in ihm "schlummernden Potenzen" als einmalige Vorstellung von und zu den überall schlummernden Potenzen der Wirklichkeit ahnend betätigt.


Ich und Du - und Du und Du

Die Erfahrung der Aura ist auch die Erfahrung der Einsamkeit, von der Octavio Paz sagt, dass sie "der tiefste Grund der Conditio humana" sei: ein Nein zu der Natur, wie sie vorgefunden wird, das auch das Nein zu einer menschlichen Gemeinschaft ist, die dem Menschen auf den Leib geschnitten ist, von dem sein Leben nicht zu trennen ist, für die er nur zu funktionieren hat - und das Ja zu einer Gemeinschaft von Mensch und Natur, die noch im Werden ist; die Erfahrung, dass wir uns trennen müssen "von dem, was wir waren, um uns in das zu verwandeln, was wir in einer unbekannten Zukunft einmal sein werden" (189).

Leben heißt sich trennen! Es heißt, sich aus der düsteren Geborgenheit des Mutterleibes, der "muffigen Interessengemeinschaft der Familie" (Adorno), der bornierten der Dorfgemeinschaft, der gemeinen der Fabrikbelegschaft usw. zu lösen - und in eine Welt einzutreten, die dem Individuum nicht unbedingt feindlich gesinnt ist, doch höchst befremdlich erscheint, die es tief beeindruckt und in eine bedrückende Unruhe versetzt, die nach Erleichterung schreit, solange es danach nicht rufen kann. Der Ruf und schon der Schrei des Säuglings ist ein menschlicher. Er zielt auf ein gesellschaftliches Verhältnis, in dem die Menschen sich das Leben miteinander schwer machen - und nicht schon erleichtert sind, wenn man ihnen mit Sympathie begegnet. Was ihnen Erleichterung verschafft, geht weit über die Bezeugung von Sympathie hinaus, wie Martin Buber bemerkt. "Es kommt auf nichts anderes an, als daß jedem von zwei Menschen der andere als dieser bestimmte Andere widerfährt" (274): dass ihnen eine Beziehung gelingt, in der ihre Seh- und Geschmacks- und sonstigen Erfahrungen im anderen Anstoß erregen und bewirken, dass dieser seine Erfahrungen kritisch dagegensetzt, so dass sich die Erfahrungen des einen Individuums mit denen des anderen so vermitteln, dass beide sehender, geschmackvoller, musikalischer, kurz gesagt, menschlicher werden, wiewohl sie verschieden und damit auch immer einsam bleiben.

"Dies ist das Entscheidende: das Nicht-Objektsein"; dass einer den anderen als anderen gewahr wird, "ihn also nicht als sein Objekt betrachtet und behandelt, sondern als seinen Partner in einem Lebensvorgang" (ebd.), der Liebe heißt - und ein Kraftakt ist: ein Kraftakt von doppelter Kraft, wie Wilhelm von Humboldt die Liebe nennt.

Der "kleine Unterschied" ist entscheidend, wenn die sinnliche Wahrnehmung nicht ins Leere laufen soll. Nicht nur für den unmittelbaren Geschlechtsakt. Er sorgt auch sonst im Leben für Spannung, ohne die es sieh gar nicht entwickeln könnte. Das Verhältnis von Mann und Frau, das "das natürlichste Verhältnis des Menschen zum Menschen" ist (Marx), ist primär nicht eine Sache der Arbeitsteilung, sondern der Lust, die neues, ein anderes Leben will. Sei es ein noch nie gehörtes Musikstück. Oder ein Kind. Was keinen wesentlichen Unterschied macht. Wie Nietzsche meint: "Musikmachen ist auch noch eine Art Kindermachen" (III, 756), das Kindermachen dementsprechend auch eine Art, Musik zu machen, in jedem Fall ein künstlerischer, d.h. gesellschaftlicher und kein bloß natürlicher Akt, der mit seiner Produktion ein Gebilde ins Leben ruft, dessen Einzigartigkeit nur Bestand hat, wenn es in einem gesellschaftlichen Zusammenhang eingebettet ist, der es auch materiell am Leben erhält. Menschenwürdig nur dann, wenn dieses einzigartige Gebilde, sei es ein Kind, ein Musikstück oder sonst ein auratisches Kunstwerk, nicht nur eine mehr oder weniger wichtige Rolle im traditionellen Bett spielt, sondern es auch produziert, so dass der traditionelle Zusammenhang ein Zusammenhang ist, "worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist" (Marx). Wovon bisher nur zu träumen war. Auch immer geträumt wurde. Es kommt darauf an, den Traum im Erwachen aufzugreifen.

Wer die Gelegenheit versäumt, die Liebe nur erlebt und darauf verzichtet, sich das Erlebnis als einen - gesellschaftlich bestimmten und gesellschaftlich zu bestimmenden - Produktionsprozess in den Kopf zu setzen und daran Hand anzulegen, "der mag noch so gedankenvoll sein, er ist weltlos", wie Martin Buber sagt - "und alle Spiele, Künste, Räusche, Enthusiasmen und Mysterien, die sich in ihm begeben, rühren an die Haut der Welt nicht" (96). Schlimmer noch: Die der Liebe eigene Produktivkraft verkommt zur Kraft durch Freude als emotionale Unterfütterung der Aufforderung der Sieger an die Besiegten, ihnen weiterhin zur Seite zu stehen und mit ihnen auch das nächste und übernächste und auch noch das letzte Gefecht durchzustehen.

"Lieben", sagt Adorno, "heißt fähig sein, die Unmittelbarkeit sich nicht verkümmern zu lassen vom allgegenwärtigen Druck der Vermittlung" (Minima, 226). Dazu bedarf es einer Kritik, die die herrschenden Verhältnisse nicht nur verwirft, sondern diese aufhebt, indem sie Verhältnisse stiftet, in denen der Mensch dem Menschen als Menschen ein Bedürfnis ist. Der destruktive Impuls ist mit dem "Impuls der Rettung" (Benjamin I.3, 1242) zu verbinden. "Dem Begriff der klassenlosen Gesellschaft muß sein echtes messianisches Gesicht wiedergegeben werden." (I.3, 1232) Das offenbart sich im Gesicht des Du, das Ich mit einer Liebe liebe, die sich nur gegen Liebe austauscht, so dass der eine den anderen als anderen gewahr wird. Um dieser so gesichteten klassenlosen Gesellschaft auch politisch ansichtig zu werden, ist die Produktivität dieses Lebensvorganges nicht auf die eine exklusive "Ich-Du-Beziehung" zu beschränken, sondern auf andere "Ich-Du-Beziehungen" zu übertragen. Nicht als Botschaft, die per Funk und Fernsehen weltweit ausgestrahlt wird, sondern über die Zuneigung, die Ich und Du zu einem anderen Du entwickeln, um auch mit diesem eine "Ich-Du-Beziehung" einzugehen: "zur Aneignung einer Vertrautheit, die vertrauter ist als die bereits bekannte Welt"; als Bedingung "des Erlebens einer Intimität, die ich noch nicht kenne" (Irigaray, 115), die aber nicht an die Stelle der bereits bekannten tritt, sondern diese produktiv aufhebt, wie umgekehrt das fremde Erlebnis der Intimität in dem bekannten aufzuheben ist.

Die erste Liebe kann nicht die letzte sein. Es muss Raum für eine nächste bleiben, müssen die Individuen sich nicht nur einmal füreinander begeistern, sondern immer wieder neu und anders, muss ihnen die Begeisterung durch das Anderssein des anderen zum Bedürfnis werden, müssen sie sich für ihre Begeisterung begeistern - und aus Treue zu ihr die Ehe brechen, die in ihr gezeugten Produktivkräfte auf ein anderes Du übertragen, um mit dieser Übertragung einen Produktionsprozess auf den Weg zu bringen, der den alten aufhebt und eine Vertrautheit mit der Welt begründet, die größer ist als die bekannte. Wenn auch nicht so groß, dass die der Welt zugrunde liegenden gesellschaftlichen Kräfte insgesamt bekannt sind. Doch groß genug, um die in der "Ich-Du-Beziehung" wirkenden Kräfte als gesellschaftliche Kräfte zu erkennen und zu organisieren, die den Individuen das Vermögen geben, wenn sie es nicht wieder privat beanspruchen, dass sie ihre gesellschaftliche Zuständigkeit für die herrschenden Zustände ihres Alltags nicht nur proklamieren müssen, sondern in der Produktion von Gütern zu ihrem eigenen Gebrauch auch praktisch begründen können. Das befreit sie natürlich nicht aus der Abhängigkeit von der kapitalistischen Massenproduktion, relativiert sie aber - und das um so mehr, je mehr Menschen sie finden, die ihnen ihre begründete Vertrautheit mit der Welt nicht neiden, sondern das Bedürfnis verspüren, daran zu wachsen, und die willig sind, ihre als Arbeitskraft entfremdete Produktivkraft dem kapitalistischen Verwertungsprozess nach Maßgabe des Möglichen zu entziehen und so einen gesellschaftlichen Produktionsprozess auf den Weg zu bringen, der die kapitalistische Massenproduktion Schritt für Schritt überflüssig macht.


Gesellschaftlicher Fortschritt mit technischen Rückschritten

Wie die ganze Bewegung der Geschichte, so ist auch die Bewegung vom Kapitalismus zum Kommunismus ein "wirklicher Zeugungsakt - der Geburtsakt seines empirischen Daseins" (MEW 40, 536), der die Vergesellschaftung der Produktionsmittel nicht zur Voraussetzung hat, sondern bewirkt. Mit Gewalt ist da nichts Vernünftiges zu machen. Sie mag zur Verstaatlichung der Produktionsmittel führen, doch nicht zu ihrer Vergesellschaftung: zum Sozialismus, doch nicht zum Kommunismus - und für den Sozialismus gilt, den realen nicht weniger als den nationalen: die Masse hat zu arbeiten, wie sie es im Kapitalismus gelernt hat.

Wie der nationale Sozialismus, so läuft auch der reale Sozialismus "folgerecht auf eine Ästhetisierung des politischen Lebens hinaus", wie Benjamin die Machenschaften kennzeichnet, mit denen sich die instrumentalisierten und verkrüppelten Individuen den Verlust der gesellschaftlichen Art ihrer kreativen Macht auch noch schönreden. So schön, dass sie "ihre eigene Vernichtung als ästhetischen Genuß ersten Ranges" erleben können. "Der Kommunismus antwortet ihm mit der Politisierung der Kunst." (Benjamin I.2, 506ff.) Was Einfühlung verlangt.

Auf Einfühlung setzt auch die Ästhetisierung des politischen Lebens: Einfühlung in den Künstler, der sich auf dein Markt durchgesetzt oder sonstwie die Gunst der Herrschenden errungen hat; Einfühlung in den Sieger, die allemal den Herrschenden zugutekommt, die die Schöpfungen der Künstler als ihre Kultur werten, die für die Herrlichkeit der ihnen zu verdankenden gesellschaftlichen Verhältnisse spricht.

Die Einfühlung, die der Politisierung der Kunst dient, ist dagegen Einfühlung in den Produktionsprozess der Kunst, der sich nicht allein der Genialität einzelner Künstler verdankt, denen das Kunstwerk als ihr Werk zugeschrieben wird, "sondern auch der namenlosen Fron ihrer Zeitgenossen" (Benjamin I.3, 1241), unter denen es mit Gewissheit viele geniale Künstler gegeben hat, die namenlos blieben, in jedem Fall Künstler in Massen, die singen, tanzen, malen, Kinder zur Welt bringen konnten und so mit ihrer Kunst neues Leben schufen, das namenlos bleiben musste, damit einige wenige Künstler sich damit einen Namen machen konnten. "Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein" (ebd.): der Missachtung und des Missbrauchs der produktiven Kräfte der Masse der Menschen, die so ihrer Menschlichkeit beraubt, in die Barbarei verstoßen wurden und werden.

Die fällige Kritik dieser Barbarei kann sich, wie gesagt, nicht in der Kritik der herrschenden Verhältnisse erschöpfen, sondern bedarf auch und wesentlich der Stiftung von Verhältnissen, die retten, was noch zu retten ist: eine klassenlose Gesellschaft, die bedenkt, dass das, "was die herrschende Gesellschaft transzendiert, nicht nur die von dieser entwickelte Potentialität (ist), sondern ebensowohl das, was nicht recht in die historischen Bewegungsgesetze hineinpaßte" (Minima, 199f.). Oder, wie es bei Benjamin heißt: "Wir müssen zu einem Begriff von Geschichte kommen, nach dem der Ausnahmezustand, in dem wir leben, die Regel darstellt. Dann", so Benjamin weiter, "wird als unsere geschichtliche Aufgabe die Herbeiführung des Ausnahmezustandes uns vor Augen stehen; und dadurch wird sich unsere Position im Kampf gegen den Faschismus sehr verbessern" (1246).

Der "Ausnahmezustand", den Benjamin vor Augen hat, ist kein Zustand der Not, in dem es ums nackte Überleben geht, vielmehr ein Fest, auf dem ausgelassen gesungen und getanzt und sonstwie das Leben festlich genossen, doch nichts und niemand gefeiert wird; ein "Lustzustand, den man Rausch nennt" (Nietzsche III, 755) und in dem das alte Leben sich mit doppelter Kraft ein neues Leben produziert, das sich, wie Rudolf zur Lippe schreibt, "in der Ausbildung von realen Potentialen" objektiviert, die "die reale Möglichkeit qualitativ neuer Prozesse" bilden (58).

Der "Ausnahmezustand, in dem wir leben", und zwar richtig leben, das gewohnte Leben mit dem ungewohnten spielt, einem "der andere als dieser bestimmte Andere widerfährt" (Buber), bereichert den Menschen, vermehrt seine Produktivkraft - und als "dies andre Subjekt tritt er dann auch in den unmittelbaren Produktionsprozeß" (MEW 42, 599), in den er treten muss, wenn der Rausch nicht einfach verrauschen soll. Was zu begreifen ist, so dass uns das Glück, das rauschhaft glückte, nicht mehr länger als ein Geschenk des Himmels oder sonst eines glücklichen Zufalls erscheint, sondern als gesellschaftlich bestimmter Produktionsprozess vor Augen steht, der regelmäßig als "reale Möglichkeit qualitativ neuer Prozesse" herbeizuführen ist - und nur herbeizuführen ist, wenn diese Möglichkeit auch im Arbeitsprozess zu ihrem Recht gelangt. Denn eine "emphatische Aneignung von innerer Natur", so zur Lippe, ist "nur realisierbar im Medium der fortgesetzten Aneignung auch von äußerer, so dass auf deren Differenzierungen schon um der inneren willen reflektiert werden muss; denn die innere Natur muss ihrerseits Medium der Selbstreflexion der Gattung sein, da diese sich in den empirischen Individuen und als der auch physisch materielle Prozess zu vollziehen hat, den die leibliche Existenz der Menschen bedingt" (62).

Die im Ausnahmezustand realisierte "Entwicklung eines jeden", die so frei ist, sich nicht abstrakten Normierungen zu unterwerfen, sondern sich von der und für die Entwicklung der anderen zu begeistern - ein Tanz, der die Bewegungslust nicht standardisiert, den Bewegungen freien Lauf lässt, der wie die Sprache der Poesie rhythmisch und phantastisch zugleich ist - ist immer eine Entwicklung von individuellen Potentialen, deren Realität unmittelbar gesellschaftlicher Natur ist und falsch verstanden wird, wenn sie als private Leistung geltend gemacht wird. Was die Regel ist. Sie bietet die Gewähr, dass das Individuum von der Gesellschaftlichkeit seiner Potentiale abstrahieren und als Arbeitskraft in den normalen Produktionsprozess treten kann, der nicht seine Sache ist.

Darauf beharrend, dass das im Ausnahmezustand entwickelte individuelle Vermögen gesellschaftlicher Natur ist, kann das Individuum unmöglich in den normalen Produktionsprozess eintreten, ohne ihn zugleich zu seiner, d.h. einer gesellschaftlichen Sache zu machen. Das stellt die Verhältnisse vom Kopf auf die Füße. Der Ausnahmezustand ist dann nicht mehr die Ausnahme, sondern der regelmäßig herbeigeführte Zustand einer fortgesetzt an Erfahrungen wachsenden Zuständigkeit für das alltägliche Leben und Arbeiten. Welche freilich nur zum Zuge kommen kann, wenn die für- und voneinander berauschten und aufgeheiterten Individuen auch über die erforderlichen Produktionsmittel verfügen. Die aber befinden sich in fremden Händen, die sie freiwillig nicht hergeben. Geben sie sie her, freiwillig oder mit Gewalt, dann können die neuen Besitzer mit ihnen doch nichts anderes anfangen als das, was die Besitzenden jetzt mit ihnen anfangen. Sie können sich ihnen nur als "Servomechanismus" (McLuhan) andienen. Fehlt ihnen doch die Erfahrung, die notwendig ist, sie sieh gesellschaftlich anzueignen. Denn nur "dieser ungeheuren Entfaltung der Technik" ist, wie Benjamin schreibt, eine "ganz neue Armseligkeit ... über die Menschen gekommen", eine "Armut nicht nur an privaten, sondern an Menschheitserfahrungen überhaupt" (II.1, 214ff.), mit der die Menschen nur die Wahl haben, weiterzumachen wie bisher oder "von Neuem anzufangen; nur Wenigem auszukommen; aus Wenigem heraus zu konstruieren und dabei weder rechts noch links zu blicken" (ebd.). Sehr wohl zurück: zu Erfahrungen, die die Menschen einmal hatten und noch haben, Erfahrungen von und zur bäuerlichen und handwerklichen Arbeit, deren Technik nur in Verbindung mit Erfahrungen wahrzunehmen war.


Der Mensch ist zu einer beschränkten Lage geboren (Goethe)

Die Rückkehr zu einer Technik, die noch mit Erfahrungen verbunden und über ihren Austausch in Bewegung zu setzen ist, die auch eine Rückkehr zu Festen bedeutet, die von gestern sind, schließt nicht die Erneuerung der veralteten Technik und der auf sie zugeschnittenen Festlichkeiten aus. Sie schließt die Dummheit aus, die darauf besteht, "daß ein Gegenstand erst der unsrige ist, wenn wir ihn haben" (MEW 40, 540). Auszuschließen ist diese Dummheit aber nur, wenn die Individuen es schaffen, sich ein Dasein zu schaffen, in dem das Privateigentum nichts mehr zu schaffen hat: wenn die Individuen ihre alltägliche Gemeinschaft wie die festliche nicht nur als etwas Gemeinschaftliches wahrnehmen, sondern als eine Assoziation von unterschiedlich begabten Individuen, die bestrebt sind, mit ihren - musischen, handwerklichen, sprachlichen - Begabungen anregend und fördernd auf die Begabungen der anderen einzuwirken und auf diesem "Umweg über den Menschen" (Brecht) ein Mehr von Begabung zu erzeugen, von dem her gesehen die alte Gemeinschaft ein trauriges Bild abgibt, das dafür spricht, dass sie in einer neuen begabteren Weise überdacht wird. Nicht nur im geistigen, sondern auch im gewöhnlichen Sinne. Mit entsprechender Technik, die es den "Werktätigen" erlaubt, sie auf ihr miteinander belastetes Leben zu übertragen und mit konzentrierter Kraft ihren "beengten und beengenden gesellschaftlichen Zustand über sich hinaus (zu) treiben zu einem menschenwürdigen hin" (Adorno): zu einer ungeahnten Kraft, die ihnen aber nicht über den Kopf wächst, sondern über den unmittelbaren sinnlichen Austausch ihrer Erfahrungen vertraut bleibt - und so jederzeit neu überdacht werden kann.

Aus dem sinnlichen Erfahrungszusammenhang ausquartiert, künstlichen Instrumenten, nationalen oder gar transnationalen Strömungen unterworfen, die ihrer Erfahrung und damit auch ihrem Veränderungswillen entzogen sind, degeneriert der Mensch selbst zum Instrument, verliert er "das, was beweglich zu bleiben hätte, eine Art Saft für das Werden", mit Luce Irigaray gesprochen (46f.). Der Mensch als "ein leibliches, naturkräftiges, lebendiges, wirkliches, sinnliches Wesen" braucht "wirkliche, sinnliche Gegenstände zum Gegenstand seines Wesens, seiner Lebensäußerung" (MEW 40, 578), die unbedingt zur Sprache kommen muss, wenn sie seine sein soll - und dazu Menschen bedarf, die unmittelbar ansprechbar sind. Das können nicht sehr viele sein. "Der Mensch ist zu einer beschränkten Lage geboren", heißt es in Wilhelm Meisters Lehrjahren. Er vermag "einfache, nahe, bestimmte Zwecke ... einzusehen, und er gewöhnt sich, die Mittel zu benutzen, die ihm gleich zu Hand sind; sobald er aber ins Weite kommt, weiß er weder, was er will, noch was er soll, und es ist ganz einerlei, ob er durch die Menge der Gegenstände zerstreut, oder ob er durch die Höhe und Würde derselben außer sich gesetzt werde. Es ist immer sein Unglück, wenn er veranlaßt wird, nach etwas zu streben, mit dem er sich durch eine regelmäßige Selbsttätigkeit nicht verbinden kann." Wie es ein Unglück ist, wenn er veranlasst wird, sich auf eine bestimmte Tätigkeit zu beschränken.

Im Naheliegenden zu Haus ist er dort doch nur wirklich zu Haus, wenn er sich Erfahrungen aus aller Welt ins Haus holt und es auf ein neues, schöneres, sinnvolleres Fundament stellt, das auch, aber nicht nur bautechnisch zu verstehen ist, im Wesentlichen als eine Sache der Wissenschaft, die berücksichtigt, dass der Ausbau des Hauses kein rein naturwissenschaftlicher Sachverhalt ist, sondern ein gesellschaftlicher und geschichtlicher Tatbestand, den die assoziierten Individuen in unterschiedlicher Weise im Auge haben, auf die "mit Bewußtsein, mit Selbsterkenntnis, mit Freiheit" zurückzukommen ist, "wenn die Abstraktion, vor der wir uns fürchten, unschädlich und das Erfahrungsresultat, das wir hoffen, recht lebendig und nützlich werden soll" (Goethe). Nützlich auch in dem Sinne, dass es uns zu einer uns nützlichen Arbeit verbindet. Recht lebendig insofern, wie die einmal gefundene Arbeit nicht von ihren Erfindern abstrahiert, neuen Erfahrungen gegenüber offen bleibt - und dem Naturstoff eine schönere Form verleiht. In begrenztem Gebiet! Und im Austausch mit anderen Lokalitäten. Im Sinne Goethes, wenn auch nicht in dem Sinne, wie ihn die Goethe-Institute pflegen. Im Sinne Goethes ist der "Weltbund der Wanderer", die im Lokalen zu Hause, dort "recht lebendig und nützlich" sind und immer wieder auf Wanderschaft gehen, um Erfahrungen mit anderen Kulturen zu sammeln, im anderen das eigene andere zu erleben, um so verändert heimzukommen, mit neuen Erfahrungen die heimischen zu beleben, wie man mit diesen die fremden belebte.


Literatur

Adorno, Theodor W.: Minima Moralia, Ffm. 1984.
Adorno, Theodor W.: Noten zur Literatur, Ffm. 1989.
Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften, Ffm. 1980.
Brecht, Bertolt: Me-ti, Buch der Wendungen, Ffm. 1971.
Buber, Martin: Das dialogische Prinzip, Gütersloh 2006.
Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses, Ffm. 1977.
Goethe, Johann Wolfgang: Maximen und Reflexionen, Ffm. 1976.
Goethe, Johann Wolfgang: Farbenlehre.
Humboldt, Wilhelm von: Werke in fünf Bänden, Bd. 1, Darmstadt 2002.
Irigaray, Luce: Welt teilen, Freiburg im Breisgau 2010.
Kurz, Robert: Seelenverkäufer, http//exit-online.org.
Marx, Karl: in MEW, Berlin 1983.
Nietzsche Friedrich: Werke in drei Bänden, Hg. Karl Schlechta, München 1960.
Paz, Octavio: Das Labyrinth der Einsamkeit, Ffm. 1984.
zur Lippe, Rudolf: Naturbeherrschung am Menschen I, Ffm. 1974.

Raute

Immaterial World

Kulturflatrate!

von Stefan Meretz

Die Kulturflatrate ist ein Konzept für eine Art erweiterte AKM- (Österreich) bzw. GEMA-Abgabe (Deutschland) für digitale Inhalte. Die Erlöse sollen an Rechteinhaber digitaler Inhalte umverteilt und im Gegenzug die Verbreitung digitaler Kopien freigegeben werden. Die Verfolgung sogenannter Raubkopierer könnte damit aufhören. Ein modifiziertes Flatrate-Modell, die Kulturwertmark, setzt auf eine Stiftung statt einer Behörde und ermöglicht es den Nutzer_innen per Klick selbst die (Um-)Verteilung ihrer Pflichtabgabe vorzunehmen. Nach Erreichen des Honorardeckels fällt das ausbezahlte Kulturgut automatisch in die allgemeine freie Verfügung.

An dieser Stelle sollen weder Kulturflatrate noch -wertmark inhaltlich diskutiert werden. Mir geht es um den Begriff der Kulturflatrate selbst: Worum geht es eigentlich, wenn scheinbar eindeutig von Kultur und Flatrate die Rede ist? Geht es hier um ein Bezahlmodell für Kultur? Welche Kultur überhaupt? Was ist Kultur?

Kultur ist nach Wikipedia "im weitesten Sinne alles, was der Mensch selbst gestaltend hervorbringt". Kultur ist also die Art und Weise, wie wir unsere Lebensbedingungen herstellen, wie wir leben und was wir wie in die Welt setzen und in der Welt nutzen. Tatsächlich abgezielt wird mit der Kulturflatrate auf Ergebnisse bestimmter Lebensaktivitäten, die nur schwer in die Warenform zu pressen sind: digitale Inhalte jeglicher Art. Es geht also um Medien und ihre Produkte.

Medienschaffende sollen nicht mehr individuell ihre Digitalprodukte vermarkten müssen, was sie zwingt, zu Mechanismen der künstlichen Verknappung zu greifen - von technischen Kopierbehinderungen bis zur rechtsförmigen Sanktion. Stattdessen erhalten sie ein monitäres Einkommen, also eine Art Grundeinkommen für Digitalmedien-Kreative, und geben im Gegenzug ihre Produkte frei. In der Wertmark-Variante ist zusätzlich eine Konkurrenzkomponente eingebaut, aber diese Differenzen sollen hier nicht interessieren.

Aber wieso ein Grundeinkommen nur für Medienschaffende - sind wir nicht alle kreativ? Setzen wir nicht alle diverse Kulturprodukte in die Welt, die frei sind? Ist unsere ganze Lebenstätigkeit nicht ein einziger und einzigartiger Prozess der Kulturschöpfung und -nutzung? Steht uns also nicht allen ein Grundeinkommen zu? Ja, selbstverständlich. Das Problem jedoch ist der Umweg über die monetäre Form. Das macht alles fürchterlich kompliziert.

Denken wir es einmal ganz einfach, kommunistisch. Wir leben und setzen dabei allerlei nützliche Dinge in die Welt: brauchbare und verbrauchbare Dinge, unbegrenzt-kumulatives Wissen, soziale Formen der Interaktion, Information und Kommunikation, erhaltene und regenerierte Ressourcen, uns selbst. Gleichzeitig nutzen wir all dies. Jedes Bedürfnis auf der einen findet ein entsprechendes Bedürfnis auf der anderen Seite. Was die eine schöpft, der andere braucht; was der eine setzt, die andere nimmt - und umgekehrt und hin und her. Das war's schon.

Das ist eigentlich immer so und war schon immer so. Nur ist und war die Vermittlung nicht danach, bislang war sie nämlich herrschaftsförmig strukturiert. Den personalen Herrschaften der Vormoderne folgte die moderne unpersönliche Herrschaft des Werts. Gesellschaftlich Vermittelbares muss Wertform annehmen, um per Verkauf und Kauf von einem zum anderen zu gelangen, um dem einen den Unterhalt zu sichern und der anderen das Produkt zu liefern. Passt das eigene Produkt nicht durch das Nadelöhr des Werts, ist weder das Kulturgut noch die eigene Kulturpotenz in die unförmige Form des Werts zu bringen, dann zirkuliert das eigene Produkt nicht.

Nicht? Unfug. Selbstredend zirkuliert es trotzdem. Nur nicht in der Wertform, sondern so, wie es ist. Nicht immer, aber sehr oft. Wäre dem nicht so, wäre Kapitalismus nicht zu machen. Ja, verrückter - weil unsichtbarerweise hat das Nicht-Wertförmige sogar das absolute Übergewicht: Zwei Drittel aller notwendigen Kulturleistungen der Gesellschaft werden jenseits der leeren, abstrakten, unförmigen Wertform erbracht. Man nennt sie auch Commons, wir nehmen sie kaum wahr, aber sie sind überall und die Grundlage von allem - auch der Verwertungslogik, die danach trachtet, sie aufzufressen, sie in Wert zu setzen.

Die Medienflatrate, die keine Kulturflatrate ist, will nun einen weiteren Schnipsel der unverwertbaren zwei Drittel der umfassenden Kulturleistungen in die unförmige Form des Werts verwandeln - anstatt umgekehrt zu überlegen, wie dem Wert mehr entrissen werden könnte, um uns das Leben zu erleichtern. Doch des einen Erleichterung ist des anderen Verlust an (Über-)Lebensqualität. In einer Gesellschaft, in der das Fortkommen der Einen stets zu Lasten Anderer geht, ist nichts anderes zu erwarten.

Die Kulturflatrate kann sinnvoll sein, aber nur in einem auf die Füße gestellten Sinne. Da wir doch alle in der einen oder anderen Weise Kulturleistungen allen zur Verfügung stellen, gehören diese auch uns allen. Wechselseitige Ausschlüsse, Drangsalierungen und Hackordnungen stehen jeder Kultur entgegen. Es gibt nun zwei Möglichkeiten, eine Kulturflatrate einzurichten: in Selbstorganisation durch Bildung solidarischer Netzwerke und vermittelt über den Staat.

Die Selbstorganisation hat den Nachteil, dass sie nur die an den Netzwerken unmittelbar beteiligten Menschen erreicht. Sie hat damit gleichzeitig den Vorteil, gegen die allgemeine Aufrechnungslogik in ihrem Binnenraum solidarische Verhältnisse zu etablieren. Ohne das geht es dann aber auch nicht, eine Selbstorganisation zwecks Bedienung der Verwertungslogik und Verteilung über diese Mechanismen ist eben das: ein Unternehmen.

Eine staatliche vermittelte Kulturflatrate kann nichts anderes sein als ein transferloses Grundauskommen. Es geht also nicht darum, Geld zu verteilen, um die geldvermittelte Existenzsicherung zu gewährleisten, sondern es geht um ein direktes Zur-Verfügung-Stellen zentraler Leistungen. Dies bewegt sich immer noch in der Geldlogik, aber Ziel ist, die Marktvermittlung zu vermindern, also den individuellen Geldbedarf zu reduzieren, weil viele grundnotwendige Dinge geldlos zur Verfügung stehen: Nahverkehr, Kulturangebote, Schwimmbäder, Versicherungen, Internetzugang, soziale Zentren, Kinderbetreuung und alles, was für eine kulturvolle Teilhabe an gesellschaftlichen Möglichkeiten notwendig ist.

Raute

Notizen zur Solidarischen Ökonomie

von Thorsten Endlein

Der Begriff der Solidarischen Ökonomie ist wie ein Magnet. Menschen mit den unterschiedlichsten Positionen und Zugängen kommen hier zusammen, um miteinander über Alternativen zu einem lange Zeit als alternativlos geltenden neoliberal geprägten Kapitalismus zu diskutieren. Wir haben das "Ende der Geschichte", wie es Francis Fukuyama prophezeite, noch nicht erreicht, lautet die Botschaft. Die hohen Teilnehmer*innenzahlen bei den Solidarische-Ökonomie-Kongressen in Berlin und Wien illustrieren die Sehnsucht vieler Menschen, wieder echte Handlungsfähigkeit zu erlangen, danach, sich die Welt zu machen, "wie sie mir gefällt" (Pippi Langstrumpf), anstatt ein stilles Opfer des "stummen Zwangs der Verhältnisse" (Marx) zu bleiben. Nachdem linke Bewegungen lange Zeit in der Defensive waren, erscheint die Solidarische Ökonomie als eine Möglichkeit, Gesellschaft wieder zu gestalten.


Zwischen T.I.N.A.-Prinzip und Anti-Kommunismus

Im deutschsprachigen Raum ist das Projekt der Solidarischen Ökonomie im doppelten Sinne zunächst ein intellektuelles. Ziel ist die Überwindung des T.I.N.A.-Denkens (there is no alternative, Magaret Thatcher); es soll wieder möglich werden, sich vorstellen zu können, dass es eine Ökonomie geben kann, die nicht auf Profitmaximierung und Konkurrenz beruht. Dies geschieht primär aus den Universitäten heraus und auf vier Arten: 1. durch die Analyse und Darstellung der Historizität des Kapitalismus und seiner destruktiven Dynamik; 2. durch eine wissenschaftliche Erforschung vergangener und existierender Praxisbeispiele, vornehmlich aus der "eigenen Region" und die öffentlichkeitswirksame Bekanntmachung der Ergebnisse (durch Kartierungsprojekte, Kongresse etc.); 3. durch Verstärkung von bewusstseinsbildenden Prozessen während der wissenschaftlichen Forschung mit Hilfe von Instrumenten aktivierender und qualitativer (Sozial-)Forschung und 4. durch die Schaffung von Beratungs- und Vernetzungsangeboten für Initiativen. Die Botschaft lautet: "Um outra economia acontece" ("Eine andere Ökonomie gibt es bereits", Slogan der brasilianischen Bewegung), sie müsse in der breiteren Öffentlichkeit nun auch als eine solche wahrgenommen und in ihrem weiteren Aufbau durch gesellschaftliche Institutionen wie Universitäten unterstützt werden (Müller-Plantenberg im Video-Interview). Es gehört zur Politik dieses Diskurses, Offenheit und Pluralität in der Bestimmung, was Solidarische Ökonomie sei, zu betonen, will man doch eine breite Öffentlichkeit erreichen und niemanden ausschließen. Jeder und jede kann sich seinen oder ihren eigenen Begriff von Solidarischer Ökonomie machen und sich damit zugehörig zur Bewegung zählen; der Dissens ist erwünscht. Diese Offenheit liegt nicht alleine, im Sinne des Mottos der zapatistischen Befreiungsbewegung "Fragend schreiten wir voran", in der prinzipiellen Überlegung begründet, dass niemand es vermag, fertige Antworten zu liefern. Man erhofft sich, linke Politik wieder aus der Defensive befördern zu können. Dafür braucht es ein gesellschaftliches Projekt, zu dem sich viele Menschen zugehörig fühlen. Das ist kein leichtes Unterfangen. Zu stark wirkt das Schreckgespenst von autoritärer "kommunistischer" Herrschaft mit Stasi, Gulag und staatlich verwaltetem Mangel. Die Solidarische Ökonomie ist unverbraucht und wirkt unverdächtige, sie riecht nicht nach Feuer und Revolution, sondern nach ethischen Kapitalanlagen bei der lokalen Genossenschaftsbank, Tauschkreisen und regionaler Wertschöpfung. Auch Linke kommen auf ihre Kosten: Selbstverwaltete Betriebe und Häuser gehören ebenfalls zur Liste der regelmäßigen Aufzählungen unter diesem Dach. Der gezahlte Preis für die begriffliche Offenheit ist jedoch eine gewisse begriffliche Beliebigkeit. In der Forschung zeigt sich diese Beliebigkeit darin, dass scheinbar wahllos angebliche Alternativen gesammelt werden, die dann unter dem Begriff Solidarische Ökonomie subsumiert werden. So sind im Kartierungsprojekt für die Region Nordhessen zwar fünf "grundlegende Charakteristika" für "Solidarische Wirtschaftsunternehmen" (SWU) definiert, von denen allerdings nur zwei zwingend erfüllt sein müssen, um in den Kanon aufgenommen zu werden. Ein "ökologisches Bewusstsein" ist nicht zwingend erforderlich, und von den drei "sozialen" Kriterien "Selbstverwaltung", "Kooperation" und "Gemeinwesenorientierung" muss nur mindestens eines erfüllt sein (Müller-Plantenberg/Stenzel, S. 17). Obligatorisch ist einzig, dass es sich um ein "Wirtschaftsunternehmen" handeln muss. Diese Herangehensweise birgt einige Schwierigkeiten, auf die ich an dieser Stelle nur exemplarisch eingehen möchte. Hat man beispielsweise ein Unternehmen, welches ausschließlich das Kriterium der Gemeinwesenorientierung erfüllt, so handelt es sich gemäß dieser Definition bereits um ein SWU (ebd., S. 14). Bedenkt man, dass die Unterstützung lokaler Sportvereine, von Stadt(teil) festen oder sozialen Projekten heute zum Standardrepertoire einer guten Public-Relations-Strategie jedes Unternehmens gehört, erscheint es fraglich, eine Gemeinwesenorientierung als hinreichendes Kriterium für eine ökonomische Praxis, die über den kapitalistischen Normalvollzug hinausreicht, gelten zu lassen. Die katholische Caritas kann sich ebenfalls unter dem solidarökonomischen Dach versammeln, da sie nicht gewinnorientiert ist. Im Gegensatz zu einem regulären Unternehmen schränkt sie jedoch als Tendenzbetrieb die im Grundgesetz, Artikel 9, verbrieften Rechte der Beschäftigten, sich zu organisieren und zu streiken, ein (vgl. Seiffert). Es muss honoriert werden, dass die Studie dem Diskurs eine nicht zu unterschätzende Öffentlichkeit beschert hat, aber auf der anderen Seite begünstigen derart welche Kriterien nicht nur die vorher kritisierte Beliebigkeit und erzeugen mangelnde Trennschärfe, sondern bergen darüber hinaus auch Gefahren.


Fallstricke der Regionalisierung

Die Frankfurter Rundschau schreibt in Bezugnahme auf das Forschungsprojekt in einem Artikel vom 7.7.2008: Kollektive Betriebe entstünden in Nordhessen als Reaktion auf das "viel beklagte 'Ausbluten der Region' (...) sowie auf die 'Fremdbestimmung' durch auswärtige Unternehmen. Statt auf Profit, Konkurrenz und Privatbesitz setzt die Solidarökonomie auf eine Verbesserung der Lebensbedingungen." Der beste "Querfrontstratege" aus dem Lager der "Nationalen Sozialisten" hätte es nicht besser ausdrücken können, schwingt hier doch deutlich die Unterscheidung zwischen gutem und bösem Kapital mit. Dass eine solche Interpretation, von den Wissenschaftlerinnen sicherlich nicht befürwortet, jedoch auch nicht aus der Luft gegriffen ist, zeigt das Beispiel eines Zusammenschlusses von lokalen mittelständischen Handwerksbetrieben, der in der Studie als SWU erfasst wurde (Müller-Plantenberg/Stenzel, S. 22). Ein schneller Blick in ein Wirtschaftslexikon sagt mir, dass es sich bei solch einer Kooperation schlicht und einfach um ein Kartell handelt. Der Verweis auf die Prozesshaftigkeit emanzipatorischer Entwicklungen hilft uns hierbei nicht weiter, da es sehr unwahrscheinlich ist, dass die Meister freiwillig ihren Betrieb kollektivieren werden - was tatsächlich ein emanzipatorischer Schritt wäre. Bewertet man aber die wirtschaftlichen Aktivitäten "heimischer" mittelständischer Betriebe positiver als die Aktivitäten multinationaler Konzerne, gerät die Dynamik kapitalistischer Ökonomie aus den Augen. Nicht mehr das Geldsystem, dass sich vom eigentlichen Sinn von Ökonomie der Versorgung - verselbständigt hat, ist Ziel der Kritik, sondern ob Kapital einem "guten" oder "schlechten" Zweck dient. Wird die positive Bewertung des Zwecks an örtliche Kriterien wie "Region" gekoppelt, erinnert das stark an die, auf die größere Einheit "Nation" bezogene, soziale Marktwirtschaft. Regionalisierung gerinnt so nicht oder nur zufällig zu einem ökologischen und zugleich emanzipativen Programm. Nicht die Produktionsverhältnisse sollen radikal verändert werden, stattdessen wird Regionalisierung als Komplexitätsreduktion betrieben, in einer als undurchschaubar erscheinenden und feindseligen globalisierten Welt, in der das scheinbar regional gebundene, verantwortungsvolle Kapital und die vertraute Umgebung der heimischen Wälder Schutz gegen die Übermacht des global entfesselten Kapitals böte. Dass es sich dabei lediglich um Erscheinungsformen handelt, um zwei Seiten derselben Medaille, wird dabei geflissentlich übersehen.


Kollektive Betriebe und Marktwirtschaft

Die regionalistische Argumentation ist ein Strang innerhalb der Solidarischen Ökonomie, ein anderer dreht sich um Kollektivbetriebe, wobei hinzugefügt werden muss, dass diese Unterscheidungen idealtypisch sind. Selbstverwaltete Betriebe sind eine Insel der Solidarität im Meer der Konkurrenz, zumindest intern werden Entscheidungen demokratisch oder im Konsens getroffen. Doch auch sie müssen ihre Konkurrenzfähigkeit beweisen, solange sie für den Markt produzieren. Nicht wenige der Alternativbetriebe der 70er und 80er Jahre konnten diesem Druck auf Dauer nicht standhalten, verschwanden oder veränderten sich nach und nach in hierarchische Unternehmen. In einigen dieser Unternehmen verbinden sich heute ein alternatives Image mit einer stärkeren Selbstverantwortlichkeit am sowie Identifikation mit dem Arbeitsplatz und einer familiären und gewerkschaftsfreien Betriebsatmosphäre zu einer produktivitätssteigernden Allianz. Selbstorganisation ist in diesen Betrieben der Mitbestimmung gewichen, freilich kein besonderes Merkmal einer Solidarökonomie, ist die betriebliche Mitbestimmung in der BRD doch als Instrument zur Befriedung des Klassenkonflikts eingeführt worden, um die Stabilität der Marktwirtschaft zu sichern. Nur um das klarzustellen, hier soll es nicht darum gehen, dem Aufbau selbstverwalteter Betriebe die Möglichkeit abzusprechen, ein Weg hin zu einer herrschafts- und klassenlosen Gesellschaft zu sein. Die Diskussion innerhalb der Solidarischen Ökonomie neigt jedoch zum einen zu deren Idealisierung, wo dann wenig Platz für eine kritische Analyse der Grenzen bleibt, die unserem Handeln durch die Verhältnisse auferlegt sind. Ein erfrischend selbstkritischer Blick wird dagegen in einem Flugblatt Berliner Kollektive zum Festival "Das Richtige im Falschen!?!" formuliert: "(...) Irgendwo zwischen Aneignung von Produktionsmitteln, Selbstausbeutung, Gruppenkoller und Prekarität stellen sieh Fragen: Ist ein Kollektiv ein emanzipatorisches Projekt oder nur ein bestens in die ausbeuterische Ökonomie integrierter Selbstbetrug? Oder sind kollektive Erfahrungen ein Schatzkästchen für das Morgengrauen nach dem realexistierenden Kapitalismus?" Was sich in dieser Frage andeutet, ist nicht die Vision einer Solidarischen Ökonomie als sozialistische Marktwirtschaft mit einem "guten" Staat, der die "richtigen" Rahmenbedingungen schafft. Vielmehr wird hier der Bildungsaspekt von selbstorganisierten und kollektiven Praxen in den Fokus gerückt, in denen Erfahrungen von Organisation ohne formelle Hierarchien gesammelt und empathische Kommunikation gegen informelle Hierarchien erlernt wird. Dinge also, die eine selbstorganisierte und kollektive Praxis wiederum erst ermöglichen. Gleichzeitig wird der oftmals prekäre Charakter vieler Betriebe nicht verschwiegen. In diesem Sinne wende ich mich gegen ein marktfixiertes Verständnis Solidarischer Ökonomie. Der Markt ist Teil der Warengesellschaft. Wer für den Markt produziert, produziert nicht in erster Linie für den real ermittelten menschlichen Bedarf, sondern erfährt erst auf dem Markt, ob das Produkt gebraucht wird. Über Werbung, eine bestimmte Platzierung im Supermarkt und so weiter kann im Vor- oder Nachhinein darauf Einfluss genommen werden; ob es sich um kollektive oder hierarchische Unternehmen handelt, ist dabei zunächst einmal egal. Besonders auch aus ökologischer Sicht gibt es Einwände. Nehmen wir das Beispiel Auto: Erweist es sich nach einer ganzheitlichen Analyse der Folgen für Umwelt und Klima sowie der natürlichen Begrenztheit von Ressourcen als vernünftig, die Technologie und die Produktion nicht effizienter zu gestalten, sondern gar nicht, sprich weitestgehend abzuwickeln, wäre das in einer wie auch immer gearteten Marktwirtschaft kaum möglich, da gleichzeitig auch die Arbeitsplätze abgewickelt würden (vgl. Exner/Lauk/Kulterer, S. 212). Hier scheint das hervorzutreten, was Andreas Exner in Bezug auf die "Gemeinwohlökonomie" von Christian Felber kritisiert hat, "dass so genannte Alternativen nicht selten bloß eine Verlängerung der jeweiligen sozialen Wirklichkeit [oder] der idealisierte Abklatsch einer schlechten Realität (...)" sind.


Anti-kapitalistische Räume schaffen

Gesellschaftliche Beziehungen abseits von Markt und Staat wären also erstrebenswert und sollten dementsprechend weiter ins Zentrum solidarökonomischer Debatten gerückt werden. In der Praxis existieren auch sie bereits. Zwingend damit verbunden ist das Infragestellen der Notwendigkeit von Geld bzw. des Tausches von äquivalenten Leistungen. Das hilft uns auch insofern, als dass wir damit endlich das Problem los wären, welches, von Adam Smith über Marx bis hin zu zeitgenössischen Regionalgeldinitiativen, viele Ökonom*innen und Aktivist*innen plagte: Was ist eigentlich der Wert der Arbeit? Es ist doch egal! Die Differenzierung zwischen scheinbar wertlosen und verwertbaren Dingen, also solche die tauschbar sind, ist wenig hilfreich, geht es doch eigentlich darum, die eigene Energie für tatsächlich relevante Dinge einzusetzen. In der Warengesellschaft ist jedoch nur all das relevant, was Geld einbringt. Bleibe ich zu Hause, um einer Freund*in in schwierigen Zeiten beizustehen, ist das tatsächlich relevant und kostet mich ebenfalls Energie, Euronen fließen in der Zeit allerdings nicht. Und für diese "qualitative Leistung" einen "Zeitgutschein" auszustellen, wie es das Regionalgeldkonzept von Konstantin Kirsch nahelegt, erscheint absurd.

Lassen wir also zur Abwechslung die Rechenspielehen und versuchen einmal Tausch als ein komplexes System zu denken, indem wir uns permanent gegenseitig beschenken. Selbstverständlich können wir Geld und Lohnarbeit nicht von jetzt auf gleich abschaffen - aber wir können seine bestimmende Kraft auf unser Handeln und unsere Zeit minimieren, indem wir Geld aus kapitalistischen Beziehungen herausnehmen und es in solidarische Beziehungen einbringen. Hier geht es nicht darum, mit Kapital etwas moralisch Gutes zu tun, sondern darum, unter kapitalistischen Beschränkungen anti-kapitalistische Räume zu schaffen. Um tatsächlich eine Alternative zu den herrschenden Produktionsverhältnissen zu werden, genügt es jedoch nicht, sich auf seiner Insel gut einzurichten, denn vor den sozialen Flutwellen und Tsunamis - Armut, Gewalt, GMOs, Rassismus und Sozialabbau - ist kein Projekt gefeit. Vielmehr muss eine Solidarökonomie in diesem Sinne 4 Punkte erfüllen: 1. im Hier und Jetzt Strategien gegen Demütigung, Prekarität und Vereinzelung eröffnen; 2. Selbstbestimmung, gleichberechtigte Beziehungen und Vernetzung ermöglichen; 3. müssen in den "Freilandversuchen" die sozialen Beziehungen so gestaltet werden, dass bereits grundlegende Elemente kapitalistischer Herrschaft überwunden werden, 4. sollten sich die Beteiligten auch als Teil widerständiger Praxis verstehen und am Ziel eines guten Lebens für alle festhalten. Beispiele finden sich in gemeinsamen Ökonomien, in politischen Kommunen und ihren Netzwerken, in selbstverwalteten Häusern und insbesondere dem Syndikatsmodell, als Finanzierungskonzept zum Freikauf von Immobilien und als Netzwerk gegenseitiger Hilfe; in Schenkläden, Nutzungsgemeinschaften und Tauschkreisen ohne Verrechnung für viele Dinge des Alltags. Wegweisend ist auch das Konzept der CSA (community supported agriculture), für das im Deutschen nun der Begriff Solidarische Landwirtschaft gefunden wurde. Die Produktion erfolgt hier nach vorheriger Absprache mit den Verbraucher*innen, die mit den Produzent*innen ein informelles Kollektiv bilden. Die monatlichen Beiträge setzen sich auf der einen Seite aus den Kosten zusammen, die für eine Landwirtschaft unter spezifischen Bedingungen anfallen, und auf der anderen Seite aus persönlichen Präferenzen und individuellen Möglichkeiten der Verbraucher*innen. Verteilt wird nach dem Bedürfnisprinzip. Das Risiko trägt die Gemeinschaft. Die Zahl und Vernetzung der Projekte schreitet derzeit stark voran. Die Solidarische Landwirtschaft setzt das Prinzip des Tauschs von gleichen Werten außer Kraft und lässt die Grenzen zwischen Konsument*innen und Produzent*innen verschwimmen. Perspektivisch bietet sie zudem Denkanstöße, andere Bereiche des Lebens auf ähnliche Weise zu organisieren. Lasst uns also kreativ und mutig sein, die besten Ideen liegen am Ende unseres Vorstellungsvermögens.


Literatur

Bunzenthal, R.: Solidarische Ökonomie. Inseln im kapitalistischen Meer, in: Frankfurter Rundschau, 7.7.2008.
Exner, A.: Neue Werte im Sonderangebot. Die Gemeinwohlökonomie Christian Felbers, in: Streifzüge 51/2011.
Exner, A./Lauk, Ch./Kulterer, K. (2008): Die Grenzen des Kapitalismus. Wie wir am Wachstum scheitern, Überreuter.
Kirsch, K. (2010): Minuto - Zeitgutscheine. Ein neues Zahlungsmittel, selbst geschöpft und für alle Regionen, online:
http://www.minuto-zeitgutscheine.de/minutotext.pdf
Müller-Plantenberg, C./Stenzel, A. (2008): Atlas der Solidarischen Ökonomie in Nordhessen. Strategie für eine nachhaltige Zukunft, kassel university press.
Müller-Plantenberg, C. im Interview in der Video-Dokumentation (2008/09): "Die Alternative lebt! Solidarische Ökonomie in Deutschland und Brasilien" von: Endlein, T. et.al., online: http://vimeo.com/15570285.
Seiffert, M.: Streik unter dem Kreuz. Das Streikverbot in Tendenzbetrieben gerät ins Wanken, in: Direkte Aktion Nr. 204/2011.
Sellien, H./Sellien, R. (1971): Dr. Gablers Wirtschafts-Lexikon, S. 2135.

Raute

Rückkopplungen

Weitermachen

von Roger Behrens

Popkultur ist in der Lage, Orte herzustellen, in denen das Subjekt verschwinden und in eine andere Welt eintreten kann als die, die ihm per Herkunft und ,Identität' verordnet wurde. Diese Orte können auch Nichtorte sein; Orte, die es nicht gibt, die implodiert sind oder die sich aus der kulturellen Geographie ihrer Umgebung herausgesprengt haben. Imaginäre Räume, isolierte Nischen oder Fluchtlinien, die von den örtlichen Realitäten wegführen." (Frank Apunkt Schneider)

Space is the place." (Sun Ra) fürs kleine sternchen


Eine neue testcard ist erschienen. Die Nummer 20 - ein mögliches Jubiläum, kein wirkliches. Thema: "Access denied". Eröffnet wird die testcard mit zwei kurzen Texten, die jeweils eine Seite füllen - es sind Nachrufe, einer von Johannes Ullmaier, einer von Jonas Engelmann. Martin Büsser ist tot. Er ist im letzten Jahr, am 23. September 2010, gestorben. Ullmaier: "Und was immer das Falsche, in dem es ein Richtiges nicht geben soll, dagegen auffährt: Dieses Nicht-Egal-Sein macht am Ende doch den Unterschied ums Ganze." Engelmann: "Das Weitermachen war unser Versprechen an Martin, ein Versprechen, bei dem wir nicht wussten, ob wir es würden einhalten können." Und: "Das Weitermachen der testcard hält Martins Kritik am Leben."

"Weitermachen!" soll Herbert Marcuse dem durch die Folgen des Attentats schwer verletzten Rudi Dutschke vor vier Jahrzehnten geschrieben haben. Peter Marcuse sagte, "Weitermachen!" wäre das Lebensmotto seines Vaters gewesen, "simply weitermachen!" Das war 2003, als das Grab von Herbert Marcuse nach Berlin verlegt wurde, seines Geburtsortes wegen.

Das Grab. - Ich bin in Mainz zum Vortrag eingeladen - "Popkulturkritik und Gesellschaft", ein Titel in Anlehnung an Adornos Essay "Kulturkritik und Gesellschaft", geschrieben 1949. Der Schlusssatz: "Der absoluten Verdinglichung, die den Fortschritt des Geistes als eines ihrer Elemente voraussetzte und die ihn heute gänzlich aufzusaugen sich anschickt, ist der kritische Geist nicht gewachsen, solange er bei sich bleibt in selbstgenügsamer Kontemplation." Daran hat sich noch immer Kulturkritik abzuarbeiten, als kritische Theorie, als kritische Gesellschaftstheorie. Und auch als Praxis. Martin hat das gemacht, hat Anfang der Neunziger den Ventil-Verlag mitgegründet, wo auch seit über fünfzehn Jahren die testcard erscheint. In Mainz besuche ich den Verlag in seinen neuen Räumen. Martins umfangreiche Bibliothek ist hier aufgebaut, ein kleines Zimmer ist entstanden, ein Provisorium. Etwas Zeit habe ich noch und ich fahre zum Waldfriedhof, suche Martins Grab. Ich finde es schließlich am Rand, ein junger Baum, an dessen Fuß die Urne eingegraben ist. Dahinter Felder, ein Acker. Anti-Folk.

Die Lücke. - Friedhöfe zählt Michel Foucault zu den anderen Räumen, zu den Gegenräumen, den Heterotopien. Ich habe die testcard bei meinem Friedhofsbesuch dabei. Es ist die erste testcard ohne Martin, und die letzte mit ihm. Im Besprechungsteil finden sich noch einige CD-, DVD- und Buchkritiken, zum Teil im Krankenhaus geschrieben. "Intensität ohne Erklärungsbedarf", heißt es in einer Plattenrezension. Hier ist Stille, im Sinne von John Cage, den Martin sehr schätzte - und mit dem er, wie ich in Mainz erfuhr, einen kleinen Briefwechsel führte: Stille der Musik, um eine Pause, nämlich eine Klanglücke zu schaffen für andere Geräusche. Hier scheint es besonders viele und verschiedene Vögel zu geben, die vor sich her zwitschern, die singen.

"Access denied" ist der Haupttitel der testcard. Zusatz: "Ortsverschiebungen in der realen und virtuellen Gegenwart", also das Themenfeld: Stadt, Netz, Global Village, Raum und Zeit, Cyberspace, Zentrum und Peripherie, oben und unten etc. "Was und wo sind so genannte linke Orte? Wie steht es um deren Geschichte, möglichen Wandel und Zukunft?" (Editorial) Es geht also um: Dislokationen. Schwellen. Lücken. "All das ist nicht mehr da und diese Lücke wird bleiben", notiert Engelmann in seinem Nachruf. Immer wieder geht es in dem Heft um Lücken.

Utopie. - Das Cover zeigt eine Fotografie von Marc Cohen, 1977. Eine Vorortstraßenszene, USA, wahrscheinlich Chicago oder Detroit. Ein schäbiges Haus im Hintergrund, ein schäbiges Auto am Straßenrand. Auf dem nur noch aus losen Brocken von Betonplatten bestehenden Fußweg kniet ein kleiner Junge, die Hände und Arme in einer Position des Karate, so wie Kinder es machen. Er macht eine düstere Miene, scheint mit seinem Blick zum Kampf bereit. Und doch hat seine Haltung etwas Andächtiges, als würde er beten, als sei es eine Meditation: Arme und Hände bilden, angewinkelt und gerade ausgestreckt, ein Kreuz. - Jonas Engelmann erzählt mir, dass Martin dieses Foto von Cohen zuletzt als Schreibtischhintergrund auf seinem Computer hatte. Und nun steht er hier wieder im Vordergrund, auf der testcard 2011, als Titelheld - zwischen den Orten, einem Vexierbild gleich, bei dem die Figur zwischen dem Realen und dem Virtuellen wechselt, zwischen 1977 und heute. In dieser Zwischenzeit beziehungsweise in diesem Zwischenraum ist verschwunden, was einmal die Dialektik zwischen konkreter Utopie (Bloch) und negativer Utopie (Adorno) ausmachte, letztlich eine Ortsverschiebung jenseits der realen und virtuellen Gegenwart, also jenseits des Realen und jenseits des Virtuellen. Jenseits des Pop. Eine Utopie der Gesellschaft. Heute ist die Utopie durch den Pop besetzt, wenn nicht ersetzt. Anders gesagt: Früher zielte die Kritik (auch die Kritik, die im Namen des Pop formulierte wurde) auf die Möglichkeit der Wirklichkeit, auf die wirkliche Bewegung des Potenziellen. Heute zielt die Kritik (nunmehr: vor allem die als Pop repräsentierte) auf die Auflösung des Realen in die Netzwelt. Aus der konkreten Utopie wird die Feier des abstrakten Raums, und aus der negativen Utopie wird die Hypostasierung der positiven Virtualität.

Weitermachen, ja. Die Frage ist allerdings, in welche Richtung, ob schließlich die Ortsverschiebung einen Horizont kennt, ein Ziel hat und gegebenenfalls sogar Weltveränderung ist. Der Junge auf der Fotografie von Cohen gibt dafür einen Hinweis, dass solches Weitermachen gerade in der unbedingten Notwendigkeit einer Großen Weigerung sich auf das Detail, den Augenblick, die Situation konzentriert, also das versucht, was Walter Benjamin einmal als Forderung formulierte, "im unendlich Kleinen zu interpolieren". Dafür braucht es vielleicht das, was Frank Apunkt Schneider in der neuen testcard als kleine Identität fordert. Auch im Sinne der Ortsverschiebung, ihrer Geschichte und nicht bloß virtuellen, sondern real-möglichen Zukunft. Insofern muss es wohl doch unbedingt heißen: "Weitermachen!"

Raute

Auslauf

non fiction

von Petra Ziegler

"Wenden wir uns den Fakten zu: Die Staatsverschuldung der BRD liegt bei derzeit 76 Prozent des Bruttoinlandprodukts, bei Griechenland sind es 150, bei Japan 230 Prozent, die Vereinigten Staaten sind im Prinzip zahlungsunfähig..." "Wer jetzt nicht eisern spart, das weiß ein jeder Hausverstand, den straft der Markt." "So ein Quatsch! - am Ende haben sie alles kaputtgespart." "Aber denen ist der Glauben an die Märkte ja nicht und nicht auszutreiben. Bis die nächste Blase platzt. Weiß doch mittlerweile jeder, so was von irrational, die Märkte. Dabei waren wir 2008 schon ganz nahe am Abgrund - und jetzt, wieder einen Schritt weiter." "Im August soll es dann so weit sein - Rien ne va plus!" "Dieser ganze Glaube an die Märkte..." "Und ans Geld. Ha! - Das Geld, nichts außer Lug und Trug, eine reine Luftnummer." "Das muss anders werden - alles! Ganz anders. Demokratisch. Wirtschaften wie noch nie. Mit ganz neuem Geld..."

"Das Geld entsteht nicht durch Konvention", flüstert mir einer, "sowenig wie der Staat", meint er dann noch. Spielverderber! Was Marx hier unterstellt ist ein struktureller Zwang. Eine immanente Notwendigkeit, die von der Warenform zur Entwicklung der Geldform (und weiter) führt. Die Ware, das zeigt sich, ist "unmittelbare Einheit von Gebrauchswerth und Tauschwerth", ein "sinnlich übersinnliches Ding" zwielichtigen Charakters. Waren will eins nur loswerden. Und tauscht sie ein, gegen irgendwas - sagen wir - Nützliches.

Das macht individuell Sinn, und wirkt doch entscheidend aufs gesellschaftliche Ganze. Die Gleichsetzung verschiedenster Arbeitsprodukte erst bringt ihren Wert zum Vorschein. Und letzterer - eben ganz nebenbei zur Erscheinung gebracht - erklärt sich eilends selbständig. Fortan sollen wir nach seiner Pfeife tanzen, tyrannisch erweist er sich, selbstbezogen, maßlos. Die Logik des Werts zwingt uns ihre Gesetze auf. Wer gegen sie verstößt, dem bleibt kaum noch ein Rückzugsgebiet. Kein päpstlicher Bann, keine Fatwa, kein Voodoozauber zeigten je so umfassend Wirkung.

Fiktion erzeugt eine eigene Welt, die sogenannte "fiktive Welt", so Wikipedia. Und erläutert weiter: Mit "Welt" wird die Annahme bezeichnet, dass man sich über Handlungen, Ereignisse, Personen, Orte etc. so unterhalten kann, als wären sie denjenigen Regeln der Kontinuität unterworfen, von denen angenommen wird, dass sie für die reale Welt gelten. Zitatende.

Unsere realexistierende Welt wird beherrscht durch die Allgegenwart von Ware und Wert. Ihre Regeln schaffen Fakten, Realität mit der wir uns konfrontiert sehen. Realität wie wir sie tagtäglich vorfinden und fortgesetzt reproduzieren - neu erschaffen. Die quasi-Naturgesetzlichkeiten der globalen Warengesellschaft verweisen den größeren Teil unserer Bedürfnisse ins Reich der Träume, der Luftschlösser, der Phantasmen, des Illusionären, der Fiktion. In dieser Wirklichkeit bleiben wir nichts als gesellschaftliche Rollenträger_innen, vereinzelt als Einzelne, was die Lage noch jeweils verschärft. Jede_r für sich mag rational handeln, oder auch nicht, ganz einerlei, am Ende fällt uns doch alles auf den Kopf. Absurdes Theater.

Das Kratzen am oberflächlichen Schein verfehlt den Grund der gesellschaftlichen Verhältnisse. "Die Forderung, die Illusionen über einen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusion bedarf", so der noch junge Marx bezogen auf die Kritik der Religion. Nicht das illusorische Glück - die hohlen Versprechen eines kapitalistischen Wonderland - das wirkliche Glück ist gefordert.

Raute

AutorInnen

Roger Behrens, 1967. Lebt in Hamburg, Weimar und Belo Horizonte. Studium der Philosophie und Sozialwissenschaften. An mehreren Universitäten, bei testcard und Zeitschrift für kritische Theorie tätig.

Ilse Bindseil, 1945. Bis 2008 Lehrerin für Deutsch und Französisch, ab 1995 auch für Philosophie in Berlin. Veröffentlichungen in Philosophie, Politik, Psychoanalyse, schöner Literatur. Redakteurin von Ästhetik & Kommunikation.

Thorsten Endlein, 1986. Studiert Politikwissenschaft und Soziologie, ist aktiv in der Kritischen Uni Kassel (KUK) und Mitglied der CSA-Freudenthal.

Lorenz Glatz, 1948. Streifzüge-Redakteur.

Severin Heilmann, 1976. Streifzüge-Redakteur.

Daniela Holzer, 1971. Am Institut für Erziehungs- und Bildungswissenschaft der Karl-Franzens-Universität Graz. Schwerpunkte: Kritische Erwachsenenbildung, Ausschluss und Benachteiligungen in der Weiterbildung, gesellschaftskritische Analyse von Bildungsbedingungen.

Franz Hörmann, 1960. Verheiratet, zwei Kinder, Professor an der Abteilung für Unternehmensrechnung der Wirtschaftsuniversität Wien; Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Einsatz postrelationaler Datenbanken im Rechnungswesen, Events-Approach, Network-Accounting.

Tomasz Konicz, 1973. Studierte Geschichte, Soziologie, Philosophie in Hannover sowie Wirtschaftsgeschichte in Poznan. Freier Journalist mit Schwerpunkt Osteuropa.

Dominika Meindl, 1978. Studium der Philosophie, freibeutende Schreibmaschine von Texten aller Art, Bloggerin und Poetry Slammerin in Linz. Früher basale Kenntnisse der Dekonstruktion, heute banale Erkenntnisse im Mahlstrom des Alltags.

Stefan Meretz, 1962. Berliner. Informatiker. Schwerpunkte: Freie Software und Technikentwicklung. Aktiv u.a. bei Oekonux und Wege aus dem Kapitalismus; "Traforat" der Streifzüge.

Emmerich Nyikos, 1958. Studium der Geschichte, lebt als freier Autor in Berlin und Mexiko-City. Zuletzt erschienen: Das Kapital als Prozeß. Zur geschichtlichen Tendenz des Kapitalsystems, 2010.

Peter Pott, 1937. Bis 2002 Professor für Politik und Philosophie an der FHS Bielefeld. Lebt in der Kommune Kleekamp in Westfalen. peter-pott.de, kommunekleekamp.de

Markus Pühringer, 1970. Studium der Volkswirtschaft; arbeitet in Linz bei den Grünen, in der Friedens-, Umwelt- und globalisierungskritischen Bewegung engagiert.

Franz Schandl, 1960. Streifzüge-Redakteur.

Martin Scheuringer, 1980. Streifzüge-Redakteur.

Maria Wölflingseder, 1958. Streifzüge-Redakteurin.

Petra Ziegler, 1969. Streifzüge-Redakteurin.

Raute

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Quelle:
Streifzüge Nr. 52, Sommer 2011
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Juli 2011