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STREIFZÜGE/037: Zeitschrift des Kritischen Kreises, Nr. 64, Sommer 2015


Streifzüge Nummer 64, Sommer 2015
Magazinierte Transformationslust

Zeitschrift des Kritischen Kreises - Verein für gesellschaftliche Transformationskunde



INHALTSVERZEICHNIS

Franz Schandl: Einlauf

Eske Bockelmann: Wie kommt die Welt nur weg vom Geld?

Nikolaus Dimmel: Sozialkritik

Petra Ziegler und Franz Schandl: Sozialkritik versus Sozialpolitik

Franz Schandl: Von der Deindustrialisierung zur Deklassierung.
Zur Kategorisierung schwindender Industriebelegschaften

Nikolaus Dimmel: Recht(swissenschaft) als Staatsbetriebswirtschaft.
Über die Auswanderung der Gesellschaft aus dem Recht

Martin Schinagl: Dating Digital

Martin Mair: Aussortiert. Ältere werden in die Armutsfalle "zweiter Arbeitsmarkt" abgeschoben

Karl Kollmann: Notizen über Ängste

Nikolaus Dimmel: Sozialkritik als Marktsignal

Julian Bierwirth: Lernen im Kapitalismus.
Anmerkungen zu Schulbetrieb und Notengebung

Lorenz Glatz: Vorwärts, müssen wir zurück?
Mein mangelndes Verständnis für Bildung und Pädagogik

Kolumnen

Dead Men Working: "Böses Erwachen" - Maria Wölflingseder
Immaterial World: "Körper und Emanzipation" - Stefan Meretz
Rückkopplungen: "Die Stimme und das Phänomen" - Roger Behrens

Rubrik 2000 abwärts
Severin Heilmann: Wussten Sie?
Franz Schandl: Schlecht kalibriert
Maria Wölflingseder: Recht unwirksam

Rezension
Julian Bierwirth zu Laury Penny: Unsagbare Dinge.
Sex, Lügen und Revolution

Franz Schandl: Auslauf "VerUNsicherung"

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Einlauf

von Franz Schandl

Solange der Kühlschrank voll ist oder angefüllt werden kann, ist es wohl nicht so tragisch. Da ist die Krise noch nicht magennah wahrnehmbar, schließlich leben wir hier ja in den Zentren des Kapitals und verstehen es zu wirtschaften. Wir schon. So zumindest das allgemeine Volksvorurteil, das auch unentwegt politisch und medial bedient wird. Man denke nur an die ständige Drohbotschaft an "die Griechen", die doch gefälligst ihre Hausaufgaben zu machen hätten. In der schräg inszenierten Auseinandersetzung Varoufakis gegen Schäuble und Schelling gehören selbstverständlich dem erstgenannten unsere Sympathien, trotz aller Kritik. Der weiß zumindest, dass es so nicht mehr weitergehen kann, während seine Kontrahenten meinen, dass es nur so geht. Die Ereignisse in Griechenland (aber nicht nur dort) zeigen, wie schnell die soziale Frage wieder in den Brennpunkt rücken kann. Aber auch bei uns ist sie, wenn auch unsichtbar gemacht, virulent. Wir leben in einer Phase sozialer Verwerfungen und wir glauben, dass das auffallen sollte.

In dieser Ausgabe versammeln sich sehr unterschiedliche Beiträge, auch was Akzentuierung und Herangehensweise betrifft. Manch Dissens wird sichtbar. Das schadet nicht, ist es doch notwendig, auf breiterer Ebene Grundsatzdebatten anzustoßen. Konsens ist, dass eine radikale Sozialkritik die konventionelle Sozialpolitik abzulösen hat. Ein besonderer Dank ergeht an Nikolaus Dimmel, der nicht nur einige Beiträge zu dieser Ausgabe beigesteuert hat, sondern die Nummer auch mitkonzipiert hat.


Am Samstag, dem 11. Juli, sind wir beim Zehnjahresjubiläum des Kostnixladen mit einem Infostand zugegen. Das Fest startet um 15 Uhr am Bacherplatz, 1050 Wien. Wir freuen uns über jeden Besuch. Na, nicht über jeden, aber über fast jeden. Gleiches gilt für Sonntag, den 18. Oktober. Da referiere und diskutiere ich über "Der Kapitalismus. Das unbekannte Wesen" in der VHS Urania. Details zu alledem und mehr auf: www.streifzuege.org

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Wie kommt die Welt nur weg vom Geld?

von Eske Bockelmann

Ein aktueller Witz über Griechenland - ein Kabarettist gibt ihn im Ersten Deutschen Fernsehen zum Besten - geht so: Hans hat vier Äpfel. Er isst neun ... Und das war er schon, der Witz. Wir verstehen: "Die Griechen" haben über ihre Verhältnisse gelebt, haben mehr verbraucht, als sie erwirtschaftet haben, und nun sind es die Steuerzahler erfolgreicherer Nationen, die die vorwitzig gefressenen fünf Äpfel von ihren redlich zusammengekratzten Sparguthaben rütteln und schütteln sollen. Griechenland leidet zwar derzeit nicht unter einer Krise seiner Apfelbäume, sondern unter einer, in der es um Geld und Finanzen geht. Aber da weiß der hochintelligente Kabarettist: Geld ist Apfel und Apfel ist Geld, denn mit Geld kauft man Äpfel, und wer sie verkauft, für den sind Äpfel Geld. Nur, bitte, es gibt da einen kleinen Unterschied: Äpfel kann man essen, ja, aber ganz sicher nur diejenigen, die wirklich da sind, und keinen einzigen mehr. Geld dagegen kann man - nun gut, nicht einmal essen - aber aus- und weitergeben, selbst wenn man es schuldet und insofern gar nicht hat. Und jetzt kommt's: Weiß der Witzbold, dass heute alle Geldmengen der Welt in dieser Weise unterwegs sind, nämlich grundsätzlich und ausnahmslos als Schulden? Geld ist kursierender Kredit, und Kredit, das ist Geld, das jemand schuldet: Wir alle leben, da wir von Geld leben, insofern auf Pump und verbrauchen Geld, das wir letztlich genausowenig "haben", wie jener Hans die fünf verbotenen Äpfel. Selbst "die Deutschen" - wenn wir einmal tun, was die Abendländler so gerne tun, und setzen die Leute ineins mit dem Staat, in den sie einsortiert sind -, selbst diese Deutschen also haben Schulden, leben mit und von Schulden: den Schulden, die Deutschland hat. Schon davon gehört? Auch die USA sind verschuldet, wer will's glauben, und egal, ob Japan, ob Burundi, ganz unter uns: Ein jeder Staat ist es. Die ganze Welt also lebt von Äpfeln, die sie nicht hat - falls wir die Welt ernsthaft mit dem lachenden Auge des Kabarettisten betrachten wollen. Ja, aber leider gehört dazu auch das weinende Auge, das mit ansehen muss, wie Griechen und andere es mit ihren Krediten und Schulden einfach nicht gebacken kriegen und trotzdem - geht doch nicht! Nun, und warum geht es nicht? Vielleicht weil Griechenlands Wirtschaft im Umgang mit diesen Kreditgeldern nicht genug an Gewinnen abgeworfen hat, mit denen es irgendwelche anderen in der Welt ausreichend hätte bezahlen können? Und das, weil es um dieses Geld, das man da zu zahlen hat, eine weltweite und knochenharte Konkurrenz gibt? Und weil diese Konkurrenz - big surprise - doch allen Ernstes die Wirkung hat, dass sie ihre Wirkung hat: dass sich da nämlich einige durchsetzen gegen andere und dass diese anderen also, tja, in dieser Konkurrenz unterliegen. Selber Schuld: Warum sind sie nicht wettbewerbsfähiger und haben, anstatt zu unterliegen, andere zum Unterliegen gebracht? So machen es "wir" - also, Beweis: Es geht doch! Wir haben zum Beispiel, unter anderem mit siemensen Schmiergeld-Summen, Griechenland niederkonkurriert. Hm, ach so. Aber - musste doch sein, oder nicht? Sonst stünden doch wir jetzt, wo die Griechen stehen!

Geld und Äpfel

Für mich wäre schon ein solch dummer Witz wie der von Hansens Äpfeln Grund genug, das Geld abzuschaffen. Aber natürlich gibt es dringlichere, weiter reichende und vor allem blutigere Gründe. Warum jedoch dringen die so wenig durch? Weshalb wird all die Jahre ohne jede Ermüdung, ja sogar mit wachsendem Nachdruck noch das letzte und aberwitzigste der Milliarden Probleme einer Finanzwelt bedacht und betrillert, die ganze Länder und Heerscharen von Menschen zu Boden schlägt, statt dass man sich für einen Moment dieser Möglichkeit widmet: die Versorgung mit Äpfeln nicht vom unmöglichen Gelingen all der widerstreitenden Geld-Notwendigkeiten abhängen zu lassen, sondern einfach und allein von einer guten Pflege der Apfelbäume! Der dumme Kabarettisten-Witz: Er ist Beleg für einen der hartleibigsten Gründe, weshalb diese Möglichkeit gar nicht erst in den Blick genommen wird. Geld und Äpfel, oder Geld und alles, wovon wir Menschen nun einmal wirklich leben, es gilt uns für ein und dasselbe. Weil Äpfel und alles für Geld zu bekommen ist und weil wir auf diese Weise tatsächlich von Geld leben, scheint in unseren Augen alles, wovon wir wirklich leben, Geld zu sein: dasselbe wie Geld. Geld abzuschaffen, das hieße für uns: das abschaffen, wovon wir leben. Wer kann so verrückt sein? Wer kann überhaupt auf die Idee kommen?

Ich sage: Jeder müsste es, der die deprimierenden bis grauenhaften Folgen und Bedingungen dessen erlebt, dass unser Wirtschaften nicht einfach und direkt nur dem gilt, uns gut zu versorgen, sondern zuerst und zuletzt und vor allem dem Erwirtschaften von Geld - und davon und von dessen unguten Gesetzen ist unsere Versorgung dann abhängig. Dass dem so ist; dass Wirtschaften insgesamt vom Erwirtschaften von Geld abhängt: So zwingend uns beides heute als dasselbe erscheint, das hat sich kein Mensch ausgedacht. Es war keine Idee, die da einem oder vielen gekommen wäre und die, weil sie so gut war, alsbald allen anderen Menschen weltweit eingeleuchtet hätte. Es hat sich auch nicht aus dem Geld selbst ergeben, in einer naturgesetzlichen Entwicklung von den Kauris bis zum Girokonto: Geld musste nicht zu jenem Geld führen, von dem dann alles Wirtschaften abhängt. Dass es dazu kam, war vielmehr eine - bedauerliche - europäische Sonderentwicklung. Geld, so wie es bis dahin gewesen war, hatte jahrtausendelang sehr stabil immer nur den geringeren Teil der Güter an den Mann gebracht, von denen eine Gemeinschaft lebte, während die Hauptsache an Gütern den Menschen auf andere Weise zukam, zuletzt meist feudalistisch. Doch in den westeuropäischen Ländern und aufgrund ganz eigener Bedingungen schlug dieses Verhältnis gegen Ende des 16. Jahrhunderts zum ersten Mal um: Jetzt war es zum ersten Mal tatsächlich das Geld, worüber dort der Hauptteil der Güter an die Menschen vermittelt wurde. Sie mussten sie kaufen, brauchten dafür ständig Geld und so auch ständig etwas zum Verkaufen, was andere kaufen mussten, damit jene ersteren Geld dafür bekamen, mit dem sie - und so fort. So wurde Geld zum Geldsystem.

Systemzwang

Und das ist leider unumkehrbar. Wie das? Es ist unumkehrbar in dem Sinn, dass es historisch zwar allmählich und Stück für Stück so weit gekommen ist, dass aber von dem Moment an, da es eingetreten ist, dies Eingetretene nicht Stück für Stück und allmählich wieder vergehen kann und übergehen in etwas Anderes, das es ablösen würde. Als dieses System kann es nur fortwirken, besteht es in dem Zwang, fortzubestehen, sich selbst zu behaupten - oder es bricht: insgesamt und gewaltsam. Wie unwillig man vor kurzem auch die offiziellen Kundgaben vernommen haben mag, die Rettung bestimmter Banken sei deshalb "alternativlos", weil diese Banken nun einmal "systemrelevant" seien, so gewiss hat man damit nicht etwa eine neoliberale Lüge vernommen, sondern die biedere Wahrheit. Es ist eine Tatsache: Es gibt da ein System, welches fortbestehen muss oder aber insgesamt stürzt und tatsächlich stürzen würde, wenn ihm bestimmte relevante Größen verloren gingen. Diese Tatsache besteht nicht erst seit 2008, aber bis dahin war sie mit einem starken Tabu belegt. Erst dank der massiven Krise wurde sie nun mit einem Mal so offen ausgesprochen, und erstaunlicherweise gar von Seiten einer Regierung, in deren Kundgaben sonst immer nur jene "Menschen" und "Bürger" figurieren, die alles, alles, alles mit ihrer freien demokratischen Wahl entscheiden würden. Von Systemzwang war vorher keine Rede gewesen und durfte nicht die Rede sein, weil doch die freiheitlich-demokratische Grundordnung so etwas wie System und Zwang keinesfalls verträgt und nie im Leben dulden würde - es sei denn, natürlich, was will man da machen, der Systemzwang bestünde zufälligerweise wirklich. Und das tut er: Das System und sein Zwang bestehen, und nicht erst, seitdem höhernorts das Wort "systemrelevant" ausgesprochen wurde, sondern seit das Geld zum Hauptvermittler alles Wirtschaftens geworden ist. Denn von diesem Anfang an, wenn die Versorgung einer Gesellschaft insgesamt von Geld abhängig geworden ist, gilt: Jeder, der gegen Geld etwas verkauft hat, hat nur dann weiterhin Geld in Händen, wenn er später wieder etwas dafür kaufen kann - wenn es also Geld bleibt. Nur dann kommt er folglich mit eben diesem Geld auch weiterhin zu den Dingen, von denen er zu leben hat, und nur dann kommt die Mehrheit zu dem, womit sie sich versorgen kann und versorgen muss - denn vom Geld hängt in diesem System ja alles Entscheidende ab, in dieser Abhängigkeit eben gründet das System. Nur wenn Geld Geld bleibt, kommt jeder in diesem System weiterhin zu all den lebensnotwendigen Dingen, die nur gegen Geld zu bekommen sind. Und bekommt er sie gegen Geld von jemandem, der damit auch seinerseits nur dann weiterhin Geld in Händen hat, wenn -. So ist jeder Kauf und Verkauf eine verpflichtende, eine zwingende Anweisung auf die Zukunft, in der es immer weiter Käufe und Verkäufe geben muss, damit das Geld, für das ich etwas weggegeben habe, auch Geld bleibt, für das ich etwas bekomme.

Nein, bis dahin war das nicht so: Da wurde aus dem Gold, mit dem vielleicht eben noch getauscht und gehandelt wurde, ohne weiteres ein kunstreicher Kerzenständer gefertigt und der bleibt der Kerzenständer, der er ist, egal ob nun weiter in der Welt gehandelt und getauscht wird oder nicht. Und falls, dann lässt er sich notfalls wieder einschmelzen. Unsere auf Konten notierten Guthaben dagegen lassen sich nicht verarbeiten und nicht einschmelzen, sie bestehen aus nichts: Sie müssen als Geld fungieren können, nur das, um weiter Geld zu sein. Und diese Funktion des Geldes, die zwanghaft jede Gegenwart an alle Zukunft bindet, die lässt sich nicht teilen, die kann nicht allmählich zerfallen. Sie kann ganze Länder zerfallen lassen, das wohl, und das tut sie reichlich, aber davon löst sich der Zwang nicht auf, in dem sie als ganze besteht.

Geld als Kapital

Das bringt manche auf die Idee, der Weg weg von einem Geld, das uns per Finanzwirtschaft in Krisen stürzt, wäre eben der, Geld zurückzuführen in die Form einer kerzenständermäßig wirklichen Substanz - so wirklich wie ein Apfel, den man essen kann. Aber auch das geht nicht, oder genauer: Dann könnte man das Geld gleich ganz abschaffen. Denn eine jede insgesamt über Geld vermittelte Wirtschaft unterliegt jener stählernen Notwendigkeit: dass Geld mehr Geld werde. Und dazu muss es immer mehr werden können - was keine wirkliche Substanz vermag: kein Gold, keine Äpfel, keine Rinderherden. Es ist ein bedauerlich harmloses Missverständnis des Wachstumszwangs, ihn durch menschliche Gier bedingt zu sehen. Dabei weiß jeder: Ein Geschäft ist nur eines, wenn es mehr Geld abwirft, als es vorher an Geld erfordert hat. Und auf solchen Geschäften basiert eine geldvermittelte Wirtschaft nun einmal notwendig, auf Geldgeschäften: Nichts anderes bedeutet es, dass sie geldvermittelt ist. Diese Geschäfte müssen nicht ausnahmslos alle gelingen, aber, wie alles in der Geldwelt, in der Hauptsache. Das müssen sie weltweit und immer weiter, dann und nur dann funktioniert dieses System - das daher notwendig kapitalistische System, es bedarf der Kapitalfunktion des Geldes: aus Geld mehr Geld zu werden. Nur mit ihr funktioniert das Geldsystem - wenn auch leider mit all dem üblen Drum und Dran, womit es sich längst unredlich verdient hat abgeschafft zu werden. Das alles aber bedeutet umgekehrt: Mit einem Geld, das diese Systemanforderung nicht erfüllt - und ein Geld aus lauter kerzenständermäßig wirklicher Substanz erfüllt sie bei weitem nicht -, kann das System auch nicht funktionieren. Es würde zusammenbrechen. Und deshalb wäre die Reduktion von Geld auf die Wirklichkeit von Äpfeln nicht bloß ein schlechter Witz, sondern gleichbedeutend damit, das Geldsystem gleich ganz abzuschaffen - und damit auch das Geld.

Aber nein, ergeht da ein Aufschrei, dieses Geld doch nicht, das gute, das feste! Es wäre doch dann ein ganz anderes Geld, eines, das gerade nicht mehr mit unserem Geldsystem zusammenhinge, eines, das ihm nicht mehr gehorchte und nicht mehr an sein vermaledeites Überleben gebunden wäre! Egal, was mit diesem System geschehen würde, ein solches Geld zum Festhalten, substantiell und kernig wie eine Scheibe Bio-Holz, könnte überhaupt nicht "zusammenbrechen". Und besser noch, es könnte nicht nur nicht zusammenbrechen oder sich in Luft auflösen oder uns irgendetwas von diesen widerlichen Krisen bescheren, es wäre endlich ein Geld ohne die vielen Fehler unseres Geldes. Es kann keinen Zins abwerfen, oder wenn es dies versucht, verbieten wir es ihm. Also gibt es mit diesem Geld keinen Gewinn, niemand kann daher auf Gewinn aus sein, die Gier erstirbt und jeder verlangt nur genau so viel, wie ihn das Verkaufte in irgendeiner Form selbst gekostet hat. Da so etwas wie Gewinn gar nicht erst entsteht, kann es keine Konkurrenz darum geben, die Menschen lassen sich gegenseitig in Frieden, sie lassen die Natur in Frieden und zusammenbrechen kann dabei gar nichts mehr. Ja, vielleicht erreichen wir das Gleiche sogar schon mit der Einführung jener Regionalgelder, wie sie allenthalben sprießen. Oder noch einfacher, womöglich genügt einer der vielfach vorgeschlagenen Tricks, mit denen man dem Geld das Zinstragen austreiben will. Oder, wenn wir es uns recht überlegen, gehen eigentlich schon die unzähligen Wünsche nach einer schärferen Kontrolle der Banken und Kredite und Finanztransaktionen in die richtige Richtung: Das Geld wird an die Kandare genommen, so dass es sich nicht mehr unendlich vermehren kann. Und wenn es sich nicht mehr unendlich vermehren kann - Ja, dann tatsächlich verträgt sich dies nicht mehr mit dem Geldsystem. Das Geldsystem wäre mit einem solchen Geld nicht möglich, es würde brechen. Da mögen sich auch seine Anhänger keine Illusionen machen: Selbst etwas so vergleichsweise Harmloses wie die strengere Bankenaufsicht, an der doch für keinen der emsigen Krisenbedenker ein Weg vorbeiführt, verträgt sich nicht mit dem Geld- und - nennen wir es noch einmal beim Namen - dem kapitalistischen System. Jede entschiedene Zurücknahme der oft verteufelten Deregulierung würde eingreifen in den Bereich eben jener Systemrelevanz, die keinen Eingriff duldet, wenn das System nicht fallen soll. Ein System, das auf dem Mehrwerden von Geld beruht, verträgt es nicht, wenn diesem Mehrwerden wirksame Schranken gesetzt werden. Schranken setzt es sich schon selbst eng genug, ja eigentlich viel zu eng, da es sich gerade dank seines anhaltenden und massenhaften Erfolgs längst Schwierigkeiten bereitet damit, weltweit genügend Möglichkeiten zu immer noch weiterer Vermehrung aufzutun - daher doch die Krisen. Selbst etwas so kreuzbrav und systemkonform Gedachtes also wie eine Rettung des Systems, die es lediglich besser kontrolliert haben will, läuft auf seine Abschaffung hinaus. Sie liefe hinaus auf einen Zusammenbruch dessen, wofür - wir erinnern uns - gewisse Banken und ihr finanzielles Gedeihen nun einmal strikt "relevant" sind. Wer der Finanzwirtschaft die Zügel anlegen will, fordert, ohne es zu wissen, ihr Ende, er fordert Unmögliches: dass untergeht, was er zu retten und zu bessern wünscht. Einige haben sich ja wahrhaftig gewundert, dass es nach der Krise an den Börsen und in den Banken nicht wirklich anders zuging als bisher, kaum einen Hauch kontrollierter als davor. Ein Skandal? Nein, es war anders nicht möglich, etwas anderes ist für das System eine Unmöglichkeit.

Nicht doch!

Nun gut, aber wir sprachen doch von einem Geld aus ganz realer Substanz - die könnte noch immer nicht mit untergehen. Und überhaupt, kehren wir den Gedanken doch einfach einmal um: Dieses System ist anfällig! Ist das nicht die beste aller möglicher Nachrichten? Es bricht zusammen, wenn - ? Soll es doch! Also, frisch gewagt, Vollmilch als Geld eingeführt und dann in aller Ruhe zugesehen, wie das System sauer wird!

Sehr gern - nur eine ganz kleine Frage zunächst: Was soll dann überhaupt noch unser Vollgeld, Bremsgeld, unser Geld-ganz-ohne-Zins? Das Geld wäre tot - folglich lebe das Geld? Nicht doch! Wir hätten das Geld endlich los, wir würden nicht mehr vom Geld leben, all das üble Drum und Dran wäre erst einmal entmachtet, und wir? Wir hätten nichts Besseres zu tun, als am Geld festzuhalten? Endlich hinge nicht mehr alles am Geld - wozu dann noch irgendetwas von Geld abhängen lassen? Um dankbar eine Vermittlungsform zu ehren, die wir zu Unrecht in den Orkus geschickt hätten? Oder weil sie, auf solche Weise zurecht gestutzt, nur noch Gutes täte? Auweia - was täte sie denn? Geld würde sich weiter rechnerisch dazwischenschieben, wenn Menschen hie und da einander etwas gäben oder zugute täten, vortrefflich! Aber wichtiger, viel wichtiger noch: Geld, solches Geld, würde sich nicht wieder zusammenschließen zu einem System der Versorgung. Geld, das nicht kapitalistisch funktioniert, ergibt auch kein solches System - zur Erinnerung: weil Geld nur unter der Sonderbedingung, dass es kapitalistisch funktioniert, ein solches System ergibt. Die Versorgung, die es als dieses System leistet, schließt zwar neben anderen unerträglichen Übeln mit ein, dass eine Milliarde Menschen buchstäblich hungert, also alles andere als wirklich versorgt wird - das ist wahr. Und dennoch gilt: Ein Geld, das nicht auf diese Weise funktioniert - auf diese grauenhafte Weise -, ergibt überhaupt kein System der Versorgung. Folglich auch kein besseres. Geld ohne das Geldsystem wäre ein Geld, das ebenso wie vor 1600 nur einen Bruchteil der benötigten Lebensmittel an die Menschen vermittelt. Und ein solches Geld, das Vermittlung und Versorgung nicht in der Hauptsache leistet, sondern nur am Rande, setzt voraus, dass eine andere Hauptart der Versorgung besteht und eingerichtet ist, - oder es gibt in der Hauptsache keine Versorgung. Einen solchen anderen Zusammenhang aber, der unsere Versorgung stiften würde, haben wir nicht. Hie und da gibt es Selbstversorgung, gibt es - ermutigend, aufstrebend - entsprechende "Commons". Doch wie weit die inzwischen auch greifen mögen, verglichen mit dem, was heutzutage an Versorgung über Geld läuft und laufen muss, bemisst sich ihr Anteil lediglich in den berühmten homöopathischen Dosen. Von denen aber kann die Welt nicht leben: Globuli machen den Globus nicht satt.

Na dann, worauf warten wir noch, richten wir es eben so ein, dass die Versorgung anders läuft! Leben wir denn nicht in Demokratien? Da haben doch wir zu bestimmen! Wir müssen nur endlich auf unserer demokratischen Macht und Wahl bestehen! Doch ach - auch da gibt es ein Problem, ein ganz gewaltiges, um nicht zu sagen: das gewaltigste aller Probleme. Und zwar nicht das viel besprochene, dass uns "die Wirtschaft" mit ihrer Macht unsere Demokratien kaputtmachen würde und dass wir deswegen erst wieder auf mehr Demokratie und mehr Macht und Durchsetzungskraft des Staates hoffen und pochen müssten. Nein, den Staaten, in die wir genauso ausweglos hineingeboren werden wie in das fertig eingerichtete Geldsystem, diesen Staaten fehlt nicht die Macht. Sie sind mächtig genug, um demokratisch für sich zu sorgen. Und das tun sie unter anderem, indem sie sich und alle, die sie ihrem Staatsgebiet zuzählen, aufs Geld verpflichten - auf Geld, so wie wir es heute kennen. Das haben sie sich sogar in ihre Verfassungen geschrieben: Marktwirtschaft, etwas anderes darf nicht sein. Demokratisch wählen dürfen wir nur sie, Marktwirtschaft: die Wirtschaftsform mit Geld, mit dem kapitalistischen, weltzerstörenden Geldsystem. Wer sich demokratisch wählen lassen will, darf die Bibel verkünden oder Cannabis für alle, egal, nur eines muss er verkünden: die Wirtschaft mit dem Geld. Und da achten die Staaten nicht nur scharf auf die Auswahl derer, denen sie ihre Macht übertragen lassen. Wenn mit irgendetwas in der falschen Richtung Ernst gemacht wird, so fackeln sie nicht lange, da werden sie sofort höchst ungemütlich. Sie dulden Regionalgelder, Tauschkreise, Kooperativen, die sich selbst versorgen, ja. Aber die dulden sie nur, solange nichts davon jener Wirtschaft in die Quere kommt, für die die Staaten eigene Ministerien halten. Solange irgendwelches Regionalgeld in strukturschwachen Gebieten, wie das heißt, zur Belebung der sonst lahmenden Wirtschaft beiträgt - in Ordnung. Würde es aber wagen und es vermögen, einen maßgeblichen Anteil an Wirtschaftsleistung zu übernehmen und damit den Geschäften in der Nationalwährung zu entziehen, so wäre sofort Schluss mit lustig. Der heutige Staat, der selbst vom Geld lebt und dafür den Erfolg kapitalistischen Geschäfts befördern muss, soviel er nur kann, kann keine Einschränkung dieses Geschäfts dulden. Und es nicht zu dulden, dazu hat er verdammt viel Macht, hat er seine Nationalen Sicherheits-Agenturen und hat er seine Drohnen der Gewalt.

Flammenmeer

Das sind die zwei großen Hoffnungslosigkeiten, an denen der Gedanke "Weg vom Geld!" zerschellt: das System und seine Gewalten. Jeder Versuch im Kleinen, das Zusammenleben, die Produktion von Gütern und ihre Verteilung nicht über Geld und nicht nach seiner Logik laufen zu lassen, ist wertvoll und kostbar - gerade da er kostenlos daherkommt. Doch selbst wenn es noch viel mehr von solchen Ansätzen gäbe und wenn sie alle schön zusammenwirken würden, um etwas ganz Anderes zu verwirklichen, am Geldsystem würden sie nicht kratzen: Sie könnten es nicht. Schon dass keiner von den sympathischen Leuten, die sich solchen Ansätzen widmen, nicht letztlich doch auf Geld angewiesen ist, und wäre es das Geld derjenigen, die ihm ein Leben ohne Geld ermöglichen. Wir bleiben insgesamt angewiesen auf Geld und also darauf, dass es als dieses System funktioniert: solange nicht ein anderes Geflecht darunter aufgekommen ist, über das wir uns versorgen könnten. Und dass kein solches aufkommt, dafür sorgen die Staaten und Gewalten, deren Macht mittels dieses Gelds besteht und ohne dieses Geld nicht bestehen würde. Selbst also, wenn das Wunder doch geschähe und die allmähliche Vermehrung der sympathischen Ansätze erreichte ein Maß, dass sie in der Lage wären, Geld zu ersetzen und die Versorgung an seiner statt zu übernehmen: Dann wäre das Geld abgeschafft, ja. Aber da gäbe es noch immer Mächte und eine Supermacht, denen es Jahrzehnte eines Kalten Kriegs wert war, jede Einschränkung eines heute "alternativlos" gewordenen Geldgebrauchs zu verhindern oder rückgängig zu machen, wo auch immer auf der Welt. Und man überlege kurz, worum sie heute ihre heißen Kriege führen. Glaubt jemand, sie würden bei dieser Gelegenheit zögern? Geld, wie es heute ist, hat sich allmählich ergeben, aber es kann nicht ebenso allmählich wieder vergehen. Es kann nicht nach und nach zerfallen oder gemütlich übergehen in eine Form der Gesellschaft und ihrer Wirtschaft, die nicht mehr über Geld vermittelt wäre. Vergehen wird es, muss es, da bin ich sicher. Nur steht sehr zu fürchten: mit einem großen Knall. Und ich kann mir nicht helfen, ich stelle es mir dann so vor wie bei der Löschung eines Großbrands: Wasser ist da nutzlos, es muss eine ganze Sprengladung her, deren Explosion für einen kurzen Moment das Flammenmeer auspustet; dann erst kann man mit den Schläuchen kommen und die erledigen den Rest. Also: Der Großbrand, das ist längst das Geld; die Explosion, das wäre eine Mordskrise, die gleich in mehreren Staaten das Finanz- und Geldsystem wegfegt; und dann müssten viele, viele von denen bereit stehen, die endgültig nicht mehr das Geld retten und es erneut bedienen wollen, sondern - für die Äpfel sorgen. Gemütlich wird es sicher nicht.

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2000 Zeichen abwärts

Wussten Sie?

Unweit der Pestsäule am Wiener Graben buhlt dieser Tage noch eine zweite, herausragen wollende Senkrechte um Beachtung. Aus einiger Ferne gewärtigt das wache Augenpaar drei Ovale, welche wie die Glieder einer Kette sich ineinander schließen, die an ihren beiden Enden oben und unten recht unbeholfen nach einem Grund für ihre Symbolhaftigkeit zu suchen scheint. Nähergekommen, geben sich die Ringe als um ihr Spielfeld verminderte Fußballstadien zu erkennen - eine Chiffre für unser passiviertes Leben im Spektakel? Der verdutzte Betrachter, der hilfesuchend der bienenwabenförmigen, gelben Plakette am Postament sich zuwendet, schlittert nun in schiere Ratlosigkeit, da steht zu lesen: "Wussten Sie? In der Wiener Industrie arbeiten über 170.000 Menschen. Damit könnte man 3mal das Ernst-Happel-Stadion füllen. Made in Vienna".

Es bedarf einer kurzen Sammlung, ein, zwei weiterer Lesegänge, um die Botschaft in ihren gewaltigen Bezügen erfassen zu können. Möchte man die Verdinglichung "Damit" der 170.000 gern als seltenen Hang zur sprachlichen Exaktheit auslegen, bedarf die bizarre Verhältnissetzung zwischen Füllmasse und ihrer Behältnisse recht besehen kaum noch den Hinweis darauf, dass diese innerstädtische Fragwürdigkeit schlicht als beißende Kritik an Arbeit und Herrschaft und ihren Lebensbeschädigungen zu verstehen sei.

Fast ist es nun verwunderlich, das Ungetüm mit seiner ausnehmend hässlichen Anmutung nicht schon eher erkannt zu haben: Die subtile panem-et-circenses-Anspielung, die monströse Kette - Allegorie der knechtenden Arbeit -, die praktisch in der Luft hängt, funktionslos, grundlos, nutzlos - ein akrobatischer Kraftakt ohne die geringste Grandezza; die provozierende Frage "Wussten Sie?", die Korrespondenzen zur Pestsäule usw. - raffinierter, subversiver, schärfer und ironischer kann Kunst nicht sein.

Der Einwand, die Installation sei gar kein Kunstwerk, vielmehr eine PR-Attacke von Industrie und der Stadt Wien, möchte genannte Qualitäten dann immerhin diesem kleinen Beitrag hier überlassen.

S.H.

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Sozialkritik

von Nikolaus Dimmel

Sozialkritik ist als Parteinahme eben nicht nur Gesellschaftskritik. Ansonsten wäre Sozialkritik lediglich Kritik an Armut, destruktivem privatem Reichtum und ideologischen Falschmeldungen. Sozialkritik kann nicht bloß von Sozialstruktur, Vermögens- und Einkommensverteilung oder Denkweisen sprechen. Denn die Institutionen und Praktiken einer kapitalistischen Extraktions- und Aneignungsökonomie lassen sich nicht abgeschichtet von ihren gesellschaftlichen Entsprechungen denken. Wer also Institutionen, Praktiken und Verkehrsformen kritisiert, kann dies nicht, ohne die Produktionsverhältnisse, das ihnen zugrunde liegende Privateigentum, Lohnarbeit und Kontrakt in den Blick zu nehmen.

Sozialkritik ist notwendigerweise ebenso analytisch wie normativ und nicht-affirmativ. Sie ist analytisch, weil sie eine Theorie der Gesellschaft, ihrer Konstitution und Reproduktion voraussetzt. Und sie ist normativ, weil sie sich anschickt, das Kritisierte abzuschaffen (Revolution) oder zu modernisieren/verbessern (Reform), also nicht bloß zu bewahren (wodurch eine konservative Position beschrieben ist). Insofern ist Sozialkritik per se kein "linkes" Diskursprojekt.

In Abgrenzung zur bloßen Nörgelei verfügt Sozialkritik über utopisches Potential. Dieses Potential erschließt sich einerseits aus der Frage, was "gerecht" oder "angemessen" ist, andererseits aus Vorstellungen eines guten individuellen und (!) kollektiven Lebens. Diese finden sich etwa bei Marx' Bild, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden. Sie finden sich in jenen Debatten, in denen Demokratie jenseits des Repräsentativen gedacht wird, ebenso wie in den Diskursen über die Befreiung von Lohnarbeit als falscher Arbeit durch ein bedingungsloses Grundeinkommen. In derlei Ansätzen wird auch deutlich, dass der normative Anspruch der Sozialkritik regelhaft mit dem Gebrauch ideologischer Fixationen einhergeht.

Nicht erst seit Pierre Bourdieus "Gegenfeuer" lässt sich linke Sozialkritik konzeptionell nicht mehr von sozialer Veränderungspraxis trennen. Der "Neopragmatismus" versteht Sozialwissenschaften überhaupt als Sozialkritik, weil sich Soziologie im neoliberalen Regime unausweichlich mit der dramatischen Verschlechterung der Lebensrealität eines Großteils der Bevölkerung, mit Armut, Ausgrenzung und Polarisierung zu befassen hat. Derlei Sozialkritik ist folglich immer Kritik an der Ungerechtigkeit und damit ein reformistisches Programm zur Änderung von Verteilungsrelationen. Anders Marx, der Kritik an jenen Verhältnissen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist, mit dem Ziel ausgearbeitet hat, diese Verhältnisse "umzuwerfen". Marx' Ausführung in den Thesen über Feuerbach, dass es darauf ankommt, die Welt zu verändern (und nicht bloß zu interpretieren), spiegelt sich ansatzweise in den sozialen Widerstandspraktiken von Occupy-Wallstreet bis hin zu Podemos. Hier verstehen sich Protest und Widerstand unmittelbar auch als Sozialkritik an herrschenden gesellschaftlichen Ordnungen. Noch ist nicht ausgemacht, wann und wie genau der kapitalistische Metabolismus und sein Fossilismus ebenso wie die Landnahme durch das Finanzkapital an ökologische und stoffliche Grenzen stoßen werden. Ob aber an diesem "Cliffhanger" eine "prometheische Revolution" (Elmar Altvater) ein neues (biotechnologisches) Akkumulationsregime hervorbringt, die Verhältnisse mit offenem Ausgang umgestürzt werden oder ob das an seine Verwertungsschranken gestoßene überakkumulierte Kapital eine dystopische Wende hin zur autoritären Verwertung der Körper als dem letzten Areal der Landnahme einleitet (von der infantilen Idee einer Besiedelung des Weltraums abgesehen), ist Geschichte, die kollektiv "gemacht" wird.

In eben dieser Geschichte fungiert Sozialkritik als Gegenpol zur hegemonialen Praxis der politischen, medialen und akademischen "Blödmaschinen" (Metz/Seeßlen). Folgerichtig geht es der Sozialkritik auch darum, den affirmativen Block dienstbarer Symbolagenten und Lohnschreiber in Think Tanks, Universitäten, Fachhochschulen oder Medien zu attackieren. Sozialkritik nimmt dabei nicht notwendigerweise akademische Form an. Der "Outcome" von Michael Glawoggers "Workingman's death" oder der photographien sebastiao salgados zur Arbeitswelt der Subalternen ("Workers") ist definitiv höher als Regalmeter arbeitssoziologischer Literatur.

Doch so eindeutig kommt eine linke Sozialkritik dann doch nicht davon. Denn im kulturellen und ökonomischen Code eines hegemonialen Kapitalismus (tatsächlich kann sich kaum noch jemand eine Systemtransformation vorstellen) benötigt das Kapital die Sozialkritik, um seine "Performance" zu optimieren und dem überakkumulierten, Verwertung heischenden (Finanz)Kapital neue Märkte zu erschließen: Entschleunigung, "cradle-to-cradle"-Nachhaltigkeitskonzepte, Jazz, Umweltbewegung, Cyberpunk, biologischer Landbau, Neorealismus oder "decent work"-Modelle: das Kapitalverhältnis hat all diese dissidenten, implizit oder explizit Sozialkritik übenden und inkorporierenden Diskurse und Bewegungen metabolisch absorbiert, verdaut und in Form von Waren wieder ausgeschieden. Ebenso, wie es kein richtiges Leben im falschen gibt, gibt es keine Sozialkritik, welche die herrschenden Verhältnisse zum Tanzen bringt, wenn diese vor den Orten der Wertschöpfung Halt macht.

In letzter Instanz zielt alle Sozialkritik auf die Entschleierung von Herrschaftsverhältnissen, die Entfesselung emanzipatorischer Potentiale sowie die Bemächtigung ("Empowerment") der Subalternen. Damit steigen - so wie sich das Extraktions- und Ausbeutungsverhältnis globalisiert - auch die Anforderungen an eine Sozialkritik, welche ihrem Gegenstand gerecht wird. Sozialkritik ist heute notwendigerweise globalisierte Kapitalismuskritik, sobald es ihr um ein gutes Leben für alle, um Bedürfnisentsprechung, um die Optimierung der Möglichkeiten aller bei Entledigung jedweder sozialen Drangsalierung, um materielle und soziale Teilhabe und um die Gleichheit der Chancen für alle geht, "ihr Ding zu machen".

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E-Mail-Container

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Sozialkritik versus Sozialpolitik

von Petra Ziegler und Franz Schandl

Sozialpolitik hat wie Politik überhaupt ihre besten Zeiten hinter sich. Die Spielräume werden enger und ihre Parolen fahler. Sozialpolitik fällt zur Gänze in den Rayon der Immanenz. Permanent soll repariert werden, was das System an Mensch und Stoff bedroht und schädigt. Sozialkämpfe verkommen in aussichtslosen Abwehrgefechten, die mürbe machen und sich kaum noch gegen die immer neuen Zumutungen "der Märkte" behaupten können. Natürlich, solange bürgerliche Verhältnisse herrschen, kann man auf Sozialpolitik wie Politik nicht einfach verzichten. Es ist aber doch etwas anderes, ob man sich negativ oder positiv darauf bezieht.

Sozialpolitik denkt das Soziale in der Form von Geld und Recht, ihre Ziele sind Umverteilung und Sicherheit, kurzum die Etablierung eines Sozialstaats. Materielles Zukommen transportiert sich als Geldleistung oder Verbot respektive Gebot. Sozialpolitik meint das unermüdliche Ausbessern und Mildern der Folgen bei völliger Akzeptanz der bürgerlichen Formprinzipien. Sozialkritik hingegen macht diese Form selbst zum zentralen Gegenstand ihrer Analyse und Forderungen. Sie will nicht Feuerwehr sein, sondern Treibsatz. Ihr Trieb ist die Transformation.

Sozialpolitik will Sicherheiten innerhalb der Unsicherheiten bauen, Sozialkritik die soziale Unsicherheit überhaupt abschaffen. Um uns nicht misszuverstehen: Ein angstfreies Leben kann es nie geben. Die Furcht vor Krankheit und Schmerz, vor Unfällen und Unglücken, oder gar vor dem Sterben, kann nicht überwunden werden. Die Angst jedoch zu verhungern oder zu verelenden, die ist sehr wohl zu beseitigen, weil sozial gemacht. Sozialkritik dient dieser Intervention. Angestrebt wird ein kollektiver sozialer Halt, eine gemeinschaftliche Fürsorge, die außer Frage steht. Diese Fürsorge ist allerdings nicht an ein Äquivalent einer Vorsorge gekoppelt, sie ist frei von Paternalismus und jedweder Bevormundung. Zuwendung und Mitgefühl, Pflege und Stütze stehen uns zu. Als Menschen. Bedingungslos.

Sozialkritik fragt nicht nach Finanzierbarkeit. Wenn menschliches Wohlergehen, selbst bloßes Überleben und der Schutz unserer Umwelt als Kostenfaktoren firmieren, wenn der Ausbau oder auch nur Erhalt erreichter Standards sich erst rechnen müssen, führt sich deren Abhängigkeit von gelingender Wertverwertung ad absurdum, nicht der Wunsch nach einem besseren Leben. Nicht das unsoziale, aber oft durchaus marktadäquate Verhalten einzelner, die Verhältnisse selbst sind zu skandalisieren - der Wahnsinn unserer "Normalität". Im Fokus steht der Realismus einer Gesellschaft, nach deren Rationalität wir noch am Nötigsten sparen sollen und ansonsten die Augen verschließen vor den großen Miseren bürgerlichen Daseins. Sozialkritik erkennt die eigene Not und die des Gegenübers. Mit Blick auf das scheinbar Utopische setzt sie auf die Möglichkeiten und den Einfallsreichtum unserer Spezies, deren Experimentierlust und Improvisationsgeschick und vor allem ihr immenses kreatives Potential. Hier gilt es zu schöpfen. Und zwar alle für alle. Es ist genug da und es ist noch mehr möglich.

Sozialkritik will die Akzeptanz des Gegebenen zerstören, sie kennt keine Selbstverständlichkeiten, geschweige denn, dass sie sie anerkennt. Nichts hat zu bleiben, allein weil es so ist. Die Zwänge marktwirtschaftlicher Konkurrenz sind ihr kollektive Zumutung, nicht individuelle Herausforderung. Als Selbstkritik fordert sie zur Distanzierung von der eigenen Charaktermaske auf und zur Beseitigung geschlechtlicher wie sonstiger Etikettierungen. Ein Sensorium für Privilegien, die unsereins genießt, gehört dazu ebenso wie das Aufzeigen von Diskriminierung, gerade auch vonseiten nicht direkt Betroffener. Strukturelle und persönliche Gewaltverhältnisse müssen aufgedeckt und eliminiert werden. Fixe Zuordnungen sozialer Rollen hat es nicht zu geben. Eine Schublade ist kein menschenwürdiges Habitat.

Sozialkritik führt weg von den einschlägigen, aber defensiven Forderungen wie "Verteidigt die ...!", "Hände weg von ...!", "Nein zu ­...!", aber ebenso weg von den ewigen Komparativen des Mehr vom Gleichen: "Mehr Lohn!", "Mehr Gerechtigkeit!", "Mehr Urlaub", "Mehr Konsum" und erst recht vom gänzlich ideen- wie trostlosen Gerede von Wachstum und Beschäftigung. Es geht ihr nicht vorrangig um Mitbestimmung und Demokratisierung der Arbeitswelt. Es geht um die Überwindung des Systems der Arbeit. Sozialkritik ist daher ein Versuch, den Klassenstandpunkt zu überwinden. Nicht die Rekonstitution des Klassenbewusstseins ist gefordert, sondern ein Fühlen, ein Denken, ein Tun wider die normierten und absehbaren Schicksale. Alle sozialen Schranken sind als nichtig zu erkennen und einzureißen. Jetzt!

Sozialkritik dechiffriert die bürgerlichen Verhältnisse als Konsequenz einer blinden Dynamik. Ware und Geld verlangen Ergebenheit unter ihre eigenen Gesetze. Diesem Frondienst wollen wir uns entziehen, nicht nur klammheimlich, hin und wieder, sondern kategorisch. Mit dem guten Leben verträgt sich kein strukturelles Diktat, mit freier Assoziation, mithin der bewussten Absprache und Auseinandersetzung über die gemeinsamen Belange, ist es gänzlich unvereinbar. Freiheit kann nur jenseits fetischistischer Zwänge liegen. Nicht unterworfen zu sein, nichts und niemandem, darum geht es. Das gute Leben ist machbar.

Alles, was darunter zu machen ist, begeistert uns kaum. Der Sozialstaat war stets eine fragile Notlösung, nicht mehr. Die Zeit der Notoperationen geht jedoch zu Ende, sie sind, wie das Wort nahelegt, nur Operationen (in) der Not. Sie lösen nichts und perpetuieren alles. Sie beschränken unser Denken auf das, was im kapitalistischen Selbstzweckgetriebe gerade noch für uns abfällt. Sporadische Sozialkämpfe erscheinen fast schon als das "Rette-sich-wer-kann" der noch verbliebenen Stärkeren. Anstatt über die reichhaltigen materiellen und ideellen Portionierungen zu reden, streiten wir noch immer über die adäquaten Proportionierungen entlang der Verwertungsschiene. Perspektive geht im abstiegsängstlichen Kleinklein verloren. Wir sollen das nicht wollen.

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2000 Zeichen abwärts

Schlecht kalibriert

René Otto Knor, laut Eigendefinition "Österreichs Nr. 1 Coach" und Haupttrainer der NLP Akademie weiß es: "Warum sind viele Unternehmer nicht so erfolgreich wie sie es gerne wären? Was unterscheidet finanziell wohlhabende und reiche Menschen von jenen, die den Sprung zur finanziellen Freiheit nicht schaffen oder denen gar am bekannten Ende des Geldes noch zu viel Monat übrig ist ...?" Und nun wird es weihevoll: "Es ist der Geist der Armut oder Reichtum schafft", lässt er in einer Anzeige im Wirtschaftsreport. Das Magazin für den Mittelstand (Ausgabe 03/2014, S. 8) ausrichten. "Der Schlüssel zu unseren finanziellen Ergebnissen liegt nicht im Außen, sondern im Innen: Bei unserer Unbewussten Zielkalibrierung (UZK). Wir alle haben eine UZK, die unsere Ergebnisse determiniert - einen unserem Wertesystem entsprechenden Fokus. (...) Der Schlüssel zum finanziellen Erfolg liegt also darin, unsere UZK so einzustellen, dass sie mit Glaubenssätzen und Wertesystem im Einklang steht."

Glaube-Werte-Einklang, da jauchzt das esoterische, den Mittelstand magazinierende Herz. Die finanzielle Position ist die kalibrierte Disposition des Geistes. Je schärfer die Kalibrierung, desto größer das ökonomische Kaliber. Die Logik ist bestechend einfach: Wer zu Geld kommt, ist gescheit, wer nicht, gescheitert. Schlecht kalibriert. Ein Depp oder, wie es im Fachjargon heißt, eine Person mit "suboptimalen Strategien". An der Höhe des Einkommens erkennt jeder seinen Wert. Ganz simpel.

Zweifellos ist das die ordinärste Rechnung, die aufgestellt wie ausgesprochen werden muss. Falsch ist die nicht, bloß unerträglich. Auch der "Sprung zur finanziellen Freiheit" konstatiert, dass der bürgerliche Grundzustand in dieser kapitalen Welt die finanzielle Unfreiheit ist, was ja ebenfalls stimmt. Einer wie Knor weiß, was er zu sagen hat, aber nicht, was er sagt. Nur so einem kann es gelingen, via UZK das Unbewusste ganz bewusstlos einzustellen und die lechzende Geschäftswelt mit und in ihrem Irresein zu zelebrieren.

F.S.

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Von der Deindustrialisierung zur Deklassierung *

Zur Kategorisierung schwindender Industriebelegschaften

von Franz Schandl

Unter Deindustrialisierung verstehen wir einen Schrumpfungs-, Zerschlagungs- und Liquidierungsprozess des industriellen Potenzials (Arbeitskräfte, Maschinen, Gebäude, Knowhow). Zentral ist der Verlust von Industriearbeitsplätzen, die von der Industrie selbst nicht kompensiert werden können. Kennzeichnend ist, dass immer weniger Arbeit und somit auch Arbeiter zur Herstellung bestimmter Produkte notwendig sind, aber auch, dass (nicht nur aufgrund der niedrigen Qualifikation) die verbleibende notwendige Arbeitskraft anderswo billiger eingekauft werden kann.

Deindustrialisierung heißt aber nicht, dass die Form der Produktion von Massenwaren sich grundsätzlich ändert, es wird ja weiterhin industriell gefertigt. Deindustrialisierung funktioniert Vorerst als räumlich fixierter und auch zeitlich forcierter Abzug des industriellen Potenzials. Wo und wann und auch wie das vonstattengeht, darüber entscheidet primär die globale Konkurrenz. Man braucht inzwischen auch immer weniger Fabriken, um das proportional nötige Weltquantum herzustellen. Und um es auf die konkrete Ebene der Standorte herunterzubrechen: Strümpfe werden weiterhin in Strumpffabriken hergestellt, aber eben nicht mehr in dieser oder jener Weltregion.

Wertrevolutionen

Viele Betriebe rechnen sich nicht mehr, sie waren zu wenig spezialisiert, dafür verfügten sie über Überkapazitäten (Maschinen wie Arbeiter), die einfach nicht mehr gebraucht wurden. Diese Betriebe sind in ihrer Struktur nicht aufrechtzuerhalten. Der Markt negiert ihre Existenz binnen weniger Jahre. Was gestern noch von Erfolg zu Erfolg eilte, war auf einmal überflüssig und schrottreif geworden: "Erleidet der gesellschaftliche Kapitalwert eine Wertrevolution, so kann es Vorkommen, dass sein individuelles Kapital ihr erliegt und untergeht, weil es die Bedingung dieser Wertbewegung nicht erfüllen kann. Je akuter und häufiger die Wertrevolutionen werden, desto mehr macht sich die automatische, mit der Gewalt eines elementaren Naturprozesses wirkende Bewegung des verselbständigten Werts geltend gegenüber der Voraussicht und Berechnung des einzelnen Kapitalisten, desto mehr wird der Lauf der normalen Produktion untertan der anormalen Spekulation, desto größer wird die Gefahr für die Existenz der Einzelkapitale. Diese periodischen Wertrevolutionen bestätigen also, was sie angeblich widerlegen sollen: die Verselbständigung, die der Wert als Kapital erfahrt und durch seine Bewegung forterhält und verschärft." (MEW 24, 109)

Die Deindustrialisierung ist freilich kein Randphänomen, sondern betrifft alle industrialisierten Zonen und Standorte. Das Problem ist ein transnationales: "Frankreichs Regierung will die Industrie durch die Förderung von 34 Prestigeprojekten von Grund auf neu erfinden." (Der Standard, 16.09.2013) Präsident Hollande hat sogar die dritte industrielle Revolution ausgerufen. In zehn Jahren sollen 475.000 Arbeitsplätze geschaffen werden. In Frankreich ist die Zahl der Industriearbeiter von 5,5 Millionen (1973) auf 3,2 Millionen (2010) gesunken.

Ähnliches verlautbarte die Europäische Kommission, die erst unlängst den Beschluss gefasst hat, mit offensiven industriepolitischen Maßnahmen eine Reindustrialisierung zu forcieren. (Baum 2014, 17 f., 135 f.) Wirklich neu ist aber in diesem Zusammenhang eine konkrete Zielvorgabe Von 20 Prozent der Wertschöpfung. In dem entsprechenden Dokument heißt es: "A strong European industry is necessary for fostering growth and competitiveness to sustain the current incipient economic recovery." (European Commission 2014, 1) "To be able to reindustrialize Europe by increasing manufacturing's share of GDP to 20 % by 2020, Europe needs to mainstream its competitiveness. Thus, all policy areas having an impact on competitiveness should take its aspects into account."(2)

Die Konzepte und Beschlüsse der EU-Stellen lesen sich übrigens weniger wie Analysen, denn als Werbeprospekte, wo kommerzielle Schlagwörter und Motti sich eifrig die Hand schütteln und einander frenetisch Beifall klatschen. Immer dreht es sich dabei um Märkte und nicht um Menschen. Die Forderung nach einer Reindustrialisierung oder gar einer Renaissance unterstreichen dies auch sprachlich. Es geht nicht um Neues, sondern um Erneuerung. Reindustrialisierung ist Antwort auf Deindustrialisierung. Dasselbe will man, aber besser, effizienter, moderner, flexibler und wie die Köder des Business-Jargons und PR-Vokabulars so alle lauten. Hier sind sie konzentriert und konzertant zu finden. Keynesianer wie Monetaristen glauben daran, dass es wachstumsmäßig vorwärtszugehen hat. Beide sind sich auch einig, dass Markt und Staat richtig auszutarieren wären. Uneinig sind sie sich nur über die Gewichtung des Interventionismus.

Ganz banal gefragt: Was sollen die allesamt produzieren und wozu? Wer soll es kaufen und kaufen können? Was sollen die Konsumenten davon haben? Was heißt das ökologisch? Selbst Ökonomen, die die Zielsetzungen der Kommission grundsätzlich teilen, halten solche Prognosen für unrealistisch. Michael Peneder vom WIFO etwa schreibt: "Wenn die Maßnahmen einer offensiven Neuen Industriepolitik erfolgreich sind, wird die Produktivität der Sachgütererzeugung relativ zu den anderen Sektoren noch rascher steigen. Weil auch die USA, Japan und zahlreiche Schwellenländer ähnliche Instrumente einsetzen, ist der mögliche Zugewinn an Wertschöpfung der Industrie durch Verbesserung des Außenbeitrags begrenzt. In Summe wird durch den globalen Wettlauf um eine möglichst große Wettbewerbsfähigkeit der Industrie jedenfalls das Produktivitätswachstum in der Sachgütererzeugung weiter angetrieben. Wir alle profitieren dabei von günstigeren Waren und damit höheren realen Einkommen. Der Anteil der Industrie an der nominellen Wertschöpfung wird dadurch aber noch rascher sinken!" (Peneder 2014, 7)

Josef Baum hingegen macht sich in seiner neuesten materialreichen Studie "Analyse, Herausforderungen, Perspektiven und wirtschaftspolitische Implikationen einer Reindustrialisierung in Niederösterreich bzw. Österreich" (Endbericht August 2014) ganz zum Anwalt dieses Ziels, das er nicht nur teilt, sondern auch für möglich hält: "Der Weg zu einem 20-Prozent-Ziel beim Industrieanteil kann sicher nicht mit 'etwas mehr' an Industriepolitik erreicht werden. Es müsste auf breiter Basis über Beeinflussungen vieler Faktoren im Sinne der massiven Ausweitung industrieller Produktionsstrukturen und Aktivitäten erfolgen. Für einzelne Unternehmen oder Unternehmensgruppen ist eine Ausweitung über die Nutzung und Schaffung von schwer imitierbaren Wettbewerbsvorteilen erreichbar. Eine tatsächliche Ausweitung der Industrie muss aber auf einer umfassenderen Basis erfolgen." (Baum 2014, 19) Und weiter: "Eine signifikante Re-Industrialisierung im Sinne des von der EU gesetzten Ziels der Zunahme des Industrieanteils müsste massive zusätzliche Maßnahmen erfordern, diese müssten wiederum systematisch entworfen, erörtert und mit einem breiten Konsens beschlossen werden, um wirksam werden zu können." Und schließlich: "Der Weg zu einem 20-Prozent-Ziel beim Industrieanteil ist wohl nur über breite Partizipation, durch die Mobilisierung von Energien und Ideen möglichst vieler Mitarbeitenden und nicht zuletzt über die Beteiligung der Arbeiternehmer_innenvertretungen an den konkreten konzeptiven Orientierungen zu erreichen. Dazu sind stabile und faire Arbeitsbeziehungen mit sozialer Absicherung notwendig, ohne die eine solche Mobilisierung nicht real ist."(21)

Fetisch Arbeitsplatz

Doch wohin soll und kann die Reise in Zeiten kollabierender Märkte (nicht nur Finanzmärkte!) noch gehen, wenn das angestammte Terrain partout nicht verlassen wird. Baums Antworten bleiben äußerst Vage. An der kapitalistischen Grundkonstitution und ihren Prinzipien (Ware, Markt, Geld, Profit, Lohn, Preis, Konkurrenz etc.) wird nicht gerüttelt. Baum wäre schon zufrieden, wenn mehr Demokratie und Lohngerechtigkeit (Baum 2014, 141 f.) in der Wirtschaft Platz greifen würden. Die Krise wird so auch implizit als konjunkturelle und vorübergehende gedeutet, behebbar durch entschiedene öffentliche Maßnahmen. Dass die Interessen von Industrie und Finanz, Politik und Konsum überhaupt destruktiv geworden sein könnten, wird nicht in Betracht gezogen. Ebenso wenig findet sich eine Wachstumskritik. Die Dimension der Aufgaben wird ganz klassisch als Frage politischer Reparatur verhandelt, nicht als Frage gesellschaftlicher Transformation.

Vor allem Arbeit und Arbeitsplatz bleiben als Fetisch unstrittig. Sie müssen aufgestellt werden, da sind sich alle einig. Eine Politik, die keine Arbeitsplätze verspricht, darf es nicht geben, weder im Waldviertel noch in Paris oder Brüssel. "Das Postulat der Vollbeschäftigung wird also umso weniger erfüllbar sein, je höher der technologische Status einer Gesellschaft ist", schrieb Günther Anders (1980, 99); und weiter: "Die Dialektik von heute besteht in diesem Widerspruch zwischen Rationalisierung und Vollbeschäftigung. Dies offen zuzugeben, bringt kein Politiker über sein Parteiherz." (ebd.) Die Schaffung von Lohnarbeit gilt als zentraler Leistungsausweis der Politik: "Tatsächlich sind die 'Arbeitsplätze' heißenden Produkte so wichtig, dass Politiker, die nie welche erfinden oder organisieren, ebenso gut gleich ihren Hut nehmen können. Die keine versprochen haben, gibt es keine. Freilich auch keine, die auf die Dialektik von heute, die Geläufigkeit von steigender Technik und sinkendem Bedarf an Arbeitern bzw. Arbeitsplätzen eine Antwort wüssten." (Anders 1989, 41)

Ausgesprochen wird hier, dass Arbeit und Politik ehern verbunden sind: Arbeit als Konstituante des Kapitals und Politik als dessen Resultante werden zusammengedacht. Aufgabe der Politik, der Interessenvertretungen und der Wissenschaft und ihres jeweiligen Personals ist es, das Versprechen der Arbeit als Versprechen auf Arbeit unablässig zu erneuern. Doch diese Versuche werden immer unglaubwürdiger, Versprechen und Entsprechen fallen zusehends auseinander.

Dort, wo die Industrie nicht mehr wettbewerbsfähig ist, wirkt sich dieser Trend natürlich gravierender aus als dort, wo sie es noch ist. Aber auch Zentren bleiben nicht verschont. Kann man gegen diese Deindustrialisierung protestieren, gar streiken? Wohl kaum. Man denke an das Schicksal des großen englischen Bergarbeiterstreiks. Und dabei handelte es sich um eine kämpferische Arbeiterschaft, die in ihren besten Zeiten konservative Regierungen stürzte. Doch auch sie konnte trotz aller Mobilisierung und Kampfkraft nur noch eine herbe Niederlage einfahren. Im Prinzip offenbarte die paradigmatische Auseinandersetzung zwischen Scargill und Thatcher die ganze Hilflosigkeit und Ratlosigkeit der europäischen Arbeiterbewegung. Da war nichts mehr zu holen, egal ob man auf Klassenkampf oder wie in Österreich üblich auf den Sozialpartnerschaft genannten Klassenfrieden setzte. Die Konsequenz transnationaler Deindustrialisierung ist die strukturelle Massenarbeitslosigkeit. Durch die letzte Krise 2008 ff. erlebte diese einen kräftigen Schub. In ganz Europa (Deutschland ausgenommen) ist die Arbeitslosigkeit meist deutlich angestiegen.

Industrialisierung und Reindustrialisierung

Unterbrechen wir hier noch einmal, indem wir unsere zentrale Kategorie modifizieren und verschärfen. Reindustrialisierung ist nämlich ein hybrider Begriff. Einerseits stellt er auf rein quantitative Verhältnisse des sogenannten Wertschöpfungsprozesses (gemeint sind damit alle erfassbaren Geschäfte in einem Wirtschaftsraum innerhalb einer bestimmten Zeitspanne) ab, andererseits geht es um sehr konkrete Dinge wie Fabriken und Maschinen, Arbeitskräfte und Erzeugnisse. Einmal reden wir von Geldgrößen (Tauschwerten) der Ökonomie, das andere Mal ganz sinnlich von Produktivitätsfaktoren (Gebrauchswerten).

Eine aggressive Standortpolitik mag lokale Ausnahmen schaffen, die generelle These aber lautet, dass die Bedeutung der Industriearbeiterschaft global und national, regional und kommunal abnimmt und dass diese Tendenz nicht umkehrbar ist. Dies ist auch der Fall, wenn Betriebe wachsen und das Volumen der hergestellten Waren zunimmt. Charakteristikum dieser strukturellen Krise ist, dass diese Prozesse (anders als in Zeiten der Industrialisierung) nicht mehr zusammen-, sondern zusehends auseinanderlaufen. Selbst ein exorbitantes Wachstum könnte diese Entwicklung global nicht mehr drehen. Und auch wenn man den servoindustriellen Bereich zum industriellen erklärt, schönt das nicht mehr als die Statistik. Eins heißt Deindustrialisierung aber keineswegs, nämlich, dass weniger Waren global hergestellt Werden. Lokal wird es sehr wohl der Fall sein, vor allem in den Zonen der Standortverlierer.

Industrialisierung ist eine Kategorie, bei der das "Mehr", der gesellschaftliche Komparativ, völlig ungebrochen und breit aufgefächert erscheint. Wachstum ist gegeben, der Produktenausstoß steigt, ebenso die Profite und Löhne. Auch die Arbeiter werden mehr. Für die Deindustrialisierung ist vor allem typisch, dass die Lohnarbeitsstunden und die Zahl der Lohnarbeiter sinken, unabhängig davon, ob die Profite und das Wachstum gesteigert werden können. Ob Gewinn oder Verlust, ob mehr oder weniger Produkte, Arbeit und Arbeiter werden nicht angezogen, sondern abgezogen. Die Phase der Attraktion des Kapitals wurde von einer Phase der Repulsion abgelöst. Während Industrialisierung also einen synchronisierten Prozess beschreibt, wo alles ineinandergreift und in eine Richtung sich bewegt, ist die Deindustrialisierung wohl als asynchrone Entkoppelung zu charakterisieren. Downsizing, Outsourcing oder Offshoring wären unter genau diesen übergeordneten Aspekten zu diskutieren und nicht bloß als administrative Maßnahmen der Wirtschaft oder der Wirtschaftspolitik.

Mit dem Anstieg einer Industriequote wäre also den Vorgaben entsprechend noch nicht viel gewonnen, zumindest wird sich diese nicht analog auf die Arbeitsplätze umwälzen lassen. Dieses Mehr verzögert wohl nur die Geschwindigkeit des Abbaus, ohne ihn je umkehren zu können. Vorrangig geht es daher Baum auch nur um die Absicherung des derzeitigen Niveaus der Industriebeschäftigung. (Baum 2014, 9) Der Autor schreibt ja selbst: "In Österreich war der Rückgang der Industriequote über längere Zeit im Wesentlichen bei der Beschäftigung anzutreffen: zwischen 1978 und 2002 steigerte der produzierende Sektor seine nominelle Wertschöpfung von 22 auf 64 Mrd. Euro."(35)

Das mit dem Nominellen hat zweifellos seine Tücken, weil es nicht Werte, sondern erfassbare Geschäftszahlen vergleicht. Das Nominelle ist vorrangig eine Zahlengröße, wo schwer entscheidbar ist, welche Werte es tatsächlich beherbergt, da es Werte (Arbeitssubstanz) und Preise (Geldsummen) gleichsetzt und auch nicht unterscheiden kann, inwiefern einbezogene Kapitalgrößen reell oder fiktiv sind. Das weiß man meist erst, wenn die Blasen platzen. Doch das würde hier zu weit führen, obwohl eine Theorie des fiktiven Kapitals nicht nur aufgrund der Finanzmärkte unabdingbar ist. Auch Baum hält fest: "Sowohl über die letzten 20 Jahre wie aktuell ist eine Auflösung des Zusammenhangs zwischen Output- und Beschäftigungsentwicklung erkennbar."(56) Es handelt sich zumeist um beschäftigungsloses Wachstum, wir sprechen zu Recht von einem Jobless Growth. So mögen der finanzielle und der materielle Output steigen, doch die Beschäftigtenzahlen werden weiter sinken. Wiederum stellt sich die Frage, ob das bloß ein konjunkturelles Phänomen sei, das politisch zu beheben wäre, oder ob es sich nicht vielmehr unumkehrbar um eine strukturelle Krise des Gesamtkapitals, also letztlich um eine Systemkrise handelt.

Maschine gegen Arbeit

"Die unerlässliche Bedingung für eine passable Lage des Arbeiters ist also möglichst rasches Wachstum des produktiven Kapitals", schreiben Marx und Engels (MEW 6, 411). Diese Bedingung ist nicht mehr gegeben, weder global noch lokal. Sprach Friedrich Engels in seiner klassischen Studie "Die Lage der arbeitenden Klasse in England" noch von einem "Sieg der Maschinenarbeit über die Handarbeit" (MEW 2, 242), so müssen wir heute vom Sieg der Maschinen über die Arbeit sprechen. Immer mehr Tätigkeit geht von den Arbeitern direkt auf die Maschinen über. Das Fabrikat braucht immer weniger menschliche Arbeitskraft und Arbeitszeit zu seiner Herstellung. Oftmals wird sogar die Fabrik überflüssig. Eins sitzt zu Hause vor dem Bildschirm, Heimarbeit kehrt als Home Office wieder. Kennzeichnend ist heute eine exzessive Dynamisierung des kapitalistischen Fortschritts. Was gestern noch Zukunft, ist morgen schon veraltet. Die Maschine frisst die Arbeiter und zwar in atemberaubendem Tempo.

Die Produktionsstätten werden zwar nicht leer, aber sie werden sukzessive entleert. Die Unterschiede zwischen einer Fabrik in den Siebzigerjahren des vorangehenden Jahrhunderts und heute sind auch ganz augenscheinlich. Während der Raum und in ihm die Zahl der Maschinen und ihre Komplexität wächst, sinkt das Personal, das zur ihrer Bedienung nötig ist. Zunehmende Maschinendichte und abnehmende Menschendichte gehören zusammen. "Und dies entspricht auch dem Übergang von einem fordistischen Produktionsregime mit 'Fließband' und ausgeprägter Hierarchie zu postfordistischer Produktion mit Steuerung und Kontrolle einer weitgehend automatischen Produktion." (Baum 2014, 33)

Die ständige Entwertung der Arbeitsprodukte durch das jeweilige Einzelkapital konnte bis zum Ende des Fordismus in den Siebzigerjahren durch Ausweitung der Gesamtproduktion relativiert werden. Heute scheint das nicht mehr möglich zu sein, da die Produktion an ihre äußeren (ökologischen) und inneren (ökonomischen) Schranken stößt. Immer mehr Waren können in immer weniger Arbeitseinheiten und somit auch mit weniger Arbeitskräften hergestellt werden. Diese Tendenz ist nicht aufhaltbar und umkehrbar. Die Konkurrenz der Standorte und Betriebe und Verkäufer treibt sie unermüdlich an.

Denn natürlich stellt sich auch die Frage, ob das Kapital neue Anlage- und somit Akkumulationsmöglichkeiten finden kann, diese also unbegrenzt zur Verfügung stehen, um etwa einen neuerlichen Boom auszulösen, der mehr ist als ein spätes Strohfeuer. Die tendenziell abnehmende Investitionsquote verdeutlicht, dass die Industrie sich selbst oft nicht mehr traut und überschüssiges Geld eher am Finanzmarkt anlegt, also zielstrebig mehr auf das fiktive Kapital setzt als auf das fixe. Bisher kann gesagt werden, dass die dritte industrielle Revolution mehr Arbeiter exkludiert als inkludiert. Das ist zweifellos neu. 'Was den Strukturwandel angeht, so lässt sich das Rad der Deindustrialisierung wohl kaum zurückdrehen. Vielmehr ist der relativ hohe Anteil der Industrie an der Bruttowertschöpfung (...) möglicherweise sogar als ein Symptom struktureller Rückständigkeit zu deuten (...)." (Scheuer/Zimmermann 2006, 249)

Ausrinnen der Klasse

Die Verminderung des variablen Kapitals (also der Lohnarbeit) bei der Wertbildung führt zu deren Zurückdrängung. Wenn der das Kapitalverhältnis mitkonstituierende Stellenwert des variablen Kapitals verfallt, verfallt mit ihm auch die Lohnarbeit und das Proletariat. Nicht die Lohnarbeit hebelt also das Kapital aus, sondern das konstante Kapital minimiert sukzessive das variable. Freilich untergräbt es damit auch seine eigene Akkumulation. Die Arbeiterklasse muss auf eben diese ihre objektive Schranken projiziert werden: "Eine Entwicklung der Produktivkräfte, welche die absolute Anzahl der Arbeiter verminderte, d. h. in der Tat die ganze Nation befähigte, in einem geringem Zeitteil ihre Gesamtproduktion zu vollziehn, würde Revolution herbeiführen, weil sie die Mehrzahl der Bevölkerung außer Kurs setzen würde. Hierin erscheint wieder die spezifische Schranke der kapitalistischen Produktion, und dass sie keineswegs eine absolute Form für die Entwicklung der Produktivkräfte und Erzeugung des Reichtums ist, vielmehr mit dieser auf einem gewissen Punkt in Kollision tritt. (...) Die absolute Überschusszeit, die die Gesellschaft gewinnt, geht sie nichts an. Die Entwicklung der Produktivkraft ist ihr nur wichtig, sofern sie die Mehrarbeitszeit der Arbeiterklasse vermehrt, nicht die Arbeitszeit für die materielle Produktion überhaupt vermindert; sie bewegt sich also im Gegensatze." (MEW 25, 274)

Reindustrialisierung ist nicht die Antwort auf Deindustrialisierung. Eine Reindustrialisierung der Welt ist eine Mischung aus falschem Wunsch, gefährlicher Drohung und hilflosem Gerede. An sich wäre die Deindustrialisierung überhaupt nicht das Problem, sondern vielmehr deren Folgen für die von ihr Abhängigen (= Lohnabhängigen) unter dem Zeichen der kapitalistischen Verwertungspflicht. Das ist freilich für traditionelle Interessenvertretungen schwer zu rezipieren und noch schwerer zu akzeptieren, stellt es doch deren gesamtes Selbstverständnis in Frage. Beharren diese jedoch auf den eingefahrenen Mustern, werden sie von einer sozialen Reformkraft zu einem konservativen Faktor des Standorts, dem dann alles zu unterwerfen ist, soll er am Markt erfolgreich sein. Tatsächlich erscheinen sie heute so. Alle Debatten, die wir kennen, sind letztlich affirmativer Natur.

André Gorz war einer der Ersten, der dies in seiner ganzen Tragweite begriffen hat: "Die Logik des Kapitals hat uns an die Schwelle der Befreiung geführt. Aber man kann sie nur mittels einer Zäsur überschreiten, die die produktivistische Rationalität durch eine andere Rationalität ersetzt." (Gorz 1980, 68) Denn andersrum gilt auch: "Der 'Fortschritt' hat eine Schwelle erreicht, hinter der er seinen Sinn verändert: Die Zukunft hält nur Drohungen parat, nicht Hoffnungen."(68) Die Frage, die sich aufdrängt, ist nicht, wie die Industrie zu retten oder gar neu zu erfinden ist, sondern: Was kommt nach der Industrie?, und besser noch: Was wollen wir eigentlich? Nicht nur hilflos und leer, auch gefährlich ist die Forderung nach einer Reindustrialisierung, bedenkt man insbesondere deren ökologische und humane Folgen.

Vorerst geht die Deklassifizierung einher mit der "Schwächung der Mobilitätsinstanzen" (Bourdieu 2010, 131). Betriebsrat, Gewerkschaft, Partei (Sozialdemokratie) verlieren allesamt an Einfluss, da es ihnen nicht gelingt oder auch gar nicht gelingen kann, den Mangel an objektiver Klassifizierung durch subjektive Identifizierung zu überbrücken. Die traditionelle Arbeiterbewegung rinnt aus, nicht vorrangig aus politischem Unvermögen, sondern in erster Linie aufgrund der Entwicklungen oder besser: Abwicklungen und Fragmentierungen auf dem Industriesektor. Das zu vertretende Kollektiv verschwindet, löst sich auf in disparate Segmente oder gar personelle Atome, deren Interessen immer schwieriger auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden können. Das alte Instrumentarium taugt nicht, doch ein neues steht nicht zur Verfügung. Von der Entschiedenheit eines Kollektivs ist wenig übrig geblieben. Parteien und Gewerkschaften vermögen das nicht zu substituieren, im Gegenteil, sie sind selbst massiv davon betroffen.

Klasse und Klassenkampf erscheinen nicht mehr als zentrale Bestimmungskriterien der sozialen Auseinandersetzungen. Das Bewusstsein, also die Erfahrung und die Erkenntnis, etwas Gemeinsames darzustellen und eben als Klasse zu verkörpern, geht weitgehend verloren. Die Zusammenhänge erscheinen nicht mehr konturiert, sie sind vielmehr amorph. Mit der Zugehörigkeit geht auch die Hörigkeit verloren, die Einzelnen verstehen sich nicht mehr als Glieder einer Gruppe oder gar Kampfgemeinschaft. Der Mangel an Identität lässt an keine Autoritäten mehr glauben, vor allem auch deswegen, weil sie kaum noch Protektion (was jetzt nicht nur negativ gemeint ist) bieten können. Die Klasse bietet keine Geborgenheit mehr, weil sie an allen Ecken und Enden porös geworden ist.

Der Kampf um den Arbeitsplatz, d.h. um den Verkauf der Ware Arbeitskraft, ist durchaus als ein Klassifizierungskampf zu dechiffrieren. Umgekehrt freilich ist die Erfolglosigkeit oder gar Aussichtslosigkeit eines solchen Vorhabens Kennzeichen der Deklassifizierung. Deklassifizierung ist ein Exklusionsprozess, während Klassifizierung einen Inklusionsprozess beschreibt. Die Klasse gibt ihren Mitgliedern eine Identität, die sie innehaben, egal ob sie wollen oder nicht. Sie werden darauf fixiert. Deklassifizierung meint, dass diese Identität immer prekärer wird und sich aufzulösen beginnt, ohne dass anderes an ihre Stelle tritt. Der Proletarier steigt hier nicht um oder gar auf, sondern er fällt raus. Deklassifizierung bedeutet aber, man ist nach wie vor auf etwas fixiert, das man jedoch als Stellung nicht halten kann. Arbeitslosigkeit bedeutet Deklassifizierung, zumindest dann, wenn sie wirklich einen Bruch in der Biographie darstellt und nicht nur eine kurzfristige Unterbrechung. Die Betroffenen fallen reell aus ihrer sozialen Klasse. Ihr unmittelbares Ziel besteht darin, wieder klassifiziert zu werden, also in die Klasse der Arbeitenden zurückzukehren. Das wird immer schwieriger und manchen gelingt es gar nicht.

Deklassifizierung als Entformierung

Deklassifizierung meint, dass die Ware Arbeitskraft von ihrem Besitzer nicht (mehr) verkauft werden kann oder besser, dass kollektivvertraglich vereinbarte Lohnarbeitsverhältnisse immer seltener werden. Auf jeden Fall geht dabei der traditionelle Klassenzusammenhalt in die Brüche, auch weil der gemeinsame soziale Raum (die Fabrik oder das Büro) nicht mehr vorhanden ist oder nicht mehr diese Kontinuität in den Erwerbsbiographien der Menschen aufweist. Manche werden arbeitslos und sind damit der Sozialbürokratie ausgeliefert, andere versuchen sich als Selbständige, wer kann, flüchtet in die Pension, viele sind als prekär Beschäftigte mal hier und mal dort im Einsatz. Jobhopper eben.

Das Interesse kann heute kaum mehr kollektiv wahrgenommen werden, da die Einzelnen wirklich vereinzelt sind und sich dementsprechend spüren, d.h., sie sind zunehmend auf sich allein gestellt, real wie mental. Ihresgleichen mag es viele geben, aber diese sind nicht räumlich in Fabrik oder Büro konzentriert, sondern ganz flexibel werden sie mal da und mal dort eingesetzt. Oder sie sitzen gar zu Hause vor dem Computer. Formierung geschweige denn Institutionalisierung von Solidarität fallt schwer, weil diese aufwendig koordiniert werden müssten.

Die Klasse ist nicht mehr in Form. Kein Training und kein Trick wird die alte Form zurückbringen. Und diese Aussage gilt in beiden Bedeutungen. Mit der Form verliert die Klasse auch zusehends konkretisierbare Inhalte und kollektive Interessen. Mit dem Verfall der Organisationseinheit 'Betrieb' schwindet der Einfluss von Betriebsräten und Gewerkschaften sukzessive. "So stellt sich der soziale Konflikt als fragmentiertes, unüberschaubares Geflecht wechselnder Interessenskoalitionen dar", schrieb Nikolaus Dimmel schon 1990. "Die Verlaufslinien künftiger sozialer Konflikte sind komplex." (Dimmel 1990, 54) Anscheinend zu komplex für viele Akteure. Nichts scheint mehr übersichtlich oder klar zu sein und dem ist auch so.

Die Entformierung der Klasse korrespondiert allerdings mit der Formatierung fragmentierter Subjekte durch die Kulturindustrie. Mehrförmiges wird zusehends einförmig. Soziale Deklassifizierungen gehen einher mit einer einheitlichen Codierung, was Geräte, Geschmäcker, Gelüste, Getränke betrifft. Red Bull ist überall. Die Vielfach konstatierte Vielfalt der Stile und Szenen ist so eher eine der wechselnden Moden, die allerdings den gleichen Mustern folgen. Der Pluralismus ist akzentuierte Gleichförmigkeit. Soziale Zusammengehörigkeit wird so zusehends marod, während kulturelle Hörigkeit (Markenidentifikation, Fanprojektion) wie überhaupt die absolute Zunahme der äußeren Reize durch die synchronisierende PR-Branche immer bestimmender wird. Die Leute mögen aus dem System fallen, aber ideologisch sind sie (trotz allem Unbehagen) fest integriert, ja möglicherweise fester denn je, was effektive Haltungen und Handlungen betrifft.

Deklassierung als Nichtung

Deklassifizierung sagt aber nur, dass man aus seiner Klasse gefallen ist, sie sagt nicht aus, wohin die Reise zu gehen hat. Schließlich kann die Deklassifizierung durch eine neuerliche Klassifizierung rückgängig gemacht werden, d.h., sowohl ein Wiedereinstieg als auch ein Umstieg können glücken. Deklassifizierung bedeutet noch nicht soziale Degradierung durch Deklassierung. Letztere folgt nicht automatisch. Deklassierung geht dann also noch einen Schritt weiter, sie ist der Vollzug einer Kapitulation. Man fallt nicht nur aus der Klasse, man fallt zusehends aus der Gesellschaft, vor allem aus einem nicht nur gerade noch tolerierten, sondern akzeptierten Leben. Deklassifizierung meint eine soziale Infragestellung der Exponate, Deklassierung meint eine soziale Verneinung derselben als gesellschaftliche Glieder. Ist heute Deklassifizierung ein Massenphänomen geworden, so ist die Deklassierung noch immer ein Randphänomen, auch wenn der Rand breiter wird.

In der Deklassierung verliert man nicht nur seinen sozialen Status, es droht auch die soziale Nichtung. Man ist nun nichts mehr, die Rollen sind ausgespielt. Deklassierung bedeutet absolute Degradierung des menschlichen Wesens. Es Verliert das Welt-Vertrauen. Das abgeschriebene Subjekt, dessen Leben bedroht ist, weil es nicht einmal für seine Existenz sorgen kann, ist auch noch verschiedenen Zumutungen ausgesetzt. Problematisch sind nicht nur Beschränkungen und Übergriffe durch Behörden und Bürokratien, sondern vor allem auch die soziale Indifferenz und oftmals Kälte, die einem entgegenschlägt und der die Gezeichneten aufgrund ihrer Sprach- und Hilflosigkeit nichts oder wenig entgegenzusetzen haben. Es gibt inzwischen Leute, die nicht einmal deklassiert werden müssen, weil sie schon a priori deklassiert sind. Typisch dafür sind Jugendliche ohne Ausbildung, die nie in einen Arbeitsprozess eingestiegen sind oder einsteigen konnten.

Man kann nicht sagen, dass die Verbleibenden Arbeitsplatzbesitzer viel für die Deklassierten übrighätten. Hier regiert immer noch die alte Verachtung, ist nicht nur gelegentlich von "Arbeitsscheu", "sozialer Hängematte" oder gar "Schmarotzertum" die Rede. Man kann sich und will sich diese Situation gar nicht erst vorstellen. Man fühlt nicht mit, man ist dagegen und pflegt lang bewährte Vorurteile. So "wird die ganze Distanz sichtbar, die den Proletarier, der, selbst wenn er im Abstieg begriffen ist, über regelmäßige, wenn auch gekürzte Bezüge Verfügt, dessen Finanzen in Ordnung sind und der, trotz allem, in eine relativ gesicherte Zukunft blicken kann, von dem ehemaligen Arbeiter trennt, der sich nach dem ungeschützten und ungesicherten Fall in die Arbeitslosigkeit auf der Stufe eines mittellosen, desorganisierten Subproletariers befindet, den die Sorge umtreibt, von Tag zu Tag zwischen unbezahlten Mieten und unbezahlten Schulden zu überleben." (Bourdieu 2010, 23)

Man soll sich nichts vormachen, meist ist es so und nicht anders. Arbeitsplatzbesitzer empfinden Arbeitslose einerseits als potenzielle Arbeitsplatzbesetzer, d.h. als Konkurrenten und andererseits als Trittbrettfahrer eines hauptsächlich durch sie finanzierten Sozialstaates. Sozialfalle halt. Zu diskutieren wären die Deklassierten auch unter dem Gesichtspunkt des sozialen Abfalls, der diversen Abfälligkeiten ausgesetzt ist. Deklassierte etwa wie Obdachlose haben mit wenig Verständnis und Nachsicht zu rechnen, Vor allem in kleinen Industriegemeinden, oft bleibt nur noch die Flucht in die anonyme Großstadt.

Soziale Regression kann nicht mehr primär anhand sozialer Positionierung von Klassen beschrieben werden. Es geht nicht um die Klassenzuordnung, sondern um Deklassifizierung und Deklassierung, was meint, dass die Menschen aus ihren Strukturen herausfallen, z. B. die Arbeit verlieren, aber Arbeitsmonaden bleiben, kein Geld haben, aber Geldsubjekte sein müssen. Die Deklassierung betrifft nicht nur das sogenannte Proletariat, sie ist allumfassend.

Die Überflüssigen

Deklassifizierung ist in der bürgerlichen Gesellschaft immer gleichbedeutend mit einer Disqualifizierung. Entweder ist man der anvertrauten Rolle nicht gewachsen oder diese wird nicht benötigt, was ungefähr auf das Gleiche hinauskommt. Entweder kann man etwas nicht oder das, was man kann, wird nicht benötigt. Kurzum, eins ist überflüssig geworden, unbrauchbar, unnütz, unverwendbar, weil unverwertbar. Es ist wohl oder übel zu konstatieren, dass der Kampf der Noch-Klassifizierten gegen die Schon-Deklassifizierten ohne Rücksicht auf deren Deklassierung geführt wird. Die Solidarität in der alten Arbeiterbewegung war sowieso eine auf ihrer eigenen Stufe, eine vertikale und keine horizontale gewesen. Auf die Deklassifizierten gilt es schon aufgrund der Konkurrenzsituation wenig Rücksicht zu nehmen und auf die Deklassierten schon gar nicht.

Ein Jenseits der Prekarität ist aber nicht mehr in ordentlichen Beschäftigungsverhältnissen zu suchen. Andre Gorz schrieb bereits 1979: "Die traditionelle Arbeiterklasse ist nur noch eine privilegierte Minderheit. In ihrer Mehrheit gehört die Bevölkerung heute dem nachindustriellen Neoproletariat der Status- und Klassenlosen an, die zeitweilig als Ersatz- und Gelegenheitsarbeiter oder Teilzeit-Angestellte, Hilfs- oder Aushilfsdienste verrichten." (Gorz 1980, 64) "Die Nicht-Klasse der Nicht-Arbeiter", wie Gorz sie nennt, "umfasst die Gesamtheit der aus der Produktion durch den Prozess der Arbeitsvernichtung Ausgestoßenen oder der in ihren Fähigkeiten durch die Industrialisierung der intellektuellen Tätigkeit (Automation und Informatik) Unterbeschäftigten."(63) Und er resümiert: "Für die Arbeiter kommt also nicht mehr in Betracht, sich innerhalb der Arbeit zu befreien, die Arbeit zu beherrschen oder Macht im Rahmen der Arbeit zu gewinnen. Nichts anderes kann mehr in Betracht kommen als die Befreiung von der Arbeit, indem man zugleich deren Natur, Inhalt, Notwendigkeit und Modalitäten ablehnt. Aber die Ablehnung der Arbeit schließt die der traditionellen Strategie der Arbeiterbewegung und ihrer Organisationsformen ein. Es geht nicht mehr darum, Macht zu erobern, um nicht mehr länger als Arbeiter funktionieren zu müssen. Zur Debatte steht hier offensichtlich eine andere Macht."(62)

Heute ist der Klassenstandpunkt nur noch ein bornierter Interessenstandpunkt, der nach keinem Jenseits fragt. Nicht einmal an den sozialen Abwehrkämpfen wird er sich hochziehen können. Das ist auch der Hauptgrund, warum die gegenwärtigen sozialen Kämpfe sich dem Inhalt nach als derart lahm erweisen. Die Herausforderung besteht darin, soziale Auseinandersetzungen nicht an Klassenfronten auszurichten, sondern diese zu durchbrechen. Sie liegt darin, die negative Klassenlosigkeit, welche das System hervorbringt, durch eine positive Klassenlosigkeit zu ersetzen. In der Tat bringt die Auflösung der Klassen, ausgedrückt durch die Entstehung der "Überflüssigen" (Heinz Bude) bzw. der überschüssigen Arbeitskräfte in den Prozessen der Atypisierung und Deregulierung, kein neues emanzipatorisches "Subjekt" hervor, sondern reine Geld- und Warenmonaden. Aber das muss man nicht sein wollen, keine Natur zwingt einen dazu.


* Der Artikel ist ein Auszug aus einem Beitrag des Autors für die Studie "Leben an der Grenze" über die Deindustrialisierung des Oberen Waldviertels.


Literatur

Anders, G. (1980): Die Antiquiertheit des Menschen, Band II. Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution, München.

Anders, G. (1989): Sprache und Endzeit IV [Manuskript zum dritten Band der "Antiquiertheit"], FORVM, Nummer 430-431, Oktober/November 1989, 40ff.

Baum, (2014): Analyse, Herausforderungen, Perspektiven und wirtschaftspolitische Implikationen einer Reindustrialisierung in Niederösterreich bzw. Österreich, Endbericht August 2014 [Fotokopie].

Bourdieu, P., et.al. (2010): Das Elend der Welt (1993). Gekürzte Studienausgabe, 2. Aufl., Konstanz.

Dimmel, N. (1990): Soziale Bewegungen ohne historisches Subjekt? Sozialkonflikte in den 90er Jahren, Kurswechsel 4/90, 45 ff.

European Commission (2014): Member states need to account to boost European Industry, MEMO/14/37, Brusels, 22 January 2014.

Gorz, A. (1980): Abschied vom Proletariat. jenseits des Sozialismus, aus dem Französischen übersetzt von Heinz Abosch, Frankfurt am Main.

MEW: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Berlin (Ost), div. Jg.

Peneder, M. (2014): Warum die Neue Industriepolitik die Deindustrialisierung beschleunigen wird, Policy Brief Nr. 23, Februar 2014.

Scheuer M./G. Zimmermann (2006): Deindustrialisierung: Eine "britische Krankheit"?, Wirtschaftsdienst Nr. 4/2006, 245

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2000 Zeichen abwärts

Recht unwirksam

Es ist keineswegs selbstverständlich, dass alle Menschen gut, gedeihlich und angenehm leben können. In einer Gesellschaft, die auf monetärem Wachstum und dem Verkauf der Arbeitskraft jedes Einzelnen beruht, wird es in Zeiten wie diesen für immer mehr Leute brenzlig. Höchst merkwürdig und verquer, wie der Staat auf die vom System Ausgespuckten reagiert. Er tut mitunter so, als würde er mit Recht und Gesetz gegen diese Zumutungen vorgehen.

Ist Ihnen auch aufgefallen, wie viele Antidiskriminierungsbehörden und Gleichbehandlungskommissionen von öffentlicher Hand und NGOs plötzlich aus dem Boden gestampft wurden? Nach der Phrasendrescherei von "Gender Mainstreaming" und "Diversity" noch ein hilfloser Versuch, menschliche Verhältnisse zu schaffen? Ist das nicht nur eine Verrechtlichung der Ungerechtigkeit? (Wobei Gerechtigkeit ohnehin nur der unzulängliche Versuch ist, das rechtlich zu fassen, was eine Selbstverständlichkeit sein sollte.) Kann dadurch wirklich verhindert werden, dass jemand wegen Rasse, Geschlecht, Alter oder sexueller Orientierung benachteiligt wird? Und die Pointe: Diskriminierung aufgrund von Armut ist in all diesen Gleichbehandlungssalzämtern kein Thema. Einerseits, welcher Arme kann sich einen gerichtlichen Instanzenzug überhaupt leisten? Streitfälle mit dem AMS übernimmt auch keine Rechtsschutzversicherung. Andererseits gibt es viele Regelungen, die Arme per se benachteiligen: z.B. Arbeitslosengeld wird - seit es zu viel Arbeitslose gibt! - steuerlich als Einkommen gezählt (Bildungskarenzgeld hingegen nicht). Arbeitslose bekommen also keine Lohnsteuer zurück, wenn sie einen Teil des Jahres gearbeitet haben.

Diese Pseudogerechtigkeitsbemühungen sind ein Hohn angesichts eines Gesellschaftssystems, das nur auf Basis von Ausbeutung, Konkurrenz und Ungleichheit funktioniert. Law and Order werden nicht helfen. Nur die grundsätzliche Umkehrung der Voraussetzungen. So kommt jedes Gesetz dem Versuch gleich, eine Lawine mit einer Stopp-Tafel aufhalten zu wollen.

M.Wö.

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Recht(swissenschaft) als Staatsbetriebswirtschaft

Über die Auswanderung der Gesellschaft aus dem Recht

von Nikolaus Dimmel

Recht ist "by construction" ein ebenso überdeterminiertes wie eigensinniges Instrument kapitalistischer Herrschaft. Sein Gehäuse, der Rechtsstaat, verkörpert im "common sense" eine Kathedrale der bürgerlichen Weltanschauung.

In seinem privatrechtlichen Kern sichert dieser Eigentum, Vertrag, Freiheit, Gleichheit und formalen Äquivalententausch. In der Sphäre der Zirkulation bzw. des Warenaustausches, innerhalb deren Schranken der Kauf und Verkauf der Arbeitskraft sich bewegt, herrscht das Recht. Denn Käufer und Verkäufer einer Ware wie der Arbeitskraft sind, wie Marx im Kapital ausführt, nur durch ihre Rechtspersönlichkeit, ihr Verfügungsrecht über Ware und allgemeines Äquivalent sowie ihren freien Willen bestimmt: "Sie kontrahieren als freie, rechtlich ebenbürtige Personen. Der Kontrakt ist das Endresultat, worin sich ihre Willen einen gemeinsamen Rechtsausdruck geben. Gleichheit! Denn sie beziehen sich nur als Warenbesitzer aufeinander und tauschen Äquivalent für Äquivalent. Eigentum! Denn jeder verfügt nur über das Seine." (MEW 23, 190)

Charaktermaske als Subjekt

Die Macht, welche die Menschen ins Verhältnis bringt, ist Eigennutz und privater Sondervorteil. Die Form, innerhalb derer diese Trennung und Steigerung des Eigennutzes prozessiert wird, ist das Recht. Persönliche Freiheit bedeutet insofern eine negative, als Freiheit der Verselbständigung und Abgrenzung dient, um Freiräume der Nutzung und Übertragung von Privateigentum offen zu halten. Im Recht nimmt die Charaktermaske des Trägers der Ware ihre äußere Form an. Rechtspersonen existieren füreinander nur als Eigentümer/Besitzer/Repräsentanten von Waren. Es sind dies ökonomische Charaktermasken, Personifikationen ökonomischer Tausch- und Aneignungsverhältnisse. Deren äußere Form wird über das Recht herauspräpariert.

Charaktermasken verbergen das bürgerliche Subjekt also nicht, sie konstituieren es. Der Grund liegt auf der Hand: Waren können sich nicht selbst zu Markte tragen und sich nicht selbst austauschen. Um Dinge als Waren in Form von Konsensualkontrakten aufeinander zu beziehen, müssen sich die Hüter der Waren zueinander als Rechtspersonen und Privateigentümer verhalten. Erst die wechselseitige Anerkennung des Privateigentums ermöglicht den Kontrakt, also Verpflichtungs- und Übereignungsgeschäft. Im abstrakten Rechts- und Willensverhältnis spiegelt sich das ökonomische und soziale Machtverhältnis nicht mehr, wie Burkhard Tuschling in Rechtsform und Produktionsverhältnis (1975) anmerkt. Es erscheint vielmehr als Ausdruck freien Willens.

Diese Freiheit konstituiert die Charaktermaske als isolierte Monade, die mit anderen nur durch den ökonomischen Akt interagiert: Das bürgerliche "Menschenrecht der Freiheit basiert nicht auf der Verbindung des Menschen mit dem Menschen, sondern vielmehr auf der Absonderung des Menschen von dem Menschen" (MEW 1, 364). Die bürgerliche Gesellschaft, so Marx, setzt eigennützige Bedürfnisse an die Stelle dieser Gattungsbande, löst Gesellschaft in eine Welt atomisierter, sich feindlich gegenüberstehender Individuen auf. Diese Feindlichkeit als negative Freiheit nimmt den Ausdruck der freien Konkurrenz an und hebt damit auf paradoxe Weise die Freiheit auf. Markt, Konkurrenz, Wettbewerb und Lohnarbeit treten letztlich unverstellt als strukturelle Gewalt hervor. Diese Konkurrenz hebt jedes individuelle Freiheitsbestreben auf, unterwirft jede Individualität den sachlichen Zwängen der Kapitalverwertung.

Jene Idee, nämlich das Freiheitsversprechen der Ligatur aus Eigentum, Vertrag und formaler Gleichheit, blamiert(e) sich seit der ursprünglichen Akkumulation überall dort, wo strukturelle Gewalt, Expropriation und der kapitalistische Metabolismus der Natur die körperliche, ökonomische und soziale Integrität der Warenbesitzer selbst zerstört(e). Die Dialektik mündet in Anlehnung an Gramsci in einem juridischen Modell der Hegemonie, gepanzert mit Zwang. Diese Panzerung findet im historischen Prozess des sozialen Konfliktes zwischen Arbeit und Kapital aber auch innerhalb des Kapitals in Form zweier Bewegungen statt: Zum einen in der Herausbildung des Staates als eines ideellen Gesamtkapitalisten sowie in der Sphäre des öffentlichen Rechts in der Ära des organisierten Kapitalismus. Hier werden die der Akkumulation des Kapitals vorausgesetzten Basisinstitute als Grundfesten der bürgerlichen Rechtsordnung in Form einer Verfassung gleichsam "verewigt" und der Staat zum Organisator fortwährender Marktbereinigung; zum anderen entwickelt der juristische Diskurs einen vorgesellschaftlichen Raum, mal als Kelsen'sche "Grundnorm", mal als "Veil of Ignorance", mal als "Gesellschaftsvertrag" gedacht. Dieser Raum ist im Weltbild der Jurisprudenz sakrosankt. In diesem Raum ist die DNA, sind die Grundbausteine des Rechtslebens, verankert, vor allem die Idee der Rechtsperson, die von Natur aus unveräußerliche Rechte genießt, und ihr Eigentum.

Juristisches Milieu

Soziologisch gründet sich darauf das juristische Milieu, eine immunisierte juristische Denkweise und Weltanschauung (Kilian Stein 2010), welche die Sphäre des Rechts strictu sensu getrennt von der Sphäre des Gesellschaftlichen, aber auch des Ökonomischen her denken. Beide erscheinen in diesem Dispositiv als Ausdruck des "richtigen Rechts". Das spiegelt auch die neoliberale Soziologie im Denkeinsatz der Post-Luhmann'schen Systemtheorie, die sich das Recht als operativ geschlossenes und auf selektive Weise kognitiv offenes System denkt. Auch in der Nationalökonomie des 19. Jhdts. - die BWL entsteht erst in den 1930er Jahren als Reflex auf die Krise des Taylorismus - gilt das Recht als eine nicht zu beeinflussende Externalität. Innerhalb der Jurisprudenz wird das gesellschaftliche Primat des Rechts als Identität von "Sein" und "Sollen" in das Gestein der Lehrbücher gemeißelt. Der sich daraus entwickelnde rechtspositivistische Zuschnitt denkt sich ein "de lege lata" (nach geltendem Recht) und ein "de lege ferenda" (nach erst zu setzendem Recht), niemals aber einen Widerspruch zwischen "law in the books" (Recht als Rechtstext in den Gesetzen) und "law in action" (Recht in seiner Anwendung durch Exekutive und Judikative).

Noch während des Übergangs vom Rechtsstaat zum Verfassungsstaat der konstitutionellen Monarchie zersetzt die strukturelle und aktive Gewalt der kapitalistischen Aneignungsverhältisse die Illusionen des formal-rationalen Äquivalententauschs. Das Recht hinkt auf in sich widersprüchliche Weise in einem "cultural lag" den ökonomischen und sozialen Verhältnissen in einem Nachziehverfahren hinterher, an dessen Ende sich das Recht "materalisiert" (Rudolf Wiethölter). Ökonomische Basis und rechtlicher Überbau positionieren sich neu. Daraus erwächst zum ersten der Modus des "piecemeal engeneering" eines in seinen Funktionen umstrittenen (paternalistischen, sozial disziplinierenden) Sozial- und Wohlfahrtsstaates. Recht wird zu einem Instrument der Sozialtechnologie. Zum zweiten löst sich das Konzept der "Einheit der Rechtsordnung" auf, ersichtlich an der Evolution unterschiedlicher Rechtsdogmatiken, aber auch an den Dynamiken einer autonomisierten Bürokratisierung und Justitialisierung. Die Alltagsanschauung "Vor Gericht und auf hoher See bist du in Gottes Hand" gewinnt an Wahrheitsgehalt. Zum dritten wird das Primat des Rechts über Gesellschaft, Politik und Ökonomie erschüttert. Die Auflösung des Rechtspositivismus im faschistischen Naturrecht steht am Ende eines der Fäden dieser Entwicklung.

Gegen derlei immunisierende Selbstbeschreibung betonen kritische und marxistische Rechtstheorien ab den 1960er Jahren in antihegemonialer Stoßrichtung die Dialektik zwischen Recht, ökonomischen wie sozialen Macht- und politischen Herrschaftsbeziehungen. Recht erscheint nicht mehr nur der Theorie des Arbeitsrechts als Waffenstillstandslinie zwischen teils antagonistischen, teils agonistischen Interessen innerhalb der Immanenz kapitalistischer Produktionsverhältnisse. Das Recht verwandelt sich in einen Kampfplatz, auf dem Korporationen, Lobbies, politische Parteien und soziale Bewegungen darum konkurrieren, ihre (sozialen) Interessen "ins Recht einzuschreiben", während die drei Staatsgewalten je eigene Interessen verfolgen. Heinz Wagner (1976) versteht das Recht eben nicht nur als Widerspiegelung nackter Macht und Gewalt, sondern als dialektisch prozessierendes Handlungsinstrument aller gesellschaftlichen Klassen und Interessengruppen. Dies wird durch den Befund gestützt, dass das Recht eine relative Selbständigkeit entwickelt. Es ist folglich nicht beliebig, kurzfristig oder ad-hoc verfügbar bzw. änderbar. Einmal in Gang gebracht, lässt es sich auf zivile Weise nicht anders als über Recht ändern. Recht verhält sich, so eine wesentliche Einsicht der Rechtstheorie dieser Ära, wie ein Pfahl, der in den Boden gerammt Verhältnisse und darin Interessen definiert und festschreibt.

Die Rechtspolitologie, vor allem Axel Görlitz und Rüdiger Voigt, gibt nach 1985 zu bedenken, dass das Recht als komplexes Gefüge der gleichzeitigen Ungleichzeitigkeit von gegenläufiger Verrechtlichung und Entrechtlichung je nach Entwicklung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse bewegt bzw. verändert werden kann. Recht gilt nunmehr als ein intrikates Instrument der politischen Steuerung von Gesellschaft, wenn auch mit je unterschiedlicher politischer Zielsetzung und ideologischem Vorverständnis. Damit ist das Recht, sowohl in seinem formellen wie materiellen Sinne änderbar, ein Reflex auf soziale Konflikte. Rechtsgeschichte wird gemacht (auch wenn es nicht immer vorangeht).

Verrechtlichung

Eine empirische Rechtssoziologie widmet sich im Gefolge Theodor Geigers der Wechselwirkung von Recht(sordnung) und gesellschaftlichen Strukturen bzw. Machtverhältnissen. Dieser empirische Zugang entsakralisiert je nach Interessenlagen und Denkansätzen unterschiedlich den Körper des Rechts und schränkt dessen immunisierte Selbstbeschreibung durch den Rechtsstab (die Gesamtheit der Juristen in einer Bezeichnung von Max Weber) ein. Der Anspruch ist damit erhoben, Recht als gesellschaftlich fundierte Wirklichkeit, konstruiert und reproduziert durch Macht und Herrschaftsbeziehungen, zu verstehen. JuristInnen, so das Credo der Treiber dieser Entwicklung, müssen reflektieren, was sie anrichten.

In dieser Relativierung erscheint das Recht im fordistischen Weltbild als ein Ordnungsgefüge neben anderen sozialen Normen. Es wird "kontingent", zu einem situativ verfügbaren gesellschaftlichen Instrument. Die damit einhergehende Verrechtlichung wird, vielfach als "Normenflut" (Hans Zacher) kritisiert, auf die steigende Komplexität der ökonomischen Austauschbeziehungen und Pazifizierungen (Konfliktstilllegungen) des fordistischen Klassenkompromisses zurückgeführt.

Konsequent kommt es noch in den 1970er Jahren zum Einzug der Sozialwissenschaften als systemkritischer Steuerungswissenschaften in das rechtswissenschaftliche Studium. In Forschung, Lehre und Studium der Rechtswissenschaften werden Rechtssoziologie, Rechtspolitologie, Rechtspsychologie, Rechtsanthropologie neben Rechtsgeschichte (inklusive dem Römischen Recht) und Rechtsphilosophie betrieben. Während in der Rechtssoziologie die "soziologische Jurisprudenz" die Wechselwirkungen zwischen gesellschaftlichen und rechtlichen Entwicklungen empirisch untersucht, während die "Soziologie des Rechts" als Teil der speziellen Soziologie betrieben wird, nähern sich die "socio-legal studies" dem Recht mit dem Erkenntnisinteresse der "cultural studies". Im anglo-amerikanischen Rechtsdenken entsteht eine Law and Society-Bewegung, die letztlich auch die Rechtsdogmatik relativiert. Dem kann sich selbst die Rechtstheorie nicht mehr entwinden, die von einer "Drittwirkung der Rechtsphilosophie im Verfassungsrecht" spricht. Einige Universitäten erproben gar eine sozialwissenschaftliche Juristenausbildung.

Zugleich geht die fordistische Periode mit einem verstärkten Einbau materialisierter sozialer Rechtsbestände einher: Arbeitsverfassungsrecht, materieller Arbeitsschutz, Sozialversicherungsrecht, Fürsorgerecht, Mietrecht, Konsumentenschutzrecht et al. In der JuristInnen-Ausbildung spiegelt sich dies in einer Ausdifferenzierung eben jener Fächer, welche Konflikte um die Durchsetzung sozialer Reproduktionsinteressen behandeln. Der rechtsdogmatische Geschlossenheitsanspruch der Jurisprudenz beginnt zu wanken.

Markt als Recht

Schnitt: 35 Jahre später. Die Rechtswissenschaften und ihre Fakultäten haben sich, ganz dem fundamentalistischen Furor der Vermarktlichung verschrieben, in ein eigenartiges, den gesellschaftlichen Funktionen des Rechts weithin abgewandtes Terrain verwandelt. Aus der relativen Selbständigkeit des Recht wurde die relative Selbständigkeit der Ökonomie. "There is one market under god", und der Markt sagt nun, was Recht ist. Konsequent ist das Soziale (und das meint: Gesellschaftliche) aus dem Recht und seinem Diskurs ausgewandert. In ganz Österreich gibt es kein/en Institut/Fachbereich für Rechtssoziologie mehr. Das einzige außeruniversitäre Institut für Rechtssoziologie wurde geschlossen. Lehrveranstaltungen zur Rechtspolitologie bzw. Rechtspolitik, Rechtsanthropologie oder Rechtsethnologie finden sich in den Vorlesungsverzeichnissen der Universitäten nicht mehr, an den Fachhochschulen ohnehin nicht. Neben einem Österreichischen Institut für Europäische Rechtspolitik, der (herausragenden) Zeitschrift Juridikum und einem Journal für Rechtspolitik gibt es nicht einmal mehr eine Plattform, auf der sich Diskurse nachzeichnen lassen, welche den Faden der Dialektik von Recht und Gesellschaft weiterspinnen. Die einschlägige Publikationstätigkeit nähert sich, relativ betrachtet, dem Nullpunkt. Selbst Kriminalsoziologie wird nicht mehr betrieben. In ganz Österreich gibt es kein Institut für Mietrecht oder Konsumentenschutzrecht. Nur das Sozialrecht ist noch im Gehäuse des Arbeitsrechts vertreten. Aber auch da spielt das Recht der Fürsorge, Armut und Prekarität eine marginale Rolle. Es dominiert das Recht der Kernbelegschaften. Soziale Reproduktionsinteressen sind so im Recht weithin nicht (mehr) abgebildet.

Dies widerspiegelnd, haben sich die Aufgabenfelder der JuristInnen verschoben. Die Rechtswissenschaften produzieren heute in Österreich 2.000 AbgängerInnen pro Studienjahr. Doch nur ein Bruchteil arbeitet in genuin juristischen Arbeitsfeldern. Langjährige Austeritätspolitik hat die Zugänge zur öffentlichen Verwaltung, sogar zum Banken- und Versicherungsbereich, jedenfalls aber zu Nichtregierungsorganisationen, Non-Profit-Organisationen und Social-Profit-Organisationen schrumpfen lassen. Alles drängt in die Privatwirtschaft größerer KMUs (kleiner und mittelbetrieblicher Unternehmen mit bis zu 250 MitarbeiterInnen) und Industrieunternehmen. Dort kämpfen die AbsolventInnen der Studienrichtung "Wirtschaft und Recht" mit BWL- und VWL-AbsolventInnen. JuristInnen drängeln sich daneben in Wirtschaftskanzleien, Unternehmensberatungen und Consulting-Unternehmen/Wirtschaftstreuhändern, also den Rechts- und Wirtschaftsdiensten sowie den Symbolagenturen der Kapitalverwertung. Das hat auch damit zu tun, dass JuristInnen heute überwiegend AbsolventInnen des Bachelorstudiums "Wirtschaft und Recht" sind, die neben den Wirtschaftsdiensten bevorzugt in die Rechtsabteilungen großer Unternehmen, in Vorstandssekretariaten, Strategie- und Planungsabteilungen mittlerer Unternehmen sowie in Steuerberatungs- und Wirtschaftstreuhandkanzleien drängen.

Doch selbst die AbsolventInnen der ordentlichen Rechtswissenschaften zieht es bereits in die Privatwirtschaft, da Advokatur bzw. Anwaltei und Notariat ihre Sättigungsgrenze (beinahe) erreicht haben. Dort werden sie freilich nur "genommen", wenn sie ausgewiesene wirtschaftsrechtliche (d.h. Finanz- und Bankenrecht, Steuer- und Urheberrecht), betriebswirtschaftliche und wirtschaftsnahe Zusatzqualifikationen nachweisen - geht es doch um Compliance (Konformität mit Gesetzen und Richtlinien, Strafenvermeidung, Steueroptimierung, Internationalisierung und "Regime Shopping") in einem internationalen Zuschnitt (Europarecht, Übergangs- und Harmonisierungsbestimmungen, Rechtsbestände anderer Staaten, je nationale Gesetzgebung und Rechtsauslegung in den neuen Mitgliedsländern der Europäischen Union).

Was die Juristerei heute darstellt, hat sich im Gegenbild zu den 1980er Jahren gänzlich verschoben. Knapp 41.000 Studierende waren 2013/14 an den Rechtswissenschaftlichen Fakultäten inskribiert; mehr als die Hälfte davon im Bakkalaureatsstudium "Wirtschaft und Recht". Derlei Wirtschaftsrechtsausbildung wird von BWL, Statistik, Mathematik, Controlling und Management dominiert. Der Großteil arbeitet nach Abschluss subaltern bei Steuerberatern und Wirtschaftsprüfern. Nur wer Anwalt, Richter, Staatsanwalt oder Notar werden will, also einen klassisch juristischen Beruf anstrebt, muss den Master of Laws (LL.M) der Rechtswissenschaften absolviert haben. Freilich werden auch hier zwischenzeitig Steuer-, Bilanz- und Finanzrecht als Pflichtfächer geprüft.

So sehen wir eine dreifache Ökonomisierung des Rechts, seines Diskurses, seiner Ausbildung und seines gesellschaftlichen Verwendungszusammenhangs. Die Marktorthodoxie der ökonomischen Analyse des Rechts hat die Rechtstheorie erobert. Bentham kehrt zurück im Transaktionskostenansatz und den "rational-choice"-Theorien. Die "case-law"-Architektur des Europäischen Gemeinschaftsrechts und die extra-legalen Herrschaftspraktiken der politischen Ausschüsse der Plutokratie (Europäische Kommission, EZB, IMF) lösen alles Recht in der Säure einer "marktfähigen Demokratie" (Angela Merkel) auf. Die post-fordistischen Rechtsgeltungsdiskurse halten alle wirtschaftsrechtliche Regulation kontingent: es wird eben so lange lobbyiert und/oder prozessiert, bis Gesetzgeber oder Justiz bei- und nachgeben. Das Änderungstempo des Rechts hat ein Schlagzahl-Stakkato erreicht, während die Fülle des Rechts (12.000 Seiten Bundesgesetzblatt pro Jahr) den klientelistischen Furor und die Legitimationsängste der politischen Dienstklasse unkaschiert erkennen lässt. Im Ergebnis werden gesetzwidrige Bestimmungen, allgemeine Geschäftsbedingungen oder verbotswidrige Kartellierungen unter dem Blickwinkel einer Kosten-Nutzen-Rechnung betrachtet.

Dauerreformgeplapper

Recht wird, was man sich leisten kann. Unrecht leistet man sich, wenn die Strafe niedriger als der illegale Profit ist. Die Ausbildung von JuristInnen, die eigentlich reflektieren sollten, was sie anrichten, ist auf das Niveau einer betriebswirtschaftlichen Installateur-Ausbildung heruntertransformiert worden. Auch die Entstaatlichung des tertiären Bildungssystems trägt zur Anbindung der universitären Ausbildung an die unmittelbaren Erfordernisse der Wirtschaft bei, die sich weder um Gesellschaft, Ethik oder Systematik der Macht, sondern alleine um Gewinnmaximierung kümmert. Folgerichtig lautet der Schlusseintrag auf der Tafel eines Seminars an einer Rechtswissenschaftlichen Fakultät: "Less cost, more profit." Das war's.

Der Neoliberalismus hat nach 30 Jahren Dressur der Köpfe sowohl das Bewusstsein von der strukturellen Gewalt wie auch von der historischen Kontingenz des Rechts zum völligen Verschwinden gebracht. Das Recht ist Ware auf einem Markt im Standortwettbewerb, auf dem die Bestbieter der Rechtsbeugung den Zuschlag erhalten. Und Punkt. Bei so viel Profit spielt der Billigstbieter ohnehin keine Rolle. Dass Recht, wie etwa die längst vergessene "Rechtsladenbewegung" gezeigt hat, auch zivilgesellschaftliche Einmischung ermöglicht, ist perzeptiv ein Minderheitenprogramm. Jedes Bewusstsein, dass Recht nicht bloß ein Reflex auf behauptete ökonomische Zwänge, Kapitalverwertungs- und Profitmaximierungsinteressen ist, sondern auch ein Instrument gesellschaftspolitischen sozialen Wandels sein kann, um deliberative Spielräume auszuweiten und die Repressionsniveaus sozialer Kontrolle herunterzufahren, man entsinne sich der Familienrechts-, Strafrechts-, Universitäts- oder Konsumentenschutzreform der 1970er Jahre, ist im sinnentleerten Dauerreformgeplapper sog. politischer Entscheidungsträger auf den Schirmen der medialen "Blödmaschinen" verschwunden. Hier spiegelt sich der Primat der Ökonomie über die Politik und zugleich der (alte) Primat der Ökonomie über das Recht. Politik selbst ist nur Schmieröl.

In neuer Qualität zeigt sich: Recht ist ein Sediment ökonomischer Machtpositionen und sozialer Praktiken. Die Entthematisierung alter Rechtsinstitute, die Vernichtung von Denkweisen, die Etablierung neuer Rechtsgebiete wie des Vergaberechts gehen auf veränderte Macht- und Gewaltverhältnisse, auf Prozesse der Aneignung und Eroberung von hegemonialen Positionen zurück. Die Selbstverständlichkeit, mit der die Gesellschaft und mit ihr die sozialen Reproduktionsinteressen aus dem Recht ausgewandert sind und der Ökonomie, genauer: der Betriebswirtschaftslehre das Feld überlassen haben, macht deutlich, wo die Zivilgesellschaft, zu deren Kern sich der "Rechtsstab" zählt, nach 30 Jahren neoliberaler Umbauten im Überbau steht.

Die politische Dienstklasse hat auf paradoxe Weise im politisch als Krisenlösung inszenierten Prozess einer marktradikalen Entstaatlichung, der zu einer unüberblickbaren Ausweitung des Rechtsstoffes geführt hat, so viel staatliches Recht produziert wie noch nie, und hat dabei auch so viel normatives Krisenpotential produziert wie noch nie zuvor in der Geschichte des Rechtsstaates. Konsequent aber sind dazu alle Fundamente des Rechtsgeltungsdiskurses geschleift worden. Am Horizont dräuen die Herrschaft einer feudalen Plutokratie (2015 eignen in Österreich ein Prozent der Bevölkerung 40 Prozent des Bruttovermögens) und alternativ dazu ein rechtsstaatliches Szenario aus Pasolinis "Die 120 Tage von Sodom": Die kleinen Schuldner gehen bestenfalls in die Privatinsolvenz oder lebenslang in den Repressionsschwitzkasten der bedarfsorientierten Mindestsicherung; die großen Schuldner fahren, mit öffentlichen Subventionen gerettet, nach Davos; die kleinen Gauner gehen in den "Häfen", die großen mit Fußfessel in die Oper; die kleinen Streitteile vor Gericht setzen ihr Hab und Gut auf eine Karte, die großen sind "repeat player" ohne Risiken; die kleinen Steuerschuldner erhängen sich im Finanzstrafverfahren auf dem Dachboden, die großen golfen mit Lobbyisten mit "Ministerdraht" oder kaufen einen Wohnsitz in der Schweiz (wo sie dann legal als Schweizer auf ihr illegal verbrachtes Steuerfluchtgeld greifen); die kleinen EinkommensbezieherInnen werden zwangsbesteuert, die großen haben steuerlich weder Einkommen noch Ausgaben (das hat ihre Stiftung). Ab da hat das Recht erhebliche Teile seiner relativen Selbständigkeit eingebüßt, wenn nicht sogar als Institution abgedankt.

So scheint sich das Recht an der Stelle des Übergangs hin zu einer Normalität des Terrors der Ökonomie zu befinden. Der Normalitätsanspruch des Vergaberechts, welches als Brechstange zur Erschließung der öffentlichen Daseinsvorsorge für das marodierende, nach Verwertungsmöglichkeiten suchende Finanzkapital dient, nachdem man den leistenden und gestaltenden Sozial- und Wohlfahrtsstaat ausgehungert hat, steht pars pro toto. Der Unterwerfung des Rechts unter das ökonomische Kalkül korrespondiert die Beliebigkeit der Handhabung von Recht, etwa in Form des Einsatzes von Verfassungsbestimmungen in einfachen Gesetzen. Als Institution, repressiver Staatsapparat und Ensemble hegemonialer Projekte im gesellschaftlichen Überbau spiegelt das Recht Machtverhältnisse nunmehr unmittelbar und unvermittelt wider.

Man muss dem Recht als System kein ökonomisches Kalkül mehr applizieren. Es ist, etwa im "Regime Shopping" und Standortwettbewerb um jeweils Anleger-, Investitions- und unternehmerfreundliche Rahmenbedingungen, selbst zum ökonomischen Kalkül geworden. Jüngst echauffiert sich der Der Standard (27.5.2015: "Wirtschaftsstandort Österreich rutscht weiter ab") anhand einer Studie des Schweizer IMD (einer Kaderschmiede für nassforsche Unternehmenssanierer und strategisches Management) über den Verlust an Wettbewerbsfähigkeit. Woran das gemessen wird ? An einem Zuviel an Regulation, Umweltauflagen, Gesetzen und Verwaltungsvorgängen. Kurz davor rügte der Wirtschaftsprüfungs-Konzern Deloitte (Die Presse vom 4.3.2015) das Vorhaben einer Reform des Steuerrechts, welches per se die "Rechtssicherheit" der Unternehmen untergrabe. Recht ist fürderhin, was den Profit nicht gefährdet.


Literatur

Stein, K. (2010): Die juristische Weltanschauung, Hamburg.
Tuschling, B. (1975): Rechtsform und Produktionsverhältnisse, Frankfurt.
Wagner, H. (1976): Recht als Widerspiegelung und Handlungsinstrument, Köln.

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Dating Digital - Begegnung im digitalen Zeitalter

von Martin Schinagl

Wir pflegen ein inniges Verhältnis. Es ist eine Symbiose, in der die Trennung zwischen dem Ich und dem Anderen wie aufgehoben ist. Weiterhin wirkt frisch und einfallsreich, was doch schon so normal ist, dass ein Denken an die Zeit, so wie es vorher gewesen sein muss, trist und fad und eigentlich undenkbar erscheint.

Was für uns das Leben im Internetzeitalter ausmacht, ist das Wirken von Technologien und immateriellen Netzen, dem nicht zu entrinnen ist. Ohne Facebook, Google, Online Banking, Kartendienste, E-Mails und Mediatheken wüssten wir kaum noch, wie wir unsere sozialen Kontakte halten, bei welchem Pizzadienst wir bestellen oder wie wir den richtigen Weg finden sollten.

Bei Liebe, Sex und Partnersuche vertrauen wir in der Postmoderne des digitalen Kapitalismus den Online-Dating-Applikationen. Sie zeigen an, mit wem das nächste Date geschieht, so wie die Wetter-App uns die Regenwahrscheinlichkeit für die kommenden Tage anzeigt. Daher begegnen sie uns immer häufiger, diese Menschen tief versunken mit ihrem Blick auf die Oberfläche des Smartphones. Alltäglich und selbstverständlich sind die Blicke auf der Suche nach Ablenkung, Bettgesell_innen und großer Liebe geworden, die den Kopf senken lässt, die Augen auf den Bildschirm zieht und die Finger zum Schieben und Tasten bewegt. Das Selbst vollführt dabei innerhalb der Architekturen patentierter Bewegungsabläufe vermeintlich "intuitive" Schiebe-, Zoom- und Wischbewegungen. Wir geben nicht nur der Lust unseren Ausdruck, sondern verinnerlichen ein ganzes System.

Nun befinden wir uns inmitten einer digitalen Revolution. Und wie ungleich sie ist: Sie transformiert die globalen und individuellen Arbeits- und Lebensverhältnisse. Sie schärft die ohnehin immensen Unterschiede zwischen den Orten der Produktion und der Konsumtion. Die eingepferchten Arbeiter_innen in den Fabrikhallen der neuen Millionendörfer Chinas produzieren für Hungerlöhne im Akkord die stetig neuen Generationen an Smartphones und Tablets, die wir zu überteuerten Preisen immer schneller konsumieren und wieder wegwerfen. Während auf der einen Seite sich die sozialen Verelendungsprozesse des industriellen Zeitalters mit den neuen Gemischen aus Chemie und Seltenen Erden wiederholen, vollzieht sich in den Sphären des globalen Bürgertums eine soziale Revolution, die die Art und Weise des Begegnens und der Intimität signifikant verändert.

Während wir immer tiefer eintauchen in die urbanen Erlebnis- und Konsumlandschaften, etablieren sich mit den Gadgets in unseren Händen die neuen neoliberalen Begehrensstrukturen. Smartphone, Internet, Tablet, Rechner und Applikationen sind die Devices der neuen libidinösen Infrastruktur. Begehren ist digital. Und die Begierde im Netz ist Teil einer sexuellen Ökonomie. Sie ist seit jeher, seit es das Internet gibt, groß. Weit mehr als die Hälfte aller Webseiten zielt auf die "Vermittlung" pornographischer Inhalte. Die Lüste drängen auf ihre digitale Umsetzung. Für die Suche nach Verbindungen und Zärtlichkeit bedarf es dazu der Dienstleister. Der Markt dafür ist riesig. Die iDate-Messe, die mehrmals im Jahr an Orten wie London, Peking oder L.A. stattfindet, macht das ökonomische Potential deutlich. Bei ihrer "dating industry conference" nehmen hunderte Firmen und Dienstleister teil, die über Produktlinien, Innovationen und Investitionen reden, wie es auf jeder Automesse getan wird.

Nun gibt es allein im deutschsprachigen Netz mehr als 2.500 Internet-Dating-Plattformen, die einen Umsatz im dreistelligen Millionenbereich erwirtschaften. Die Bandbreite dessen, was darunter zu verstehen ist, ist so vielfältig wie die Begierden selbst: Fetischseiten, Plattformen für Seitensprünge, Blind Dates, Affären und Sex Dates, Partnerschaftsportale, Chats, virtuelles Dating, Chatroulettes, kommerzielle Partner_innenvermittlungen. Zwischen Pornografie, Online Dating und Revenge Porn, also Portalen für Racheaktionen an der Ex-Partnerin, verschwimmen in einem unerschöpflich erscheinenden Kontinuum der digitalen Angebotspalette der sexuellen Ökonomie die Grenzen, sofern sie denn je bestanden, zwischen der Suche nach emotionaler Nähe und dem Finden virtueller Sexualität, Do-It-Yourself und Konsum. Aus dem vollen Angebot der digitalen sexuellen Ökonomie heraus können für die Kontaktanbahnung spezialisierte Dienste ausgewählt werden.

Der Einfluss von Visualität und Bilderflut, Algorithmen und Matchingpunkten auf sexuelle Praktiken und Organisation des Begehrens geht weit und tief und ist so offensichtlich wie subtil. Impulshaft lenken wir die Finger-Augen-Herzschläge über die Touchscreens, ja, bewegen ganze Körper, die ihre intimen Momente zu formen suchen. Die Normalisierung dieser Praxis zu vertrauter Alltäglichkeit wirkt auf das Feld zwischenmenschlicher Begegnungen, der Beziehungskonstruktionen und Selbstkonzeptionen. Sie helfen uns, Menschen zu begegnen oder ihnen aus dem Weg zu gehen, ganz wie wir es für richtig erachten. Es scheint, als zeichne sich nur jener "Wandel der Intimität" ab, den der Soziologe Anthony Giddens schon Ende des letzten Jahrhunderts sah. Die Verkrustungen alter Machtstrukturen, vor allem die zwischen den Geschlechtern, brächen dabei auf. Beseelt von der utopischen Idee der "reinen Beziehung", stehen sich darin letztlich zwei autonome Individuen in einem freien Kommunikationszusammenhang gegenüber. Entbunden aus den engen Maschen traditioneller Instanzen der Religionszugehörigkeit und Kirche mitsamt ihrer lustfeindlichen Sexualmoral, entbunden von Klasse, Stand und Familie, die vorgaben, wer wen unter welchen Bedingungen und nur mit dem Segen des Vaters zu heiraten habe, und losgelöst von rassisch-biologistischer und nationalistischer Gesetzgebung, die "Mischehen" sanktionierte, Ehen gegenüber nichtstaatlich abgesegneten Verbindungen bevorzugte und ab jedem vierten Kind anfing, der gebärenden Muttermaschine Orden zu verleihen, ja entbunden von alldem, glaubt sich nun das Individuum emanzipiert. Zuständig dafür, wie sich Menschen begegnen und welche Form der Bindung sie gedenken einzugehen, sind die Subjekte im intensiven kommunikativen Austausch selber.

Die Online-Dating-Plattformen und ihre Anwendungen treten darin als Kontakt-, Sex- und Liebesmaschinen auf, als Vermittlerin zwischen den begehrenden Subjekten, die diese Situation nun erstmals so umzusetzen versprechen.

Maschinen des Begehrens

Einmal angeeignet und in den Alltag aufgenommen, wird innerhalb des Territoriums der Online-Dating-Wunschmaschinen die Produktion ganz bestimmter Affekte forciert. Bei Parship ist es die Produktion von Liebe, denn die finde hier ein Single schließlich alle 11 Minuten - so verspricht es die Werbung. Im Vergleich zu konventionellen Kennenlernprozessen erscheinen einige Praktiken dem Online Dating spezifisch zu sein. Einer Eigenlogik folgend legt die Struktur der Technologie bestimmte Muster der textuellen und bildlichen Selbstpräsentation, Bewertung, Chats und Treffen nahe, die geprägt sind von einer gewissen Repetitivität, Vergleichbarkeit, Rationalisierbarkeit und tendenzieller Entgrenzung zeitlicher und örtlicher Erreichbarkeit. Die soziale Begehrensmaschine dient als legitimes und normalisiertes Mittel zur selbstbestimmten Kontaktaufnahme. Es wird ein Potential erkannt, die Möglichkeiten zu regulieren, über den eigenen Bekanntenkreis hinaus neue Leute kennenzulernen und dabei gezielt die Menschen zu vermeiden, denen man aus Gründen der persönlichen Einstellungen oder distinktiven Ästhetikempfindens nicht begegnen will. Durch den hohen Grad an kommunikativer Aushandlung, Unverbindlichkeit und Spontaneität, der für das Zustandekommen eines Treffens nötig ist, lässt sich Online Dating auch deshalb flexibel in die Abläufe des Alltags der Nutzer_innen und Angebote der meist städtischen Erlebnisökonomien integrieren.

An ihrem Ende steht das (Online)Date als kulturindustrielles Produkt. Dieses ist die neue Institution, über die sich die Individuen vergesellschaften. Das ist rasant in dem Sinne, als sich vor zehn oder nur fünf Jahren kaum jemand nach dem Vorbild amerikanischer Sitcoms getroffen hätte. Das läuft parallel zu den Veränderungen kapitalistischer Arbeitsverhältnisse, wo die ökonomische Landnahme von Emotionen und die Affektivierung als Dienstleistung durch die entstehenden (digitalen) postfordistischen und postmodernen Arbeits- und Freizeitwelten vorangetrieben werden. Anwendungen wie Tinder und OkCupid ermöglichen, was notwendig wird. Sie greifen in das Triebleben der Menschen in solcher Weise ein, dass sie die mediatisierten Formen des Aufeinandertreffens oder der Vermeidung lenken und diese unter dem Einfluss computerisierter Algorithmen regulieren. Sie wirken vermittelnd auf den Körper und die zwischenmenschlichen Praktiken. Die Maschine vertritt dabei die Funktion des Bindeglieds zwischen Markt und Eigeninteresse: Es schafft und beeinflusst ein Bedürfnis ihrer Nutzer_innen, das zu stillen es sich anschickt.

Die Subjekte sorgen selbst für eine fortgesetzte Produktion der Konsumtion - was gewissermaßen das Aufbrechen klarer Sender-Empfänger- bzw. Produktion-Konsumtion-Strukturen im Postfordismus reflektiert. Das gilt generell für die Produktionsverhältnisse der 2.0- und 3.0-Gesellschaften. "Die ganze Welt wird durch den Filter der Kulturindustrie geleitet. Die alte Erfahrung des Kinobesuchers, der die Straße draußen als Fortsetzung des gerade verlassenen Lichtspiels wahrnimmt, weil dieses selber streng die alltägliche Wahrnehmungswelt wiedergeben will, ist zur Richtschnur der Produktion geworden. Je dichter und lückenloser ihre Techniken die empirischen Gegenstände verdoppeln, umso leichter gelingt heute die Täuschung, dass die Welt draußen die bruchlose Verlängerung derer sei, die man im Lichtspiel kennenlernt." (Adorno/Horkheimer 2003, 134) Was bei Adorno und Horkheimer das Kino, setzt das Online Dating konsequent fort und geht weit darüber hinaus. Dabei lösen sich die Grenzen zwischen Display und Betrachter_in auf, und sie selbst werden Teil der eigentümlichen Situation der Dating-Anwendungen und der Verlängerung kulturindustrieller Produktion. Jordi Maiso sieht sich in den totalen Tendenzen der Kulturindustrie bestätigt: "Das Verschwimmen der Differenz von medialer Darstellung und alltäglicher Wirklichkeit scheint sich aber erst heute praktisch zu vollziehen: Nicht nur, dass das Leben ,der Tendenz nach vom Tonfilm nicht mehr sich unterscheiden lasse', sondern die ,Traumfabrik' hat den geschlossenen Raum der Kinosäle wie das Großleinwandformat verlassen, um durch mikroelektronische Geräte den Alltag zu erobern." (Maiso 2012, 11)

Hot-or-Not: eine Beobachtung

Ich will auch eintauchen in die Tendenz und mir über den Selbstversuch einen Einblick durch die Gläser der kulturindustriellen Brille auf die Begehrensnetzwerke gewähren. Dafür nutze ich die Dating App Tinder. Bei ihrer Anwendung werden Fotos anderer Nutzer_innen, die sich in der Nähe befinden, auf der Smartphone-App angezeigt. Im "Hot or Not"-Verfahren werden die Bilder nach links oder rechts gewischt. Finden sich nach diesem Prinzip zwei Nutzer_innen "hot", informiert die App darüber und der Weg ist frei für den Chat.

Mit meinem Daumen berühre ich die kleine orangefarbene Flamme, das Markenzeichen von Tinder. Auf dem schlichten weißen Hintergrund erscheint sofort wie auf einem Kartendeck ein Porträtfoto einer Frau mit weit geöffneten Augen. Ihre fingerlackierten und beschmückten Hände legen sich auf die Wangen um die zum Kussmund geformten Lippen herum. Mir fällt es schwer, ihre Mimik zu deuten. Wie eine Karteikarte verrät mir ein weißer Balken darunter, dass dies Lucy ist. 23 Jahre. Wir besitzen keine gemeinsamen Freundinnen und haben auch keine gemeinsamen Interessen, sagt Tinder. Da es bei der Installation der App nötig war, sich über den eigenen Facebook-Account zu verbinden, werden bei allen Vorschlägen die Profildaten miteinander verglichen und entsprechende Überschneidungen von Facebook-Kontakten und Angaben über Interessen visualisiert. Wohl einmal, um die Identität der Nutzerinnen zu gewährleisten, und zum anderen, um sich den autorisierten Zugriff auf die persönlichen Facebook-Daten zu sichern. Mich interessiert Lucy nicht und ich klicke einfach auf das rote X. Ihr Bild fliegt nach links aus meinem Bildschirm und dem Sichtfeld raus. Noch im Flug prangt der rote Stempelabdruck "Nein" auf ihrem Gesicht.

Ich blicke auf die oberste Karte des Stapels und entscheide nun im Sekundentakt, ob mir eine Person sympathisch ist oder nicht. Statt das rote X oder das grüne Herz zu klicken, schiebe ich die Bilder einfach zur Seite weg. Christopher, 31, schiebe ich nach links raus, auch er bekommt den roten Stempelabdruck. Laura, 26, beim Tandem-Parachute zu sehen, nach links. Jurrijn, 27, rechts, grüner Gefällt-mir-Stempel. "It's a match!", verkündet die App vor einem dunklen Hintergrund, vor dem unsere Köpfe aufeinander zu rollen und nur kurz vor dem Zusammenprall stehen bleiben. Das heißt, auch ich gefalle ihm. Jetzt eröffnet sich die Möglichkeit, mit ihm in Kontakt zu treten, "Hi" zu schreiben, eine Konversation anzufangen, die sich irgendwie aus dem Nichts, aus den spärlichen Informationen oder einem kreativen Einfall schöpft. Doch meine Lust, weiter zu wischen, ist größer. Yeon, 22, "I eat paint and drink turpentine", rechts, Match. Laura, 23, rechts, kein Match. Daniel, 24, links. Luiza, 25, links. Die Türen schieben sich hinter meinem Rücken auf und ich mache Platz für zwei Menschen und ein Fahrrad, die sich durch die Menge ihren Weg nach draußen bahnen. Ich setze meinen Rucksack auf, da ich die nächste Station aussteige. Mein Blick fällt wieder auf die Oberfläche. Britte, Anna, Lisa, Matt, Ni, Stephan, Tobias, Cinthia. Links, rechts, links, links, rechts, rechts. "Suche Partner für Star Trek Marathon. Asexuell", "I don't know where I'm going but I'm on my way", "Dear diary, am I trippin' or am I alive?", "Das Leben ist wie buntes Konfetti", "Anarchist. Vegan. Straightedge. Permaculture. Off the grid. Acab". Die Anwendung bringt eine eigene lyrische Sparte hervor. In ihrer Knappheit oszillieren sie mit ironischer Distanz zwischen Selbstbeschreibung, Utopie und Information, ohne dass eigentlich klar wird, weshalb sie überhaupt hier sind. Die Menschen auf den Bildern wirken sehr ästhetisch und decken sich mit meinem Empfinden für Schönheit. Die Fotos zeigen hippe Twentysomethings, schwarz-weiße Porträts, Seifenblasen, wehende Haare, lichtdurchflutete dunkle Wolken, lachende Gesichter, schlanke Körper auf Himmelbetten. Dabei wird sich ganz klar an der Ikonographie und Inszenierung des guten Lebens aus der Werbeindustrie orientiert.

Dating ist Fun, Fun ist ein Stahlbad

Gefühle und Neigungen unterliegen bestimmten Konditionierungen und die Zirkulation von Begierden den Strukturen der Gesellschaft. Die Lustökonomie des Kapitals ist verzahnt mit den inneren Haushalten an Lüsten und Begierden, die jene kolonisiert. Wir folgen bei der Wahl des Dates den Regeln des neoliberal durchsetzten Lustprinzips. Wir orientieren uns an den Matchingpunkten, um unsere Interests und Risiken zu kalkulieren. Wir erkennen die bildlichen Codes, die Darstellungspraxen und entscheiden dann aufbauend auf unseren verinnerlichten Bewertungsparametern, wen wir treffen wollen und wen nicht.

Langeweile und "Zeitverschwendung" sind beim Date Grund genug, sich der Situation und Szenerie zu entziehen - ob im Chat oder in der konkreten Begegnung. Spielabbruch durch Regelbruch. Die sozialen Verpflichtungen der traditionellen Außenwelt spielen keine Rolle. Nur Langeweile zu vermeiden als Bedingung für ein gelungenes Date wird von der Erwartung zur Anforderung an sich selbst. Die Darstellung im Date wird begleitet mit der Pflicht zu Hingabe und Spaß als Imperativ der Inszenierung. Es geht darum, authentisch "gut drauf" zu sein, unabhängig von der individuellen Verfassung. Die Gefühlslagen, die sich einstellen, schließen Angestrengtheit und Frustration zwangsweise mit ein. Dieser vorzubeugen, wissen die Dater_innen sich eine innere Haltung der erwartungslosen Gelassenheit anzueignen oder antizipieren die Enttäuschung, die das Realisieren virtueller Kommunikation mit sich bringen kann.

Online Dating generiert einen vermeintlich unendlich großen Markt an Partner_innen. Mit dem Einloggen in die Dating App eröffnet sich theoretisch der emotionale und sexuelle Zugriff zu jeder und mehreren. Für Eva Illouz ein Indiz für die Durchsetzung der liberalen Ideologie, denn keine Technologie habe bisher "auf so extreme Weise den Begriff des 'wählenden' Selbst und die Idee, die romantische Begegnung solle das Ergebnis der bestmöglichen Wahl sein, radikalisiert" (Illouz 2006, 120). Natürlich geht es nicht nur um Romantik. Mit dem Wissen um die Praktikabilität und die Effizienz der Anwendungen geht ein Gefühl der Anstrengung oder des Verdrusses einher. Gleichzeitig erfordert die Masse der Kontaktmöglichkeiten einen effizienten Umgang in der Nutzung der Anwendungen. Das Bewerten, Präsentieren, Wählen, Anschreiben und Sich-selbst-von-innen-nach-außen-Kehren, um anziehend zu sein, das sind die Produktionsabläufe des Date. Es wählt und es muss gewählt werden, soll es zu einem Date kommen. Dabei treffen begehrende Subjekte auf andere begehrende Subjekte - sie sind Suchende und Gesuchte, Nachfrage und Angebot in einem. Unter den Vorzeichen der digitalen Produktions- und Distributionsverhältnisse entstehen aus ihnen heraus marktförmige Subjekte, die so selbst zur Ware werden und die einen direkten verwertbaren Nutzen für die Dienstleister haben.

Dating als Werkzeug der Subjektformation verändert Blicke und Bewegungen, die so zum sichtbaren Zeichen neuer Kontaktanbahnungsversuche werden. Das "Swipen", also das Hin-und-her-Schieben im Sekundentakt und das kataloghafte Durchstöbern der Profile, egal ob auf der Arbeit, in der U-Bahn oder am Strand, kommt einer jungen, mobilen Generation zugute. Sie ist der Ermächtigung von technogenen Darstellungsformen im Stande. Diese verleihen entgrenzten Lebens- und Arbeitsverhältnissen auch im Zwischenmenschlichen einen neuen Ausdruck und ermöglichen vor allem Verbindungen unter ihresgleichen.


Literatur

Adorno, Theodor W.; Horkheimer, Max (2003): Dialektik der Aufklärung, in: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften, Bd. 3, Hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Illouz, Eva (2006): Gefühle in Zeiten des Kapitalismus, Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Maiso, Jordi (2012): Vergebliche Wiederholung? Kulturindustrie, gestern und heute, Vortrag, Freie Universität Berlin, 28.01.2012.

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Dead Men Working

Böses Erwachen

von Maria Wölflingseder

Angenommen, ich wäre vor genau 35 Jahren in einen Dornröschenschlaf gefallen. Damals im Frühsommer 1980, nachdem ich die - neben meinem Universitätsstudium besuchte - damals zweijährige Sozialakademie mit dem Diplom abgeschlossen hatte. In jener Zeit blühten nicht nur in der Sozialarbeit viele bunte, fröhliche, kritische Ideen und Initiativen, die im Zuge der 68er-Bewegung entstanden waren. Früchte davon waren zum Beispiel die Schließung der großen Kinderheime zugunsten von Wohngemeinschaften, große Veränderungen in der Psychiatrie oder die Entstehung von Gemeinwesenarbeit. In allen gesellschaftlichen Bereichen, von Universitäten und Schulen bis hin zu Gewerkschaften und Kirchen, sprossen kritische Kräfte. Auch genug undogmatische - also jenseits jener vermeintlich emanzipatorischen, die all die K(ommunistischen)-Grüppchen entwickelten. Bezüglich Arbeit war von radikaler Arbeitszeitverkürzung oder von selbstverwalteten Betrieben die Rede, die da und dort gegründet wurden. Es war damals aber gar nicht notwendig, ständig 40 Wochenstunden zu arbeiten, um ausreichend Lebensunterhalt zu verdienen. Wohnen und Lebensmittel waren weitaus kostengünstiger als heute. So blieb genug Zeit für Angenehmeres, das reichlich vorhanden war. Zum Beispiel auch eine ganze andere Art des Studierens. Eine jenseits von Verschulung, Zeit- und Anpassungsdruck. Angenommen, mich hätte erst im 21. Jahrhundert ein Prinz wach geküsst, angesichts welcher Veränderungen würde ich mir besonders die Augen reiben? Außer über den digitalen Aufschwung und die zwischenmenschliche Abkühlung. Heute, wo die wirtschaftliche Produktivität durch die mikroelektronische Revolution um ein Vielfaches höher ist, sind die sozialen Probleme keineswegs gesunken, sondern stark gestiegen. Sogar in Österreich lebt schon ca. jeder Achte unter der Armutsgrenze. Ist das nicht unlogisch? Die Befreiung von Lohnarbeit ist möglich geworden, aber was ist passiert? Die einen arbeiten 60-80 Stunden pro Woche. Oft bis zum Burnout. Viele haben mehrere Jobs, die zum Leben trotzdem nicht reichen. Und die Zahl jener, die gar keinen Marktwert mehr haben, ist immens gestiegen. Sie sind Stigmatisierte, überflüssiges "Humankapital".

Bezüglich der wirtschaftlichen Situation scheuen sich Experten nicht, Vergleiche mit den 1920er und 1930er Jahren anzustellen. Was aber die Not der Menschen betrifft, wird allseits versucht, den Schein der Normalität zu wahren. Nicht zuletzt von den Betroffenen selbst. Früher hätte man sich solche Unterwerfung unter die widersinnigen Umstände nur mit Gehirnwäsche erklären können. Sie erfolgt jedoch ganz von selbst, in vorauseilendem Gehorsam dem irrationalen System gegenüber und in der Hoffnung, sich wenigstens zum Dumpingpreis verkaufen zu können. - Besonders gespenstisch ist auch das Gebaren der Medien, die die Haltung der armutsgefährdeten Mittelschicht reproduzieren: sie projizieren die Gefahr der Verelendung nach außen, auf die bildungsfernen Schichten. Deshalb wird jenen der Mund verboten, die aus eigener Erfahrung über gesellschaftliche Mechanismen berichten könnten, die selbst für Hochqualifizierte immer öfter zur existenziellen Bedrohung führen. Anstatt dessen begeben sich Soziologiestudenten oder Journalistinnen zu Recherchezwecken versuchshalber in die Armut, um über ihren Nervenkitzel im sozialen Dschungelcamp zu berichten.

Was den Sozial- und Gesundheitsbereich betrifft: da kümmern sich Heerscharen von oft selbst knapp Entlohnten vorbildlich um jene, die das System ausgegrenzt und krank gemacht hat. Aber was die Äußerung von Kritik an den Verhältnissen anbelangt, die automatisch soziales Elend am laufenden Band produzieren, könnte man meinen, sie hätten ein Schweigegelübde abgelegt. Vielleicht wünscht man sich ohnehin nur eine Linderung des sozialen Elends, und die Bemühungen darum überlässt man lieber ein paar wenigen akademischen Expertinnen, der Österreichischen Armutskonferenz oder den Chefs der großen Sozialeinrichtungen.

Da ich jedoch nicht wie Dornröschen schlummerte, habe ich die rasante soziale Talfahrt als Alpwachtraum erlebt. Den ersten größeren wirtschaftlichen Einbruch erlebte ich hautnah, als es 1983 plötzlich kaum mehr lukrative Brotjobs gab - mit denen ich mein Studium finanzierte. Ab Mitte der 1980er Jahre wurden die anbrechende Vereinzelung und die immer härter werdende Konkurrenz bereits vorbeugend ideologisch untermauert. Im Zuge der sogenannten New Age- bzw. Esoterik-Bewegung kippten die sozialen Vorstellungen weiter Teile der großen vielfältigen Gruppe an kritischen Menschen. Krankheit, soziales Elend und die Verhungernden wurden mit jemandes Karma - das durch früheres Handeln bedingte gegenwärtige Schicksal - begründet. Neue Slogans tauchten auf: "Jeder ist seines Glückes Schmied." "Alles, was dir geschieht, du alleine bist dafür verantwortlich." "Denk positiv, denn durch dein Bewusstsein schaffst du deine Realität selbst." - Solipsismus und calvinistische Prädestinationslehre lassen grüßen. Also der Standpunkt, der nur das eigene Ich mit seinen Bewusstseinsinhalten gelten lässt. Und ein Misserfolg beweist, der Erfolglose war des Erfolgs nicht wert.

Im Jahr 2000 platzte nicht nur die dot.com-Blase, auch mir wurde der Job gekündigt. Daraufhin wurde ich Pädagogin vom Arbeitsamt ordentlich pädagogisiert. - Aber die noch größere Überraschung war das Gebaren der verbliebenen kritischen Kräfte, die nicht gegen die brutalen gesellschaftlichen Verhältnisse auftraten, auch nicht gegen den steten Sozialabbau, sondern seit Februar 2000 demonstrierten sie jahrelang donnerstäglich gegen die neue schwarz-blaue Regierung. (Als ob die rote viel besser gewesen wäre.) Kürzlich fand ich eine rare Kritik an diesem religiösen "Bittgesang 'aller demokratischen Kräfte'(!)", (so die Eigenbezeichnung) von Monika Peterl in AKIN Nr. 35 ("Eine Welt ohne Geld und Arbeit", 28.11.2000). - Seit der Gründung von Attac Österreich im November 2000 beschränkt sich Kritik im Großen und Ganzen auf Raubtierzähmungsversuche. Attac steht ja für ein französisches Kürzel, das auf deutsch "Vereinigung zur Besteuerung von Finanztransaktionen zugunsten der BürgerInnen" heißt. - Von einem emanzipatorischen Blick über die Thujenhecke der Marktwirtschaft vorerst keine Spur mehr.

Die Rosen blühen sicher anderswo. Aber wird es überhaupt ein Erwachen geben?

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Aussortiert

Ältere werden in die Armutsfalle "zweiter Arbeitsmarkt" abgeschoben

von Martin Mair

Zunehmend sortiert "die Wirtschaft" ältere Menschen aus und die Politik reagiert hilflos. Im Februar 2014 präsentierte die rot- schwarze Regierung ein Arbeitsmarktpaket für die "Generation 50+": 350 Millionen Euro würden investiert und neben Lohnsubventionen sollte auch der "zweite Arbeitsmarkt" ausgebaut werden, in dem, so SPÖ-Sozialsprecherin Sabine Oberhauser, ältere ArbeitnehmerInnen die Gelegenheit erhielten, "eine sinnvolle und gesellschaftlich anerkannte Beschäftigung auszuüben, zum Beispiel in den Bereichen SchülerInnenbetreuung oder Haushaltsdienstleistungen."(1)

Unter Sozialminister Alfred Dallinger wurden in den 1980er Jahren "sozialökonomische Betriebe" (SÖBs) und "gemeinnützige Beschäftigungsprojekte" (GBPs) als Teil der "experimentellen Arbeitsmarktpolitik" eingeführt. Sie hatten primär Jugendliche ohne abgeschlossene Ausbildung als Zielgruppe und waren tendenziell freiwillig.

Mit dem Ansteigen der Arbeitslosigkeit buchte das Arbeitsmarktservice (AMS) immer mehr ältere, erfahrene Arbeitslose unter Androhung von Bezugssperren zu. Einige wehrten sich und gingen bis zum Verwaltungsgerichtshof, der die Sperren aufhob, weil der "zweite Arbeitsmarkt" aufgrund seiner Vermischung von Arbeit und "sozialpädagogischer Betreuung" nicht zumutbar sei. (VwGH GZ 2002/08/0262, GZ 2002/08/0135, GZ 2003/08/0200 u.A.)

Statt den "zweiten Arbeitsmarkt" als freiwilliges Angebot neu zu positionieren, änderte die neu gewählte rot-schwarze Regierung unter Sozialminister Erwin Buchinger (SPÖ) im Herbst 2007 das Arbeitslosenversicherungsgesetz (AlVG): Ab Jänner 2008 konnte das AMS Arbeit in SÖBs und GBPs als "zumutbare Arbeitsverhältnisse" wieder mit existenzgefährdenden Bezugssperren erzwingen. Damals hatte der frisch installierte Sozialminister, Bruder von AMS Vorstand Herbert Buchinger, auf der Veranstaltung "Wege in die Zukunft" vor SozialarbeiterInnen Sanktionen als notwendiges "Disziplinierungsmittel" bezeichnet.(2)

Unterminiertes Arbeitsrecht

Gleichzeitig hatten die Gewerkschaften GPA-djp und vida mit der "Bundesarbeitsgemeinschaft Sozial- und Gesundheitsberufe" (BAGS) und dem Verband der Erwachsenenbildung (BABE) eine "Transitarbeitskräfteregelung" ausgehandelt: Anstatt eines regulären Lohns mit Anrechnung von Vordienstzeiten gestanden die "Sozialpartner" den "Transitarbeitskräften" in den SÖBs und GBPs nur noch einen niedrigen, vermutlich sittenwidrigen Pauschallohn von ca. 1.300 Euro brutto zu. Ohne Anrechnung von Vordienstzeiten und Qualifikationen und ohne Gehaltsvorrückungen. Von vielen im Kollektivvertrag festgeschriebenen Zusatzleistungen und Rechten werden die "Transitarbeitskräfte" ausgeschlossen. Mit dem Segen der Gewerkschaft wurde vereinbart, dass diese "verpflichtend psychosozial begleitet und betreut werden".

Obwohl die "kollektivvertraglichen Differenzierungskriterien, die das Ausnützen der sozialen Schwäche der Arbeitnehmer erschweren" sollten (Csebrenyak Erich, Geppert Walter, Maßl Wolfgang, Rabofsky Eduard: ABGB und Vertragsrecht, S. 128), und die regulären Branchenkollektivverträge in voller Absicht umgangen werden, gab es darüber nicht einmal eine rechtswissenschaftliche Diskussion. Laut Höchstgerichten können nämlich auch Kollektivverträge rechtswidrig sein. (OGH 9ObA80/11x)

Wenngleich immer mehr Menschen, die sofort am "ersten Arbeitsmarkt" arbeiten könnten, am "zweiten Arbeitsmarkt" als ArbeitnehmerInnen zweiter Klasse zwischengelagert werden, preisen Arbeiterkammer und Österreichischer Gewerkschaftsbund diesen immer noch als angebliche Hilfe zur Integration in den "ersten Arbeitsmarkt" an.

Theorie und Praxis des "zweiten Arbeitsmarktes"

Die Erläuterungen zur AlVG-Novelle 2007 nennen als Zielgruppe der SÖBs "Personen mit eingeschränkter Produktivität" sowie "am Arbeitsmarkt benachteiligte Personen", die "Vermittlungshemmnisse" hätten und "Betreuungs- und Trainingsmöglichkeiten" bräuchten. Die AK Oberösterreich und deren Tochterfirma FAB präsentierten heuer die Studie "SÖB und GBP im Wandel!",(3) erstellt vom Institut für Berufs- und Erwachsenenbildungsforschung an der Universität Linz. Ihr zufolge sind SÖBs und GBPs für Arbeitslose mit "speziellen Hindernissen" - wie "Langzeitarbeitslosigkeit, Alter, Behinderung, Betreuungspflichten, soziale Fehlanpassung, ehemalige Drogenabhängige, Haftentlassene, Nichtsesshafte, etc." - vorgesehen.

Tätigkeiten von SÖBs und GBPs sind im Niedriglohnsektor angesiedelt und entsprechen selten den Berufen und Kenntnissen der ZwangsteilnehmerInnen. Während laut Studie die zu den FAB-SÖBs/GBPs in Oberösterreich vom AMS zugewiesenen Arbeitslosen vorher in den Bereichen Gesundheit/Sozialwesen (38%), Handel (10%), Produktion (10%), Verwaltung (6%), Gastronomie (6%) tätig waren, boten die untersuchten SÖBs/GBPs Jobs in den Bereichen Gastronomie (22%), Bau (18%), Garten (17%) und Dienstleistungen (13%) an. Besonders hart erwischt es die zumeist wegen Krankheit aus dem Gesundheits- und Sozialbereich Ausgeschiedenen, die dann je rund die Hälfte der "TransitmitarbeiterInnen" in den SÖBs/GBPs der Bereiche Sperrmüll, Garten und Bau stellen und auch mehrmals in diesen Betrieben arbeiten "dürfen". Es "lässt sich generell kein sehr starker Zusammenhang mit späteren Berufsgruppen ableiten" heißt es weiter in der Studie.

Die Erfolgsquote ist nicht berauschend: Lediglich 20,6% der Frauen und 24,3% der Männer finden direkt im Anschluss eine Arbeit, nach sechs Monaten steigt diese auf etwa 40%. Vergleichszahlen einer Kontrollgruppe ohne SÖB/GBP-Teilnahme fehlen bzw. werden nicht genannt.(4)

Weil das AMS nun vermehrt ältere und qualifizierte Menschen zuweist, häufen sich die Beschwerden beim Verein "Aktive Arbeitslose Österreich".(5) Einige Beispiele:

Eine studierte Biochemikerin, die als diplomierte Sozial- und Lebensberaterin arbeitete, durfte beim Caritas Shop Carla Gröbming in einer schlecht belüfteten Garage Altkleider schlichten. Sie brach sich den Fuß an einer Stufe und als sie am Ende der Probezeit kündigte, wurde sie vom AMS mit Bezugssperre bestraft.

Ein ehemals kaufmännischer Angestellter wurde zum SÖB "Chamäleon" in eine schlecht belüftete Halle zur Mülltrennung verdonnert, obwohl er auf seine Rückenleiden hinwies. Er schied sogleich wieder aus, weil er nach einem Tag Arbeit für mehrere Wochen in den Krankenstand musste.

In Kärnten wurde eine Kauffrau zum SÖB "Neue Arbeit" in die Schneiderei/Wäscherei zum Bügeln geschickt, wo sie und viele andere als "Arbeitstraining", ohne regulären Lohn und Pensionsversicherung, sechs Monate und mehr auf Kosten der Arbeitslosenversicherung gratis für die Firma hackeln dürfen. Wohl rein zufällig beliefert die Großküche von "Neue Arbeit" die Geschäftsstellen des AMS.

Einer Lehrerin aus Russland wollte die Arbeitsinitiative Bezirk Feldkirch (ABF) "Primärtugenden" durch Hilfstätigkeiten bei der Mikroverfilmung beibringen. Sie wurde vom männlichen Vorgesetzten gemobbt. Die ABF versetzte die Frau in die "Manufaktur" (Verpackung), wo sie die weit unter ihrer Qualifikation liegende Arbeit verweigerte und daraufhin vom AMS gesperrt wurde. Zusätzlich demütigend: Die männlichen Richter vom Verwaltungsgerichtshof schenkten dem Mobbingopfer kein Gehör und bestätigten die Bezugssperre. (VwGH GZ 2012/08/0043)

Der wirtschaftliche Nutzen der hoch subventionierten SÖBs und GBPs dürfte gering sein, Erfahrungsberichten zufolge sind die Betriebe eher ineffektiv. Sie dienen wohl mehr der Aufrechterhaltung des Scheins der Lohnarbeitsgesellschaft. Irgendeinen Job zu haben wird offenbar als einzige Möglichkeit der "Integration" in "die Gesellschaft" betrachtet.

Pathologisierung

SÖBs und GBPs betonen daher gerne die Defizite, die angeblich beseitigt, und die "Integrationsleistung", die erbracht würde, wozu die Vermittlung von "Arbeitstugenden" zähle. In Arbeitsverträgen samt zugehörigen Regelwerken finden sich besonders disziplinierende, repressive und mitunter rechtswidrige Elemente - etwa unangekündigte Alkoholkontrollen bei der Caritas Steiermark (der Alkohol kommt in den "Regeln der Zusammenarbeit" gleich drei mal vor!) oder Strafen wie: "Bei unbegründetem Nichterscheinen am Arbeitsplatz vor 12:00 Uhr gilt der ganze Tag als unentschuldigt" ("Chamäleon").

Für ältere Erwerbsarbeitslose, die nur wegen ihres Alters von der Wirtschaft diskriminiert werden, ist es besonders demütigend zwangsweise eine "sozialpädagogische Betreuung" über sich ergehen lassen zu müssen. Das kann die Offenlegung des Privatlebens in hochnotpeinlichen Betreuungsgesprächen, nicht nur vor der Sozialarbeiterin, sondern auch vor dem gesamten "Schlüsselpersonal" bedeuten, wie der Film "Hotspot" von Sabine Derflinger über das Restaurant "Michls" eindrucksvoll zeigt.

Laut Verwaltungsgerichtshof ist diese Betreuung "im Rahmen eines echten Beschäftigungsverhältnisses nur in den engen Grenzen der in § 9 Abs. 2 AlVG normierten Zumutbarkeit möglich" (VwGH GZ 2004/08/0148). Laut Ministeriumserlass soll sie "der Durchführung der vertraglich vereinbarten Tätigkeit förderlich sein bzw. im weiteren Sinne jedenfalls dem Erwerb oder der Vertiefung beruflicher Qualifikationen dienen". (Dienstanweisung BMWA-435.005/0025-II/1/2006)

Der Ideologie des neoliberalen "Aktivierungsregimes" unterstellt, dass nicht die fehlenden Arbeitsplätze Ursache der Erwerbsarbeitslosigkeit sind, sondern "Vermittlungsdefizite" der Arbeitslosen. Diese Defizitorientierung führt zur Täter-Opfer-Umkehr und demütigt die Opfer des Wirtschaftssystems zusätzlich.

Gemeinnütziger Sklavenmarkt

Eine besondere Form der SÖBs sind die "gemeinnützigen Personalüberlasser" (SÖBÜ). Unternehmen können dort risikofrei - weil jederzeit fristlos zurückschickbar - Arbeitslose austesten und gleichzeitig "Wiedereingliederungsbeihilfen" kassieren.

Vor allem das rot-grüne Wien setzt massiv auf diese Form des "zweiten Arbeitsmarktes" und hat die Zahl der "Stellen" massiv ausgebaut. In Wien gelten zwei der drei großen SÖBÜs als SPÖ-nahe: bfi jobtransfair gehört der Arbeiterkammer und dem Österreichischen Gewerkschaftsbund, itworks der Österreichischen Studien und Beratungsgesellschaft (ÖSB). Als besonderes Zuckerl gesteht eine neue AMS-Qualitätsrichtlinie den Unternehmern zu, die Arbeitslosen unentgeltlich, voll auf Kosten der Arbeitslosenversicherung, in Form eines "Praktikums" bzw. einer "kostenlosen Personalüberlassung" auszutesten.(6) Dadurch wird das Arbeitskräfteüberlassungsgesetz verletzt, denn während einer Überlassung ist der gleiche Lohn wie jener, der im Beschäftigerbetrieb üblich ist, zu zahlen. Angeblich soll es auch Firmen geben, die dadurch profitieren, dass sie sich alle drei Monate neue geförderte Arbeitslose beim SÖBÜ holen und so gut wie nie jemanden fix anstellen.

Politik drückt beide Augen zu

AK und ÖGB drücken vermutlich deshalb beide Augen zu, weil sie einerseits in allen AMS-Aufsichtsgremien mitreden und andererseits als Inhaber der bfi/baf/BBRZ-Gruppe der größte Anbieter von AMS-Maßnahmen sind. Außerdem haben sowohl in SÖBs und GBPs als auch beim AMS viele ParteifunktionärInnen und -freundInnen eine Stellung oder sind in den Vereinsvorständen zu finden. GBPs werden oft von Gemeindeverbänden betrieben und sind somit auch parteipolitisch verortet. Der Politfilz im AMS-Bereich gehört immer noch zu den bislang medial und erst recht wissenschaftlich unbeleuchteten Politbiotopen rot-schwarzer Proporzpolitik.(7)

Für jene, die einen SÖB überstanden haben, warten noch versicherungstechnische Fallen: Wer sein karges Einkommen durch eine geringfügige Beschäftigung aufgebessert hatte, darf für das ganze Jahr rückwirkend Lohnsteuer zahlen, wenn damit dank SÖB/GBP die Jahresfreigrenze überschritten wurde. Wer selbständig war, verliert womöglich dank "rollierender Neuberechnung" gleich den AMS-Bezug für das ganz Jahr und darf diesen zurückzahlen. Wer unter 45 Jahre alt ist, kann durch den Erwerb einer neuen Anwartschaft auf deutlich weniger Arbeitslosengeld kommen, weil das Einkommen, nach dem der Bezug berechnet wird, oft viel geringer ist als vorher.

Dass SÖBs und GBPs laut oben genannter Studie gerade für ältere und qualifizierte Menschen am ungeeignetsten sind, stört die Regierung überhaupt nicht. Geht es doch primär darum, die von den lästigen Alten verunstaltete Langzeitarbeitslosenstatistik zu schönen.


Internetlinks

1 http://bit.ly/1ITjFKd
2 http://www.sozialearbeit.at/veranstaltung.php?event=true&detail=33
3 http://media.arbeiterkammer.at/ooe/Studie_SOEB_im_Wandel_2015.pdf
4 http://bit.ly/1HBEoBV, S. 71
5 http://www.arbeitslosennetz.org/arbeitslosigkeit/ams-berichte/index.html
6 http://www.ams.at/_docs/001_AV_SOEB_GBP_RILI.pdf Punkt 6.4.7
7 https://nzz.at/s/F2vvy-nzwF

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Immaterial World

Körper und Emanzipation

von Stefan Meretz

Die gesellschaftliche Emanzipation wird zumeist als eine Sache des Kopfes aufgefasst. Ich solle doch kognitiv einsehen, dass der Kapitalismus abgeschafft gehört, argumentiert die Linke. Dabei manifestieren sich die alltäglichen Leiden vor allem körperlich: als Schmerzen, Depressionen, Schlaflosigkeit, Unruhe, Angst usw. Das Problem ist nicht, das Leiden am Kapitalismus zu spüren, das Problem ist, es mir nicht als bloß mein individuelles Problem zuzuschreiben. Oder wahlweise externen Schuldigen. Hat die Linke körperliche Emanzipationsvorstellungen - so sie solche nicht ohnehin unter das Utopieverbot stellt? Kann ich die Emanzipation schon ahnungsvoll erfühlen oder muss ich mich knechten bis die Revolution uns und unsere Körper erlöst?

Im Kapitalismus setzen wir uns permanent auf Kosten von anderen durch - ob wir dies wollen oder nicht. Emanzipation bedeutet, diese strukturell naheliegende und nahegelegte Handlungsmatrix der Exklusion durch eine Strukturlogik der Inklusion aufzuheben, bei der die je individuelle Entfaltung die Voraussetzung der Entfaltung aller anderen ist - und umgekehrt. Die freie Entfaltung der Individualität ist dabei immer auch die freie Körperentfaltung. Letztere ist Ergebnis und Voraussetzung der ersteren.

Unmittelbar-sinnliche wie auch vermittelt-diskursive Erfahrungen schreiben sich in unsere Körper ein, sowohl mental (Gehirn) als auch in unseren ganzen Körper (Muskeln, Knochen, Sehnen usw.). Wir sind unsere eigene materialisierte Biografie. Pierre Bourdieu nennt die gesellschaftlich-vermittelten eingeschriebenen Körpererfahrungen der Stile, Moden, Sprachen, Gewohnheiten und Bewegungen Habitus bzw. Hexis. Die Disziplinierung der Körper funktioniert direkter als die Disziplinierung der Gehirne. Wir haben den Kapitalismus körperlich verinnerlicht: Wir sind der Kapitalismus, den wir schaffen und der uns schafft - im doppelten Sinne des Wortes.

Die fremde wie eigene Körperwahrnehmung im real existierenden Kapitalismus ist geschlechtlich und exklusionslogisch strukturiert. In der "männlich" präformierten Sphäre der Produktion/Öffentlichkeit erfährt die dominante vermittelt-diskursive Schöpfung von Welt gesellschaftlich eine höhere Anerkennung als die der "weiblich" präformierten abgespaltenen Sphäre der Reproduktion/Privatheit zugewiesene unmittelbar-sinnliche Erfahrung. Manifeste Exklusionen - denen wir unterliegen und die wir vollziehen - erleben wir als herrschaftsförmige Nichtung unseres physischen und psychischen Seins, von Wohlbefinden, Gesundheit und Lebenserwartung, von Freude, Anerkennung und Aufgehobenheit.

Doch Herrschaft richtet sich nicht nur gegen andere, sondern auch gegen uns selbst. Unser Körper gehört nicht uns, sondern unser Körper ist Instrument für einen dritten Zweck. Die gesellschaftlich präformierte Instrumentalität unterscheidet sich dabei geschlechtlich. Die männlich-beherrschende Fremd- und Selbstwahrnehmung sieht im Körper ein Werkzeug für einen operativen Zweck ("Ich habe einen Körper"), während die weiblich-identifikatorische Fremd- und Selbstsicht den Körper herrichtet, um ihn zweckgerichtet zu präsentieren und einzusetzen ("Ich bin mein Körper"). Diese nahegelegten Weisen der instrumentellen Fremd- und Selbstwahrnehmung sind effektive Mittel der Selbstherrschaft und Selbstbeherrschung. Im Neoliberalismus lösen sich zwar die Geschlechtergrenzen zunehmend auf, doch die Selbstunterwerfung bleibt und intensiviert sich in dem Maße, wie die gesellschaftlichen Anforderungen verinnerlicht werden. Fremd- und Selbstbestimmung lassen sich nicht mehr unterscheiden.

Emanzipation als Prozess der Aufhebung des Kapitalismus ist der qualitative Übergang von der exklusions- in eine inklusionslogisch strukturierte Produktionsweise, ist gleichzeitig der Prozess der Aufhebung der gesellschaftlich vermittelten Körpereinschreibungen des Kapitalismus. Der so verstandene Commonismus hebt die Sphärenspaltung zwischen Produktion/Öffentlichkeit und Reproduktion/Privatheit sowie die damit verbundenen geschlechtlich und exklusionslogisch strukturierten Fremd- und Selbstwahrnehmungen des Körpers auf.

Emanzipation ist damit auch der Prozess des Umlernens der gesellschaftlich vermittelten Körpereinschreibungen. Neue unmittelbar-sinnliche wie vermittelt-diskursive Körpererfahrungen sind das Medium, in dem das Umlernen stattfinden kann. Sie sind wesentlich von neuen Formen der gesellschaftlichen Herstellung unserer Lebensbedingungen bestimmt. Ohne eine neue inklusionslogisch strukturierte Produktionsweise keine Aufhebung der gesellschaftlich vermittelten Körpereinschreibungen des Kapitalismus. Ohne Umlernen restriktiver Körpereinschreibungen keine neue Produktionsweise.

Mitunter wird das Befassen mit dem Körper, ein Hineinspüren in den eigenen Körper, ein Wahrnehmen der körperlichen Befindlichkeit, ein Ernstnehmen körperlichen Widerwillens und Anstreben körperlichen Wohlbefindens unter Esoterik-Verdacht gestellt. Riesig ist der Markt der Wohlfühl- und Erleuchtungsangebote. Doch diese isolieren den Körper von der Welt, sie legen die Illusion nahe, ein unentfremdetes und ungebrochenes Beisichsein sei allein individuell oder in überschaubaren Gemeinschaften mental wie körperlich erreichbar. Der verständliche Wunsch nach Kompensation kapitalistischer Zumutungen treibt jedoch die bürgerliche Trennung von Individuum und Gesellschaft auf die Spitze.

Die gesamtgesellschaftliche Vermitteltheit der individuellen Existenz bedeutet, dass wir immer auch die Gesellschaft sind, in der wir leben. Wir können sie nicht "draußen" lassen, um einen "inneren" Wohlfühlraum zu imaginieren. Weder das Abschneiden der Individualität von der Gesellschaft noch die Privilegierung der Gesellschaft gegenüber den Individuen erreicht die Emanzipation. Unsere Körper sind Quelle der Erkenntnis und Medium der Veränderung, und es gibt hier kein erst - dann: "Erst die Gesellschaft verändern und dann uns selbst" - oder umgekehrt.

Der Commonismus ist keine bloße Idee, sondern die Bewegung der Aufhebung der geschlechtlich und exklusionslogisch strukturierten Spaltungen des Kapitalismus. Überlassen wir unsere Körperlichkeit nicht der Esoterik.

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Notizen über Ängste

von Karl Kollmann

"... die im Dunkeln sieht man nicht"
(Brecht, Dreigroschenoper)

Enttäuschung

Aufgefallen ist mir in den letzten Monaten, Freunde, Bekannte, Kollegen wollen manche Themen ziemlich rasch loswerden, wenn sie beiläufig zur Sprache kommen, etwa die gescheiterten Revolutionen im Maghreb oder das griechische Alltagssozialdrama. So etwas wie Missmut und Enttäuschung taucht dann in den Stimmen auf. Man will offenbar nicht ins Räsonieren kommen und an der Trostlosigkeit des Status Quo weiter herumkauen. Und da sind noch die anderen Themen, die seit ein paar Jahren auch unter halbwegs intellektuellen Menschen schon etwas tabu - oder sagen wir: schal - geworden sind: der Klimawandel, die Verteilungsfragen, Sinn- und Unsinn von ausgefuchster Political Correctness. Diese Dinge machen offenbar irgendwie hoffnungslos, und da so vieles aussichtslos scheint, macht das alles etwas Angst. Der Missmut ist nichts anderes als Angstvermeidung beim Kaffee oder bei einer Mahlzeit nach einem Arbeitstag, Ruhe haben wollen von der Miserabilität der Gegenwartsgesellschaft.

In Google Ngram, das ist eine Suchmaschine, die den Buchbestand, den sich Google einverleibt hat, nach beliebigen Begriffen durchsuchen kann, ist die zeitliche Veränderung von Worthäufigkeiten interessant. In der deutschen Sprache hat in den Bestandsbüchern (im Google-Buchkorpus) das Wort Angst einen heftigen Aufschwung genommen, verständlich im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg, dann wieder ab den 1970er Jahren. Seit damals ging es wieder steil bergauf, im Englischen übrigens nicht, die Häufigkeit des Gebrauchs der entsprechenden Ausdrücke ging zurück oder blieb stabil.

Überall...

Wenn man Menschen bedächtig betrachtet und sich nicht von der oberflächlichen Betriebsamkeit und Aufgeregtheit irritieren lässt, merkt einer oder eine schnell, da tröpfelt überall ein bisschen "Angst". Nicht Melancholie, Trübsinn, Schwermut, Tristesse oder völlig bewegungsunfähig machende Depression, sondern nur unbestimmte Angst. Furcht hätte man früher vermutlich dazu gesagt, denn es wären an sich die konkretisierbaren Ängste. Aber Ziele auszumachen, Verhältnisse kühl und nüchtern zu benennen, das haben wir wohl verlernt.

Um auf Ngram zurückzukommen: der Gebrauch des Wortes Furcht hat, früher deutlich mehr benutzt als der Begriff Angst, von einem ganz kleinen Ausschlag in und nach dem Zweiten Weltkrieg kontinuierlich abgenommen. Das Wort hat auch keinen Plural, vielleicht ist es zu singulär, zu gebunden an einen Einzelfall, den Hund, die Schule, den Vorgesetzten, die Anderen und damit wegrationalisierbar.

... Alltagsängste

Hat wer ein Kind, dann ist es meist "ein einzigartiges Kind", für das einer nur das Beste wollen kann, gepaart mit der Angst, dass es in Kindergarten, Schule und im Freundeskreis zu kurz kommen könnte, und die eigenen kindverbundenen Hoffnungen damit dünner werden und verblassen. Weil man sich selbst oft für zu kurz gekommen hält, wird so ein Kind mit Konsumgütern möglichst vollgestopft - anders als die Eltern, soll zumindest es nicht an Entbehrung leiden, egal wie trist und banal diese Waren, z.B. Spielzeuge sind und wie verkehrt die eigene Imagination. Dort, wo man ein Kind vor den Bedrängnissen der Gesellschaft, dem Unrecht in Kindergarten und Schule, den Gefahren in Umwelt und Verkehr, abschirmen will, wehrt man sich meist gegen eigene Ängste. Beim Kind darf das Misstrauen gegenüber der Apparate- und Chemiemedizin ausgespielt werden, nicht bei einem selbst. Wo immer das geht, verbessert man an seinem perfekten Kind, wie in einer neuen Art Eugenik. Das ist sowohl die pränatale Testungswut, wie auch, wo es finanziell leistbar ist, das bessere Ausbildungsangebot: Privatkindergarten, private Schule, das kommerzielle Freizeitprogramm, die private Nachhilfe, der schulische Austausch nach Übersee und natürlich immer das neueste Smartphone.

Überbehütung und Verwahrlosung gehen heute durch alle Milieus, und oft steht am Ende solcher Karrieren heftiger Narzissmus und Empathieverlust bei diesen einzigartigen Kindern. Der Blick bleibt verstellt durch alte Angstmauern, durch das, was gedacht oder gefühlt einem selbst vorenthalten wurde. Wenn einer heute - gut gemeint und freundlich ausgesprochen - einem solchen Kind sagt, es soll den Hund, der daneben steht, nicht an den Kopf fahren, dann fühlt sich der Elternteil des Kindes in seiner persönlichen Kindesverwaltung und in seiner Grandiosität eingeschränkt. Denn er oder sie darf dem einzigartigen Kind sagen, dass es den Hund nicht angreifen soll, andere haben hinzunehmen.

Angst steckt auch in vielen Partnerschaften: Angst davor, eingetauscht, gegen Besseres am Markt ausgewechselt zu werden, bevor Gewohnheit, Alter und dessen Unattraktivität dann diese Chancen wieder wegschaffen. Am Arbeitsplatz bleiben die Kollegen und Kolleginnen mehr oder weniger unberechenbar - Solidarität gibt es nicht mehr, dafür viel Angst vor Problemen, Brüchen und vor allem davor, selbst zu einem Sündenbock und zum Verlierer zu werden. Nicht einmal mehr im geografischen Raum fühlt man sich sicher - die Flüchtlinge aus dem Süden kommen schon massenhaft über das Mittelmeer und sorgen für eine neue Gemengelage an unfreundlichen Gefühlen.

Familie, Erwerbsarbeit, Kollegen, Freundschaften - nahezu überall schwingt diffuse Angst vor Verlust mit, eine Furcht an Reputation einzubüßen, aus dem Spiel zu sein, ins Winkerl gestellt zu werden. Selbst in der modernen Freiheitszone schlechthin, beim Konsum, gilt eine oder einer mittlerweile schnell als veraltet und verschroben, wenn sie oder er sich nicht vom kontinuierlichen Mahlstrom des Neuen, Aktuellen, der "must haves" mitnehmen lässt; auch da können markante Anerkennungsverluste drohen.

Krank an der Gesellschaft

Die Ängste, die unsere totalitären Individualisierungs- und Erfolgsgebote produzieren, haben viele nahezu inkorporiert, gleichsam in die Körperzellen aufgenommen; die alten Krankheits-, Verletzungs- und Todesängste kommen dazu. Angst vor sozialer Auslöschung, vor Bedeutungsverlust, vor dem Veralten, dem Verlassenwerden, den Ausstattungsdefiziten körperlicher und konsumtiver Art, außerdem der mediale Terror von Schönheit, Jugendlichkeit, Begehrtheit. Und dazu die immerwährende Angst vor Geldmangel, denn Geld ist das Universalmittel (Karl Marx) der industrie- und konsumgesellschaftlichen Zivilisation. Alle diese Ängste führen zum neuen Sozialcharakter: zu Menschen, die aus Not, aus Angst sich mit ihrem nackten, blassen "Selbst" zu blamieren, vor allem "darstellen", Impression-Management betreiben, beruflich, privat und familiär ihre eigenen Schauspieler geworden sind und deren Gefühlskultur dabei zusehends ausbleicht.

Natürlich sind feste Strukturen Fesseln, das weiß jeder, der einmal längere Zeit auf dem Land gelebt hat. Aber wenn es nur mehr die medial und werblich vermittelten Orientierungsrahmen gibt, die für die meisten doch irgendwie unerreichbar bleiben, wird es schnell morsch, brüchig, unsicher. Konsumglück hängt vom Geld ab, wenig, was sonst noch Bestand hätte. Beziehungen zerfallen, Arbeitsplätze sind unsicher, Traumurlaube missraten, die alte Flugangst kommt auch wieder, neue Geräte werden defekt, Verwandte sterben. Die kleinen bürokratischen und kommerziellen Gewalten, die an vielen Stellen spürbar sind, die jedoch bleiben. Dabei hatte der zivilisierte Kapitalismus ab den 1900er Jahren ein ganz großes Versprechen, es hieß: wenn du brav arbeitest, verdienst du dir einen gewissen Wohlstand. Und wenn du brav bleibst, gibt es auch für dich sozialpolitische Fortschritte, kleine, aber immer wieder doch noch kleine Fortschritte - das war das Versprechen der parlamentarischen Demokratie.

Aber das war einmal. Seit den 1990er Jahren zerfällt das langsam. Keine Arbeitszeitverkürzung ist in Sicht, dafür zunehmende Unsicherheiten im Job, die sozialen Strukturen und auch die eigenen Verhältnisse erodieren, auf der Welt herrscht Zerfall, der Terror kommt einem wieder nahe. Auf der anderen Seite wird die Werbung immer mehr, und ihr großes Versprechen, das Konsum-Glücksversprechen bleibt wie eine unheilbare Krankheit, letzte Hoffnung und existentielle Klammer. "Ich bin der Meinung, wenn Menschen ein Niveau erreicht haben, bei dem die Grundbedürfnisse befriedigt werden, sie also zufrieden sein können, ist es an der Zeit, die geistige Energie auf andere Dinge zu lenken. Und wenn Sie an diesem Punkt weiterhin nur den Konsum verfolgen, dann ist das wie eine Krankheit, eine Obsession." (Michael Hesse: Interview mit Amitai Etzioni, "Der Weg führt in den Bankrott", in Frankfurter Rundschau, 10.10.2011) Vielleicht reden einmal in späteren Zeiten unsere überlebenden Nachfahren von der Jahrtausendwendezeit als einem Zeitalter der umfassenden Geisteskrankheit.

Brüche

Viele Menschen kommen mit den unterschiedlichen Anforderungen, denen sie ausgesetzt sind, vor allem: denen sie sich ausgesetzt und von denen sie sich bedroht fühlen, wirklich nicht gut zurecht. Hinter der mühsam hergerichteten harten, arroganten oder behäbigen Außenmauer der vielen kleinen und wie wild tätigen Impression-Manager kauert klamm die Angst. Nicht bei allen, manche schaffen sogar kräftige Verdrängungsleistungen oder schalten von vornherein in passive, in submissive Konsumhaltungen. Kleine Freuden mit dem kleinen Konsum, Drängeln, wo das geht, egal ob im Straßenverkehr, an der Kasse oder bei einer Besprechung, ein bisschen Intrigieren und ein paar Gehässigkeiten, der eine oder andere Unterschleif. Und nur ja kein schlechtes Gewissen: in Zeiten, wo sich tiefe Brüche zeigen, müssen Menschen es mit der Alltagsmoral nicht genau nehmen. Ja, die Unzufriedenheit mit Politik, Wirtschaft und dem Sozialleben ist groß - Wut allerdings traut man sich nicht zu, außer im kleinen privaten Kreis vielleicht oder bei dem einen oder anderen anonymen Kommentar.

Eindrucksvoll ist Impression-Managament zu beobachten, wo Angeben mit Gier und Geiz kombiniert wurde: wer etwa ein großes deutsches Premiummarken-Modell in Basisaustattung und mit sparsamsten Dieselmotor fährt, oder wenn generös ins halbwegs luxuriös ausgestattete Einfamilienhaus zu einer frugalen Minimaljause eingeladen wird, oder wenn die mühsam aufgebauten sozialen Netzwerke zur Eliminierung einer kleinen Parkstrafe eingespannt werden.

Dazu versuchen Menschen alles und jedes zu instrumentalisieren, nicht nur im Arbeitsleben, auch im Privaten oder dem Teil, der mittlerweile davon übriggeblieben ist. Solches funktioniert mitunter wie ein Reflex aus dem Bauch heraus, ohne viel Nachdenken, ohne Skrupel. Da viele so sind, sind auch viele davon betroffen. Wenn Manipulation geahnt und entdeckt wird, entsteht natürlich Ärger, und oft dazu Angst. Folgen zeigen sich in beruflich indizierten Depressionen und "Burn Out", wie das heute in geschönter Sprache genannt wird. Verletzungen gehören wohl oder übel zum Job, zum Leben; aber in den kleinen Gemeinschaften, auch in Verwandtschaften, ist Obstruktion kein Fremdwort mehr, Solidarität ist demgegenüber etwas Jenseitiges, Drolliges, Antikes geworden.

Natürlich, dass alle im Grunde gute Menschen wären, bleibt eine romantische Verklärung, viele Grüne und Linke sind im Grunde konservative Spießer bis hin zur Blockwartmentalität, halt mit Öko- oder Gerechtigkeitsschwerpunkt. Oberlehrer beim Rauchen, Trinken, Essen und Fahrradfahren die einen, die andern sture Leistungsfetischisten bei Erbschaften und ohne jedes Verständnis für intergenerationelle Solidarität.

Währenddessen sind soziale Beziehungen ohne Hintergedanken passé. Konvivialität (Ivan Illich), das nicht von verdeckten Interessen geleitete tolerante Zusammensein mit Anderen, mag es einmal gegeben haben, aber mit diesen vielen kaputten oder kaputtgemachten Mitmenschen wird das nicht mehr zu schaffen sein. Die Transparenzgesellschaft ist an den Oberflächen zwar offen, in der gelebten Praxis blüht die Mimikry jedoch wie nie, das erzwingt die Politische Korrektheit, die als neues spätkapitalistisch-parteiendemokratisches Belebungsspiel zur subtilen Terrorkeule des Alltags wurde.

Hat die Natur noch eine Lösung

Gelegentlich hört man, ein indirekter Auslöser der Französischen Revolution 1789 sei der Ausbruch des Vulkans Grímsvötn im Jahr 1783 gewesen, der zu jahrelangen Klimabeeinträchtigungen und daraus folgend Missernten und Hungerkatastrophen in Europa geführt und damit zum politischen Umbruch in Paris beigetragen habe.

Ein Vulkanausbruch als Initiator von Rebellion, Umbruch und Ausbruch? - das klingt sehr handlungsunfähig und wahnsinnig deprimierend für die menschliche Gattung. So als brauche sie Katastrophen, um endlich zum Handeln zu kommen. Nun, so jedenfalls bleibt eine Hoffnung: die Katla, der größte Vulkan in Island, soll in den nächsten Jahren ausbrechen - sie ist längst überfällig, sagen Geologen, und es könnte recht heftig werden.

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Sozialkritik als Marktsignal

von Nikolaus Dimmel

Hegemonie beruht auf der Integration von Dissens. Als Herrschaftstyp setzt sie Gramsci folgend die Fähigkeit voraus, im Antagonismus der Klassen eigene Interessen als gesellschaftliche Allgemeininteressen zu definieren und durchzusetzen. Hegemonie meint also die Anziehungskraft einer politischen Formation. Die subaltern gehaltenen, unterdrückten Klassen verfallen dabei den Ideen ihrer Unterdrücker. Freilich verläuft der Vektor auch umgekehrt: auch Angehörige der unterdrückenden Klassen können den Ideen der Unterdrückten "verfallen", wie Bert Brecht gemeint hat. Die Auseinandersetzung um Geltung verläuft also zwischen zwei (oder mehreren) Frontlinien, die objektive Machtverhältnisse intersubjektiv vermitteln und artikulieren müssen. Vom sozialen "Oben" geht es um Dominanz in Machtverhältnissen durch diskursive und nicht-diskursive Praktiken. Vom sozialen "Unten" wiederum geht es um Enthüllung, Analyse, Zermürbung oder Desartikulation des "ideologischen Zements" (Haug/Davidson 2004). Konsequent verstehen Laclau/Mouffe (2012) Hegemonie als Grundprinzip gesellschaftlicher Interaktion. Offen indes bleibt die Frage nach dem Prozess, der diskursiven Formation, nach den Kulturtechniken der Hegemonie.

Hegemonie und Geldfetisch

Nun sind Produktion ("Arbeitswelt"), Zirkulation und Reproduktion auf Märkten Grundelement der Verfassung bürgerlicher Gesellschaften. Strategien der Vermarktlichung/Entstaatlichung wiederum stellen hegemoniale Projekte dar, um das "scoring" der Aneignung und Realisierung von Mehrwert nach oben zu verschieben, aber auch das "containment" des Widerspruchs zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen vorübergehend zu fixieren. Hegemoniale Projekte, die sich als alternativlos (Sachzwang) oder als modern (Innovation) etikettiert präsentieren, waren vordem Produktionsmodelle wie der Fordismus, Staatssozialismus oder Faschismus. Gegenwärtig freilich löst ein neoliberaler Marktfundamentalismus die inneren Widersprüche der Kapitalverwertung zu Lasten der Subalternen auf (Demirovi 2008).

Dabei ist der neoliberal verfasste Kapitalismus abhängiger denn je von der affirmativen, proaktiven, kooperativen Mitwirkung der Subalternen. In der Produktion werden "Arbeitskraftunternehmer" nachgefragt, welche sich nicht nur mit Unternehmung/Produkt identifizieren, sondern sich selbst bereits als Unternehmen leibhaftig organisieren. In der Zirkulation werden KundInnen nachgefragt, die als "Prosumer" Co-Produzierende sind, Kosten senken und Erträge der Unternehmen steigern. In der sozialen Reproduktion sind Menschen als KundInnen gefragt, die ihre sozialen Bedürfnisse bereitwillig als Nachfrage auf Märkte tragen und dort den Geldfetisch speisen.

In allen dreien verkörpert Kritik eine essentielle Ressource der Innovation, mit der die Verwertung des Kapitals stets aufs Neue erfolgen kann, trotzdem die relative Größe des Mehrwerts im Verhältnis zum Gesamtkapital rückläufig ist. Selbst die künstliche (Marketing!) Erweckung von Bedürfnissen erweist sich zusehends als beschränkt. Je nach sozialer Klasse sind die Körper zu fett, die Kleiderschränke, Garagen und Terminkalender zu voll. Der menschliche Körper verträgt nur eine limitierte Anzahl von Botox-Einspritzungen und Silikon-Implantaten.

Hegemonie als "Einheit durch Dominanz" (Lipietz 1992, 27) setzt daher eine aktive und affirmative Integration der Subalternen voraus. Der kapitalistische Metabolismus der menschlichen Arbeitsvermögen erfordert, dass die "echten Lebensumstände" einer sozialen Formation der Ökonomie einverleibt werden (Storey 2012). Die bloß formelle Subsumtion unter das Kapitalverhältnis reicht nicht hin. Es muss eine reelle sein, worin der Mensch in der Kapitalverwertung gleichsam "aufgeht" bzw. sich ihr assimiliert.

Funktionalisierung und Einverleibung

In dieser gezielten Einverleibung eignet sich die herrschende Klasse, mithin: die personifizierten Charaktermasken der herrschenden Ökonomie der Wertvergesellschaftung, den Dissens der Subalternen in eben jenen Formen und Formationen an, in denen das Kapital Ideen verwerten, in Profit verwandeln kann. Deshalb werden in der "open innovation" der Online-Crowdsourcing-Plattform "People's Car Project" von Volkswagen Ideen für das "Auto der Zukunft" gesammelt und verwertet. Deshalb werden mit dem "Social Business Award Ideen gegen Armut" unternehmerische Lösungen zur Armutsvermeidung und -bekämpfung (von "Coca Cola" und der WU Wien) prämiert. Deshalb wurden aus Pop, Punk vor Malcolm McLaren, der Ernährung aus biologischem Landbau oder der Langläuferbewegung schließlich verwertbare Musikformate, Mode-Label, ein Schuh-Fetisch und Bio-Abteilungen in Supermarktketten.

Derlei Einverleibung gilt auch für die Sozialkritik, etwa an Armut, Ausgrenzung, Arbeitslosigkeit oder sozial-ökologischer Devastierung. Mit Boltanski/Chiapello (2003, 68 ff.) lässt sich hier zwischen Sozialkritik und Künstlerkritik unterscheiden. Sozialkritik stellt auf klassenspezifische Verteilungskonflikte und Ressourcen ab, richtet sich nicht nur auf Autonomiegewinne im Produktionsprozess und die Einhegung des Marktrisikos der Verwertung der Lohnarbeitskraft (Dekommodifikation), sondern auch auf das "gute Leben". Künstlerkritik wiederum richtet sich gegen die Instrumentalisierung der menschlichen Arbeitsvermögen, gegen die Verdinglichung der sozialen Beziehungen und auf die Selbstentfaltung der Menschen. Beide sind ambivalent, zugleich ein Fundus der Optimierung von Kapitalverwertungsprozessen und der Erschließung neuer Nischen kapitalistischer Landnahme. Selbst der Modus der Dekommodifikation, jener Befreiung von Marktzwängen, findet im Gehäuse eines sozialdisziplinierenden Sozialrechts statt, verspricht also Befreiung nur denen, die unschuldige Krüppel, erbarmungswürdige Arme oder auf sonstige Weise mit moralisierbaren sozialen Risiken "geschlagen" sind.

Sozialkritik thematisiert das Leiden am Kapitalismus (Ehrenberg 2015). Dem kommt die innere Codierung des Neoliberalismus zupass, buchstäblich alles in Arbeit zu verwandeln (Biografiearbeit, Körperarbeit, Trauerarbeit, Sexarbeit, Energiearbeit, Einrichtungsarbeit, Aufstellungsarbeit etc.) und für derlei Arbeit in Form einer Methode (Therapie, Training, Kommunikation, Modifikation, Coaching, Feedback, Aufstellung, Analyse, Beratung, Begleitung) Märkte für Dienstleistungen gegen Entgelt zu etablieren (von der Feng-Shui-Beratung über Coaches für alles bis hin zu Escort-Services).

Jede Kritik an den herrschenden Verhältnissen wird umgehend parzelliert und kartographiert, in einen Phänotypus verwandelt, den man als Defizit einrahmen und in ein behandlungsbedürftiges Dispositiv überführen kann. Die sozialwissenschaftliche Beschreibung der NEET - Not in Education, Employment or Training - führte umgehend zu einem Katalog von Interventions-, Behandlungs- und Trainingsformen, ebenso wie die Anamnese der "street corner society" mit ihren delinquenten "core members" und kriminellen Karrieren umgehend in der Sozialarbeit den Typus der "street work", der aufsuchenden Sozialarbeit, hervorbrachte. Das kapitalistische System lernt also nicht nur aus Kritik, benötigt Kritik nicht nur als Treibsatz der Adaption und Modernisierung, sondern verwandelt den Impuls der Kritik in neue Waren und Dienstleistungen, die vermarktlicht und damit kapitalisierbar gemacht werden.

Zugleich wird Kritik nicht nur funktionalisiert, sondern auch mit Systemimperativen homogenisiert. Erweisen sich MigrantInnen als sozial-kritisch reflektiertes soziales Problem, so wird dies nicht a limine zurückgewiesen, sondern: zuerst als Sozialdienstleistung formalisiert und dann vermarktlicht. Folgerichtig hat das Österreichische Bundesministerium für Inneres 2013 nach einigen Jahren der Sozialpolitiksimulation mit Social-Profit-Unternehmen einen 15-Jahresvertrag mit dem gewinnorientierten privaten britischen Sicherheitsunternehmen "G4S" zur Auslagerung von Sicherheits- und anderem Personal ins neue Schubhaftzentrum Vordernberg abgeschlossen. In England betreibt das Unternehmen bereits seit mehreren Jahren Abschiebegefängnisse, die für die fortgesetzte Misshandlung von Inhaftierten berüchtigt sind. Für "Unterbringungs- und Bewachungsleistungen für das Schubhaftzentrum Vordernberg" werden von "G4S" prekär Beschäftigte aus sozialarbeitsfernen Berufen akquiriert. Entsprechend expandiert der Markt. Seit 1998 fordern Abgeordnete zum Nationalrat, ganz Agenten der kapitalistischen Landnahme, mit Verweis auf England die totale Privatisierung des Schubhaftsystems. Österreichische Unternehmer gründeten vergeblich "Asylum Airlines", eine private Abschiebe-Fluglinie; nunmehr wird Frontex europaweit einen militärischen Dienstleister damit betrauen, einen größeren Hai im Becken.

Metabolisch verdaut

Auf diese Weise läuft jede Sozialkritik am Ende auf eine Vermarktlichung hinaus, ist deren Treibsatz. So war die Habermas'sche Kritik an den "kolonisierenden Wirkungen des Wohlfahrtsstaates" Folie der Legitimation der Privatisierung und Entstaatlichung von sozialen Sicherungsleistungen durch die CDU. Diese Dialektik von Kritik und Reform wird etwa auch an der österreichischen Grundeinkommensdebatte deutlich, in der libertär-emanzipatorische Motivlagen und Forderungen metabolisch verdaut und als repressiv-aktivierende Politiken wiedergegeben werden. Ursprünglich war der sozialkritische Diskurs um die strukturellen Defizite der Sozialhilfe Triebfeder der Debatte um eine "bedarfsorientierte Grundsicherung" in Österreich. Ziel dieser Debatte war eine Existenzsicherung an der Armutsschwelle. Am Ende kam nach vielgestaltiger Polit-Intervention ein Hartz-IV nachempfundenes, neoliberales "Workfare"-Programm heraus, dessen Leistungen je nach Haushalt 240 bis 390 Euro unterhalb der EU-SILC-Armutsschwelle liegen. Aus "empowerment" wurde "Aktivierung".

Bei André Gorz, Thomas Schmid oder Frithjof Bergmann wurden je unterschiedlich Vorstellungen der Kombination von zeitlich reduzierter (oder überhaupt entfallender) Arbeit, Bürger- oder Eigenarbeit und existenzsicherndem Grundeinkommensbezug vorgetragen, der die sozial inkludierende Freiheit impliziert, zur Verrichtung von (Lohn)Arbeit "nein" sagen zu können. Die neoliberal, heute in der Figur der "in-work-benefits" (Lohnkostenzuschüsse) implementierte Version dieser Impulse findet sich in einem nicht-existenzsichernden Grundeinkommen, welches die Prekarisierten und Zwangsflexibilisierten in die (Lohn)Arbeit zwingt bzw. in sozial-exkludierender Weise zu einem Leben am Rande der Gesellschaft "verurteilt".

Boltanski/Chiapello (2003, 86) fassten Sozialkritik mit dem Argument als wirkungsmächtigen Motor des rezenten Kapitalismus, dass der Kapitalismus nicht ohne moralische Rechtfertigung auskomme und deshalb gegen Kritik nicht immun sei. Dem ist nicht beizupflichten. Vielmehr wird der Geist des neoliberalen Kapitalismus durch Kritik gespeist, ein verzerrter Nachhall der Figur der "schöpferischen Zerstörung" bei Schumpeter. Dies deshalb, weil die Sozialkritik Dauerreform legitimiert, weil Kritik als Rechtfertigung der (Neu)Ordnung von Handlungsweisen und Dispositionen benötigt wird: "never let a serious crisis go to waste". Alle Kapitalverwertung und Akkumulation erfordert insofern paradoxerweise auch ein subjektives Engagement gegen den Kapitalismus. Alle Sozialkritik, welche den Kapitalismus attackiert, immunisiert und stärkt seinen Metabolismus. Jüngst übernimmt sogar die OECD keynesianische Argumentationsfiguren. Selbst der sich ankündigende Kollaps der Biosphäre ist bloß ein Innovationssignal. Ethisch aufgeladene Kritik an metabolischer Naturzerstörung beantworten die Akteure regulativer Politik daher mit neuen Märkten für Umweltverschmutzungsrechte oder der Herausbildung einer Umweltreparaturindustrie. Auf diese Weise saugt der kapitalistische Geist die an ihm geübte Kritik permanent auf und transformiert jene Kritik in Antriebskräfte der Vermarktlichung.


Literatur

Demirovic, A. (2008): Neoliberalismus und Hegemonie, in: C. Butterwegge / B. Lösch / C. Ptak (Hg): Neoliberalismus, Wiesbaden, 17 ff.

Ehrenberg, A. (2015): Das erschöpfte Selbst, Frankfurt.

Haug, W.F. / A. Davidson (2004): Hegemonie, in: HKWM 6/I
(www.inkrit.de/e_inkritpedia/e_maincode/doku.php?id=h:hegemonie)

Laclau, E. / C. Mouffe (2012): Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus4, Wien.

Liepitz, A. (1992): Vom Althusserismus zur "Theorie der Regulation", in: A. Demirovic / H.P. Krebs / T. Sablowski (Hg): Hegemonie und Staat. Kapitalistische Regulation als Projekt und Prozess, Münster, 9 ff.

Storey, J. (2012): Cultural Theory and Popular Culture, New York.

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Lernen im Kapitalismus

Anmerkungen zu Schulbetrieb und Notengebung

von Julian Bierwirth

In ihrer Dialektik der Aufklärung formulieren Theodor W. Adorno und Max Horkheimer eine grundsätzliche Kritik an der Pädagogik: "Furchtbares", so schreiben sie, "hat die Menschheit sich antun müssen, bis das Selbst, der identische, zweckgerichtete, männliche Charakter des Menschen geschaffen war, und etwas davon wird noch in jeder Kindheit wiederholt." In jeder Biographie, beim Aufwachsen eines jeden jungen Menschen komme es zu Grausamem. Die Kinder würden nach einem Ideal zugerichtet, das nicht von ihnen selbst bestimmt sei, das vielmehr fremden Zwecken folge, Identität und die Vorstellung eines autonomen Ich erst erzeuge und darüber hinaus auch mit Geschlechterstereotypen eng verknüpft sei. Diese Diagnose beziehen die Autoren jedoch nicht auf eine unendlich zurückreichende Menschheitsgeschichte, sondern verorten sie in den Strukturen der modernen Gesellschaft: "Mit der Ausbreitung der bürgerlichen Warenwirtschaft wird der dunkle Horizont des Mythos von der Sonne der kalkulierenden Vernunft aufgehellt, unter deren eisigen Strahlen die Saat der neuen Barbarei heranreift."

Laut Adorno und Horkheimer ist also die moderne Warenproduktion, die auf Rationalität und Berechnung setzt, die Ursache für die bis in die Kindheit hineinreichende Disziplinierung der Menschheit.

Die Grenzen der Erziehung

Dass der Kapitalismus dem oftmals vorherrschenden Bedürfnis von Erzieher*innen und Lehrer*innen, doch den Kindern etwas Gutes zu tun, nicht selten ein Schnippchen schlägt, ist oft diskutiert worden. Schon Siegfried Bernfeld hat zu Beginn des letzten Jahrhunderts auf die "Grenzen der Erziehung" hingewiesen. Alleine, dass Schule und Kindergarten innerhalb des Kapitalismus in die Notwendigkeiten der kapitalistischen Verwertungsmaschinerie eingebunden seien, stelle Bildungs- und Erziehungsprozesse demnach vor ein Problem: weil die Ressourcen zumeist nicht reichen und von der bildenden bzw. erziehenden Institution eine Orientierung am knappen Budget erwartet wird. Darüber hinaus sind die Kinder, so wohlmeinend die Institution auch sein mag, trotz allem auch selber Teil dieser kapitalistischen Gesellschaft und machen in ihr die entsprechenden Erfahrungen. Was für die Kinder gelte, so resümiert Bernfeld schließlich, gelte auch für die Erzieher*innen und Lehrer*innen: Sie orientieren sich in ihrer pädagogischen Praxis nicht selten an den Erfahrungen, die sie in ihrem Leben gemacht haben - das Kind, das sie am besten kennen, sind immer noch sie selbst.

Die Verquickung der pädagogischen Institution mit kapitalistischen Verwertungsprozessen mag im Folgenden als Beispiel dafür dienen, wie weitreichend der Prozess der Integration in die herrschenden Anforderungen bisweilen sein mag. Dabei ist diese Einbindung nicht nur auf monetäre Finanzierungsquellen fokussiert. Sicherlich gilt es, beispielsweise Gebäude zu bauen und instand zu halten, die Pädagog*innen zu bezahlen und die Lern- und Lehrmaterialien anzuschaffen. Insoweit diese Finanzierung aus staatlichen Quellen bestritten wird, ist sie von der Finanzkraft staatlicher Institutionen und damit indirekt von der wirtschaftlichen Lage abhängig. In Zeiten ökonomischer Krisen, wie wir sie seit dem Ende des Fordismus erleben, gehen dementsprechend sinkende Staatseinnahmen mit einem steigenden Druck zur Senkung der Staatsausgaben einher. Dieser Zusammenhang ist gerade in den letzten Jahren augenfällig geworden, da die Mittel im Bildungsbereich mit der stets wiederholten Begründung leerer Staatskassen schrittweise abgesenkt wurden. Die pädagogischen Anforderungen werden dann entsprechend der aktuellen Haushaltslage revidiert. Die als Ersatz für ausbleibende staatliche Zahlungen in Mode gekommene private Finanzierung bringt hier zwar andere, aber nicht weniger Probleme mit sich. Das gilt für private Investitionen aus der Wirtschaft ebenso wie für die Finanzierung über direkte Zahlungen von den Kund*innen, wie sie etwa im Falle von Studiengebühren oder einer Erhebung von Schulgeld erfolgt. Durch die Ökonomisierung werden die Ansprüche der Bildungsbeflissenen bzw. ihrer Eltern entsprechend verändert. Eine Einführung etwa von Schulgeld oder von Studiengebühren bringt die Lernenden dazu, sich auf das geforderte Prüfungswissen zu konzentrieren und sich dieses mit Disziplin und Effizienz anzueignen. Die Möglichkeit, dass Bildung auch selbstbestimmt und vagabundierend, mit Neugier und getrieben von eigenen Fragestellungen erfolgen kann, tritt so in den Hintergrund.

Über diese recht offensichtliche Einbindung hinaus wirkt die gesellschaftliche Zielsetzung der anzustrebenden Bildungs- und Erziehungsprozesse direkt auf die pädagogische Situation. Im Gegensatz zum neuhumanistischen Ideal einer Individuierung durch Bildungsanstrengungen geht es hier vor allem um die Qualifikation für den kapitalistischen Arbeitsprozess. Die Ausrichtung auf den Arbeitsmarkt prägt die Realität in den schulischen Institutionen auf vielfältige Weise, etwa durch die Inhalte der Curricula oder die Organisation des Bildungsprozesses. Es dürfte nicht zuletzt dem Bedürfnis des Kapitals nach einem regelmäßigen Zufluss neuer Arbeitskräfte geschuldet sein, dass schulischer Unterricht in festen Jahrgangsstufen organisiert ist. Die Probleme, die bereits die noch vergleichsweise vorhersehbare Veränderung der Schulabgänger*innen in Deutschland durch den doppelten Abiturjahrgang 2011 bereitet hat, macht deutlich, wie sehr die Abläufe von Wirtschaft und weiterführenden Bildungsinstitutionen von einer Regelmäßigkeit und Berechenbarkeit der Menge und der Art der Schulabgänger*innen angewiesen sind. Und auch die Notengebung findet ihren Grund nicht zuletzt in dem Bedürfnis der Wirtschaft, die Qualifikation der abgehenden Schüler*innen einschätzen zu können. Deren Logik ist selber im Sinne der Funktionslogik der Warenstruktur organisiert.

Notengebung als Abstraktionsprozess

Noten oder Zensuren sind abstrakte Maßzahlen zur "rangmäßig einstufenden Beurteilung" (Dohse 1971/1989) und sollen eine ganze Reihe von Auskünften geben. Zum einen gilt es, die Leistungen zu messen. Zum anderen soll aber auch Auskunft über die Leistungsveränderungen und damit über das Bemühen der Schüler*innen gegeben werden. Schließlich wird durch sie noch eine Prognose für spätere Leistungen (etwa über die Wahrscheinlichkeit eines erfolgreichen weiterführenden Schul- oder Hochschulbesuches) versucht.

Bereits der Bezug auf Leistung als zentralen Bezugspunkt der Notengebung verweist auf die enge Verwandtschaft zum kapitalistischen Verwertungsprozess, in dem die Leistung (in Form verausgabter, "abstrakter" Arbeit) als notwendige Voraussetzung für das Erlangen gesellschaftlichen Reichtums ist. Auch für den kapitalistischen Arbeitsprozess ist die Messung von Leistung mit dem Problem konfrontiert, dass die unterschiedlichen Funktionen der Leistungsbemessung (die Entschädigungsfunktion, das Äquivalenzprinzip, das Produktivitätsprinzip, die Allokationsfunktion) unterschiedliche Ansprüche an das formulieren, was tatsächlich gemessen werden soll, sodass eine Reduktion dieser verschiedenen Ansprüche auf eine abstrakte Maßzahl auch in diesem Bereich scheitern muss.

Bei der Notengebung erwarten sich Lernende, Lehrende, Erziehungsberechtigte, Staat und außerschulische Interessengruppen Unterschiedliches. Grundsätzlich zu unterscheiden sind vor allem die Berichtsfunktion der Zensuren und ihre pädagogische Funktion. Die Berichtsfunktion soll Eltern, Schüler*innen, Lehrer*innen und außerschulischen Instanzen einen knappen Überblick über die Leistung der Schüler*innen geben, die pädagogische Funktion soll sie zu vermehrtem und verbessertem Lernen ermutigen. Die pädagogische Funktion der Noten besteht in ihrem Beitrag zur extrinsischen Motivation der Zöglinge, die eigenen Lernleistungen zu optimieren. Sie kommt von außen und muss so zwangsläufig jedwede Form von intrinsischer, also in den Handlungen selber liegender Motivation in den Hintergrund drängen.

Dabei entfaltet sich die entfremdende Wirkung der Zensuren auf zwei Ebenen. Zum einen findet eine Abwendung von den tatsächlichen, konkreten Lernleistungen der Schüler*innen statt, da der Fokus auf die Note gelegt wird. Das Wohlwollen vieler Eltern, berufliche Karrieren und schulisches Fortkommen hängen so in erster Linie von der Note ab. Entsprechend richtet sich die Aufmerksamkeit der Schüler*innen vor allem auf das Erreichen guter Noten, wogegen die tatsächliche Aneignung des Unterrichtsstoffs in den Hintergrund rückt. Zum anderen spielen subjektive Fehler bei der Bewertung der Schüler*innen und eine fehlende Vergleichbarkeit zwischen unterschiedlichen Klassen als weitere exemplarische Probleme bei der Notengebung eine Rolle.

Noten zeichnen sich in erster Linie dadurch aus, dass sie aus dieser Vielzahl von Informationen eine Zahl machen. Von den konkreten Besonderheiten im individuellen Lernverhalten oder im gesellschaftlichen Umfeld wird zugunsten einer abstrakten Maßzahl abgesehen. Es geht nicht mehr darum, eine mathematische Operation zu verstehen oder etwas über ein bestimmtes physikalisches Phänomen zu erfahren, sondern um das Erreichen einer guten Note. Dabei verändert die Orientierung an der Note (ebenso wie die Orientierung am Marktgewinn) den inhaltlichen Bezug auf die Sache, der lediglich noch als angehängte, nicht vollständig zu umgehende Notwendigkeit erscheint. So wie die Produzent*innen nur insofern auf den Gebrauchswert der produzierten Güter achten müssen, weil sie diese ohne ihn nicht verkaufen könnten, müssen die Schüler*innen den Schulstoff insofern zur Kenntnis nehmen, als seine Reproduktion in Prüfungssituationen die Voraussetzung für gute Noten ist.

Entsprechend wird die Aufmerksamkeit von Schüler*innen und Lehrer*innen in starkem Maße auf die Erreichung guter Noten abgestimmt. Diesen Zusammenhang finden wir sehr anschaulich beschrieben in Bertolt Brechts Flüchtlingsgesprächen. Die Kinder orientierten sich aufgrund der faktischen Selektionsfunktion der Schule an einem erfolgreichen Bestehen von Prüfungen. Die gesellschaftliche Bedeutung der Schule konterkariere die Auseinandersetzung mit den zu lernenden Inhalten. Die Menschen würden so im Unterricht "auf den Eintritt in eine Welt vor(bereitet), wo ihnen gerade solche Leute wie er (der Lehrer, JB) entgegentreten, verkrüppelte, beschädigte, mit allen Wassern gewaschene" (Brecht 1965, S. 170 ff.).

Für die Lehrer*innen wird eine Anpassung vor allem in Hinblick auf die von ihnen verfolgten didaktischen Strategien relevant. Diese dienen zum einen "der sozialen Kontrolle der Schüler" und sind zum anderen an der angestrebten Leistungsüberprüfung orientiert: "So verwundert es nicht, dass der Unterricht in erster Linie als Ort der Wiedergabe von Lektionsinhalten charakterisiert werden kann. Die kontinuierliche Leistungsmessung erfolgt an diesen Inhalten, ja vielfach wird nur das unterrichtet, was sich in den traditionellen Formen der Leistungsmessung darstellen lässt. Nicht, was jemand gelernt hat, zählt, sondern ob das, was er gelernt hat, zum Kriterium passt, das in den Test integriert wurde. Wer an ihm scheitert, hat verloren." (Gruschka 2002, S. 212)

Für die Schüler*innen gilt die Fokussierung auf Noten und Prüfungsleistungen dahin gehend, dass ihr (berechtigtes) Interesse dem Bestehen des gesellschaftlich vermittelten Schulzieles gilt. Wird der Unterricht tatsächlich auf den zu begreifenden Inhalt fokussiert, sorgt dies nicht selten für Irritationen. "Vermisst wird dann häufig von den Schülern, was im üblichen Unterricht für Erwartungssicherheit sorgt. Sie fragen ungeduldig danach, was gelernt werden soll, und meinen damit in der Regel nicht den Bildungs-, sondern den Prüfungsstoff." (Gruschka 2002, S. 212) Das didaktische Bemühen der Lehrer*innen wird so zu einem reinen Mittel, das selber weder in der Lage ist, Zwecke zu setzen, noch auf von den Schüler*innen gesetzte Zwecke adäquat reagieren zu können.

"Die Vermittlung ist dann oft allein ein Zwischenspiel zwischen der Verkündung des Ziels und der Überprüfung der Zielerreichung. Die Aufmerksamkeit der Schüler in einem solchen Unterricht ist nicht auf den Akt der Vermittlung selbst gerichtet, sondern darauf konzentriert, wie man dessen finalen Akt, die Klassenarbeit, am besten bewältigen kann." (Gruschka 2002, S. 213)

Damit ist die Vermittlungstätigkeit der Lehrer*innen in einen strukturellen Gegensatz zu den konkreten Inhalten von Bildung gerückt. Diese Inhalte drücken sich aus im neuhumanistischen Bildungsideal, sie sind also ihrerseits bereits gesellschaftlich geformt. Dieses Bildungsideal hat Bildung als möglichst freie Wechselwirkung zwischen dem Ich und der Welt konzipiert. Die wesentliche Differenz zum Bildungs- bzw. Erziehungsverständnis der Aufklärung ist dabei gar nicht in erster Linie die behauptete Möglichkeit einer freien, gesellschaftlich unbeeinflussten Aneignung von Wissen (das realiter ohnehin nicht möglich ist) durch den Bildungsbegriff, sondern der direkte Bezug auf die Inhalte von Bildung im Unterschied zu einem instrumentellen Zugang, der in erster Linie auf die Erlangung gesellschaftlicher Zugangstitel ausgerichtet ist.

Dabei kommt jedoch auch der instrumentelle Zugang zur Schule nicht vollständig ohne eine Aneignung inhaltlicher Wissensbestände aus. Fraglich ist allerdings, ob diese Aneignung auf die didaktische Vermittlung im Schulbetrieb zurückgeführt werden kann - oder ob nicht vielmehr erklärt werden müsste, wie dieser Wissenserwerb trotz Schulbesuch gelingen könnte.

Notengebung ist innerhalb kapitalistischer Schulsysteme eine gängige Praxis. Über ihre unmittelbar gesellschaftliche Funktion hinaus bewirkt sie eine Einschreibung gesellschaftlicher Indifferenz- und Entfremdungsstrukturen und macht so aus Kindern vereinzelte, zweckrationale - eben: moderne - Subjekte. Noten wirken so als Mittel, mit denen Kinder lernen, sich in einer allgegenwärtigen und zugleich stets vorausgesetzten Konkurrenz zu bewegen. Sie sind nicht die einzigen Werkzeuge, derer sich die kapitalistische Gesellschaft bedient, um die Menschen zu formen, die zu ihr passen. Doch sie eliminieren von vornherein jeden emanzipatorischen Überschuss, der laut Adorno im Bildungsbegriff enthalten sein soll. Alleine dafür gehören sie abgeschafft.


Weiterführende Literatur

Adorno, Theodor W./Horkheimer, Max (2004 [1944]): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, 15. Aufl., Frankfurt am Main: Fischer.

Adorno, Theodor W.(2003 [1959]): Theorie der Halbbildung, in: Soziologische Schriften I, Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Bernfeld, Siegfried (1967 [1925]): Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung, Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Brecht, Bertolt (1965): Flüchtlingsgespräche, in: Ders.: Geschichten 2, Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Lohoff, Ernst (2004): Out Of Area - Out Of Control, Teil 1, in: Streifzüge 31/2004.

Gruschka, Andreas (2002): Didaktik. Das Kreuz mit der Vermittlung, Münster: Büchse der Pandora.

Gruschka, Andreas (2009): Erkenntnis in und durch Unterricht. Empirische Studien zur Bedeutung der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie für die Didaktik, Münster: Büchse der Pandora.

Demirovi, Alex (2005): Zur Neuformierung kritischen Wissens, in: Supplement der Zeitschrift Sozialismus, Heft 7/8, 2006.

Ingenkamp, Karlheinz (1989 [1971]): Die Fragwürdigkeit der Zensurengebung. Texte und Untersuchungsberichte, 8. Aufl., Weinheim und Basel: Beltz.

Luhmann, Niklas (2001): Das Erziehungssystem der Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Offe, Claus (1970): Leistungsprinzip und industrielle Arbeit. Mechanismen der Statusverteilung in Arbeitsorganisationen der industriellen "Leistungsgesellschaft", Frankfurt am Main: Europäische Verlagsgesellschaft.

Weiss, Rudolf (1989 [1969]): Aufgaben der Zensuren und Zeugnisse, in: Ingenkamp, Karlheinz (1971/1989): Die Fragwürdigkeit der Zensurengebung. Texte und Untersuchungsberichte, 8. Aufl., Weinheim und Basel: Beltz.

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Rezens

von Julian Bierwirth

Laurie Penny: Unsagbare Dinge. Sex, Lügen und Revolution. Aus dem Englischen übersetzt von Anne Emmert, Nautilus Flugschrift 2015, 283 Seiten, ca. 17,00 Euro

Es zeichnet ein gutes Buch aus, wenn die Autor*innen Geschichten erschaffen, die vor dem geistigen Auge der Leser*innen erscheinen und lebendig werden. Das gilt umso mehr, wenn es sich um politische Sachbücher handelt. Nur wenigen Autor*innen gelingt es, aus Anekdoten und Geschichtchen politische Argumente zu entfalten. Laurie Penny gehört zu ihnen.

In ihrem neuen Buch Unsagbare Dinge berichtet sie über die Ansprüche, die diese Gesellschaft an Frauen, an Männer und an Queers stellt. Mit einem hohen Maß an politischer Intelligenz schafft sie es dabei, das leidlich verminte Gelände unbeschadet zu durchschreiten. Stets steht sie auf der Seite der Unterworfenen. Und widersteht dem Versuch, eine Kritik an patriarchalen Verhältnissen gegen eine Kritik an Zweigeschlechtlichkeit und Heteronormativität auszuspielen. Sie spricht über Geschlechterstereotype und Gewalt, über Anforderungen und die Wege, mit denen wir uns ihnen unterwerfen oder verweigern. Sie spricht über Sprache und Blicke, über Sexualität und Liebe, über Arbeitsteilung und über die Verschränkung all dessen mit dem postmodernen Kapitalismus. Und schreibt über all dies mit einer Leichtigkeit, die den Text stets eingängig und verständlich bleiben lässt. Auf diese Weise macht sie nicht zuletzt deutlich, warum es sich lohnt, den herrschenden Verhältnissen auch weiterhin die Stirn zu bieten. Alles dies macht das Buch zu einer lohnenden Lektüre für Feminist*innen und solche, die es werden wollen.

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Vorwärts, müssen wir zurück?

Mein mangelndes Verständnis für Bildung und Pädagogik

von Lorenz Glatz

Eine radikale Kritik am Leben in der Marktwirtschaft als destruktiv und menschenfeindlich ist in den Metropolen der Weltordnung zum bisher letzten Mal in den Sechzigerjahren allgemein wahrnehmbar geworden. Das "Make Love Not War" der sogenannten Hippies im Kernland von Freedom and Democracy stellt(e) sich über den unmittelbaren Anlass Vietnamkrieg hinaus gegen alle Grundkategorien und Institutionen der modernen Zivilisation. Sie bewegten sich in ihren Äußerungen nicht im Vokabular und der Denktradition europäischer Philosophie und Wissenschaft, sondern eher in mythologischer und poetischer Erzählung und Darstellung, sie ließen aber in Wort und Tat keinen Zweifel an ihrer Ablehnung von Staat und Nation, Arbeit und Kapital, Geld und Recht, der Ordnung der Geschlechter und dem vorherrschenden Umgang der Menschen sowohl untereinander als auch mit der Natur, kurz von allem, worauf sich Freiheit und Demokratie entfaltet haben. Auch Pädagogik ist in der geistigen und sozialen Unruhe jener Zeit Gegenstand der Kritik geworden. - Sowohl als Umgang mit Menschen, die in dieser Gesellschaft zu sittlich-vernünftiger Handlungsweise (und natürlich: kompetenter Arbeit) befähigt werden sollen, als auch als Reflexion dieses Umgangs. Die auch im deutschen Sprachraum in Bewegung geratenen Studenten kritisierten ihre Bildungsinstitutionen einerseits als (post)faschistisch und autoritär ("Unter den Talaren der Muff von 1000 Jahren"), andererseits und weiter blickend wurde, durchaus in Nähe zu den Hippies, das Bildungssystem überhaupt als Ausdruck einer menschenfeindlichen Lebensweise angegriffen. Ivan Illich (der wegen seiner jüdischen Abstammung als Teenager aus Österreich geflohen war und später ein ungewöhnlich unangepasster katholischer Priester wurde) trat in seiner Streitschrift "Deschooling Society" (englische Originalausgabe 1971) für die Abschaffung der Institution Schule ein: "Die heutige Suche nach neuen Bildungstrichtern muss in die Suche nach deren institutionellem Gegenteil umgekehrt werden: nach Bildungsgeflechten, die für jeden mehr Möglichkeiten schaffen, jeden Augenblick seines Lebens in eine Zeit des Lernens, der Teilhabe und Fürsorge zu verwandeln." Seine Befürwortung solcher autonomen "Bildungsgeflechte", die das ganze Leben erfassen und die Pädagogik als institutionellen Zugriff beenden sollten, fand ein weites Echo und hatte beträchtlichen Einfluss auch in den Kinderläden des deutschen Sprachraums, die in Wien zuerst noch Kinderkollektive hießen.

Im Kinderkollektiv

Wir waren beseelt vom Impuls, die Kleinen den Institutionen und dem lähmenden autoritären Ungeist des Establishments, den in Wirtschaft, Staat und "Zivilgesellschaft" den Ton Angebenden, zu entziehen. Es ging um ein "anderes", ein wirklich "freies" Leben für die Kinder jenseits der Wahl zwischen "Coca" und "Pepsi", um möglichst große lebenspraktische Distanz zum konsumvertrottelten, nur auf Bravsein und Reinlichkeit bedachten "Mainstream", um ein Experiment für ein gesellschaftliches Leben, das sich den Zwängen des Staats und der Wirtschaft so weit wie möglich entzog, aber auch der bürgerlichen Ehe und Familie und allen unbefragten Konventionen, die von den Generationen unserer Eltern und Großeltern an uns weitergereicht wurden, von Menschen, die selbst durch zwei Weltkriege psychisch und oft auch physisch übel zugerichtet waren.

Es ging um ein anderes Leben nicht nur für die Kinder, sondern auch für das "Elternkollektiv" - mit dem Anspruch, damit zu einer gesellschaftlichen Umwälzung der ganzen Lebensweise beizutragen. "Knabenmorgenblütenträume" könnte man sagen, wie Prometheus bei Goethe es ausdrückt - Ahnung, Aufgang, erst zu befruchtender, noch unverwirklichter Wunsch. Ein Aufbruch, bei dem der Ausgangspunkt, die autoritäre Umgebung, gegen die wir uns richteten, deutlich war. Das positive Ziel einer "freien Entwicklung" aber konnte erst mit dem Tun Gestalt annehmen, eine Gestalt freilich, die sehr leicht wieder in einem bloß umgestülpten, aber nicht weniger herrschaftlichen Modus formatiert war, in neuen "Sollensnormen", wie eins "frei" zu sein hatte. Ein Modus, der sich seit unzähligen Generationen, in modernen Zeiten vor allem mittels "Pädagogik" und "Erziehung" (die schon als Wort in mir die Vorstellung von gezogenen Ohren auslöst) mit durchaus verschiedenen Inhalten in uns eingegraben hat und der jetzt als "linker Moralismus" (Julius Mende) verkleidet noch in der radikalsten Opposition Freiheiten, Sehnsüchte und Wünsche undenkbar und indiskutabel zu machen drohte.

Ich war ein Vater beim 2. Wiener Kinderkollektiv. Wir Eltern hatten die benötigten Räume in einer ablehnenden, mindestens skeptischen Umgebung selbst "auftreiben", adaptieren, einrichten müssen. Wir hielten sie instand, leisteten aufwendige Fahrt-, Koch-, Putz- und Spieldienste und wurden so in gewissem Maß Bezugspersonen aller beteiligten Kinder. Wir wollten von Sigmund Freud, Erich Fromm, Wilhelm Reich, A.S. Neill, Ivan Illich und anderen lernen, von denen im Lehrbetrieb der Uni damals nichts zu hören und zu lesen war. Wir setzten uns im täglichen Umgang und an den wöchentlichen Elternabenden mit dem Verhalten und den Wünschen der Kinder auseinander, gerade mit ihrem Trotz und ihren Aggressionen, die nicht tabuisiert und abgestellt, sondern ernstgenommen und bewältigt produktiv fürs Leben werden sollten.

Zugleich bezogen sich die Eltern selber (in recht unterschiedlichem Maß allerdings) in die "Erziehung" mit ein, versuchten im Grund "Pädagogik" in dem Bemühen um eine gemeinsame Entwicklung aufzuheben. Unsere Probleme miteinander kamen zur Sprache, eine Zeitlang sogar in Gruppentreffen mit einem Psychoanalytiker, an denen ein Großteil regelmäßig teilnahm. Auch in den Wohngemeinschaften, in denen nach einem Jahr fast alle lebten, konnte über das "Private" gesprochen werden - über unser Eigentumsdenken, gegenseitige Hilfe und Verlässlichkeit, monogame Moral, das Aufbrechen von Paarbeziehungen und Kleinfamilien. In diesem chaotischen Prozess von "Selbsterziehung" mit unbändiger Lust auf Neues und tiefer Verunsicherung, emotionalen Katastrophen und Hilfe der Gemeinschaft lagen Hoffnung auf ein neues, zu einander offeneres Leben und Überforderung und Verzweiflung nahe beisammen. Wo uns hier Kommunikation im wörtlichen Sinn von "Vergemeinschaftung" dessen, was wir uns "mit-zu-teilen" hatten, gelang, ging es nicht um "Rationalität" im etymologischen Sinne von Berechnung, sondern um "Vernunft" als einem über die Sinne kommenden "Ver-nehmen" - den Hippies gar nicht so fern. Was uns da eine Zeit lang trug, war so etwas wie verrückte Sehnsucht nach einer Freiheit, die am Horizont erreichbar, gestaltbar und doch im Fluss zu bleiben schien.

Die Kinder waren stabiler. Die mögliche "Overprotection" und die naheliegende Vereinnahmung durch neue, diesmal "fortschrittliche" Programme wurde durch das zumindest ansatzweise Aufbrechen der gelernten Rollen und Verhaltensweisen in der Elterngruppe oft recht wirksam konterkariert, der größere Freiraum für die kindlichen Regungen und der recht aufmerksame und liebevolle Umgang der Betreuer trug dank einer Kinder-Betreuerrelation von oft nur 5:1 gute Früchte. Der Aggressionspegel nahm sichtbar ab, das "Kinderplenum" wurde für die Kleinen zur gern, manchmal lautstark angerufenen Instanz für das Beilegen von Streitigkeiten. Der Schritt dazu, als Gruppe auf Dauer zusammen zu leben und zu wirtschaften, um diesen Vorschein eines besseren Lebens irgendwie zu schützen und auszuweiten, blieb aber in dem Trubel doch ein blasser Gedanke, hie und da bloß ausgesprochen.

Im zweiten Jahr fuhren einige von uns nach Westberlin, um dort einige Kinderläden zu besuchen, die um ein paar Jahre älter waren als unser Kinderkollektiv. Wir waren peinlich überrascht. Unsere hochfliegenden Vorstellungen von unseren Perspektiven trafen auf etwas, das uns als müde Resignation erschien. Kreativiät und freiere Entfaltung des kindlichen Potentials, ja das wollte man ganz "realistisch" betreiben. Das konnten die Kinder auch in Zukunft brauchen, "fürs Leben" nach dem freundlichen Gehege des Kinderladens. Das alte Ziel war da, bloß ein wenig "post-antiautoritär" umformuliert. Zwei Jahre später war es bei uns nicht mehr anders.

Wir waren überfordert. Der große Aufwand, den unser Kinderkollektiv mit sich brachte, die Erschütterungen, die unsere engen Kontakte auslösten, waren aber nur die eine Seite. Schwerer noch wog, dass sich die Perspektiven des Aufbruchs der späten 60er Jahre, die so weit schienen, verengt hatten. Die kleinen Keime des Alternativen, die in den Rissen im Beton des bestehenden Ökonomisch-Politischen wurzelten, faszinierten (mich jedenfalls), waren aber schwach und "unklar", wie Keimblätter halt so sind. Wir rieben uns am Autoritär-Engen der Verhältnisse, blieben aber materiell (notgedrungen) und auch in unseren Vorstellungen (leider) weitgehend auf dem alten Boden von Ökonomie und Politik. Wo ein Weg aus unserer eigentlich auf Erweiterung und Zukunft angelegten Nische führen könnte, war im Nebel geblieben und geriet schließlich aus dem Blick.

In der pädagogischen "Anstalt"

Politik und Staat erschienen vielen mittlerweile als ein Boden, auf dem Neues wachsen könnte, ob in Reform oder in Revolution. Schließlich hatten auch Fromm und Illich ihre oft heftige Kritik nicht selten als Politikberatung formuliert. Die Macht der unbesiegbaren USA ging in Vietnam gerade den Bach hinunter, die "Dritte Welt" schien siegreich auf dem Weg in eine bessere, ja kommune Lebensweise, und zu Hause war die neue sozialistische Alleinregierung dabei, wenigstens "Reformprogramme für ein modernes Österreich" umzusetzen. Auch eine demokratische Schulreform.

Vor allem aber: Staat und Wirtschaft hatten noch "was zu bieten": Kaum wer von uns musste damals mühsam einer halbwegs guten Arbeitsstelle nachlaufen, sie kam eher auf uns zu. Ich schloss zwei meiner Fächer auf der Uni mit dem Lehramt ab, sah im Telefonbuch nach, wo das nächste Gymnasium stand, und sagte dem Beamten, wo ich mein "Probejahr" (um einiges besser als das heutige "Unterrichtspraktikum" bezahlt und viel weniger stressig) verbringen wollte. Ein gewisses Gefühl der Kapitulation hatte ich doch - und noch die Hoffnung, im Jahr darauf was Besseres, Kommuneartiges, zu haben. Daraus wurde nichts, aber ich konnte trotz miesem Zeugnis meines Probejahrs zwischen zwei Schulen wählen, die mich zur fixen Anstellung haben wollten. Das Kinder- und Elternkollektiv lief aus. Die nachkommenden Kinderläden setzten den "Realismus" fort, mit dem wir aufgegeben hatten.

Der Schuldienst in der "Anstalt", wie mein letzter Direktor ironisch-kritisch sagte, dauerte Jahrzehnte, aber das Neue darin war dünn. Ja, die Willkür des Betriebs kam an die Leine von Gesetz und (wuchernder) Bürokratie, die Eltern konnten in Maßen mitwirken und beeinspruchen, ein wenig auch die Schüler, der Ton und die Methoden der Lehrer wurden jedenfalls "moderner", ihr Verhalten gegenüber den Schülern weniger autoritär, mehr Arbeiterkinder konnten maturieren und studieren.

Was aber Emanzipation und Freiheit angeht, stellten sich die "Mehrheitsinteressen in unserer Gesellschaft" (Norbert Kutalek), denen unser fortschrittliches Wirken dienen sollte, als durchaus immanent heraus. Sie wandten und wenden sich auch im gängigen fortschrittlichen Verständnis keineswegs gegen die gesellschaftliche Grundkonstruktion, die vom Staat als "Verfassungs- und Rechtsordnung" vertreten wird, als "Unabhängigkeit und territoriale Unversehrtheit unserer Republik" umfassend verteidigt und als "Politische Bildung in den Schulen" gelehrt und praktiziert werden soll (siehe den gleichnamigen Erlass des Unterrichtsministeriums). Der Widerspruch von Schulpflicht und freiem Lernen wurde "natürlich" nicht einmal angesprochen. Die Schule blieb damit über alles andere hinaus eine Anstalt gigantischer Verschwendung von Lebenszeit. Im beiläufigen Selbstversuch lernte ich im Selbststudium gleich viel Italienisch in einem recht kleinen Teil der Zeit, die ein durchschnittlicher Schüler in vier Jahren abzusitzen hat. Ich wollte, er musste.

Die Realverfassung des freien und demokratischen Staats als des Herrn und Aufsehers aller institutionellen Pädagogik kommt in der Schule nur in Andeutungen vor. Sie besteht vor allem in der Abhängigkeit von und im Einsatz für seine ökonomischen Grundlagen als dem Fundament seines Wirkens. Diese Grundlagen sind die Notwendigkeit der Verwertung (dass als Kapital investiertes Geld sich vermehren muss oder bei Misserfolg entwertet wird) und der sich daraus ergebende Zwang, ein Wirtschaftswachstum in globaler Konkurrenz zu schaffen. Zur Erfüllung dieser Vorgaben muss auch die Schule in der "Vorbereitung der jungen Menschen aufs Leben" ihren Beitrag leisten. Die Ökonomie ist schließlich schon der Taufpate der allgemeinen Schulpflicht gewesen. Auch die Beseitigung der Privilegierung von Minderheiten und der Benachteiligung der Mehrheit muss letztlich diesen für ein gutes Leben nicht gerade relevanten Zielen dienen, um erfolgreich einen Anspruch auf Finanzierung anmelden zu können. Das Bemühen kann dabei aber auch im besten Fall nur die Chancengleichheit in der Konkurrenz herstellen, nicht aber deren Ergebnis grundsätzlich ändern - den Aufstieg der Gewinner und den Abstieg der Verlierer.

In der Weltkrise der Verwertung ...

In den Siebzigerjahren mochte man noch daran glauben oder zumindest darauf hoffen, mit dem Schulbetrieb trotz alledem "überschüssige" Ziele pädagogischer Bemühung erreichen zu können. Seit dem Ende des fordistischen Booms, das sich schon damals abzeichnete, wurde jedoch der direkte Konnex von Schule und ökonomischer Behauptung des "Standorts" auch im öffentlichen Diskurs immer deutlicher und unverblümter. Gegen das Lahmen von Verwertung und Wirtschaftswachstum wurden seitdem hierzulande wie weltweit nicht nur neoliberale Deregulierung und Privatisierung als Heilmittel eingesetzt, sondern die Staaten verschuldeten sich enorm zur Erfüllung ihrer sozialen, infrastrukturellen und konjunkturfördernden Aufgaben, zuletzt dann sprunghaft sowohl zur Rettung des Finanzsystems als auch im Bemühen, durch Investitionen die Wirtschaft auch nur notdürftig am Laufen zu halten. Dies führte im Bildungs- wie auch im Sozialsystem zu Einsparungen, im Fall der Bildung auch zur offenen Konzentration auf "Exzellenz-" und "Eliten"-Bildung. Soweit das erreichte Qualifikationsniveau angesichts zunehmender Unverkäuflichkeit der Ware Arbeitskraft gesteigerte Bedeutung auf dem Arbeitsmarkt bekommen hat, dieses an den staatlichen Institutionen aber nur mehr teilweise oder mangelhaft zu erreichen ist, wird der private Zukauf von Qualifikation zu einem sich ausdehnenden Geschäft, in dem Pädagogik unmittelbar an finanziellem Erfolg messbar wird. In einer solchen Bildungsarchitektur bleibt für soziale Breite und "schöngeistige" Schörksel sowieso nur wenig Raum.

Und doch ist die antiautoritäre und emanzipatorische Bemühung des Aufbruchs der Sechziger- und Siebzigerjahre in der offen ökonomisierten Verfassung der gegenwärtigen Denk- und Lebensweise durchaus präsent. Denn "die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung" (Marx/Engels: Kommunistisches Manifest) gehören zum Kapitalismus - er frisst alles, verdaut, was daran für sein Leben in Verwertung und Wachstum nahrhaft ist, scheidet aus, was nicht. Und dies umso hektischer, als die Substanz des Werts, die produktive Arbeit angesichts der von der Konkurrenz immer weiter hochgepeitschten Produktivität zur Mangelware wird. Und so ist mitten in der Weltkrise für zukunftsgerichtete Bildung in der heutigen "Gesellschaftsformation" die Verstärkung von "persönlichkeitsbildenden Elementen" wie "Autonomie, Eigenverantwortung, Kreativität, Resilienz und soziale Empathie" vonnöten, um in der zunehmenden "Komplexität und Vielfalt in allen Lebensbereichen" zurechtzukommen (Zukunftsforscher Reinhold Popp in Der Standard vom 4.5.2015 als einer von vielen). Was als neu und als Alternative aufgetreten ist, wird nach der Rezeptur des Alten verkocht.

Eins ist nicht mehr Handlanger der Maschine, bloßer Befehlsempfänger von Vorgesetzten, sondern selbstverantwortlicher Förderer des Betriebszwecks, autonomer, empathischer und kreativer Mitplaner und Mittäter der Verwertung in der Verwertung seiner selbst - "macht, was ihr wollt, aber seid profitabel" (eine Losung bei IBM Deutschland). Die Entfaltung der menschlichen Fähigkeiten um der Menschen selbst willen (in der Vorstellung emanzipatorischer Pädagogik) soll mit einem anderen Selbstzweck deckungsgleich werden, mit dem Selbstzweck der Verwertung nämlich, indem der ganze Mensch einschließlich seines Selbstverständnisses und seiner sozialen Fähigkeiten als "Soft Skills" vereinnahmt wird, in selbsttätiger Verzweckung noch der menschlichen Autonomie, des hehren Ziels aufklärerischen erzieherischen Wirkens.

In Bildung und Pädagogik wird so aus der Abschaffung der Schule, um "Möglichkeiten (zu) schaffen, jeden Augenblick seines Lebens in eine Zeit des Lernens, der Teilhabe und Fürsorge zu verwandeln" (Ivan Illich), z.B. eine "internationale Enquete" des Berufsförderungsinstituts Oberösterreich "zum Thema Berufliche Aus- und Weiterbildung" mit dem Anliegen, "den Menschen einen breiten Zugang zu lebenslangem Lernen (zu) ermöglichen." (www.bfi-ooe.at) Um ihre "Arbeitsplätze zu sichern" und was halt sonst noch zu einer freien und demokratischen Marktwirtschaft gehört. Der "Marsch durch die Institutionen" hat statt der Institutionen die Marschierer gewandelt. Ähnlich übrigens auch die Wandlung von Bio-Bauern und Bio-Produkten seit dem Einzug der Bio-Regale in die Supermärkte sowie die Anpassung der Alternativbetriebe, die sich auf dem Markt behaupten wollen müssen.

Dem dramatischen Aufgehen des Menschen in der Selbstverwertung entspricht zudem seine nicht minder dramatische Selbstgefährdung in diesem Prozess. Die rechtschaffen gebildeten "ehrlichen Arbeiter" und die hochgebildeten "Leistungsträger" dieser Welt verwüsten mit ihrem Tun absichtslos, aber konsequent die Grundlagen des Lebens. Ihr unermüdlicher Einsatz plündert und vergeudet unwiederbringlich die natürlichen Ressourcen und vergiftet Erde, Meere, Luft und alle Lebewesen durch Industrie und Konsumwahn mit Abfall und Jahrzehntausende strahlendem Atommüll, und er löst einen für uns Menschen und viele andere Lebewesen katastrophalen Klimawandel aus. "Keiner will es, alle tun es" - wer sich innerhalb der Strukturen einrichten will, kann höchstens deren ungemeine Flexibilität in der Verfolgung ihrer Zwecke als Chance grundsätzlicher Änderung halluzinieren.

In der gleichzeitigen Finanz- und Wirtschaftskrise verelenden hunderte Millionen, darunter Millionen Hochgebildete, nicht nur in der sogenannten Dritten Welt, sondern auch hier um die Ecke. Es bröseln, ja zerfallen mit dem Verfall der Wirtschaft deren Staaten: Krieg und Massenflucht greifen um sich - aus der "Tauschgegner"schaft (Max Weber) von Käufer und Verkäufer entpuppt sich beim Zerfall der Ordnung des Gelds Rassismus und Fanatismus, Raub und Mord.

"... wächst das Rettende auch"

Es ist unvergleichlich ernster als in der Zeit des Aufbruchs in den 60er Jahren. Und doch: Das Rettende wächst auch. Für die Etablierten ist es unscheinbar. Es ist tiefer noch als die Krise der Lebensweise, ist das, was die Menschen unter den Zumutungen, Verdrehungen und Katastrophen der Herrschaft auch in schlimmen Zeiten noch retten kann - es sind die auf dem Grund der Gesellschaften immer auch (wenn auch beschädigt und arg verkümmert) vorhandenen "Bildungsgeflechte", die Ivan Illich statt des institutionellen Schulsystems wachsen lassen wollte, in denen Lernen, Teilhabe und Fürsorge in nuce erfahrbar und ausgestaltbar sind und Pädagogik/Bildung sich im Leben auflösen könnte. Es ist in unserer Evolutionsgeschichte der vielen Herrschaftsformen das andere Ergebnis, unsere Fähigkeit, ohne andere Zwecke als die unseres guten Zusammenlebens kooperieren, einander "ansehen" und "zuneigen" zu können. Es ist die Subsistenz, die dem Konsumismus als "Armut für alle", bestenfalls als "Notbehelf in der Krise" erscheint.

Ja, Millionen in Russland wären wohl nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion verhungert, die Menschen in weiten Teilen Afrikas wären nicht mehr am Leben, seit die Marktwirtschaft ihre verbrannte Erde verlassen hat, in Griechenland, nein auch in vielen Vierteln und Häuserblocks des "reichen Nordens" wären Mord und Totschlag die Regel, gäbe es diese Geflechte gegenseitiger Hilfe nicht. Ihr Myzel aber verbreitet sich zunehmend auch dort, wo Menschen ihrer (noch vorhandenen) Kaufkraft nicht mehr trauen, und überall, wo es wächst, nährt es sich auch von den Gefühlen der Leere, der Aussichtslosigkeit, des hoffnungslosen Unfriedens, den die wankende Weltordnung des Gelds in der Seele erzeugt. Nicht nur bei denen, die schon materiellen Mangel leiden, auch bei Leuten, die es angesichts ihres giftigen Überflusses ekelt.

Dazu kommt, dass die Bemühungen, das Leben, wenigstens Teile davon, in die eigenen Hände zu bekommen, sich nicht mehr (oder zumindest abnehmend) an Staat, Politik und Marktwirtschaft orientieren, sondern dezidiert aus diesen Fesseln raus, die Dominanz dieser Strukturen eindämmen, schwächen, brechen wollen. An Ivan Illich z.B. interessiert nicht mehr, dass er immer wieder einmal der Politik kritische Vorschläge macht, sondern der Umstand, dass seine fruchtbaren Überlegungen mit staatlicher und kapitalistischer Ordnung unvereinbar und nur jenseits von ihr nützlich sein können. Wer sich an dieser Ordnung orientiert, schaut auf Institutionen, hat Führungen, handelt "umsichtig gesteuert". Wer hier heraus will, achtet weniger auf politische Konjunkturen oder Wahlkämpfe, sondern wird aus den eigenen Notwendigkeiten und Gegebenheiten heraus "horizontal", "spontaner" (Zibechi), lokal organisiert und global kooperativ agieren, für die staatliche Bürokratie vermutlich unberechenbarer und weniger greifbar sein. Und zugleich führt diese Unterscheidung wieder auf die im ganzen Leben möglichen "Bildungsgeflechte" des Lernens, der Teilhabe und der Fürsorge für einander.

Es ist klar, dass die herrschende Ordnung in Gestalt ihrer Vertreter, Profiteure, Anhänger und Mitläufer zu allen Mitteln der Selbstbehauptung greifen wird. Flexibel, verführerisch oder brutal. Erfolgsorient in jedem Fall. Und es ist höchst unsicher, dass unsereins ihr blindes Zerstörungswerk stoppen und ihrer vielfältigen Gewalt standhalten kann. Wenn es aber gelingen soll, und das ist so dringend wie selten in der Geschichte der Menschheit, dann gibt es eine Menge zu lernen. Vor allem aber und über alles bloße Wissen hinaus braucht es die emotionale Kraft freigelassener Fantasie und gemeinschaftlicher Experimentierlust. Es gilt "zurückzugehen" und anzuschließen an die alten "Blütenträume" der (auch persönlichen) Geschichte, damit sie Frucht treiben und wir aus der Vorstellungswelt von Jahrtausenden Herrschaft ins Freie zu kommen. Denn erst wenn die herrschende Lebensweise nicht mehr unsere Sehnsüchte beherrscht, wird der Weg frei zur "Konvivialität" (Illich), zu einem guten Leben für alle, für die Menschen und alle anderen Lebewesen. Mit Pädagogik ist da nicht viel zu machen. Aber vielleicht mit den gewesten Pädagogen. So wie mit allen Menschen, in denen solche Gefühle und Gedanken wachsen.


Literatur

Illich, Ivan: Entschulung der Gesellschaft, Reinbek bei Hamburg 1973.

Kutalek, Norbert: Thesen zum österreichischen Bildungssystem, in: Freie Lehrerstimme, 1981 Nr.3, S. 9 f.

Mende, Julius: Was ich von Holzkamp über Erziehung lernte, in: Fischer-Kowalski, Fitzka-Puchberger, Mende (Hg.): Kindergruppen Kinder.

Zibechi, Raúl: Bolivien. Die Zersplitterung der Macht, edition nautilus 2008.

Zibechi, Raúl : Territorien des Widerstandes. Eine politische Kartographie der Urbanen Peripherien Lateinamerikas, Assoziation A, 2011.


Dieser Artikel erscheint in gekürzter Version auch in

schulheft
Pädagogische Taschenbuchreihe

Nr. 158: Linke Positionen zu Bildung und Bildungspolitik
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Preis: 15,50 Euro

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Rückkopplungen

Die Stimme und das Phänomen

von Roger Behrens

Suche bei Amazon nach Jacques Derridas Essay "Die Stimme und das Phänomen". Ich gebe den Titel im Suchfeld ein. Als die ersten vier Suchergebnisse werden angezeigt:

• "Die Stimme und das Phänomen: Einführung in das Problem des Zeichens in der Phänomenologie Husserls" von Jacques Derrida (ein Angebot gebraucht: die Ausgabe vom Suhrkamp-Verlag 2003)

• "Die Stimmen (DVD) - Eine Dokumentation über das Phänomen Stimmenhören" (Regie: Armin Braunsberger, Österreich 2009)

• "Stimme. Annäherung an ein Phänomen" von Sybille Krämer und Doris Kolesch (Hg.), (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2006) Und:

• "Für einen Tag" von Helene Fischer (2011) - drei "Artikel": Audio CD, MP3-Album und CD neu (73 Angebote) bzw. gebraucht (3 Angebote)

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In der Gesellschaft des Spektakels hat die Philosophie längst ihre Brisanz verloren. Jacques Derridas als brisant aufgebrezelte Auseinandersetzung mit der Phänomenologie Husserls, die ihn zur Dekonstruktion führte, ist insofern philosophisch banal ( Die Stimme und das Phänomen, Grammatologie und Die Schrift und die Differenz erschienen 1967, also im selben Jahr wie Guy Debords Die Gesellschaft des Spektakels): Die mit der für seine Texte üblichen Prätention vorgetragene Problematisierung des Verhältnisses von Zeichen, Sprache, Rede und Schrift wurde längst durch eine sich völlig unproblematisch gebende kulturelle Strategie als offizielle Ideologie etabliert - nämlich als Verklärung des Gewöhnlichen (Arthur C. Danto rekonstruierte unter diesem Titel 1981 logisch-analytisch, was seit Marx und dann Benjamin mit dem Begriff der Phantasmagorie gesellschaftskritisch bezeichnet wird).

Es geht mithin bei dieser Ideologie um die symbolische Ordnung der zunächst noch als modern propagierten Lebensweise, die schließlich spätestens in den 1980er-Jahren - nicht zuletzt ja auch durch Erweiterung des Feuilletons um modephilosophische Diskurse Derrida'scher Prägung - postmodern verdoppelt wird: dass die Möglichkeiten subjektiver Identität, die dem bürgerlichen Individuum schließlich Selbstbewusstsein und Ich-Stärke garantieren sollen, nicht mehr nach den Ideen und Idealen des Vernunftidealismus gebildet, sondern nach - den Leitbildern der Stars schematisch angepassten - kulturindustriellen "Images" vorgeformt sind. (Vgl. Daniel J. Boorstin, Das Image. Der Amerikanische Traum, Rowohlt 1987 (Original 1961). Mit Aufklärung und Humanismus kommt man nicht mehr weit. Menschen verhalten sich nach behavioristischen Klischees, in Rollen. "Gesellschaft" wird mehr und mehr zu einer Bühne symbolischer Selbstinszenierungen; Maske und Charakter bestimmen das Individuum, machen seine "Persönlichkeit" aus. (Vgl. Franz Schandl, Maske und Charakter, in: krisis, Heft 31, S. 124 ff.) Die Ästhetisierung der Politik ist "demokratisch", weil sie den Einzelnen die Teilnahme an der Bildmacht des "Kulturellen" gestattet.

"Die Tendenz zur Hieroglyphe hat in der bisherigen Geschichte der Massenkultur Epoche gemacht. Sie nämlich markiert den Übergang vom stummen zum Tonfilm. Im alten Film alternierten noch Schriftzeichen und Bild, und ihre Antithese verlieh dem Bildcharakter der Bilder Nachdruck. Diese Dialektik war gleich jeder anderen für die Massenkultur unerträglich. Sie verscheuchte die Schrift als Fremdkörper aus dem Film, aber nur um die Bilder selber ganz zu der Schrift zu machen, die sie absorbieren." (Adorno, Das Schema der Massenkultur, in: GS Bd. 3, S. 333; Adorno nimmt das später noch einmal auf in Prolog zum Fernsehen, in: GS Bd. 10·2, S. 513 ff.) - Das "Image" wird zu einer synästhetischen Einheit, bei der die verschiedenen Sinneseindrücke (des Riechens, Schmeckens, Tastens etc.) einem visuellen Schematismus untergeordnet werden. Menschen in ihrer sinnlich-leiblichen Präsenz werden zu Bildern. Sein Extrem findet das in der Parfümwerbung: Der Duft muss sichtbar sein; über die Erweiterung der technischen Massenmedien - Fernsehen, Video, Illustrierte etc. - vermehren sich die Bilder, reduziert sich aber zugleich ihre symbolische Vielfalt, werden die Sinne auf einen Hauptsinn kanalisiert, "eindimensional" - die medial inszenierte Bilderflut ist zugleich durch Bilderarmut gekennzeichnet; einen nicht unwesentlichen Anteil hat daran im Übrigen die Verbreitung der Fotografie, zunächst in den Bildreportagen der Magazine wie etwa Life seit den 1940ern, dann aber vor allem durch die Amateur- und Hobbyfotografie seit den 1970ern. Der Ton, vor allem die Musik und mehr noch die Stimme stabilisieren solche "Images"."Video Killed the Radiostar", sangen die Buggles. Mit dem Video zu diesem Song beginnt MTV am 1. August 1981 seinen Sendebetrieb. Längst ist der Erfolg der Popmusik nicht mehr allein vom Schallplattenverkauf abhängig. Was diese Musik ausmacht, muss immer auch gezeigt werden, Hören und Sehen werden verkoppelt, der Schlagerstar braucht - die Show. Die mitunter spielerische, ironische, surreale Bildsprache, die der Schlager bis zu seiner musikästhetischen Hochzeit Ende der 1970er noch hatte ("Aber bitte mit Sahne...", "Du gehörst zu mir, wie mein Name an der Tür", "Dann heirat' doch Dein Büro, Du liebst es ja sowieso"), ist nun vollkommen durch das "Image" absorbiert, der interpretatorische Spielraum des Textsinns durch eindimensionale Bedeutungen, ja paradox bedeutungsvolle Sinnlosigkeit in den Bildern aufgelöst. Die bewusste Inkompatibilität von Bild und Sprache in der Popmusik wird dann zur Abgrenzungsstrategie vom Schlager, wie es seit Mitte der 1980er beispielsweise immer wieder Madonna oder heute Lady Gaga probieren (siehe Streifzüge Nr. 35/2005, und Nr. 60/2014).

Die restlose Verdichtung von Sinn wie Unsinn im Bild ist bei keinem Schlagerstar so perfekt vollzogen wie bei Helene Fischer: "... will das Leben leben, wie ein Tanz auf dem Vulkan ..." - "Fantasie hat Flügel, sie tragen mich zu Dir. Wenn mein Herz dort landet, dann gehör' ich Dir." - "Ich will nur frei sein, einfach frei sein, doch es hört nie auf: das Karussell in meinem Bauch." - "Das mit Dir ist nicht von dieser Welt, Du schaust in mich hinein! Irgendwie sagt mein Gefühl: bei Dir bin ich daheim!" - "Jeder braucht 'nen Copiloten, auf dem Weg nach oben, bis zur Landebahn. Fliegen kannst Du nicht alleine, nur mit Deinen Träumen, kommst Du niemals an!" - "Ewig ist manchmal zu lang, Gefühl braucht keinen Plan, die Nacht macht tausend Feuer an!" Aber auch: "Von hier bis unendlich, zu den Sternen der Nacht." Und: "Wir wollten doch eine Ewigkeit, mitten im Paradies." - Was Helene Fischer zu sagen hat, bedient sich bei einem spärlichen, äußerst eng begrenzten Vorrat an Metaphern: Träume, Leben, Wir, Ich, Du, Tag, Nacht, Ewigkeit und "immer wieder"; "Liebe" hat, als zwischenmenschliches Verhältnis, vor allem etwas mit Fliegen zu tun, es geht hoch und runter, auf und ab (zudem "Flügel", "mit Peter Pan im Arm" etc.); Gefühle gibt es nur in der totalen Übersteigerung - als Fieber, als Wahnsinn. Glück, Rausch und Ekstase erscheinen als pathologische Sehnsucht nach Transzendenz, die geheilt werden muss: Die Schaubühne ist hier mitnichten, wie von Schiller gefordert, moralische Anstalt, sondern gleichsam psychiatrische Klinik, Anpassung als therapeutische Maßnahme, die Show als "Psychoanalyse verkehrt herum" (Leo Löwenthal).

Musik und Tanz verschmelzen zum irren, hyperaktiven Ritual: Die Schlagermusik peitscht Helene Fischer und ihre Performancetruppe über die Bühne. Und die einzelnen Gesten wie die gesamte Choreografie sind auf lediglich wenige Grundbewegungen und Schritte reduziert (fast jede Tanzfigur endet damit, dass die erst kreisenden und dann weit ausgestreckten Arme der Tänzerinnen und Tänzer ins Nichts, also "in die Ewigkeit" weisen; einzig Helene Fischer behält sich vor, in das Nichts auch zu greifen, die Hand zur Faust zu schließen und diese dann mit dem, was sie da im Nichts scheinbar erfasst hat, klar: an ihr Herz zu führen). Die Show besteht aus Einzelbildern, die sich lediglich im Gesamtbild verdoppeln.

In ihrer Bühnenpräsenz ist die, wie die Boulevardpresse nicht müde wird zu betonen, "nur 1,58 Meter große Frau" die Inkorporation der Show: Sie ist Zeigen und das Gezeigte in einer Person; sie ist verschmolzen mit der technischen, überperfektionierten Inszenierung einer Welt, in der die Klischees von Sehnsucht, Liebe, Romantik, Eleganz, Erotik gleichsam hyperventilieren. Eine Interpretation ihrer Songs ist überflüssig; was sie ihrem Publikum zu sagen hat, was sie singt, kennt die einst so wichtige ästhetische Beziehung von Form und Inhalt, die einmal den Gehalt der Kunst bestimmte, nur noch als redundantes, idiotisches Schema.

Auf einer Fanseite sind "alle Helene Fischer Fakten ... zusammengefasst", und man wird über ihren "bürgerlichen Namen" ebenso wie über Augenfarbe, Sternzeichen und Konfektionsgröße informiert. Vage bleibt allein, welches Shampoo Helene Fischer benutzt: "Zu vermuten ist, dass sie ein Shampoo von Garnier benutzt, da sie seit kurzem Nutrisse-Botschafterin ist und damit wieder einen tollen Werbeauftrag an Land gezogen hat." (www.schlagerplanet.com)

Um zu bezeugen, dass der ökonomische Erfolg von Helene Fischer auch ein ästhetischer ist, wird sie allenthalben als Ausnahmetalent, kreative Künstlerin, Superstar gelobt. In einer TV-Werbeschleife, in der eine Helene-Fischer-CD-Box angepriesen wird, heißt es erklärend: "Mit Disziplin, mit eisernem Willen und einer großen Liebe zu ihren Fans wurde Helene Fischer ... zur absoluten Nummer eins des deutschen Show-Business." Sie sei eben "wahnsinnig talentiert", und dazu werden die Reklamesprüche wie "Ja - Helene Fischer ist wirklich die beliebteste Sängerin!" oder "Helene Fischer ist auf der absoluten Überholspur!" eingeblendet. Die Show reproduziert die Show, Perfektion wird um der Perfektion willen perfektioniert.

Früher erhoben Revolutionäre ihre Faust als Zeichen solidarischer Kampfbereitschaft. Heute streckt Helene Fischer, in hautenger Lederhose und luftig-laszivem Top, ihren Arm aus, grüßt mit geballter Faust das Publikum. - Das Publikum übrigens, so sagt man, sind Fans in jeder Altersgruppe; doch Helene Fischer adressiert hier keineswegs Vielfalt, sondern Durchschnittlichkeit, das Nivellement, das längst alle Konflikte, den Klassenkonflikt ohnehin, aber auch den einmal sogenannten Generationskonflikt, überwunden hat. Die Differenzen sind ästhetisch eingeebnet, die Oberflächen glatt geschliffen, makellos weichgezeichnet. Was als grundsätzlich politikfrei inszeniert ist, als pures Entertainment, ist nichtsdestotrotz politisch geeicht, nämlich auf die Nation als "Image": Helene Fischer posiert im Deutschlandfarben-Bikini zur WM, der Song "Atemlos" fungierte schließlich auch als Fußballhymne. Und auch das ist ein Moment der demokratischen Ästhetisierung der Politik in Zeiten postdemokratischer Politik. Musik in der verwalteten Welt - das Prinzip ist Konsens. Ein Artikel über Helene Fischer bringt die Strategie auf den Punkt, die hinter diesem Prinzip steckt: "Aus Schlager wird Pop", heißt in dem Deutsche-Bahn-Werbemagazin mobil: Gerade die hypertrophe Sinnentleerung des Schlagers macht ihn kompatibel als Common Sense. Das macht Fischer zur demokratischen Kunstfigur schlechthin, zum Star der Konformität: Jede ihrer Gesten, jede Tanzbewegung, jedes Wort ist eine Anpassungsleistung (also die Verflechtung von Anpassung und Leistung). Helene Fischer singt "Du bist ein Phänomen" und geriert sich selber als - im mehrfachen Wortsinn - reines Phänomen: Sie ist gleichsam Erscheinung ohne Wesen.

PS: "Helene Fischer ist jetzt auch noch das neue Tchibo-Gesicht", titelt das rp-online.de-Magazin am 7. Oktober 2014, 11:10 Uhr. Es heißt: "Beim Kaffeeröster ist man ob der Zusammenarbeit begeistert. 'Helene Fischer und Tchibo - ein schöneres Duett können wir uns nicht vorstellen', sagt Sven Groos, Geschäftsführer Non Food bei Tchibo, und setzt zur ultimativen Lobhudelei an. ,Sie ist eine Stil-Ikone, eine grandiose Entertainerin, die auf der Bühne für Glamour steht und privat den Casual-Look liebt. Sie spricht zugleich Frauen und Männer an. Sie passt perfekt zu Tchibo. Wir sind sehr glücklich, Helene Fischer für uns gewonnen zu haben.' ... Für viele Deutsche zählt Helene Fischer zu den am besten angezogenen Frauen Deutschlands. Mehrmals wechselt die Fashion-Ikone pro Konzert ihre Outfits. Privat liebt es die Sängerin lässig: Jeans, Pullover, Lederjacke. Inzwischen geben Mode-Zeitschriften Anleitungen, wie Frauen den Helene-Fischer-Style kopieren können." - Stil, Ikone, Kopie. Hier findet die demokratische Version einer Ästhetisierung der Politik unter postdemokratischen Bedingungen ihr Ende.

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Auslauf

VerUNsicherung

von Franz Schandl

Der neueste Hit ist Springers Welt zu entnehmen. "Nur die Rente mit 74 kann Deutschland noch helfen", heißt es dort. Und das im Land der durchökonomisierten Kriegsgewinnler und Exportweltmeister. Die durchschnittliche Lebenserwartung in meinem Wiener Wohnbezirk Margareten liegt übrigens laut neuester Statistik bei gerade mal 74 Jahren. Arbeiten, bis man tot umfällt, das ist es! Der Pensionsexperte Rürup, ein Könner seines Faches, wiederum meint in der Wiener Presse, dass der "Leidensdruck nicht groß genug ist". Das niedrigere Frauenpensionsalter sei an das höhere männliche anzupassen. Da wird gegendert, dass es eine Freude ist. Natürlich sei das Pensionssystem nicht finanzierbar, daher müssten die Renten anderweitig, also privat, finanziert werden.

Wer es sich leisten kann, versichert sich. - Nur, ist man es dann auch? Wenn man die aktuellen Um- und Zusammenbrüche im Banken- und Versicherungssektor so anschaut und ein bisschen kombiniert, dann sollte man das bezweifeln. "Ja, wenn man es ihnen gesagt hätte, dass sie auch das gesamte Geld verlieren könnten, dann hätten sie ..." - So ungefähr beginnen die rührseligen Geschichten, die aktuell durch die Dokumentationen der Medien laufen. Geprellte Pensionisten stehen dann vor einem Scherbenhaufen und verstehen die Welt nicht mehr.

Platzt eine große Blase, platzen viele kleine Blasen mit. Das verdiente Geld erweist sich als nicht mehr vorhanden, es hat sich in Luft aufgelöst. Futsch ist es. Manche private Vorsorge enttarnt sich als das Pyramidenspiel, das es ist. Sollte sich herausstellen, dass die Fonds und Versicherungen selbst unzureichend versichert gewesen sind oder sonst was nicht so richtig nach Vorstellung gelaufen sein, dann ist die Vorstellung zu mehr Geld zu kommen, ja selbst die Vorstellung, das Eingelegte zurück zu erhalten, erledigt. Die Vorstellung ist sodann eine Halluzination gewesen. Und selbst wenn Vater Staat die Kleinen (wie die Großen) vor dem Bankrott retten sollte (was er freilich nur bis zu einem gewissen Maß kann), hieße das doch, dass diese Verluste sozialisiert werden müssen. Bleiben sie das eine Mal an den Versicherten hängen, hängen sie das andere Mal an den Steuerzahlern. Passiert derlei zu oft, dann hängt sich das Betriebssystem an seinen Überforderungen auf.

Sicher ist, dass man zahlen muss, nicht sicher ist, ob man zahlen kann. Das macht das bürgerliche Leben unlustig, weil eins permanent nach Geld gieren muss. Der Schritt von der Versicherung zur Verunsicherung ist jedenfalls getan. Nur die flächendeckende Propaganda vermag diverse Ängste zu verdrängen, indem sie permanent Hoffnungen auf satte Gewinne schürt. Es gelte vorzusorgen, der Staat kann nicht mehr, aber der Markt kann immer. Gerade eben peitscht man die Menschen wieder in die private Vorsorge, den flächendeckenden Kampagnen ist kaum zu entkommen. Dort jedoch droht die Enteignung. Die dritte Säule entpuppt sich als Pappe. Und die Pappenheimer stehen dann da und jammern ...

Wahrheit kann nicht verbreitet werden, weil geschäftsschädigend. Fiktiv wie das Kapital sind auch dessen Versicherungen. Werbung ist Täuschung. Indes, Lügen haben zwar lange Beine, aber gelegentlich stolpern sie, weil Wahrheit sich brachial Gehör verschafft und als Wirklichkeit durchsetzt. Nicht alle Märchen können überstanden, sprich durch neue kaschiert werden. Läuft der Kapitalismus heute primär deswegen, weil der Glaube an die Kräfte des Marktes so stark verankert ist? Möglicherweise. Je öfter die Ökonomie in Leerlauf gerät, desto mehr versetzt uns die Ideologie in einen irren Dauerlauf. PR-Abteilungen bombardieren bis in die kleinsten Winkel. Und wir? Wir zahlen drauf, aber glauben daran.

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AutorInnen

Roger Behrens, Streifzüge-Kolumnist.

Julian Bierwirth hat es nach einem langen Studium der Soziologie und Pädagogik nach Kassel verschlagen. Er arbeitet in der Jugendverbandsarbeit, wirkt darüber hinaus als Bildungsarbeiter in Verschiedenen sozialen und politischen Zusammenhängen.

Eske Bockelmann, 1957, lebt in Chemnitz, hat klassische Philologie und Germanistik studiert. Ihm ist die Entdeckung geglückt, die sich nachlesen lässt in einem Buch mit dem Titel: Im Takt des Geldes.

Nikolaus Dimmel, 1959. Studierte Rechtswissenschaften, Politikwissenschaften, Soziologie. Lehrtätigkeit u.a. an der Univ. Salzburg. Schwerpunkte: Armut/ Reichtum/Ungleichheit, Sozial- Wirtschaft, Sozial- und Migrationsmanagement sowie Arbeits-, Kriminal- und Rechtssoziologie.

Karl Kollmann war lange in der Verbraucherpolitik tätig, geht nun gesellschaftspolitischen, konsum- und technikökonomischen Fragen nach. Lebt und arbeitet in der Südbahngegend.

Martin Mair, 1964. Studium der Publizistik und Kommunikationswissenschaft, Informatik und Soziologie. War u.a. in der ÖH, der Arge Daten und bei Reporter ohne Grenzen Österreich (Gründer) engagiert sowie als freischaffender Journalist erwerbstätig. Obmann der Aktiven Arbeitslosen Österreich:
www.aktive-arbeitslose.at

Stefan Meretz, Streifzüge-Kolumnist.

Martin Schinagl, geb. 1986 in einem Land, das es nicht mehr gibt, dafür lebend in Berlin. Passionierter Student der Europäischen Ethnologie, Geographie, Soziologie und Dérivist durch die städtischen Landschaften und eigenen Alltage. Seine Abschlussarbeit schrieb er zu Online Dating aus einer kulturanthropologischen Perspektive.

Sowie: Lorenz Glatz, Severin Heilmann, Franz Schandl, Maria Wölflingseder, Petra Ziegler

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IMPRESSUM

ISSN 1813-3312

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DRUCK
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Auflage: 1200

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Layout: Françoise Guiguet

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Quelle:
Streifzüge Nr. 64, Sommer 2015
Kritischer Kreis - Verein für gesellschaftliche Transformationskunde
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http://www.streifzuege.org


veröffentlicht im Schattenblick zum 3. September 2015

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