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STREIFZÜGE/048: Zeitschrift des Kritischen Kreises, Nr. 75, Frühling 2019


Streifzüge Nummer 75, Frühling 2019
Magazinierte Transformationslust

Zeitschrift des Kritischen Kreises - Verein für gesellschaftliche Transformationskunde


INHALTSVERZEICHNIS

Franz Schandl: Einlauf
Gaston Valdivia: Rechtsextremistischer Bolsonaro ist Brasiliens neuer Präsident

Meinhard Creydt: Glanz und Elend des Politisierens

Franz Schandl: Politik. Zur Kritik eines bürgerlichen Formprinzips (1995)

Martin Birkner: Von der Unmöglichkeit der Politik zum kommunistischen Horizont

Peter Klein: Jenseits der Politik. Wie die Objektivierung aller Lebensbereiche das Links-Rechts-Schema unterläuft

Franz Schandl: Akademische Ausgüsse. In einem Gebetsbuch zelebriert Lisa Herzog einmal mehr Arbeit und Politik

Franz Schandl: Redundantes zur Antipolitik. Von der politischen Kritik zur Kritik des Politischen

Michael Beykirch: Strukturkrise der Marktwirtschaft und gesellschaftliche Emanzipation

Lars Distelhorst: Die letzte Karte der Sozialdemokratie

Nikolaus Dimmel: Geisterbahn der Sozialpolitik

Lorenz Glatz: Ein Leben in Stress

Kolumnen
Immaterial World: Stefan Meretz
Auslauf: Petra Ziegler

Rubrik 2000 abwärts
Jonathan Swift: Die Parteiwut
Peter Samol (P.S.): Hotline-Spionage

Rezensionen
Lorenz Glatz (L.G.) zu: Friederike Habermann: ausgetauscht!
Robert Pfützner (R.P.) zu: Philipp Mattern: Mieterkämpfe

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Einlauf

Die Oberhand soll sie haben, die Politik. Unbedingt. Robert Habeck sagt: "Politik lebt vom Glauben, dass Veränderung möglich ist. Gibt man den auf, erodiert das Vertrauen in Demokratie." Indes, was ist, wenn das Credo nicht stimmt? Oder muss es stimmen, weil sonst der Glauben verloren geht? Ist Politik demnach der Glaube an sie, und Politikverdrossenheit eine Häresie und schon deshalb abzulehnen?

Aber Habeck hat auch recht: Ohne das Halluzinieren einer kompetenten Politik, würde wahrlich der öffentliche Bereich zusammensacken. So herrscht die Gebetsmühle. Da bekreuzigen sich Neugrüne und Altrote mit Schwarzen, Türkisen, Blauen, Pinken, Orangen und Braunen. Allen gemeinsam ist ihnen der selige Befund: Geht schon! Auch radikale Linke verlangen meist nichts anderes als eine andere Politik. Sie sind Kinder der Gegenwart, nicht Vorhut der Zukunft.

"Politik ist das, was man macht, um nicht zu zeigen, was man ist, ohne es zu wissen", schrieb Karl Kraus. Politik, das ist der selige Glaube an die Souveränität, den freien Willen, die freien Wahlen, die freie Presse, die mündigen Bürger und den ganzen demokratiepolitischen Werteschmonzes. Die Staatsbürgerkunde rinnt unentwegt aus allen Kanälen, ist Ausdruck einer tief verunsicherten Selbstversicherung, die aber alles überschwemmen will. Kein Geist entgeht dieser Brühe. Wenn wir nur alle daran glauben, dann muss es schon stimmen. Dieser Bezug ist suggestiv und religiös. Demgegenüber hielt schon der junge Marx fest: "Der politische Verstand ist eben politischer Verstand, weil er innerhalb der Schranken der Politik denkt."

Diese Schranken wollen wir (nicht nur) in dieser Ausgabe auf brechen. Wir wünschen eine abträgliche Lektüre. Das, was nicht mehr tragbar ist, soll abgetragen werden.

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Rechtsextremistischer Bolsonaro ist Brasiliens neuer Präsident

von Gaston Valdivia

Leider ist eingetreten, was zu befürchten war: 55,14 Prozent der brasilianischen Wähler*innen haben in der Stichwahl vom 28. Oktober 2018 den rechtsextremen Jair Messias Bolsonaro zum nächsten Präsidenten ihres Landes gewählt. Bei den allgemeinen Wahlen vom 7. Oktober errang seine Partei PSL (Partido Social Liberal) gerade einmal 52 von 513 Sitzen für die Abgeordnetenkammer, und im Senat kam sie noch nicht einmal über 4 von insgesamt 81 Senatoren hinaus. Unter den vier PSL-Senatoren befindet sich auch Bolsonaros Sohn Flávio. Bei der Wahl für die Präsidentschaft verfehlte Bolsonaro hingegen mit 46,03 Prozent nur knapp die absolute Mehrheit, weshalb es zur Stichwahl zwischen ihm und dem mit 29,28 Prozent zweitstärksten Kandidaten Fernando Haddad von der Arbeiterpartei PT kam. Bolsonaro siegte deutlich mit 55,13 Prozent der Stimmen.

Vor dem Hintergrund der großen Zersplitterung in Parlament und Senat muss der neue Präsident viele Absprachen treffen, um in Parlament und Senat auch nur annähernd die eigenen Vorstellungen umsetzen zu können. Da es in Brasilien keine Prozenthürde gibt, sind in der neuen brasilianischen Abgeordnetenkammer 30 und im neuen Senat 21 Parteien vertreten. Stärkste Einzelpartei ist die Arbeiterpartei PT (Partido dos Trabalhadores) mit 56 Abgeordneten. Andererseits verfügt Bolsonaro über erhebliche Machtbefugnisse, die mit denen eines US-Präsidenten vergleichbar sind. Sie ermöglichen ihm notfalls ein Regieren mit Hilfe provisorischer Erlasse und Dekrete. Außerdem kann er unerwünschte Gesetze blockieren. Ferner bestimmt er die Führungen der Streitkräfte, die Minister des obersten Bundesgerichtshofs, den Generalbundesanwalt sowie Präsidenten und Direktoren der Zentralbank und etliche weitere einflussreiche Amtspersonen.

Nutzt er diese Macht, wird er das bisherige politische Establishment in Senat und Parlament kräftig durcheinanderwirbeln. Am meisten Furcht verbreitet er jedoch bei all denjenigen Menschen, die er zur Zielscheibe seiner menschenverachtenden Rhetorik und Gestik gemacht hat. Die Ereignisse in den Wochen bis zum zweiten Wahlgang haben deutlich gezeigt, dass sein Sieg die zuvor schon stark polarisierte und feindliche Atmosphäre weiter aufgeladen und nicht wenige seiner Anhänger zu neuen antisemitischen, rassistischen, homophoben, frauenfeindlichen und antilinken Angriffen animiert hat. Die Zeitung El Mundo spricht sogar von einer Welle der Gewalt gegen Homosexuelle und Wähler oppositioneller Parteien.

Wer ist Bolsonaro?

Wie ordnet man Bolsonaro als Person am besten ein? Er ist ein ziemlich unwissender, aggressiv-autoritärer Familienpatriarch mit konservativ-religiösem Profil und US-amerikanischem Mittelstands-Lifestyle. Seine homophobe, rassistische, frauen- und genderverachtende Einstellung propagiert er ebenso offensiv wie seinen Hass auf Linke. Seinen Sohn sähe er lieber tot als schwul. Den Islam würde er am liebsten verbieten. Obwohl katholisch sozialisiert, ist er zu den evangelikalen Baptisten konvertiert und hat sich vor zwei Jahren am Jordanfluss wiedertaufen lassen. Wie bei zahlreichen lateinamerikanischen Militärs üblich, glaubt er gesellschaftliche Probleme und Widersprüche mit Gewalt lösen zu können. Sein schlichtes Weltbild stammt aus den 60er und 70er Jahren, als Militärs, Kirche, Agrar-Oligarchie und eine aufsteigende, industriell ausgerichtete Bourgeoise einigermaßen einträchtig nebeneinander herrschten, die Hierarchien klar und "die Welt noch in Ordnung" war. "Ordem e Progresso" (Ordnung und Fortschritt) eben, wie es auch auf der brasilianischen Landesflagge festgehalten ist. Als ehemaliger Militär bewundert Bolsonaro Hitler, den er häufiger als "großen Strategen" bezeichnete. Hitlers Wehrmacht gilt bis heute in lateinamerikanischen Armeen als historisches Vorbild für disziplinierte, effiziente und siegreiche Kriegsführung. Sein extremistisches Weltbild, sein aufmüpfiges Verhalten selbst innerhalb des Militärs, für das er 1986 kurzzeitig hinter Gittern saß, und die geplanten Bombenattentate in Kasernen, die ihm das Militär generös verzieh, haben ihm in seiner Anhängerschaft zu dem Ehrennamen "el mito" (sinngemäß "der Legendäre") verholfen. Der großen Mehrheit der brasilianischen Bevölkerung war er bis vor wenigen Jahren eher noch als medialer Kasper bekannt.

Bolsonaro wurde und wird immer wieder mit Trump verglichen und wie dieser als "Populist" oder "Rechtspopulist" bezeichnet. Es gibt einige grundlegende Übereinstimmungen in der Weltsicht der beiden, aber Bolsonaro kann seine Menschenverachtung in Brasilien enthemmter hinausposaunen. Mit seiner kurzen demokratischen Tradition und seinen ebenso schwachen wie korrupten Institutionen bietet Brasilien offensichtlich das günstigere Umfeld für straffreie Beleidigungen, Provokationen und Drohungen. Zudem wurde Bolsonaro, anders als Trump, in der Armee sozialisiert und macht keinen Hehl aus seiner ausgeprägten Sympathie für Militärdiktaturen. In den liberaldemokratischen spanischsprachigen Medien wird Bolsonaro meist als "Rechtsradikaler", "Rechtsextremist" oder "Ultrarechter" bezeichnet. Linke Medien betiteln ihn häufiger als "Faschisten", "Neofaschisten" oder "Nazi". Faktisch ist er ein wirrer Rechtsextremist, den besondere historische Umstände nach oben gespült und populär gemacht haben. Seine repressiven Absichten posaunt er offen aus.

Bolsonaros Basis

Um die Vorgänge in Brasilien zu verstehen, kommt man nicht an einer Betrachtung der Kräfte vorbei, auf die Bolsonaro zählen kann. Noch wenige Monate vor Bolsonaros Wahl zum Präsidenten haben Umfragen ergeben, dass etwa 16 Prozent der Bevölkerung sein extremes Weltbild teilen. Das ist nicht wenig, würde aber nicht dazu ausreichen, so etwas wie ein neofaschistisches Projekt durchzuführen. Welche Kräfte unterstützen ihn bedingungslos, welche bedingt, welche könnten ihm noch zuwachsen, welche könnten relativ schnell wieder vom Zug abspringen, und welche Möglichkeiten erwachsen ihm dadurch für die Zukunft? Um hier nicht das Fass einer FaschismusPopulismus-Debatte aufzumachen, folgt hier einfach eine Aneinanderreihung wichtiger Merkmale der Kräfte, die Bolsonaro bislang unterstützt haben.

Bolsonaro hat keine Massenbasis mit einheitlicher ideologischer Ausrichtung hinter sich, sondern wird von verschiedensten heterogenen Gruppen gestützt. Die aktivste Unterstützung kommt zum einen aus jenen traditionellen rechtsextremen Kreisen, die bis heute der Militärdiktatur nachweinen, zum anderen von einer jungen "neuen Rechten", die sich aus weißen, abstiegsbedrohten, krisengeschüttelten Mittelschichten rekrutiert. Es sind vielfach Studierende, denen es in den letzten 10 Jahren an zahlreichen Hochschulen gelungen ist, die ideologische Hegemonie zu erringen. Diese Söhne und Töchter sehen ihre eigenen Aufstiegschancen in weite Ferne rücken und fürchten den eigenen Absturz in die unteren Schichten.

Trotz eines traditionell zur Schau getragenen Patriotismus lässt sich bei den alten traditionellen Unterstützer*innen nicht von einer nationalistisch-völkischen Ideologie sprechen. Vielmehr sind die USA für sie das Maß aller Dinge und damit ein starker lebensweltlicher Bezugspunkt. Kapitalflucht und ein Zweitwohnsitz in Miami zählen hier gewissermaßen zum liebgewonnenen Brauchtum. Ihr radikaler Diskurs grenzt große Teile der Bevölkerung aus, statt sie im Sinn einer Nationenbildung mit einzuschließen. Sie pflegen eine antipolitische Haltung, in der ein Primat der Politik über die Ökonomie nicht vorgesehen ist, was eine politische Radikalisierung allerdings nicht ausschließt. Der neoliberale Markt hat Priorität, der Staat soll "verschlankt" und Staatseigentum massiv privatisiert werden. Protektionismus ist bislang nicht geplant, auch wenn es innerhalb des Militärs starke Kräfte gibt, die das einfordern werden.

Der harte Kern der Bolsonaro-Unterstützer ist mehrheitlich ausgeprägt rassistisch und geht von einer "weißen" Überlegenheit aus. Einige von ihnen wünschen sich gar ein Apartheidregime nach südafrikanischem Muster. In diesem Zusammenhang sollte man nicht vergessen, dass Brasilien das Land mit dem weltweit größten Anteil an Hausangestellten ist. Diese sind mehrheitlich weiblich, von dunkler Hautfarbe und meist sklavenhalterischen Bedingungen unterworfen. Die Entfaltungsfreiheit der Frauen in der Mittel- und Oberschicht basiert auf diesem servilen System. Unter der festen Anhängerschaft findet sich auch eine Minderheit von konservativen Kräften, die Brasilien als "Mestizen-Land" zumindest akzeptieren. Was aber alle Anhänger*innen miteinander verbindet, sind ein autoritär-konservatives Frauen- und Familienbild, Rassismus und die Ablehnung gemeinschaftlich-sozialer Lebensvorstellungen, die auch im Hass auf Linke und "Kommunisten" (was für die meisten dasselbe ist) zum Ausdruck kommt.

Historisch ist ein religiös motivierter Antisemitismus unterschwellig stets vorhanden, scheint aber nicht konstitutiv für die rechte Bewegung Bolsonaros zu sein. Bolsonaro selbst präsentiert sich israelfreundlich und pflegt den Kontakt zu der minoritären konservativen Fraktion der jüdischen Gemeinde des Club Hebraica. Öffentlich ruft er dazu auf, die israelische Demokratie anzuerkennen, und propagiert Israels Landwirtschaft als Modell für die Trockengebiete Brasiliens. Seine Ankündigung, Brasiliens Botschaft nach Jerusalem zu verlagern, hat weniger mit Trumps Vorbild als mit seiner neuen israelfreundlichen evangelikalen Wählerschaft zu tun. Viele evangelikale Kirchen sehen in Israel nämlich das Land der alten Propheten und den Ort der Erfüllung biblischer Endzeit-Prophezeiungen. Das behagt nicht allen. Kritik an Bolsonaros wechselseitiger Annäherung mit Israel kommt sowohl aus den Reihen seiner rechtsextremen Anhängerschaft als auch aus der linksliberalen jüdischen Gemeinde.

Erstaunlich ist auch das ideologische Selbstbild mancher Rechter und Rechtsextremisten, das sich ideologisch auf kuriose Weise vom Nationalsozialismus abgrenzt. Vor der Wahl hatte die deutsche Botschaft ein Lehrvideo über den Nationalsozialismus in portugiesischer Sprache in den sozialen Medien Brasiliens platziert. Darin wird der NS als rechtsextremistische Ideologie charakterisiert und auf deren Gefahren hingewiesen. Der Film endet mit dem Aufruf des deutschen Außenministers Heiko Maas: "Wir müssen uns den Rechtsextremisten entgegenstellen, wir dürfen sie nicht ignorieren und [müssen] Farbe gegen Neonazis und Antisemiten bekennen."

Die empörten Reaktionen folgten prompt. Sie bezogen sich allerdings auf den Vergleich des NS mit dem rechtsradikalen Selbstverständnis. Immer mehr Rechte, insbesondere junge Menschen, die schlicht keine Ahnung vom NS haben, gehen nämlich davon aus, dass es sich beim Nationalsozialismus um eine linke Ideologie handle. In diesem Sinne hatte Bolsonaros Sohn Eduardo im Jahr 2016 getwittert: "Nazismus ist links". Und welcher Rechtsradikale lässt sich gern als einer der Linken - den Todfeind Nummer eins - diffamieren. Das ändert nichts an dem Fakt, dass zahlreiche faschistische und nationalsozialistische Einstellungen die brasilianische Rechte mit prägen.

Bolsonaros Aufstieg

Wie ist es möglich, dass ein unbedeutender Abgeordneter ohne Massenbasis solch einen kometenhaften Aufstieg in den letzten anderthalb Jahren hinlegen konnte? Auf die eigenen "Leistungen" und "Einstellungen" lässt sich das nicht zurückführen. Sein plötzlicher Erfolg hängt vielmehr mit den zwei Plagen zusammen, auf die sich die ganze Unzufriedenheit einer Mehrheit der Bevölkerung fokussiert hat: Korruption und Kriminalität. Viele Menschen sehnen sich nach Sicherheit und Verlässlichkeit. Mit allein 64.000 offiziell registrierten Morden jährlich steht Brasilien weltweit an erster Stelle. Bolsonaro kam es bislang zugute, dass er jahrzehntelang ziemlich isoliert im Politbetrieb war. Seine politische Bedeutungslosigkeit hat verhindert, dass er in die großen Korruptionsnetze und das herrschende politische Establishment mit einbezogen war. Daher rühren sein Nimbus von Unbestechlichkeit und die Glaubwürdigkeit seiner Anti-Establishment-Haltung. Es dürfte jedoch zu erwarten sein, dass er bald selbst in die Oberschicht und in das große Korruptionsgeschäft einsteigen wird.

Ein weiterer Grund seines kometenhaften Aufstiegs liegt in der Unterstützung durch die mächtigen evangelikalen Kirchen. Bolsonaros Religiosität und relative Distanz zur katholischen Kirche Brasiliens haben ihn für sie zum wählbaren Kandidaten gemacht. Den Evangelikalen sind Libertinage, Frivolität, freie Sexualität, Homosexualität, Feminismus, Abtreibung und auch Armut verhasst. Für sie gilt Armut sowohl als Resultat von Faulheit und damit als selbstverschuldet als auch als Ausdruck von Gottesferne. Nach Auffassung der Evangelikalen lebt ein großer Teil der brasilianischen Gesellschaft in Sünde und verrichtet das Geschäft des Teufels. Diese Überzeugungen teilen sie mit Bolsonaro. Nachdem diese Kirchen mehrheitlich in sein Lager übergeschwenkt waren, nahm seine Kampagne deutlich an Fahrt auf und gewann einen breiten Massenrückhalt. Ca. 30 Prozent der Brasilianer*innen gehören einer evangelikalen Kirche an, Tendenz steigend. 12 Mio. evangelikale Brasilianer*innen sind Nachfahren afrikanischer Sklaven und viele Tausende sind Nachfahren von Ureinwohnern. Es verwundert daher nicht, dass sich unter den Wähler*innen Bolsonaros auch Millionen Menschen befinden, die zu den Opfern seiner Hasstiraden, Vorurteile und Beleidigungen zählen. Es ist sein Sicherheitsversprechen und die zur Schau getragene konservative Moral, die ihn für die Betreffenden trotzdem wählbar machen.

Die Rolle der Arbeiterpartei PT

Zu guter Letzt darf man die Rolle der Arbeiterpartei PT (Partido dos Trabalhadores) und einige ihrer wahltaktischen Fehleinschätzungen nicht vergessen. Die PT stellte bis August 2016 insgesamt 13 Jahre die Regierung Brasiliens. Mehrheitlich konnten sich ihre Mitglieder nicht von ihrem "Caudillo" Luiz Inácio Lula da Silva alias "Lula" lösen, um rechtzeitig andere Kandidat*innen in Erwägung zu ziehen. Fernando Haddad, ehemaliger Oberbürgermeister von Sao Paulo, ohne nennenswerte Lobby in der Partei, kam, nachdem Lula ins Gefängnis musste, wie die "zweite Wahl" rüber. Die rasch aus dem Hut gezauberte Parole "Lula ist Haddad und Haddad ist Lula" hat nur bedingt gezogen. Auch die große Popularität Lulas außerhalb der PT, trotz einer gespaltenen brasilianischen Linken, hat falsche Hoffnungen auf die Erfolgschancen der Partei geweckt. Schon frühzeitig gab es Stimmen in der PT, die einen pragmatischen Strategiewechsel anstrebten. Sie sprachen sich für den Verzicht auf eine eigene Kandidatur und die Unterstützung der Mitte-links-Partei "Partido Democrático Laboral" unter Ciro Gomez aus.

Die Verwicklung von einigen Funktionären der PT-Regierung in den Mensalão-Skandal und in das vom staatlichen Mineralölkonzern Petrobras und dem Milliardär Odebrecht ausgehende lateinamerikaweite Korruptionsnetz haben Lula und der Partei stark geschadet. Dabei war ihre Verwicklung im Vergleich zur ansonsten üblichen Korruption innerhalb der Eliten eher geringfügig ausgeprägt. Mit dem erfolgreichen Amtsenthebungsverfahren gegen Lulas Nachfolgerin Dilma Rousseff gelang es den reaktionären Kreisen, die verbreitete Wut über die grassierende Korruption auf die PT zu lenken. Dieser dubiose Erfolg, auch stark frauenfeindlich geprägt, verschaffte ihnen einen gewaltigen Auftrieb und wurde zur Blaupause für den Generalangriff auf zentrale Errungenschaften des moderneren Brasiliens. Die einst positiv wahrgenommene lange Periode der wirtschaftlichen Prosperität, die sowohl auf die integrative soziale Kraft der PT als auch auf die vorteilhafte globale Wirtschaftsentwicklung zurückzuführen war, verblasste angesichts der Wirtschaftskrise, die Brasilien seit 2014 heimsuchte. Bei aller gerechtfertigten Kritik an der PT sollte man nicht vergessen, dass Lula seine zweite Amtsperiode mit annähernd 80 Prozent Zustimmung beendet hatte. Unter der PT sind ca. 30 Mio. Menschen in die untere Mittelschicht aufgestiegen und aus dieser einige Millionen in die höheren Schichten. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass große Teile der Mittelschicht sich nun gegen die PT gewendet haben und "ihren" Erfolg auf Gottes Gunst und ihre individuelle Leistungsfähigkeit zurückführen statt auf die günstigen ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen unter den PT-Regierungen.

Für Marcos Barreira, Dozent an der Universidade do Estado do Rio de Janeiro, seines Zeichens wertkritischer Analyst und Aktivist, ist die Wahlniederlage der Arbeiterpartei PT in erster Linie hausgemacht: "Der Grund für die Selbstmordstrategie der PT liegt in der systematischen Verwechslung der Popularität des ehemaligen Präsidenten Lula bei den einkommensschwachen, stark konservativen Segmenten der Bevölkerung mit der Vorstellung eines linken Fortschritts."

Nach Barreira hat die PT nie wesentliche linke Aspekte ihres Programms umgesetzt, sondern eine pragmatische, marktkonforme Politik unter dem Label "capitalismo popular" durchgeführt. Die ergänzenden sozialen Maßnahmen im Rahmen der "Bolsa Familia" wirkten eher demobilisierend und führten nicht zur Überwindung der tief verankerten konservativen moralischen Werte und zu einer fortschrittlichen Bewusstseinserweiterung bei den begünstigten ärmeren Schichten. Barreira: "In den Regierungen Lula und Dilma hatten die wirtschaftlichen Eliten und traditionellen Parteien die Hegemonie" ... "Die Regierungen der PT fußten auf einer breiten Koalition, in der die PT tatsächlich nur eine linke Minderheit war, machtlos gegenüber der dominanten politischen Struktur. Der Lulismo war größtenteils eine pragmatische Anpassung der Regierung an das politische System, das durch den Parteikern, der direkt mit Lula verbunden war, gefördert wurde." (Ebd.) Ausgerechnet bei der Wahl 2018, deren Ausgang absehbar die Existenz der brasilianischen Linken gefährden konnte, schwenkte die PT auf einen polarisierenden linken und kulturellen Diskurs um, der in zahlreichen Aspekten der eigenen Parteipraxis widersprach. Das ging an den Segmenten ihrer konservativen Anhängerschaft vorbei und machte es den Gegnern leicht, gegen die "kommunistische Gefahr" und ein angeblich drohendes kulturelles "Sodom und Gomorra" zu polemisieren. Ob ein breites, konservativer ausgerichtetes Mitte-links-Bündnis als "kleineres Übel" Bolsonaros Sieg hätte verhindern können, bleibt offen. Vieles spricht aber dafür. Die überzeugteren Linken haben die PT eh schon lange verlassen und sich in eigenen Parteien und Bündnissen organisiert.

Dass sich der Wahlkampf auf Korruption und Sicherheit zugespitzt hat, verdeckt, dass auch andere Ursachen für die schwierige Lebenslage und die daraus resultierende Wut und Verzweiflung von großen Teilen der brasilianischen Bevölkerung mit ursächlich sind. Wie nahezu überall auf der Welt hat sich die Warenform auch in Brasilien längst verallgemeinert. Ohne individuelles Geldeinkommen lässt sich das Leben nicht mehr bestreiten. Die Arbeitsbedingungen sind ausgesprochen hart und die meisten Arbeitsverhältnisse extrem prekär. Die ökonomische Ungleichheit wächst stetig. Außerdem ist die Bevölkerung ausgesprochen heterogen und von starken gegensätzlichen Interessen bestimmt, die sich aus unterschiedlichen Lebenswelten, Kulturen, Szenen, Gruppen, Lebensstilen, Religionen u.a. in der Regel ergeben. Moderne und vormoderne Lebensweisen koexistieren oder stehen sich konkurrierend gegenüber, Groß- und Kleinfamilien lösen sich ebenso auf wie traditionelle indigene Gemeinschaften. Auch die moderneren Solidarstrukturen verschwinden, ohne dass bessere Alternativen entstehen. Stattdessen breiten sich typische Symptome der Moderne aus: Vereinsamung, Individualisierung, Konkurrenzdenken, Stress und dauerhafte Existenzangst. Die krisenbedingten Verfallserscheinungen drücken sich in allen denkbaren und undenkbaren Formen unmittelbarer Gewalt und der Aushöhlung rechtsstaatlicher Strukturen aus.

Vor diesem Hintergrund und der mehrheitlich wertkonservativen Grundhaltung in Brasilien lässt sich auch der weiter wachsende reaktionäre Einfluss evangelikaler Kirchen verstehen. Für viele Einwohner*innen sind sie zur "festen Burg" geworden, die ein Leben in Geborgenheit, moralischer Integrität und vor allem ökonomischer Prosperität versprechen. Mit dieser Heilsideologie sind die Evangelikalen jedoch selbst Ausdruck einer gesellschaftlichen Modernisierung, die anders als der Katholizismus den Gelderwerb zum erstrebenswertesten menschlichen Ziel und den finanziellen Erfolg zum höchsten Ausdruck von Gottesgefälligkeit machen.

Wie sieht die Zukunft Brasiliens aus?

Das neue Kabinett steht ganz im Geist der sogenannten drei B: "Biblia, Boi e Bala" ("Bibel, Rinder und Gewehrkugeln"). Wie zu erwarten, sitzen vor allem Militärs in den meisten Schlüsselministerien: Bildungsminister wird Ricardo Vélez Rodríguez, emeritierter Professor der Eliteschule für Offiziere. Er soll dafür sorgen, dass moderne, auf klärerische Inhalte aus den Schulbüchern verbannt werden und stattdessen die 21-jährige brasilianische Militärdiktatur, die von 1964 bis 1985 an der Macht war, wieder ins "rechte Licht" gerückt wird. Flankierend sind auch die Rektorate staatlicher Schulen mehr, als es bisher schon der Fall war, mit Militärs und Polizisten zu besetzen. General Augusto Heleno sorgt für innere Sicherheit, General Fernando Azevedo e Silva wird Verteidigungsminister. Das Ministerium für Energie und Minen erhält Admiral Bento Costa Lima Leite, das Ministerium für Wissenschaft und Technologie geht an General Marcos Pontes - ein deutliches Zugeständnis an den militärisch-industriellen Komplex. Regierungssekretär und damit zuständig für die Kommunikation und Koordination zwischen Regierung, Senat und Parlament wird der Militär Carlos Alberto dos Santos Cruz.

Am Kabinettstisch sitzen sich diametral entgegenstehende Vorstellungen gegenüber. Wie werden überzeugte Neoliberale unter der Führung des Superministers Paulo Guedes aus dem Finanzsektor mit den überzeugten Protektionisten zurechtkommen, wie die Zivilisten mit den Militärs? Zu einer Konfrontation zwischen weiblichen Kabinettsmitgliedern und den Supermachos wird es wohl nicht kommen, denn Bolsonaro hat lediglich zwei Frauen ernannt, die ihm bedingungslos folgen werden. Als Repräsentantin der Agrarlobby übernimmt Tereza Cristina das Landwirtschaftsministerium. Sie hat sich u.a. für den massiven Einsatz von Pestiziden stark gemacht, was ihr den Spitznamen "Muse des Gifts" eingebracht hat. Das Ministerium für Frauen, Familie und Menschenrechte, dem auch die Behörde für indigene Angelegenheiten "Funai" untersteht, übernimmt die radikal-konservative evangelikale Priesterin Damares Alves.

Trotz eines gewissen Industrialisierungsgrades (ca. 21 Prozent des BIP) ist Brasilien ökonomisch maßgeblich vom Rohstoff- und Nahrungsmittelexport abhängig. Der Weltmarkt bestimmt die Bedingungen. Ob es zu einem länger tragenden neuen Rohstoff boom kommen wird, ist eher fraglich. Zudem hat Brasilien 321 Mrd. öffentliche und private Schulden, und ca. 6 Prozent des BIP dienen ausschließlich den Zinstilgungen. Bolsonaros klassisch neoliberales Programm ist wenig geeignet, diese Probleme in den Griff zu bekommen und die Lebenssituation der Mehrheit der Brasilianer*innen zu verbessern.

Dass Bolsonaro mit allen Mitteln die sozialen Bewegungen bekämpfen wird, steht außer Frage. Zu welchen darüber hinausgehenden repressiven Maßnahmen er greifen wird, hängt auch vom Widerstand auf den Straßen, im Parlament und im Justizapparat ab. Sollte das Parlament seinen Ambitionen zu sehr im Wege stehen, ist am ehesten mit einem putschistischen Bündnis zwischen Armee, Oberschicht und Teilen der Mittelschichten zu rechnen. Möglich ist ein "Autogolpe" ("Selbst-Staatsstreich") nach dem Vorbild Fujimoris in Peru, durch den Senat und Parlament aufgelöst und ein offen diktatorisches Regime etabliert wird. Bolsonaro hat mehrfach seine Sympathie für Fujimoris Autokratie bekundet. Ein anderes Modell könnte Erdogans Entmachtung des Parlaments ohne dessen Auflösung sein.

Unabhängig vom anstehenden Typ autoritärer Regentschaft, werden Bolsonaros Bündnisse und die stärkere Einbindung von Armee und Polizei, anders als es von seiner Wählerschaft erhofft, die Korruption noch weiter vertiefen und verfestigen. Der Kampf gegen das politische Establishment und dessen Eliten wird alte Eliten wiederbeleben und neue politische Gruppierungen hervorbringen. Auch wird der verstärkte Einsatz von militärischer, polizeilicher und privat organisierter Gewalt die Kriminalität nicht verhindern, sondern nur noch mehr Opfer fordern. Sicherlich wird es gelingen, bestimmte Wohn- und Geschäftsgegenden sicherer zu machen, wodurch das Kriminalitätsproblem allerdings nur in andere Stadtviertel verlagert wird. In den ärmeren Vierteln wird die Bevölkerung nicht mehr nur unter ziviler Kriminalität und der typischen Behördenwillkür zu leiden haben, sondern es wird zusätzlich noch die kriminelle Energie von Polizei und Armee hinzukommen. Das zeigen die Erfahrungen mit den bislang schon militarisierten Favelas mehr als deutlich. Die neu auferlegten Bedingungen haben Kuba genötigt, aus dem Hilfsprogramm "Más Medicos en Brasil" auszusteigen und Tausende Ärzt*innen aus dem Land abzuziehen. Sie waren besonders in den ländlichen Regionen Brasiliens und in einigen Favelas tätig.

Ein größerer kultureller Konflikt hatte sich anlässlich des Karnevals in 2019 angekündigt. Der Bürgermeister von Rio, Marcelo Crivella, ehemaliger evangelikaler Bischof der "Universalkirche vom Reich Gottes", nun mit dem frischen Rückenwind der Regierung, setzte seinen bereits begonnenen Feldzug gegen die Sambaschulen fort und drehte ihnen den Geldhahn weiter zu. Das verhasste bunte Treiben des Carnaval Carioca zu verbieten, hat er bisher nicht gewagt. Die Sambaschulen nutzten die Gunst der Stunde, um anders als bisher üblich kritische und politische Anliegen auf der berühmten Parade im Sambodromo zu präsentieren. Die Diskriminierung von Indigenen und weiteren Minderheiten, die Geschichte der Sklaverei, die Kritik der Ungleichheit, der Korruption und der politischen Aufstiegssehnsucht waren die zentralen Themen. In Anspielung auf Bolsonaro zog unter großem Jubel ein allegorischer Wagen mit monumentalem Ziegenbock und in überdimensionalen Lettern verfasster Aufschrift "Retter des Vaterlands" an den Tribünen vorbei.

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Glanz und Elend des Politisierens

von Meinhard Creydt

Protestanten meinen, sie hätten jeweils als Individuum eine unmittelbare Beziehung zu Gott. Politisierende Menschen glauben, zur Gesellschaft so umstandslos Stellung nehmen zu können, als sei sie ihnen direkt zugänglich. Der politisierende Verstand nimmt die Realität durch die Brille seiner Deutungen wahr. Im politischen Bild von der Gesellschaft geht es häufig um Prinzipien und Werte. "Mehr Gleichheit" sagen die einen, "mehr Freiheit" oder "mehr Nation" die anderen. Und dann lässt sich gewichten wie bei den Zutaten einer Suppe. Ganz Schlaue meinen: "Bei dem, was wie ein Gegensatz aussieht, lassen sich dessen Pole in ein gedeihliches Verhältnis gegenseitiger Steigerung setzen."

Ein Beispiel für die Prinzipien- und Werte-Rede bildet das Motto der "unteilbar"-Demonstration vom 13.10.2018 in Berlin mit 240.000 Teilnehmern: "Für eine offene und freie Gesellschaft - Solidarität statt Ausgrenzung." Der Aufruf wendet sich gegen rechte Umtriebe, stellt dabei jedoch die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht ins Zentrum. Rechten Bewusstseinsformen und den Motiven, die sich in ihnen artikulieren, kommt niemand mit Werten wie "Freiheit" und "Solidarität" bei. Der "unteilbar"-Aufruf artikuliert das Selbstverständnis, man selbst hebe sich positiv von den rechten Unsympathen ab. Sich mit den Ursachen und Gründen für deren Position auseinanderzusetzen oder Vorschläge dafür zu liefern, wie man bei deren Anhängern diese Positionen verändern kann - das ist nicht das Anliegen. Man stellt sich selbst als Vertreter von Freiheit, Offenheit und Solidarität aus und wendet sich gegen Schmuddelkinder, die aus unerfindlichen Gründen diese vermeintlich selbstverständlichen Werte unserer Gesellschaft nicht zu teilen vermögen.

Unter Voraussetzung gesellschaftlicher Widersprüche, der Vereinseitigung der Individuen und der ungleichen Entwicklung ihrer "Anteile" machen die politisierenden Deutungen zwei Angebote: Sie überwinden subjektiv die Intransparenz und Komplexität der Gesellschaft und suggerieren eine Pseudo-Souveränität der Politisierenden. Der "Deutungsfuror" bleibt ein "Stigma der Entmächtigten" (Anders 1993, 81). Die politische Zentralperspektive soll die "blinde enge Teilsicht des in der Schlacht verlorenen Soldaten" (Bourdieu 1982, 699) vergessen lassen. "Die Ablenkung bezieht ihre Energie daraus, dass der Einzelne oder eine unmittelbar in einen kriegerischen Schritt verwickelte Gruppe niemals das Ganze des Krieges wahrnimmt, aber dennoch ein Bedürfnis nach Orientierung in die Produktion eines ganz willkürlichen Gesamtüberblicks eingeht. ... Es wird so getan, als gäbe es eine Perspektive, die auf den Krieg als Ganzes. Genau diese gibt es im wirklichen Krieg nirgends." (Negt, Kluge 1981, 816, 818)

Das politisierende Bild von der Gesellschaft erleichtert es dem vereinzelten Einzelnen, sich trotz seiner Froschperspektive einen politischen Reim auf das gesellschaftliche Geschehen zu machen. Es soll kein Widerspruch zwischen dem Selbstbewusstsein und dem Bewusstsein geben. Zum Selbstbewusstsein des politisierenden Durchblicks gehört ein Bewusstsein, welches das, was es wahrnimmt, so auffasst, dass es sich in ihm wiederzuerkennen vermag. Die politisierenden Deutungen "streifen den rätselhaften Gestalten menschlicher Verhältnisse ... den Schein der Fremdheit ab" (MEW 23, 196). Der Schmerz infolge der wahrgenommenen Realität verliert an Bedeutung angesichts des Gefallens an der eigenen Urteilsmächtigkeit.

Politisieren als Bescheidwissen

Mitglieder der modernen bürgerlichen Gesellschaft stellen sich diese als zusammengesetzt vor aus wirtschaftlichen und technologischen "Sachzwängen" einerseits, politischer "Gestaltung" anderseits. Der normale Bürger zeigt sich eher skeptisch, ob die "politische Gestaltung" viel Spielraum habe vor lauter "Sachzwängen". Die Fans des Politisierens sehen überall Möglichkeiten, auf Grundlage des Bestehenden die Gesellschaft anders zu steuern. Nimmermüde Kommentatoren tadeln allerhand politische Handlungen als "suboptimal" oder als "Fehlentscheidung". Immer schon wusste Der Spiegel seine Leser mit Manöverkritiken zum laufenden Politikbetrieb zu versorgen.

Die entsprechende Lektüre verschafft dem Leser den Genuss, sich politisch auf der Höhe der Zeit zu dünken. Die wirkliche oder vermeintliche Kunde von allerhand Pleiten, Pech und Pannen stärkt das Selbstbild desjenigen, der, durch die Lektüre entsprechender Journale unterstützt, gern unausgeschöpfte Möglichkeiten, nicht genutzte Chancen und einzelne Fehleinschätzungen beanstandet. Die gemäßigt-linke Variante findet sich in den Leitartikeln der Blätter für deutsche und internationale Politik. Albrecht Lucke hat immer einen guten Rat für SPD, Grüne und Linkspartei parat, wie sie es besser machen könnten. Die politische Wirklichkeit kommt dann allein als Abweichung zu den wohlmeinenden Vorstellungen vor, die man für sie hat. "Eigentlich" könnten doch die Beteiligten anders, wenn sie nur richtig wollten und sich an die guten Ratschläge hielten. Wenn dies optimal geschehe, so die linke Variante des Politisierens, könne man auch die kapitalistische Ökonomie durch die Politik steuern, wie der Reiter das Pferd dirigiere.

Der politisierende Verstand kann ein großes Feld von Kennerschaft und Beurteilungsvermögen kultivieren. Eines seiner Lieblingsthemen stellen Taktiken dar. Mit ihnen sollen bestehende politische Lager, Parteien und Organisationen umgruppiert, gespalten und neu zusammengesetzt werden. Die pragmatisch kontraproduktiven Effekte mancher Taktiken sind Thema im politizistischen Diskurs, nicht aber, dass es sich bei Taktiken um die Umverteilung der gegebenen Bestände handelt, die weit entfernt sind von deren substanzieller Veränderung. Auch die bei vielen Linken beliebten Wahlkämpfe "verschlingen viel Energien und bezeichnen eher einen Austausch von Legitimationen als einen politischen Produktionsprozess." (Negt 1980, 156)

In den Kommentaren vieler selbsternannter linker Oppositionsberater kommt die Gesellschaft allein in politisierender Perspektive vor. In ihr bilden häufig die Handlungen das Hauptthema - und zwar aus der Perspektive des Handelnden. Diese aber verhält sich notorisch ignorant gegenüber der Struktur der kapitalistischen Gesellschaft.

Gesellschaftsstruktur des Kapitalismus

Ich gehe im Telegrammstil vier für sie zentrale Momente durch.

• Die kapitalismusspezifischen Trennungen betreffen z.B.
- die Unabhängigkeit und Isolation der Marktakteure voneinander,
- die Dominanz der Nachfrage der vereinzelten Einzelnen nach individuell erwerbbaren Gütern (z.B. Auto) zulasten der kollektiven Nachfrage nach Kollektivgütern (z.B. öffentlicher "Nah"verkehr),
- den gegenseitigen Ausschluss durch Privateigentum,
- die Interessengegensätze zwischen Produzenten und Konsumenten sowie zwischen diesen beiden (z.B. Autofabriken und Autofahrern) einerseits und mittelbar von den problematischen Folgen dieser Produktion und Konsumation Betroffenen andererseits,
- die gegenseitige Verdrängung in der Konkurrenz,
- die Trennung zwischen den Arbeitenden und den Produktionsmitteln.

• Die kapitalismusspezifischen Verselbständigungen betreffen bspw.
- die Verselbständigung des Geldes vor dem Hintergrund der Unabhängigkeit der Marktteilnehmer voneinander und ihres privatinteressiert-instrumentellen Bezugs zueinander sowie der Notwendigkeit, den abstrakten Reichtum nur durch Vermehrung erhalten zu können,
- den Übergang vom Wettbewerb, in dem es um die effizienteste Bewerkstelligung eines bestimmten Arbeitsauftrags geht, zur Konkurrenz, in der die Arbeitsinhalte Mittel zum Erfolg in der Konkurrenz und ihm untergeordnet werden.

• Die kapitalismusspezifischen Widersprüche, die Dynamiken in Gang setzen. Wachstum wird im Kapitalismus nötig, um den durch den geringeren Anteil von lebendiger Arbeit (an den Gesamtaufwendungen für die Produktion) verursachten Fall der Profitrate (als Verhältnis zwischen Mehrwert und insgesamt aufgewandtem Kapital) durch Zunahme der Profitmasse zu kompensieren. Die Nachfrage nach Arbeit muss absolut zunehmen, weil sie relativ (beim einzelnen Produkt) sinkt. Wachstum wird im Kapitalismus nötig als Bewegungsform für diese Widersprüche. Sie werden nicht gelöst, sondern reproduzieren sich auf höherer Stufenleiter. Die Kapital-Akkumulation ist nicht durch Motive der Kapitalisten (z.B. "Gier") zu erklären.

• Die Eigendynamische, selbstverstärkende Prozesse der Selbstreproduktion: "Teufelskreise" bzw. die gegenseitige, positive Verstärkung zweier Momente finden wir im Kapitalismus bspw. zwischen
- der Fokussierung auf das Privateigentum und dem schlechten Zustand der Gemeingüter,
- der Schwächung bestimmter sozialer Motive, Fähigkeiten und Zusammenhänge durch Märkte und der Legitimation von Märkten im Hinweis auf die Schwäche der Sozialität,
- dem Druck der Konkurrenz auf die Konkurrenten und der Verstärkung dieses Drucks durch die Maßnahmen jedes Konkurrenten, sich in der Konkurrenz durchzusetzen. Die Konkurrenten verhalten sich wie auf einer nach unten laufenden Rolltreppe. Sie strampeln, um nicht nach unten abgedrängt zu werden und fördern durch ihr Strampeln die Bewegung der Rolltreppe.

Missverständnisse in puncto Gesellschaftsstrukturen

Gesellschaftsstrukturen resultieren nicht aus der erweiterten Interaktion von Individuen, sondern geben den Rahmen für diese Interaktionen vor. "Die expansive Dynamik der kapitalistischen Produktionsweise kann nicht aus den Absichten ihrer 'Träger' begriffen werden, vielmehr sind diese analytisch auf die strukturdeterminierten Handlungsmöglichkeiten und -imperative zu beziehen. Gesellschaftliche Prozesse vollziehen sich über das Handeln menschlicher Subjekte, gleichsam 'durch ihr Bewusstsein hindurch', ohne deshalb auf Bewusstsein und Intentionalität zurückführbar zu sein." (Koczyba 1979, 184)

Adorno unterscheidet zu Recht Gesellschaftstheorie von einer Geisteswissenschaft. "Die Fragen, mit denen sie sich zu beschäftigen hat, sind nicht wesentlich und primär solche des Bewusstseins oder auch selbst Unbewusstseins des Menschen, aus denen die Gesellschaft sich zusammensetzt. Sie beziehen sich vorab auf die Auseinandersetzung zwischen Menschen und Natur und auf objektive Formen der Vergesellschaftung, die sich auf den Geist im Sinn einer inwendigen Verfassung des Menschen keineswegs zurückführen lassen." (Adorno 1979, 481f.)

Bei den Strukturen der Gesellschaftsformationen haben wir es mit bestimmten sozialen Sachverhalten zu tun, die sich zwar in sinnhafte Erwartungen und andere bedeutungsvolle Bewusstseinsinhalte umsetzen, selbst aber keine darstellen. Gesellschaftsformen sind nicht als Ausdruck von Weltanschauungen oder kollektiven Mentalitäten zu begreifen. "Der Kapitalismus z.B. ist nicht Unternehmensgeist + Profitgier + protestantische Ethik usw., sondern ein Ensemble von gesellschaftlichen Verhältnissen." (Sève 1973, 262) Eine "unmittelbar sichtbare und denkbare Übereinstimmung zwischen ... dem konkreten Individuum und dem Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse" (ebd.) fehlt. Gerade diese Übereinstimmung fingiert das Politisieren mit seinen Deutungen. Gegenüber einer vorschnellen Feier der Kreativität des individuellen Handelns gilt es an den "stummen Zwang der Verhältnisse" (MEW 23, 765) zu erinnern: "Erst müssen wir herausbekommen, über welche Zwänge und Vermittlungen der Einzelne sich als 'soziales Geschöpf der Verhältnisse' reproduziert, erst dann wird die Art und Weise verständlich, in der 'er sich auch subjektiv über sie erheben' (MEW 23, 16) kann." (Ottomeyer 1976, 337f.) Die subjektive Distanz des Individuums zu auszufüllenden Rollen ist nicht mit einer Distanz zu den Gesellschaftsstrukturen zu verwechseln.

Doppelcharakter und Widersprüche

Politisierende linke Oppositionsberater verbleiben oft bei ihrer Frage, was sich ändern kann, auf der Ebene der Auseinandersetzungen sowohl zwischen verschiedenen politischen Parteien und Gruppen als auch in ihnen. Etwas anderes ist die Frage nach dem grundlegenden Widerspruch der kapitalistischen Gesellschaft. Er verläuft zwischen der Verwertung des Kapitals und den dafür nötigen Fähigkeiten, Bedürfnissen, Kooperationszusammenhängen und (Er-)Kenntnissen. Zur Verwertung des Kapitals müssen (subjektive und objektive) Produktivkräfte entwickelt und genutzt werden. Sie beinhalten Potenzen, erfordern Vorleistungen und regen möglicherweise Nachverarbeitungen und Erfahrungen an, die in vielfältige Spannungen zum Verwertungskriterium geraten können.

Die gegenüber der politisierenden Perspektive betonte Aufmerksamkeit für die gesellschaftlichen Strukturen und Formen impliziert nicht die Position, die Strukturen seien ewig und widerspruchslos. Das Widerspruchspaar Produktivkräfte/Produktionsverhältnisse eignet sich als zusammenfassende Formel, wenn Produktivkräfte nicht eingeschränkt werden auf den "technischen Fortschritt". Vielmehr umschließen sie auch "die produktiven Energien, Qualifikationen und Betätigungsansprüche" von relevanten Gruppen in der Gesellschaft (Fleischer 1987, 29). Ich habe in "Wie der Kapitalismus unnötig werden kann" (Münster 2014, 35 ff.) materialiter ausgeführt, welche Gruppen und welche Widersprüche dies gegenwärtig sind bzw. sein können.

Das "Primat der Politik"

Nicht nur Konsumenten von Verschwörungstheorien sind auf der Suche nach Personengruppen, die sich als lenkendes Subjekt des Geschehens dingfest machen lassen. Auch Linke vertreten die These, "die Herrschenden" könnten über die grundlegenden Gesellschaftsstrukturen bestimmen. "Wirtschaftliche Gesetzmäßigkeiten" stellen für Alex Demirovic (Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirates der Rosa-Luxemburg-Stiftung) "Freiheit dar, allerdings die Freiheit einer kleinen Zahl von Menschen, die diese Gesetzmäßigkeiten maßgeblich gestalten und davon profitieren. Wenn die wirtschaftlichen Prozesse Ergebnis von Entscheidungen sind, dann liegt es nahe, diese Entscheidungen zu demokratisieren." (Demirovic 2007, 256) "Wirtschaftliche Gesetzmäßigkeiten", so lesen wir, sind also keine Gesetzmäßigkeiten, sondern ... "Freiheit".

In diesem voluntaristischen Horizont (die einen haben die "Freiheit" schon, die anderen sollen sie sich einfach ... nehmen) lautet dann die Perspektive: Lasst uns den autokratischen und unsolidarischen Willen einer kleinen Minderheit durch den Willen der Mehrheit ersetzen! Daniela Dahn formuliert das so: "Der Auftrag der Sammlungsbewegung (gemeint ist: "Aufstehen" - Verf.) wäre, das Primat der Politik zurückzuerobern." (Neues Deutschland 18.8.2018) Das Wort "zurückerobern" (Dahn) suggeriert die frühere Existenz des "Primats der Politik". Gemeint ist wohl nicht die DDR, sondern eine Vergangenheit, als noch der vermeintlich gute Sozialstaat existierte. Vgl. dazu meinen Artikel "Die Idealisierung der Staatspolitik und des Sozialstaats in der Kritik am 'Neoliberalismus'" (Telepolis 2017, www.meinhard-creydt.de/archives/704). "Primat der Politik" heißt für Sahra Wagenknecht, einzutreten für "risikolose Geldanlagen" mit einer "Rendite", die dem Anleger erlaubt, ein "Vermögen anzusparen" (Berliner Zeitung 4.8.2018), - als ob eine solche Anlageform im Kapitalismus existieren könnte. Da fehlt nur noch die Hoffnung auf Atomkraft ohne Radioaktivität.

Keine Gesellschaftsformation kann auf dem "Primat der Politik" gründen. Das rechtliche, das politische und das moralische Bewusstsein lassen sich erst aus den ihnen zugrunde liegenden gesellschaftsformationsspezifischen Strukturen der Produktions- und Reproduktionsverhältnisse begreifen. Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft, denen Recht, Politik und Moral besonders am Herzen liegen, fühlen sich mit ihnen über die Ökonomie erhaben und nehmen diese als Mittel und äußere Bedingung für die höheren Zwecke wahr. Recht, Politik und Moral gelten dann als Ordnungen, die allem wirtschaftlichen Pragmatismus erst den höheren Sinn sowie Ziel und Form geben - wenn nicht faktisch, so doch "eigentlich". Die Verhältnisse zwischen kapitalistischer Ökonomie und Recht, Politik, Moral und Kultur bilden jedoch die Auf bauordnung der modernen bürgerlichen Gesellschaft. (Für eine Skizze dieser Ordnung siehe www.meinhard-creydt.de/archives/87. Für Literaturhinweise zu vielen auch heute noch lesenswerten Analysen dazu vgl. www.meinhardcreydt.de/archives/75)

Viele Linke bewegen sich in den analysierten und kritisierten Mentalitätsformen ebenso naiv wie affirmativ. Die systematischen Verkehrungen, die den rechtlichen, politischen und moralischen Mentalitäten in der modernen bürgerlichen Gesellschaft eigen sind, immer wieder durchzuarbeiten, um ihnen nicht zu verfallen - das gilt vielen Linken nicht als Aufgabe. Dabei gilt die These, die Menschen können ihre "Lebenslage nur vollständig selbst erkennen, wenn sie die Dinge ohne juristisch gefärbte Brille ... anschauen" (MEW 21, 494), auch für den politisierenden und moralisierenden Verstand. Das Politisieren ist umso beliebter, je weniger der Betroffene ein reflexives Verhältnis zum Politizismus hat, also zum mystifizierten Schein des Politischen. "Der politische Verstand ist eben politischer Verstand, weil er innerhalb der Schranken der Politik denkt." (MEW 1, 402) Viele Kommentatoren und Politikenthusiasten wie Albrecht Lucke schreiben sich selbst das Sorgerecht für den politischen Betrieb zu, der unter den Politikern der parlamentarisch dominierenden Parteien zu leiden habe und bei solch suboptimalem Personal nicht zu voller Form auflaufen könne. Sie sorgen sich um den politischen Betrieb, nicht wegen ihm. Statt einer Kritik am Politischen in der bürgerlichen Gesellschaft finden wir die Zuschreibung, selbst der bessere Politiker zu sein oder wenigstens der optimale Politikcoach.

Die frohe Botschaft vom Primat der Freiheit

Die politisierende Pseudosouveränität meint, in vermeintlicher Unabhängigkeit vom "stummen Zwang der Verhältnisse" (MEW 23, 765) über die Entwicklung der Gesellschaft in aller "Freiheit" "entscheiden" (Demirovic) zu können. Die Politik und die Demokratie der bürgerlichen Gesellschaft verhalten sich zu den mit der herrschenden Arbeitsteilung, der Konkurrenz und den Entwicklungsmaßstäben des abstrakten Reichtums implizierten Spaltungen, Hierarchien und Bornierungen, indem sie "sich auf eine abstrakte und beschränkte, auf partielle Weise über diese Schranken erheben" (MEW 1, 354) und sie für "unpolitisch" bzw. die Demokratie nur äußerlich tangierend erklären.

Den der bürgerlichen Gesellschaft eigenen Formen des politischen Bewusstseins und der Politik sind Momente des Scheins eigen. "Schein" heißt: Etwas real Unselbständiges wird von seinen konstitutiven und reproduktiven Zusammenhängen abgelöst, als unmittelbar und selbständig wahrgenommen. Das solcherart Erscheinende dreht sich in sich selbst ein. "Materialistische Kritik" gilt der "Verblendung der Unmittelbarkeit", die "ideologisch die eigenen Vermittlungen" nicht wahrhaben wolle (Adorno 1970, 384). Politizismus ist der Blick auf die Politik, die ihrem Schein verhaftet bleibt. Ästheten betrachten vieles ästhetizistisch, Technikern gilt allerlei als technisches Problem und Politisierende kommen nicht über die Grenzen der politischen "Perspektive" hinaus.

Handlungstheorie und Politik

Die erscheinende Unmittelbarkeit und Autonomie des Rechts, der Politik und der Moral in der bürgerlichen Gesellschaft gegenüber der für sie konstitutiven "weltlichen Grundlage" resultiert aus deren "Selbstzerrissenheit" (MEW 3, 6). Das Selbst- und Weltverständnis der Individuen ist aus den ihm zugrundeliegenden gesellschaftlichen Strukturen und Formen zu erklären - vgl. Marx' Analyse der Bewusstseinsformen in seiner "Kritik der Politischen Ökonomie". "Es ist ... nicht der Mensch, der sich selbst über die Realität täuscht, es ist die Realität, die ihn dadurch täuscht, dass sie unvermeidlich in einer Form erscheint, die sich dem spontanen Bewusstsein der in der Geschäftswelt lebenden Menschen auf verdrehte Weise zeigt und verbirgt." (Godelier 1977, 170)

Die Auffassung des Individuums als Subjekt seiner Handlungen knüpft an der Praxis der Individuen an, die gesellschaftliche Realität und ihr eigenes Handeln in ihr im Horizont ihres Bewusstseins zu deuten. Dann gilt z.B. Lohnarbeit als "Mittel" des Individuums. Die Teilnahme am Erwerbs- und Geschäftsleben erscheint als Gelegenheit, die eigenen "Chancen" zu realisieren und zu zeigen, "was in einem steckt". Die "Marktwirtschaft" gilt als Ausdruck der Freiheitsidee bzw. als ihre Ermöglichung. Die Spekulation über "die Stellung der Einzelnen zu diesen gesellschaftlichen Verhältnissen, die Privat-Exploitation einer vorgefundenen Welt durch die einzelnen Individuen" (MEW 3, 398) verstellt die Aufmerksamkeit für die Gesellschaftsstrukturen.

Zirkulär ist die populäre Auffassung, "dass unter den existierenden Bedingungen die jetzigen Verhältnisse der Menschen zueinander die vorteilhaftesten und gemeinnützlichsten seien" (MEW 3, 399). Zum Privatinteresse der Teilnehmer am kapitalistischen Erwerbs- und Geschäftsleben gehört die Meinung, sich "der Verhältnisse" zu "bedienen, in die sie als Dienende eintreten. Sie benutzen die Bedingungen, die ihnen fremd gegenübertreten. Ihre Anpassung ist hier eine Funktion ihres partikularen Interessenkalküls, ... ihre Unterwerfung das Instrument zur Verwirklichung ihrer Souveränität als nutzenmaximierender Subjekte. In dieser Hinsicht synthetisiert die utilitaristische Praxis den Zwang zur Anpassung mit der Souveränität einer Funktionalisierung aller Umweltbezüge für privatisierte Interessen und markiert somit eine spezifische Form der Verschränkung von Heteronomie und Autonomie." (Prodoehl 1983, 131) Die Selbstauffassung der Individuen in der bürgerlichen Gesellschaft als ihr individuelles Leben führende Subjekte verdankt sich dieser Verdrehung des Bewusstseins.

Zur Subjektform trägt der Stellenwert bei, den der Wille durch die Verallgemeinerung von Vertragsverhältnissen in der kapitalistischen Gesellschaft gewinnt. Auch die Bewusstseinsformen des Rechts, der Politik und der Moral tragen zur Vorstellung bei, in der kapitalistischen Gesellschaft werde nicht nur mit, sondern aus Willen und Bewusstsein gehandelt. "Auf den verschiedenen Formen des Eigentums, auf den sozialen Existenzbedingungen erhebt sich ein ganzer Überbau verschiedener und eigentümlich gestalteter Empfindungen, Illusionen, Denkweisen und Lebensanschauungen. ... Das einzelne Individuum, dem sie durch Tradition und Erziehung zufließen, kann sich einbilden, dass sie die eigentlichen Bestimmungsgründe und den Ausgangspunkt seines Handelns bilden." (MEW 8, 139) Die Auffassungen, in denen sich das Individuum bewegt, nimmt es als durch ein wie auch immer geartetes "Denken erzeugt hin" und "untersucht es nicht weiter auf seinen entfernteren, vom Denken unabhängigen Ursprung; und zwar ist ihm das selbstverständlich, da ihm alles Handeln, weil durch's Denken vermittelt, auch in letzter Instanz im Denken begründet erscheint" (MEW 37, 97).

In der scheinhaften Autonomie des Politischen ist "beides enthalten, die freie von allem abstrahierende Reflexion und die Abhängigkeit von dem innerlich oder äußerlich gegebenen Inhalte und Stoffe" (Hegel Bd. 7, 66). Im Unterschied zur Ökonomie, welche die höchste Aktivität der Einzelhandlung, aber Passivität dem gesamtwirtschaftlichen Ablauf gegenüber erfordert, ist in der bürgerlichen Gesellschaft in der Politik die Regelung des Allgemeinen gefragt.

Der Politizismus überschätzt notorisch die Bedeutung der Subjekte und ihres Willens. "Bei der Untersuchung staatlicher Zustände ist man allzu leicht versucht, die ... Verhältnisse zu übersehen, und alles aus dem Willen der handelnden Person zu erklären. ... Stellt man sich von vornherein auf diesen sachlichen Standpunkt, so wird man den guten oder den bösen Willen weder auf der einen noch auf der anderen Seite ausnahmsweise voraussetzen, sondern Verhältnisse wirken sehen, wo auf den ersten Anblick nur Personen zu wirken scheinen." (MEW 1, 177)

Die Naturwüchsigkeit und Profitorientierung der kapitalistischen Ökonomie macht eine sekundäre politische Bearbeitung der in ihrer Substanz eigenständigen Ökonomie nötig. Die rechtlichen Rahmenbedingungen und das staatliche Gewaltmonopol sind zu sichern. Der Staat sorgt als Ausfallbürge idealiter für jene Teilmenge des nicht (oder nicht in ausreichendem Ausmaß) kapitalistisch Bereitstellbaren (Infrastrukturen und Sozialleistungen i. w. S.), dessen Mangel die kapitalistischen Geschäfte selbst mittelbar negativ tangieren würde. In der staatlichen Politik geht es weiterhin um Integration und Kursbestimmung des Gemeinwesens. Freiheitsgrade weist das politische Handeln insofern auf, als es verschiedene Einschätzungen geben kann, was ökonomisch-politisch förderlich ist und was nicht. Nicht nur aufgrund der Prognoseprobleme, sondern weil auch "das" einheitliche Verwertungsinteresse sozial nicht existiert, sondern nur als "in sich widersprüchliches Konglomerat von Einzelinteressen" (Wirth 1973, 38). Guenther Sandleben (2011) arbeitet dies in seiner lesenswerten Studie an der deutschen Wirtschaftspolitik zur Bewältigung der Wirtschaftskrise 2007/2008 heraus.

Zudem sorgen die Widersprüche der kapitalistischen Akkumulation für Zielkonflikte. Der Dienst der Politik für die Funktionserfordernisse kapitalistischer Akkumulation ist nicht ("funktionalistisch") mit der Garantie verbunden, dass Politiker das Erforderliche treffsicher identifizieren und effizient in erfolgreiches Handeln umsetzen. Der Politizismus überschätzt die Unterschiede zwischen den verschiedenen politischen Optionen und Varianten - zulasten einer Vergegenwärtigung der übergreifenden und durch systemimmanentes politisches Handeln nicht erreichbaren Gesellschaftsstrukturen.

In Anlehnung an Laclau und Mouffe heißt es: "Die Ökonomie selbst ist ­... ein Kampffeld, das keine anderen 'Bewegungsgesetze' kennt als die, welche einem Feld antagonistischer Kräfte entstammen. Auch der ökonomische Raum konstituiert sich ausgehend von einem politischen Kräfteverhältnis." (Sonja Buckel 2006, 35) Gewiss spricht nichts dagegen, Kräfteverhältnisse zu analysieren. Etwas ganz anderes ist jedoch die These, Gesellschaftsstrukturen und die ökonomische Gesetze des Kapitalismus seien auf "politische Kräfteverhältnisse" zurückzuführen.

"Hauptsache Perspektive"

Der Politizismus ordnet sich als Wille und Vorstellung der Gesellschaft über. "Das Prinzip der Politik ist der Wille. Je einseitiger ... der politische Verstand ist, um so mehr glaubt er an die Allmacht des Willens, ... umso unfähiger ist er also, die Quellen sozialer Gebrechen zu entdecken." (MEW 1,402)

Ein Beispiel: Die grüne Parteistiftung lud Christian Felber letzten Oktober zu einer Veranstaltung nach Berlin ein. Felber vertritt ein "Gemeinwohlökonomie"-Konzept mit einerseits teilweise recht weit gesteckten Zielen und andererseits der Versicherung, überall seien heute schon Projekte in dieser Richtung erfolgreich unterwegs. Die "Gemeinwohlbilanz" - das Kernstück des Konzepts - werde von immer mehr Firmen aufgestellt, so auch von der großen Sparda-Bank. Felber bringt das seine Hoffnungen vermeintlich belegende Beispiel bei jedem Auftritt. Das Entscheidende verschweigt er. Der Sparda-Chef Helmut Lind kürzt aus der "Gemeinwohlbilanz" die kapitalismuskritischen Momente heraus. "In letzter Konsequenz würden sie bedeuten, dass wir auf einen Sozialismus zusteuern sollten. Allen gehört alles. Das ist mir zu extrem, zu dogmatisch." (Lind, zit. n. Winkelmann 2016, 36f.) Der politizistische Projektemacher ist "so ausschließlich mit seinen Hoffnungen beschäftigt, dass ihm nichts, was ihnen widerspricht, jemals wahr, eindeutig und spürbar genug erscheint" (Ben Johnson).

Die grünen Funktionäre, die Felber in Berlin einluden, nehmen zwar die weitreichenden Vorstellungen von Felber nicht ernst, zeigten sich aber befriedigt, dass ein "Mann mit Visionen" viel junges Volk in die Veranstaltung zieht. Was es mit der "Perspektive" genauer auf sich hat, das ist dann nachrangig. Ähnlich wie bei vielen Christen handelt es sich um den "Sieg des Glaubens als seelischer Tätigkeit über den Glauben als inhaltliches Credo" (Anders 1988, 371). Die visions and missions fungieren wie Sonntagsreden. Sie geben denjenigen am Werktag Trost und Sinn, die sich an mehr orientieren wollen als an pragmatischem Handeln.

Die hier skizzierten Elemente des Politizismus sind: Die Werte- und Prinzipienrede, die die Gesellschaftsstrukturen ausblendende Verengung der Aufmerksamkeit auf Handlungen, die Überschätzung politischer Autonomie gegenüber den Zugzwängen der kapitalistischen Ökonomie sowie die fiktive "Perspektive". Der Politizismus praktiziert "eine fortwährende Ablenkung, die nicht einmal zur Besinnung kommen lässt, wovon sie ablenkt" (Kafka).


Literatur

Adorno, Theodor W. 1970: Ästhetische Theorie, Frankf./M.

Adorno, Theodor W. 1979: Soziologische Schriften, Bd. 1, Frankf./M.

Anders, Günter 1988: Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 2, München.

Anders, Günther 1993: Mensch ohne Welt - Schriften zur Kunst und Literatur, München.

Bader, Veit Michael; Berger, Johannes; Ganßmann, Heiner u.a. 1976: Einführung in die Gesellschaftstheorie, Bd. 1, Frankf./M.

Bourdieu, Pierre 1979: Die feinen Unterschiede, Frankf./M.

Buckel, Sonja 2006: Neo-Materialistische Rechtstheorie, in: Dies., Ralph Christensen, Andreas Fischer-Lescano (Hg.): Neue Theorien des Rechts, Stuttgart.

Demirovic, Alex 2007: Wirtschaftsdemokratie, in: Ulrich Brand, Bettina Lösch, Stefan Thimmel (Hg.): ABC der Alternativen, Hamburg.

Fleischer, Helmut 1987: Ethik ohne Imperativ. Zur Kritik des moralischen Bewußtseins, Frankf./M.

Godelier, Maurice 1977: Perspectives in Marxist Anthropology, New York.

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Werke. Hg. v. Eva Moldenhauer, Karl Markus Michel, Frankf./M. 1970.

Hindess, Barry; Hirst, Paul 1981: Vor kapitalistische
Produktionsweisen,
Frankf./M.

Koczyba, Hermann 1979: Widerspruch und Theoriestruktur, Frankf./M.

Negt, Oskar 1980: Alternative Politikformen als politische Alternative?, in: Roland Roth (Hg.): Parlamentarisches Ritual und politische Alternativen, Frankf./M.

Negt, Oskar; Kluge, Alexander 1981: Geschichte und Eigensinn, Frankf./M.

Ottomeyer, Klaus 1976: Antikritisches zu Rainer Paris, in: Gesellschaft - Beiträge zur Marxschen Theorie, Bd. 8/9, Frankf./M.

Prodoehl, Hans Gerd 1983: Theorie des Alltags, Berlin.

Sandleben, Guenther 2011: Politik des Kapitals in der Krise. Eine empirische Studie, Hamburg.

Sève, Lucien 1977: Marxismus und Theorie der Persönlichkeit, Frankf./M.

Winkelmann, Marc 2016: Auf's Ganze, in: Enorm - Wirtschaft. Gemeinsam. Denken. 7. Jg., H. 1, Hamburg.

Wirth, Margaret 1973: Zur Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus, in: Prokla, H. 8/9.

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Rezens

Friederike Habermann: ausgetauscht!
Ulrike Helmer Verlag 2018, 176 Seiten, ca. 20 Euro

Es ist eine Stärke von Habermanns Büchern, dass sie in einer unakademischen, schnörkellosen Sprache Engagement mit Theorie verbindet. Das eine führt sie zum andern. Auf der ersten Seite spricht eine junge Frau, bewacht von zwei Polizisten, nach einer Räumung im Hambacher Forst fürs Schlägern für Braunkohletagbau. Sie spricht vom "lebenden Wesen" Baum, auf dem sie mit den Freunden gewohnt hat. Und dass die Polizisten "den Wald genauso brauchen" wie sie, hinter ihnen aber "ein Konzern ohne Zukunft" steht. Sie sind "Lohnarbeiter*innen. Und sonst nichts." Das Buch endet mit derselben Frau, die "Kraft verströmt", "weil sie Widerstand leisten konnte", "Beziehung" zum Wald und "Solidarität" der Freunde, "Resonanz" erlebt hat und lebt.

Dazwischen werkt Habermann ausführlich mit ihrem Theoriebaukasten. "Subjektfundierte Hegemonietheorie" nennt sie das Sortiment. Die Welt "verschieden interpretiert" zu haben, ist gewiss nicht ihr Ziel, "es kömmt" auch ihr "drauf an sie zu verändern". Sie will dartun, was das Herz der herrschenden Lebensweise, die "Tauschwertlogik", das Geld also, mit uns Menschen macht.

Das Buch polemisiert nicht. Es greift auf, was für das Anliegen erhellend erscheint. So wird H. Rosas "Resonanz" als Gegenbegriff zur Entfremdung herausgestellt, werden M. Postones Kritik der Arbeit und ihrer Herrschaft über die Menschen, E. Hartmanns "Spielregeln der Globalisierung" oder U. Brands und M. Wissens "imperiale Lebensweise" ins Treffen geführt. Und wo die AutorInnen es nicht getan haben oder zu tun wagten, spitzt Habermann zu, was sich aus deren Analysen ergibt: Auf dem Weg zu einem guten Leben für alle sollte "ausgetauscht!" eine Art Losung sein.

L.G.

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Politik

Zur Kritik eines bürgerlichen Formprinzips (1995)

von Franz Schandl

Normalerweise geht es in einem Artikel über Politik um eine bestimmte Politik. Diese wird begründet und erklärt, kritisiert oder verworfen. Ganz anders in diesem Beitrag: Er beschäftigt sich mit dem gesellschaftlichen Formprinzip der Politik schlechthin, stellt also nicht einer Politik eine andere gegenüber, sondern stellt diese selbst in Frage. Kurzum, die Gesellschaftskritik kann sich heute nicht mehr darauf beschränken, diese oder jene Politik zu kritisieren und eine andere einzufordern, sondern sie hat zu einer Kritik der Politik als Formprinzip der Moderne vorzudringen. Fälschlicherweise wird nämlich davon ausgegangen, dass es Politik immer gegeben hat, sie parallel zur menschlichen Gesellschaftlichkeit laufe. Politik wird dahingehend als abstrakt-ontologische, nicht konkret-historische Bedingung angesehen. Wahr ist vielmehr, dass Politik - auch wenn sie wie andere Termini des öffentlichen Bereichs aus der Antike entnommen ist - ein Phänomen der kapitalistischen Moderne ist. Ebenso wenig wie der Staat als die gesellschaftliche Allgemeinheit verstanden werden kann, sondern nur als eine, ist die Politik nicht die gesellschaftliche Verallgemeinerung, sondern nur eine. Die bürgerliche nämlich.

Wie halt so oft: Nicht alles, was geläufig ist, ist auch ewig. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war das Wort "Politik" in unseren Breiten noch weitgehend unbekannt. Bei Kant und Hegel etwa kommt dieser Terminus erst embryonal vor. Politik als Begriff machte im deutschen Sprachraum frühestens mit und nach 1848 Karriere. Eine systematische Kategorisierung wurde erstmals von Max Weber vorgelegt.

Definitionsversuche

Dieser schreibt: "'Politik' würde für uns also heißen: Streben nach Machtanteil oder nach Beeinflussung der Machtverteilung, sei es zwischen Staaten, sei es innerhalb eines Staates zwischen den Menschengruppen, die er umschließt." (Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie (1922), Tübingen, 5. Aufl. 1972, S. 822) Gemeinhin versteht man als Politik den in bestimmte Körperschaften übersetzten Willen des gesellschaftlichen Souveräns, deren Handeln im engeren und weiteren Sinn. Politik setzt somit Willen und Entscheidung voraus, ist Folge selbstbestimmter Überlegungen.

Wir halten diesen Konsens nicht nur für verkürzt, sondern für falsch. Er verwechselt in der Politik nämlich Willensinhalt und Äußerungsform. Er überbetont das Wollen und vernachlässigt das Können. Politik wird hier zum Ideen- und Interessenswettstreit, zu einem Spiel verschiedenster Anschauungen und Vorhaben. Doch das ist Politik, wird sie tätig, ist sie mehr als Absicht und Proklamation, nur in äußerst bescheidenem Ausmaße.

Politik ist umgekehrt vielmehr die staatliche Pragmatik der gesellschaftlichen Notwendigkeiten. Die staatsbürgerliche Freiheit besteht in nichts weniger als in der Einsicht ebendieser.

Das klingt so nüchtern, wie es ist. Aber nur dieser Standpunkt lässt in der Entpolitisierung mehr erkennen als einen bloßen Verlust der Ideale. Die diversen Ideologien sind unabhängig von ihrer ursprünglichen Herkunft zu dechiffrieren als das stets schwächer werdende Kontrahieren um die sie antreibenden Kräfte. "Die Ideologie der Ideologielosigkeit, d.h. der nunmehr stummen, blinden, voraussetzungslosen Übereinstimmung mit den bereits ausgereiften Fetisch-Kriterien der Moderne wurde jetzt zeitgemäß." (Robert Kurz, Das Ende der Politik. Thesen zur Krise des warenförmigen Regulationssystems, Krisis 14 (1994), S. 87) Nach der Phase der Repulsion befindet sich das gesamte politische System heute in jener der Attraktion. Seine Besonderheiten werden als Absonderlichkeiten liquidiert. Kein Aufruf zur Reideologisierung wird daran mehr etwas ändern.

Dieser berauschend bürgerliche Blick der Politik, der sein höchstes Ideal übrigens in der Politikverehrung der Arbeiterbewegung fand, wird zusehends destruiert. Frägt sich nur, ob man diese Entpolitisierung der Politik beklagen sollte, oder ob man diese Rückführung, ihr Reinwerden nicht denn doch einer anderen Beurteilung zuführen könnte.

Verwaltung statt Gestaltung

Auch auf höchster Ebene ist Politik Verwaltung, nicht Gestaltung. "Wer Politik treibt, erstrebt Macht" (Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 822), ist so bloß hartnäckiger Schein. Politik ist eben nicht praktizierte Staatsbürgerkunde, sondern Über- und Umsetzung gesellschaftlicher Notwendigkeiten, die bestimmten Basislogiken und darauf aufbauend Basisbewegungen folgen, in die Sprache des Geldes (Budget) und des Rechts (Gesetzgebung). "Die 'Politik' kann ihrem Wesen nach nicht die 'Gestaltung' der menschlichen und natürlichen Ressourcen organisieren, obwohl sie die Sphäre der direkten gesellschaftlichen Kommunikation ist; aber diese Kommunikation ist nicht 'frei' und nicht offen, sondern eingesperrt in die blinden Codierungen der Warenform und ihrer 'Gesetze', die als bewusstlose Quasi-Naturgesetze der 'zweiten Natur' allen bewusst gestalteten, juristischen Gesetzen der staatlich-politischen Sphäre immer schon vorgelagert sind." (Robert Kurz, Das Ende der Politik, S. 95)

Politik ist jenes Medium, das die gesellschaftlichen Ergebnisse und Resultate in rechtliche und budgetäre Formen gießt, natürlich auch Korrekturen vornimmt, kurzum ein Ausloten der Möglichkeiten rundum die Notwendigkeiten. Diese Möglichkeiten verlassen jedoch nie den vorgegebenen Rahmen der Notwendigkeiten, können ihn nicht sprengen. Politik kann nur leisten, was Ökonomie zulässt, wobei die Ökonomie sich natürlich noch viel mehr leisten würde, würde die Politik es zulassen. Politik ist jedenfalls kein Prinzip, das über die Ökonomie hinausgeht: "Die 'Politik' wird jetzt immer offener und eindimensionaler zur Wirtschaftspolitik. Wie in den vormodernen Gesellschaften alles und jedes religiös begründet werden musste, so muss nun alles und jedes ökonomisch begründet werden. Man sollte nur einmal zuhören, wie das Wort 'Marktwirtschaft' im Munde der versammelten historischen Idioten seit 1989, vom US-Präsidenten über deutsche Grüne bis zu russischen Ex-Kommunisten einen liturgischen Klang annimmt." (Ebd., S. 88)

Politik ist das Ein- und Auspendeln gesellschaftlicher Möglichkeiten auf der Ebene der aktuellen kapitalistischen Verwertungsbedingungen. Die Entideologisierung verdeutlicht nur, dass diese sich immer direkter und nackter durchsetzen, den Schein der Weltanschauung ganz einfach nicht mehr zulassen können.

Staatlicher Reinterventionismus

Politik ist die allgemeinste Form des staatlichen Reinterventionismus. Reinterventionismus deshalb, weil dieser primär reaktiv, nicht aktiv vollzogen wird. Politik folgt der Gesellschaft, nicht umgekehrt. In den unterschiedlichsten Ausformungen eines akzentuierten Wollens (Parteien, Verbände, Bewegungen etc.) fluktuiert sie stets um die realfiktive gesellschaftliche Gesamtnotwendigkeit. Politik, in welcher Weise auch immer, ist nichts anderes als die Festsetzung von geringfügigen Abweichungen gesellschaftlicher Vorgaben. Dieser Umstand kommt heute immer mehr zu sich, wurde bisher allzusehr durch die Scheindominanz verschiedenster Ideologien verschleiert. Politik kann als Form gar nicht "grundsätzlich" oder "prinzipialistisch" sein, sie ist a priori Kompromiss.

Politik ist wesensmäßig Zusammenfindung, nicht Trennung. Die ideologischen Ansätze, die letztere nahelegen, sind der Politik vorgelagert, ohne sie jemals ersetzen zu können. Heute erscheint das deutlicher denn je. Lassen wir politische Absonderlichkeiten wie den Obskurantismus und das Sektenwesen beiseite - deren Politik kommt ja letztlich nie durch eine Praxis zu sich, bleibt rein deklamatorisch -, dann sind politische Differenzen überhaupt nichts anderes als verschiedene Umschreibungen von normativen gesellschaftlichen Zwängen.

Das Tun des Politikers ist ein Können, kein Wollen. Mehr Fertigkeit denn Handlung, mehr Handwerk denn Kreation. Instinktiv haben die meisten Politiker das auch begriffen, selbst wenn das Subjekt die deutliche Kapitulation vor den Verhältnissen nicht reflektieren will, bzw. sie gar offen eingesteht. So ist es auch verständlich, dass der Durchschnittspolitiker, der oft aus durchaus idealistischen Motiven in die Politik eingetreten ist, meist zu einem abgeklärten und zynischen Typus Mensch wird. Es ist die unreflektierte Ohnmacht, die er empfindet, und doch nicht wahrhaben will. Freiheit und Gewissen, zumindest wie er sie zu denken gelernt hat, sind somit Schimären, Einbildung, nicht Wirklichkeit. Das obligate Politikerschicksal lässt sich so beschreiben: Sie müssen sich dümmer stellen als sie sind, bis sie wirklich so dumm sind, wie sie sich stellen.

Es gibt jedenfalls keinen Grund, die Politiker als gesellschaftliche Ausnahmeerscheinungen vorzuführen, sie gleich Outlaws für vogelfrei zu erklären. Dahingehend ist auch der Begriff der "politischen Klasse", wie ihn der moderne Soziologismus prägte und die Journaille aufgriff, ein Unbegriff. Bei Politikern ist nur leichter sichtbar, was woanders in viel stärkerem Ausmaße passiert. Das Problem der Politiker ist primär jenes: Sie stehen hinter einer Glaswand, sind nicht unter der Tuchent. Und flüchten sie dorthin, liegt bald ein Journalist dabei, stierend investigierend.

Form und Inhalt

In der gegenwärtigen Politik minimieren sich die Inhalte der Differenzen. Die wahren Differenzen, die keine wirklichen mehr sind - eben weil, obwohl wahrnehmbar, sie nichts qualitativ Unterschiedliches bewirken -, inszenieren sich in Äußerlichkeiten. Politik wird immer reiner, klärt sich auf in der Normierung und Realisierung der sogenannten Sachzwänge, die freilich nichts anderes sind als Systemzwänge. Durch die weitere Globalisierung der Weltwirtschaft werden die Vorgaben immer deutlicher spürbar und die Handlungsspielräume einzelner Staaten oder gesellschaftlicher Gruppen geringer. Die relative Autonomie der Politik wird noch weiter relativiert.

Der herausgehobene Charakter des Formprinzips Politik verlöscht, es ist immer weniger als gesellschaftliche Repulsion wahrnehmbar, seine Kontraktionen werden schwächer. Vor diesem Hintergrund müssen formale Differenzen in Stil und Design, in Sakko und Bluse natürlich an Bedeutung gewinnen. Politiker sind kaum noch an ihren Ausführungen zu unterscheiden, dafür umso mehr an ihren Aufführungen. Nur führen sie sich nicht selbst auf, sondern werden aufgeführt. Die Medien sind Bühne und Politiker haben zu tun, was ihnen vorgeschrieben und eingesagt wird.

Die Form frisst den Inhalt. Je mehr letztere verfällt, desto mehr steigt erstere auf. Es handelt sich dabei keineswegs um notwendige Entsprechungen und Spannungen von Inhalt und Form, sondern um einen schlichten Verdrängungsprozess. Dort, wo der Inhalt kaum noch ein Problem darstellt, verlagert sich das Interesse auf die Form und die Formvollendung. Politisch wird nachvollzogen, was in der Ökonomie analog Folgendes bedeutet: Die Verwertung ist blind gegenüber dem Gebrauchswert (Inhalt), sie dimensioniert sich nach dem Tauschwert (Form).

Wahlen transzendieren zu Modeschauen und Hungerkuren. Medientraining, Schminkkurse und Fitnesscenter verdrängen inhaltliche und strategische Überlegungen, oder gar noch besser: sind dieselben. Politik verkommt im ausgehenden bürgerlichen Zeitalter zu einem Supermarkt. Ähnlichste Sortimente prostituieren sich vor ihren Konsumenten. Verkleidung ist wichtiger als Inhalt, denn gut verpackt ist halb gewonnen. Menschen verschwinden hinter Masken. Was interessiert und zu interessieren hat, ist die reine Oberfläche. Alles, was darunter ist, fadisiert. Und zu Recht, erkennt man die grundsätzlichen Differenzen als nichtig.

Stimmungsmaximierung

"Das übergreifende Moment ist die zunehmende Selbstauslieferung der 'Politik' an die selbstläufigen ökonomischen Kriterien." (Ebd., S. 98) Die immer stärker sich abzeichnende Vermarktwirtschaftlichung der Politik, ihr Entschlacken von weltanschaulichen Beigaben und Resten ist eines der auffälligsten Phänomene der Epoche. Und doch stellt sich damit die Frage, ob Politik sich damit entpolitisiert - so unser bisheriger Befund, oder ob Politik damit nicht vielmehr zu sich kommt - so die gewagtere These. Lässt erstere von links bis rechts nur den Verfall der festen Wertvorstellungen beklagen, so ermöglicht letztere doch ganz andere Einsichten über die strukturellen Gemeinsamkeiten aller Politiken.

Marktwirtschaftliche Politik bedeutet Zwang zur Stimmenmaximierung, die nichts anderes als Stimmungsmaximierung sein kann. Es geht nicht um den kontinuierlichen Aspekt eines Produkts, sondern um den Verkauf zum richtigen Zeitpunkt. Politik wird gerade durch die Dimensionierung der Werbung und die daraus sich noch verstärkende Unterordnung des Inhalts unter die Form indiskret wie jede andere Ware.

Wenn es der Fall ist, dass viele Menschen sich erst in den letzten Tagen, ja Stunden vor der Wahl oder gar in der Wahlzelle entscheiden, so sagt dies ja nur aus, dass das Wahlverhalten immer weniger von Überzeugung oder Bewusstsein getragen wird, sondern von Stimmungen. Wer versetzt den Wähler in die augenblicklich richtige Stimmung, wer kann ihm im richtigen Moment an? Darum geht es.

Taktizismus

Die Handlungsbedürftigen sind so bloß Ausführungsbedienstete - denn wenn sie gegen bestimmte Stimmungen entscheiden, dann drückt sich das in den Stimmen aus. Und wenn die Stimmen nicht mehr stimmen, dann ist es um die Politiker meistens geschehen. Politik hat dahingehend einen immanenten Hang zur Taktik, ihre Interessen sind geleitet von kurzfristig zu erreichenden Erfolgen.

Die heutige Politik - und auch darin manifestieren sich ihre Grenzen - ist taktizistisch geprägt. Taktizismus meint, dass der Politik insgesamt langfristige Ziele und Überlegungen abhanden gekommen sind, sie sich immer ausschließlicher auf den Augenblick konzentriert. Sie bewältigt Situationen, nicht Problemlagen. Erfolg ist nur noch, was unmittelbar folgt. Die Strategie wird somit reduziert auf die Aneinanderreihung taktischer Schachzüge, sie folgt keiner bewussten Logik, ist horizontlos. Es ist in ihr und mit ihr kein spezifisches Ziel auszumachen, das sich in der Substanz von der heutigen Gesellschaft unterscheidet.

Dort, wo es bloß um Wählerstimmenmaximierung geht, müssen Inhalte und Formen der Politik sich ebenfalls angleichen, ideologische Versatzstücke immer mehr in der Versenkung verschwinden. Die Wahlstrategie ist die Abschaffung der Strategie überhaupt, sie ist Taktik pur, die sich bloß von Stimmenfang zu Stimmenfang hantelt.

Der Stammtisch

Die Durchschnittsbürger sind in ihrem Reflex gegen die Etablierten nicht oppositionell, sie sind vielmehr renitent. Ihre Aversionen sind nicht spezifisch, sondern diffus, reproduzieren sich primär nach den vorgelegten Fährten der Demagogen. Damit das bürgerliche Individuum auf Propaganda anspricht, muss es aber dementsprechend vorstrukturiert sein. Ansonsten müsste es ja von der Television bis zu den Zeitgeistmagazinen, vom Boulevard bis zum Hörfunk andauernd in subversives Gelächter ausbrechen. Es tut es nicht, es ist anders programmiert. Dummheit, hier verstanden als die sinnliche Übereinstimmung mit dem Schein der Welt, konsumiert es nicht selektiv, sondern in vollen Zügen.

Der österreichische Stammtisch ist gefährlich. Seine Mentalitäten sind schlimmer als sämtliche Politiken. Seine Wurzeln liegen jedoch nicht primär in der ideologischen Manipulation oder medialen Verführung, sondern in den Arbeitsbereichen der Menschen. Nach wie vor vermitteln Produktionshalle und Büro ein Klima von Hierarchie und Entsolidarisierung, Leistungsdruck und Konkurrenz, selbst wenn die Methoden der Formatierung subtiler geworden sind. Die verinnerlichte Entfremdung der abstrakten Arbeit, der Zwang, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, prägt die Menschen. Autoritätshörigkeit, Ausländerhass und Denkfeindlichkeit sind Ausdruck dieses Alltags.

Gerade deswegen ist auch jede Aufklärung - deren Notwendigkeit wir natürlich nicht in Abrede stellen wollen - beschränkt, ist eine konstituierte und konsolidierte Einsicht nur mit einer anderen Aussicht herstellbar, nicht mit pädagogischen Kniffs. Allzuoft erweisen sich die Gegensteuerungen als machtlos gegenüber den Zwängen des Alltags. Seine Diktatur ist die eigentliche.

Es ist Abschied zu nehmen von dem banalen Gedanken, dass Politiker und Funktionäre gutwillige Wähler malträtieren und verführen. Wobei hier aber auch nicht umgekehrt des Volkes Stimme, der obligate Mann auf der Straße, die personifizierte Ausgabe des gesunden Menschenverstands als der die Politik bestimmende Bösewicht zu entlarven ist. Auch er oder sie sind nicht mehr als typologisierte Monaden der gesellschaftlichen Bedingungen, von denen sie partout nicht abstrahieren können, andererseits aber in völliger Verkennung ihrer geistigen Potenz und gesellschaftlichen Situation davon ausgehen, dass die Rezepte eigentlich einfach sind: Arbeiterkammer-Gehälter runter!, Ausländer raus!, Mörder aufhängen! etc., so die dunkelsten Verdichtungen der gemeinen Ganglien.

Die relative Abgehobenheit der Regierenden von ihrem Volk ist daher mehr zu loben als zu kritisieren. Außer in Ausnahmesituationen gilt es sich immer vor Augen zu halten: Die sogenannten Herrschenden sind progressiver als die Beherrschten. Gegenüber dem Stammtischgeraunze gilt es festzuhalten: Die Politiker sind die besten Politiker wie die Installateure die besten Installateure sind. Oder mit Karl Kraus: "Größere Kretins als unsere Staatsmänner sind wir doch selbst." (Karl Kraus, Die letzten Tage der Menschheit (1926), München, 6. Aufl. 1979, S. 321)

Regieren als Reagieren

Der demokratische Parlamentarismus lenkt gerade dadurch, dass er für alle so offensichtlich Entscheidungen fällt, Gesetze beschließt, Geld verteilt, immer wieder alle Wünsche, Begierden und Kritiken an seine Adresse. Er wird als die Instanz gesehen, bei der interveniert werden kann. Wir müssen insofern von einer grenzenlosen Überschätzung der politischen Sphäre sprechen. Sie dient als der falsche Reibebaum gesellschaftlicher Interessen, ihre Allzuständigkeit ist rein fiktiv.

Regieren kommt jedenfalls von Reagieren. Auch wenn das etymologisch nicht stimmt, chronologisch ist es richtig. Die Probleme, die auf die Politik zukommen, hat sie in den seltensten Fällen selbst gemacht, aber weil sie diese verwaltet und da und dort mit einem Gesetz, mit einer Förderung, mit einem Appell einspringt, sieht es so aus, als sei sie die Urheberin, als sei etwa die ökologische oder die soziale Misere Folge von Umwelt- und Wirtschaftspolitik und nicht Folge kapitalistischer Produktionsverhältnisse.

Dadurch, dass Politik die Gesellschaft moderiert, erscheint sie als wahres Zentrum, gar als jenes, das eigentlich die Gesellschaft leitet. "Noch heute wird gesellschaftliche Integration oder Lösung aller anderswo nicht lösbaren Probleme zentral von der Politik erwartet." (Niklas Luhmann, Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen?, Opladen, 3. Aufl. 1990, S. 168) Die sich wiederholenden Enttäuschungen, die die Politik dann liefert, gründen darauf, dass man ihr und sie sich selbst permanent eine Lösungskapazität bescheinigt, die sie ganz einfach nicht hat. Sie kann nicht, was sie verspricht. Aber sie muss versprechen, was sie nicht kann.

Auch der Einwand, dass woanders Entscheidungen getroffen werden, die eigentlich de jure nur dem Parlament zustehen, geht in die Irre, weil er den Charakter des Parlaments als demokratische Vollzugsmaschine vorgelagerter Zwänge nicht erkennen will, sondern einen hehren Demokratismus gegen den realen behauptet. Eine wahrhafte Demokratie wird der wirklichen Demokratie gegenübergestellt, die österreichische Demokratie lediglich als "Torso" (Sonja Puntscher-Riekmann, Die österreichische Demokratie. Ein Torso, Impuls Grün, Nr. 5 + 6/90, S. 2) begriffen.

Diese Sicht verstellt freilich jede emanzipatorische Kritik an Demokratie und Parlamentarismus, weil sie die Ausformung der Demokratie als deren Deformierung, nicht als deren Verwirklichung auffasst. Es ist geradezu ein Kennzeichen der westlichen Demokratie, dass die wichtigsten Entscheidungen nicht im Parlament fallen. Dieses ist primär dazu da, diese nachträglich oder vorsorglich zu legitimieren. Wobei schon das Wort "Entscheidungen" eine Übertreibung darstellt, unterstellt es doch, dass etwas ausgeschieden werden kann, während andererseits etwas bewusst befürwortet wird. Dies trifft jedoch bei den gesellschaftlichen Verwirklichungen nicht zu. Was das Subjekt verwirklicht und wofür es sich entschließt, ist weitgehend von seinem Willen unabhängig, ist vielmehr bedingt durch die sich in Möglichkeiten übersetzenden gesellschaftlichen Notwendigkeiten.

Was sich im Parlament realisiert, kann gar nicht dort geschaffen werden. Politik justiert nur Nuancen gesellschaftlicher Zwänge, verteilt um, schwächt ab oder fördert. Sie ist im wahrsten Sinne des Wortes dazu angehalten, die Bedingungen der Kapitalverwertung einerseits zu garantieren, andererseits die ökologisch bedenklichsten und sozial unverträglichsten Entwicklungen abzustellen oder zu mildern. Auch gegen das direkte Interesse dieses oder jenes Kapitals. Dies gleicht natürlich einem Eiertanz, bei dem die Politik immer hintennach ist, in ein Fettnäpfchen nach dem anderen tritt, an der Komplexität der Detaillösungen oft verzweifelt und außerdem noch die medialen Prügel bezieht.

Politikverdrossenheit

Die Krise der Parteienform, die sich natürlich am deutlichsten bei den Großparteien äußert, ist Folge der Krise der Politik, nicht umgekehrt. Nicht die Parteien stürzen die Politik in die Verdrossenheit, sondern das Formprinzip Politik verfault an seinen Instrumenten. Heute muss man sich freilich die Frage stellen, ob die passive und massive Verweigerungshaltung von immer mehr Menschen nicht doch auch progressive Momente in sich birgt. Ob nicht gar das Bejammern der Politikverdrossenheit in Wirklichkeit reaktionärer ist als diese selbst.

Dahingehend hat die allgemeine Politikverdrossenheit neben ihren konjunkturellen Schwächen - sie weiß keine Antworten auf die anstehenden Probleme der Zeit, aber das wissen auch etablierte und oppositionelle Kräfte nicht, nur geben diese es nicht zu - auch strukturelle Stärken. Sie hat nämlich instinktiv erkannt, dass mit Politik heute kaum etwas zu ändern ist.

Fast alles, was die Demokratie trägt (im Sinne jetzt von beinhalten wie konstituieren), ist in Verruf gekommen: Parteien, Politiker, Bürokratien, der Parlamentarismus, die Gesetzgebung, der Proporz. Bejaht, und das dafür umso frenetischer, wird lediglich die leere Hülle, das Füllwort, indem sich nun aber nichts mehr befindet. Diese Kritik ist antidemokratisch, aber nicht in einem progressiven Sinn, sondern in einer reaktionären Variante, die davon ausgeht, man könnte Demokratie von ihren gesellschaftlichen Inhalten säubern, jene jedoch gleichzeitig erhalten, ja verbessern. Ein solcher Kampf gegen den Parlamentarismus und seine Ausformungen, da hat Hans Kelsen (Der Staat als Integration, Wien 1930, S. 82) schon recht, ist nichts anderes als ein Kampf gegen die Demokratie.

Das Verquere an der aktuellen Situation ist nun, dass in einer Zeit, wo die Demokratie sich selbst destabilisiert, weil destabilisieren muss, die subjektiven Träger alternativer Ansätze gerade zu ihrer Rettung antreten, sich nicht überlegen, was nachher kommt, sondern wie sie die Form erweitern können. Um uns nicht misszuverstehen: "Niemand wird die historische Notwendigkeit der Demokratie und ihre große Bedeutung für ein Hinauskommen über die Enge der ständischen Agrargesellschaft bestreiten. Aber auf diesen Lorbeeren kann sich die Menschheit nicht für immer zur Ruhe setzen. Dass die Demokratie selbst, wie ihr Name schon sagt (Volks-Herrschaft), nur die bisher modernste Form der Diktatur einer zwanghaften gesellschaftlichen Form über die Entwicklung menschlicher Bedürfnisse und Beziehungen ist, kann das absolut in dieser Form befangene demokratische Räsonnement nicht einmal im Traum realisieren." (Robert Kurz, Die Demokratie frisst ihre Kinder; in: Rosemaries Babies. Die Demokratie und ihre Rechtsradikalen, Unkel/Rhein und Bad Honnef 1993, S. 14)

Demokratie und Emanzipation

Die bürgerliche Demokratie ist nicht mehr entwickelbar, sie ist vielmehr ein Auslaufmodell, das die besten Zeiten hinter sich hat. Der unerträgliche Promi-Kult verdrängt die letzten Inhalte, aber er verdrängt etwas, wo es schon nichts mehr zu verdrängen gibt, seit sich der Typus der Volkspartei endgültig durchgesetzt hat. Die bürgerlichen Politiken, die rechten und die linken, lösen sich auf, weil es um nichts mehr geht außer Nuancen. Die Differenzen sind inszeniert, ein mediales Spektakel, nicht mehr.

Wobei natürlich nicht verschwiegen werden soll, dass für das einzelne Individuum diese Nuancen der Parteiungen sehr wohl elementaren Charakter annehmen können. In unserem Beitrag geht es aber darum, das bisher vernachlässigte Integrative zu betonen, nicht so sehr sich noch einmal an den sekundären Differenzen abzuarbeiten. Die Politiken von rot und schwarz, grün und braun, können dahingehend nicht als bloßes "Einerlei" bezeichnet werden, so gleich sie in ihrer Struktur auch sind.

Klar sein sollte: Keine Demokratiereform erweitert mehr die realen Möglichkeiten der Menschen. Die direktdemokratischen Ergänzungen sind populistische Überspitzungen der parlamentarischen Demokratie. Sie sind Zeichen der Krise, nicht eines Aufbruchs, Zeichen eines unsicher gewordenen politischen Systems, das der Populismus reitet. Selbstverständlich ist die Demokratie (und zwar mit allen ihren zusammengehörigen Arten und Unarten) gegen diesen zu verteidigen, aber eben nicht mehr von einem demokratischen Standpunkt aus.

Demokratie und Emanzipation sind keine Synonyme mehr, sie sind zu Antipoden geworden. Zu Demokratie ist kein Komparativ mehr möglich, ihre Hochzeiten sind endgültig vorbei. Ihre Kapazität ist am Ende. Die ihr zugrundeliegenden Mechanismen können nicht prinzipiell ausgeweitet werden, ohne sie letztendlich funktionsunfähig zu machen. Die Demokratisierung der Demokratie ist nicht kommunizierbar und kommunikationsfähig. Demokratie hat ihr dynamisches Prinzip unwiederbringbar eingebüßt.

Revolution oder Politik?

Und nun? - Was also tun, sollte unsere fundamentale Kritik stimmen?

Forderungen nach konsequenter Interessenspolitik können kaum noch auf fruchtbaren Boden fallen. Da wächst nichts mehr heran; diese Phase, deren deutlichster Ausdruck der Klassenkampf war, ist vorbei. Die politische Bewegung des variablen Kapitals, die Arbeiterbewegung, ist tot, und nicht nur, weil die Sozialdemokratie sie zum Stillstand gebracht hat, oder der real existierende Sozialismus, der real nie existierte, gescheitert ist. Der neue Sozialismus wird keiner der Arbeiterbewegung sein. Er unterscheidet sich somit von allen Ersten, Zweiten und Dritten Wegen. Der neue Sozialismus wird dort ansetzen, wo Marx angesetzt hat, in der Produktion. Sein zentrales Instrument ist die Wertkritik, an der letztendlich alle gesellschaftlichen Fragen zu diskutieren sind.

Aktuell wollen wir hier aber natürlich keinen politischen Nihilismus verkünden, der meint, aus dem Konstatieren eines Absterbens, einen Verzicht auf die Teilnahme am politischen Leben ableiten zu können. Das wäre zu schlicht gedacht. Auch das Absterben ist ein Leben. Nur muss klar sein, wo ihre Grenzen sind, bzw. dass Politik vergeht, eben weil mit ihr immer weniger geht. Nur weil sie abstirbt, können wir uns freilich nicht politisch totstellen. Politik wird daher vorerst noch Begleiter sein müssen, nüchtern behandelt aber als sich stets relativierendes Prinzip, nicht mehr illusionsbeladen als hehres Ideal, gar verbunden mit dem Wunsche nach einem politischen Zeitalter. Reformistisches Dribbeln eben.

Mittelfristig gilt es freilich, sich radikal umzuorientieren: Was gefragt sein wird, ist keine andere Politik, sondern eine die Politik bewusst auf hebende Anti-Politik, d.h. eine Kommunikationsform, die sich nicht bloß von der etablierten Politik absetzt (um ihr im Ernstfall dann wie bisher zuzusetzen - man denke an das realistische Koalitionssyndrom), sondern von der Politik als Formprinzip überhaupt. Diese Form ist ihr wesentlicher Inhalt, unabhängig von ihren inhaltlichen Erfüllungen. Politik hat bürgerliche Willensform und somit schlussendlich kapitalkonforme Inhalte zur Bedingung. "Das Allgemeine sorgt dafür, dass das ihm unterworfene Besondere nicht besser sei als es selbst", schreibt Adorno. (Negative Dialektik (1966), Frankfurt am Main 1992, S. 306)

Eines der Grundmissverständnisse linker Theorie war die metaphysische Trennung von Form und Inhalt. Diese führte dazu, dass die Form als quasi wesenslose Hülle erscheinen musste, die mit beliebigen Inhalten auszufüllen sei. Das affirmative wie leere Verständnis von Politik, Recht, Demokratie oder Staat ist Ausdruck dieser Haltung. Diese Begriffe wurden nicht als Realkategorien erkannt, sondern als beliebig verwendbar den wildesten Definitionen und Kombinationen zugeführt. So entstanden Unbegriffe wie sozialistische Demokratie, Arbeiterstaat oder revolutionäre Politik. In der Ontologisierung bürgerlicher Werte und Termini stand die organisierte Arbeiterbewegung dem Bürgertum in nichts nach.

Gerade weil es an der kommunistischen Perspektive mehr denn je festzuhalten gilt, gilt: Revolutionäre Politik ist unmöglich. Aber nicht weil der Kapitalismus endgültig gesiegt hat und die Revolution ein Hirngespinst ist, sondern weil sozialistische Revolution und bürgerliche Politik ganz einfach nicht zusammenpassen. Politik, die nicht als Metakategorie bewussten Handelns mit Kollektivbezug verstanden werden darf, ist untrennbarer Modus der kapitalistischen Warengesellschaft.

Eine prinzipiell andere Politik ist somit ausgeschlossen, ein Widerspruch in sich. Sozialistische oder emanzipatorische Politik ist unmöglich, kann es per definitionem nicht geben. Eine sozialistische Kommunikationsform hat somit erst Chancen, wenn die gesellschaftlichen Zustände sich selbst umwälzend auf heben. Alles andere sind voluntaristische Proklamationen, die sich stets an der Realität blamieren.

Von der Politik des kleinsten gemeinsamen Nenners ist zu einer emanzipatorischen Kommunikation des größten gemeinsamen Zählers überzugehen. Das kann nur gehen, indem alle gesellschaftlichen Probleme a priori und a posteriori in eine farbenreiche, esoterische wie exoterische, alles umfassende Gesellschaftskritik einmünden, die vor allem nicht aus taktischen Gründen entradikalisiert, sondern jene im Gegenteil theoretisch und argumentativ zuspitzt. Eine solche Bündnispolitik hat das Verausgaben, nicht das Vereinnahmen zum Ziel. Sie dient der gegenseitigen Befruchtung, nicht der Sterilisierung.

Freilich ist wenig getan, wenn man die gesellschaftlichen Konflikte - letztendlich allesamt Kontraktionen des Werts, der die gesellschaftliche "Elementarform" (MEW, Bd. 23, S. 49), die Ware bestimmt - nur noch in postmoderner Beliebigkeit nebeneinander stellt und je nach Konjunktur mal dies und mal das als Schwerpunkt gelten lässt. Man darf nicht auf das soziologistische Gerede von der Komplexität und Unüberschaubarkeit hereinfallen. Nur die Erscheinungen sind komplex, das Wesen ist trotz aller Wucherungen und Ausgestaltungen ganz einfach: Alles und jedes steht direkt und indirekt im Dienste der Verwertung des Werts, der Bildung von Kapital. Daran wird alles ausgerichtet und (in doppeltem Wortsinn) hingerichtet. Die konstatierten Komplexitäten sind nichts anderes als die zeitgenössische Übersetzung des Scheins.

Wohlgemerkt, plädiert wird hier für eine Radikalisierung, nicht für eine Rabiatisierung der Linken. Kompromisslosigkeit und Zuspitzung ist in der Theorie gefordert, nicht jedoch in der Praxis. Ohne das hier in der nötigen Differenzierung ausführen zu können, wird letztere in vielen Bereichen äußerst behutsam und moderat sein müssen. Als Richtschnur mag gelten: Am Ziel festzuhalten, ohne das Maß aus den Augen zu verlieren, das den Weg ermöglicht.

Wir wollen in die Gesellschaft rein, damit sie an uns leichter über sich selbst hinauswachsen kann. Das erfordert eine ganz neuartige Komposition von harten und weichen Komponenten, welche sich sowohl wohltuend von der Starre und Enge kommunistischer Parteien, als auch von der überemotionalisierten Bauchpolitik alternativer Klüngel unterscheidet. Hart und weich, offen und geschlossen, autoritär und antiautoritär, hierarchisch und egalitär, partizipativ und exklusiv sind nicht mit "gut" und "böse" zu übersetzen. Diese Paare sind somit keine antagonistischen Widersprüche, sondern müssen als dialektische Gegensätze einer neuen Organisierung entwickelt werden.

Der Widerspruch Lohnarbeit-Kapital, der immer bloß ein kapitalimmanenter gewesen ist, ist nicht mehr dazu angetan, Theorie und Praxis zu leiten. Daraus aber einen gänzlichen Verzicht auf eine Leitlinie abzuleiten, wäre verkehrt. Heute gilt es, alles an der Wertkategorie zu dechiffrieren, den Widerspruch zwischen Produktionsverhältnissen und Produktivkraftentwicklung, zwischen den materiellen Möglichkeiten der Menschen und den verwertbaren Möglichkeiten des Kapitals, zentral zu thematisieren.

Ökologische Zentrierung

Es ist die Ökologiebewegung, die anders als alle Bewegungen vor ihr im Prinzip keine Sonderinteressen mehr vertritt, sondern Allgemeininteressen. Sie ist die erste Formierung, der dieser Gedanke in umfassendem Sinne zugrunde liegt. Die Bedeutung der Sonderinteressen erfährt durch sie eine markante Relativierung. Der Ökologiebewegung geht es der Intention nach ums Ganze.

Unser Vorwurf an viele Mentoren der Ökologiebewegung geht auch nicht dahin, dass sie das Primat der Ökologie behaupten, sondern richtet sich gegen die daraus resultierende Subtraktion aller anderen Anliegen. Das ist nicht nur bündnispolitisch verkehrt, sondern auch inhaltlich falsch, da es die gesellschaftlichen Probleme nebeneinander und nicht miteinander betrachtet und behandelt, sie sachlich isoliert, eine gemeinsame Grundlage dieser nicht wahrnehmen will. Schließlich die potentiell progressiven Bedürfnisse dividiert statt potenziert, sie auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zurechtstutzt.

Mit der Zentrierung der Ökologie wurde die abstrakt übergeordnete Frage auch konkret übergeordnet. Es geht ums Ganze, nicht mehr primär um Verwirklichung von Teilen auf Kosten des Ganzen. Die Ökologiebewegung ist die einzige qualitativ neuartige Bewegung, auch wenn ihr Denken und Handeln noch im bürgerlichen Horizont befangen ist. Es ist hier eine Differenzierung anzusetzen, was wesentliche Intention einerseits bzw. wesentliche Ausformung andererseits betrifft. Diese widersprechen sich. Was sie aber ausdrückt und unterscheidet, ist ihr ganzheitlicher Anspruch, kurzum die Gattungsfrage. Ökologische Bedürfnisse können so nicht mehr schlichtweg etwa durch Produktionsausweitung und Produktivkraftentwicklung "gelöst" und verwaltet werden wie dies bisher für die Bedürfnisse der metropolitanen Arbeiterklasse gegolten hat.

Ökologische Fragestellungen gehen somit direkt an die Substanz der gegenwärtigen Gesellschaftsformation, auch wenn die aktuellen Lösungsansätze (Vermarktung der Natur, Verursacherprinzip) sich nach den alten Formeln abspulen. Die Ökologiebewegung ist ihrer wesentlichen Intention nach eine Bewegung gegen die privaten und staatlichen Verfügungsgewalten über Produktionsmittel und Produktivkraftentwicklung, sie richtet sich somit gegen die bewusstlose und blindwütige Verwertung des Werts, stellt ihr, wenn auch absolut vage, eine andere Gestaltung der stofflichen Lebenszusammenhänge gegenüber. Die Ökologiebewegung ist in ihrer Potenz die revolutionäre Bewegung. Der biedere und traditionelle Ablauf ökologischer Konfrontationen sollte darüber nicht hinwegtäuschen. Sie rüttelt mehr am Kapitalismus als die Arbeiterbewegung das je getan hat.

Tatsächlich, um gleich zahlreichen empirischen Einwänden entgegenzukommen, ist dem natürlich nicht so. In ihren wesentlichen Ausformungen ist die Ökologiebewegung zahm und artig, vergleicht man sie mit der aufsteigenden Arbeiterbewegung. Ihre Kritik ist von einer Kritik an den Missständen noch zu keiner Kritik der Zustände vorangeschritten. Sie bleibt isoliert, entwickelt sich an den Erscheinungsformen der gesellschaftlichen Prozesse (z.B. Umweltschäden, Umweltkatastrophen), ohne diese in einen gesellschaftlichen Kontext einordnen zu können.

Die Ökologiebewegung repliziert geradezu die herrschenden Werte, ja pocht auf deren Einhaltung gegen die herrschende Ökonomie und Politik. Den aktuellen Anforderungen antwortet sie mit Fanatismus oder Pragmatismus. Theorie erscheint ihr als Luxus. Von theoretischen Gehversuchen, die sich an Markt und Geld versuchen, hat man bisher nichts vernommen. Im Gegenteil, die Ökologiebewegung gefällt sich geradewegs im staatstragenden Ton, singt Loblieder auf die bürgerlichen Werte und den freien Markt, achtet das Gewaltmonopol und preist den Rechtsstaat.

Karl Marx' Betrachtung der sozialen Revolution des 19. Jahrhunderts trifft auch auf jene des 21. zu: "Die soziale Revolution des neunzehnten Jahrhunderts kann ihre Poesie nicht aus der Vergangenheit schöpfen, sondern nur aus der Zukunft. Sie kann nicht mit sich selbst beginnen, bevor sie allen Aberglauben an die Vergangenheit abgestreift hat. Die früheren Revolutionen bedurften der weltgeschichtlichen Rückerinnerungen, um sich über ihren eigenen Inhalt zu betäuben. Die Revolution des neunzehnten Jahrhunderts muss die Toten ihre Toten begraben lassen, um bei ihrem eignen Inhalt anzukommen." (MEW Bd. 8, S. 117) In diesem Sinne.

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Von der Unmöglichkeit der Politik zum kommunistischen Horizont

von Martin Birkner

"Keine Politik ist möglich", ist auf den Pickerln der Streifzüge zu lesen, die ab und zu im Wiener Stadtbild mein Herz erfreuen. Wertkritik kritisiert Politik fundamental. Ihre Kritik verweist den politischen Kampf auf ein Binnenverhältnis der Vergesellschaftung über den Wert. Da der Wert aber ein grundlegendes, für die Wertkritik DAS grundlegende Verhältnis kapitalistischer Gesellschaften ist, kann Politik in nichts anderem bestehen als im Austausch herrschender Eliten. Der kapitalistische Staat als Staat des Kapitals verunmöglicht aus dieser Perspektive grundlegende politische Veränderungen. Konsequenterweise betreibt die Wertkritik - wie der Name schon sagt - die kritische Infragestellung herrschaftlicher Vergesellschaftung als theoretische Praxis. Dieser Fokussierung liegt allerdings ein ahistorischer Zugang zugrunde: Jedes politische Handeln wird durch die "Warenvergesellschaftung" überdeterminiert. Dabei gilt es doch, genau die Historizität spezifischer Formen politischen Handelns in den Blick zu bekommen. Politik heute ist etwas qualitativ anderes als noch vor 150, 100 oder 50 Jahren. Die Wertkritik stellt sich dieser Frage nicht, für sie galt und gilt stets die formkritische Devise "Keine Politik ist möglich".

Die Praxis weiter Teile der Linken jedoch hat das wertkritische Urteil bestätigt. Egal ob in ihrer sozialdemokratischen, parteikommunistischen oder antiimperialistisch-befreiungsnationalistischen Variante, sie passte sich dem zwanglosen Zwang der staatlich-kapitalistischen Institutionen an. Die vermeintliche Übernahme der Macht durch - mehr oder weniger bewaffnete - Parteien der Linken führte stets noch zur Übernahme der Parteien durch die staatlich-kapitalistische Macht selbst. Das Streben nach Befreiung endete in erneuter - wenngleich auch mitunter weniger brutaler - Herrschaft über die Multitude der Bevölkerung.

Kein Zurück hinter 68

Es gab aber immer auch dissidente Strömungen der Linken, die sich der Tiefe der Machtbeziehungen von Staat und Kapital bewusst waren: Anarchistische und rätekommunistische Ansätze oder viele autonome Linke beispielsweise zeichneten sich durch ihre praktischen Versuche aus, bereits im politischen Handeln unter herrschaftlichen Bedingungen die Auflösung der Herrschaft selbst zum Prinzip ihres politischen Handelns zu machen. So ist es aber auch kein Zufall, dass sie im Wettstreit um die politische Macht schlechte Karten hatten. Ihre politischen Erfolge sind auf den ersten Blick gering, zu viel mehr, als ein Stachel im Fleische der Herrschaft zu sein, hat es kaum gereicht. Und dennoch: Die Bewegungen und Aufstände der "antiautoritären" Linken konnten im globalen Prozess von 1968 der fordistischen Vergesellschaftungsform in Ost und West einen schweren Rückschlag verpassen. Auch wenn der Kapitalismus viele der Errungenschaften von 68 kassieren und letztlich in seiner neoliberalen Form auch gegen die Mehrheit der Menschen umwenden konnte: Ein "Zurück hinter 68" hieße, die Fehler der "machtorientierten" Linken der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu wiederholen. Die Errungenschaften der antiautoritären Revolte gilt es - auch gegen ihre falschen Freunde - zu verteidigen.

Mit der gegenwärtigen tiefen Vielfachkrise (sozial, ökologisch, finanziell, politisch und kulturell) des Kapitalismus sind tragende Pfeiler der institutionellen (Welt-)Ordnung ins Wanken gekommen. Dem vermeintlichen "Ende der Geschichte" von 1989 folgt keineswegs eine Verallgemeinerung liberal-demokratischer Gesellschaften über den ganzen Erdball hinweg - auch wenn es kurzfristig danach aussah. Der Kapitalismus war nicht zuletzt durch seine Krisenanfälligkeit nicht in der Lage, politische Stabilität im Sinne der Herrschenden sowie ein dauerhaftes ökonomisches Wachstum zu garantieren. Letzteres ist jedoch eine zentrale Voraussetzung für politische Hegemonie. Dass ebenjenes Wachstum auch die Triebfeder der Zerstörung unseres Planeten ist, steht auf einem anderen, oder vielmehr doch auf demselben Blatt. Aber ist eine Politik ohne oder gegen Wirtschaftswachstum überhaupt vorstellbar? Die Erfahrung mit der real existierenden Politik sagt: Nein. Dabei wissen doch eigentlich alle, die WissenschaftlerInnen, die NGOs, ja selbst der berüchtigte gesunde Menschenverstand, dass auf einem endlichen Planeten endloses Wachstum ein schlichtes Ding der Unmöglichkeit ist. Oder des Untergangs. Die Politik aber tut so als ob. Ein "Green New Deal" ist dabei das höchste, das fortschrittlichste der Gefühle: ein Deal eben.

Krise der politischen Institutionen

Die Krise des globalen Kapitalismus ging und geht mit einer Krise seiner politischen Institutionen einher. Die globale Verflechtung und unglaubliche Beschleunigung der Kapitalströme fand in den letztlich nationalstaatlich verankerten Institutionen keine zureichenden Stabilitätsanker mehr. Internationale Institutionen, global agierende Konzerne und grenzenloser Informationsfluss konnten sich nicht mehr zu einer stabilen Form institutionaler Herrschaft verdichten - ganz abgesehen von den Widerständen, die ihnen durch weite Bevölkerungsteile entgegengesetzt wurden. Einher ging diese Verschiebung mit der Auflösung der industriellen Arbeitsbeziehungen in den Metropolen des Westens/Nordens (Prekarisierung, Tertiarisierung, Informatisierung, Flexibilisierung) sowie der brutalen Inwertsetzung einst peripherer Zonen des Trikonts.

Die spezifisch politischen Institutionen des globalen Nordens, groß geworden in der relativ langen Periode fordistischen Nachkriegskapitalismus und bestimmt durch stabile Großgruppen (vulgo Klassen), die im Rahmen der repräsentativen Demokratie im Wesentlichen zwei große Parteien (meist) abwechselnd an die politischen Schalthebeln brachte, schlitterten durch die oben genannten Prozesse in eine veritable Krise. Was Guy Debord vor über 50 Jahren so brillant diagnostiziert hatte, nämlich dass die Politik nur noch als Spektakel einer sich selbst fremd gewordenen Gesellschaft zu verstehen ist, deren gesellschaftsverändernde Kraft im emanzipatorischen Sinne verloren gegangen ist, sollte spätestens mit der gegenwärtigen Krisenverwaltungsstrategie der Herrschenden, aber auch mit dem Scheitern linker staatspolitischer Projekte wie Podemos oder Syriza traurige Wirklichkeit werden; Tragödie und Farce gleichzeitig und gleichermaßen.

So nimmt es denn auch kein Wunder, wenn im gegenwärtigen spektakulären Kapitalismus (männliche) Figuren wie Erdogan, Trump oder Kurz an Macht gespült werden. Angesichts der Erosion der politischen Institutionen ist auf den Staat bezogenes politisches Handeln zu einer apokalyptischen Mischung von Show und Neofaschismus verkommen. Die rassistische Aussage eines Nachwuchspolitikers ("Ich habe die Balkanroute geschlossen") kann heutzutage aus einer abgehalfterten Traditionspartei schlagartig die Führungsorganisation eines ganzen - wenngleich auch unwichtigen - Staates machen. Es bleibt zu hoffen, dass das Ende des Spuks sich dereinst ähnlich unvorhergesehen und gründlich ereignet. Dieser allgemeinen "institutionellen Erschöpfung" können sich auch die linken politischen Zusammenschlüsse nicht entziehen. Schadensbegrenzung ist im Moment der Horizont alternativer Politik, emanzipatorische Gegenentwürfe sind innerhalb der Sphäre politischen Handelns momentan nicht möglich. Zu instabil sind jene Institutionen geworden, in denen sich noch in jüngerer Vergangenheit Erfolge sozialer Bewegungen zumindest teilweise - als Gesetze - einschreiben konnten.

Der Aufstieg rechtsextremer Kräfte wird durch diese Erschöpfung noch beschleunigt, die damit einhergehende verallgemeinerte Politik der Unsicherheit befördert wiederum bei vielen Menschen die Sehnsucht nach "Sicherheit". Gerade in Ländern wie Österreich, die keine ausgeprägte Tradition sozialen Widerstandes und der Selbstorganisierung von unten kennen, führt dies zu einer Verschiebung des Regierungshandelns: Es lebt sozusagen von der ständigen Verstärkung des Unsicherheitsgefühls. Migrationsbewegungen werden zum freudig angenommenen Einsatz einer massiven politischen Rechtsverschiebung. Das Versprechen, die Überbleibsel einer vermeintlichen Homogenität "des Volkes" vor der weiteren Auflösung durch "die da draußen" zu schützen, verfängt. Im wirtschafts-, arbeits- und sozialpolitischen Bereich wird derweilen auf Teufel komm raus alles kurz und klein geschlagen, was in rund 100 Jahren linker Reformpolitik an Fortschritten errungen wurde. Die dennoch stabile Mehrheit der rechts-rechtsextremen Regierung bestätigt dabei die Annahme, dass selbst der Großteil jener, deren eigene soziale Situation sich dadurch verschlechtert, das Spiel mitspielen.

Es scheint, als ob die Wertkritik am Ende doch recht behalten oder vielmehr bekommen sollte. Im Moment zumindest ist keine linke Politik mehr möglich, oder aber ihre hart erkämpften Erfolge werden mit einem Federstrich von der nächsten autoritären Herrschaftsbesatzung aus dem Weg geräumt. Dennoch existieren überall auf der Welt tausende und abertausende von kollektiven Initiativen, die sich den Zumutungen nicht fügen, Widerstand leisten und alternative Strukturen, Formen eines anderen nicht-herrschaftlichen Zusammenlebens erproben. Daran gilt es anzuknüpfen. Infrage zu stellen ist hingegen die traditionelle "Arbeitsteilung" zwischen politischen Kräften und sozialen Basisbewegungen, in denen Erstere den Kämpfen Letzterer einen institutionellen Platz in den Staatsapparaten sicherten (meist auf eine nicht zufriedenstellende Art und Weise, zugegebenermaßen, aber immerhin).

Was nun?

Die Reste der politischen Linken versuchen es mit einer Politisierung der sozialen Frage von links: vergebens. Angesichts der Aussichtslosigkeit der klassischen 20.-Jahrhundert-Politik verwundert es auch nicht weiter, dass das leninistische Denken wieder traurige Urständ' feiert: Weg mit den antiautoritären Fantasien der 68erInnen, sie haben letztlich nur von der notwendigen machtorientierten Politik abgelenkt. Unnötig zu betonen, dass derlei - zum Glück - kaum jemanden hinter dem Ofen hervorholt. Was hier wie dort nicht gesehen wird, ist, dass das Massenbegehren nach gut behütetem Aufgehobensein in der Volksgemeinschaft und im SUV schwerer wiegt und besser greift als die Beschädigung der eigenen sozialen Existenz durch die Rechte. Der armselige "proeuropäische" Neoliberalismus der linken Mitte trägt ein Übriges zur Festigung der mittlerweile (fast) gesamteuropäischen Faschisierungstendenz bei. Was aber tun angesichts der Tatsache, dass die Mehrheit der Leute für ihre Knechtschaft kämpft, als wäre es für ihre Freiheit?

Exodus aus den Institutionen - und dann?

In Ermangelung eines "großen", von vielen geteilten gesellschaftsverändernden Projektes ist es nicht zuletzt angesichts der Dringlichkeit von ökologischer Verheerung und drohender Kriegsgefahr prioritär, den Lauf der Dinge zu unterbrechen, das System am Funktionieren zu hindern. Verweigerung war stets der Ausgangspunkt von Widerständigkeit. "Am Anfang war das Nein", wie es John Holloway so prägnant wie poetisch ausdrückt. Eine noch weiter oder besser tiefer gehende Figur schlägt Giorgio Agamben vor: jene der "Geschäftslosigkeit". Sie bringt über das sich noch immer am schlechten Ist-Zustand orientierende Nein den Einsatz einer anderen Lebensform zur Sprache. Einer Lebensform, die sich so weit als möglich den Zumutungen der staatlich-kapitalistischen Ordnung versagt und stattdessen eine Art produktiven Exodus in selbst gewählte Zusammenhänge und Strukturen vorschlägt - in der "die klassenlose Gesellschaft bereits anwesend ist".

Wenn Politik unausweichlich zum Verwaltungshandeln geworden ist, ist Agambens Vorschlag nach einem Primat der "Destitution" - also einer EntInstitutionalisierung - ernsthaft in Erwägung zu ziehen. Dabei geht es nicht primär um die Zerstörung herrschaftlicher Institutionen, sondern gleichsam um ein Leerlaufenlassen, ein Aushöhlen ebenjener durch Nicht-Mitmachen - um einen Exodus: nicht ein Davonlaufen, sondern ein produktives SichEntziehen von der Geschäftigkeit des verallgemeinerten Geschäfts. Ich glaube, selbst Rudi Dutschke, der noch in den 70ern den "Marsch durch die Institutionen" vorgeschlagen hat, würde sich heute dem Auszug aus der verheerenden Ordnung mit Überzeugung anschließen. Die große Frage aber bleibt: Wie kommen wir über dieses Nein und auch über die Geschäftslosigkeit hinaus zu den "vielen Jas" (Holloway) einer postkapitalistischen Alternative? Wie lässt sich diese minoritäre Anwesenheit der Klassenlosigkeit gesamtgesellschaftlich zur Geltung bringen? In einem anderen Text habe ich versucht, die angesprochenen Aspekte über den Hegel'schen Begriff der "Aufhebung" -in seiner dreifachen Bedeutung von Erhöhung, Negation und Auf bewahrung - von Institutionen zusammenzudenken (vgl. Birkner 2018).

Wir müssen nicht so machen, wie wir's kennen, nur weil wir's kennen, wie wir's kennen (Die Sterne)

Unumgänglich für befreiende Gesellschaftsveränderung ist die Selbstveränderung der sie Betreibenden (vgl. Leder). Das Nein zur Herrschaft kann nicht wirksam werden ohne das Nein zur eigenen Beteiligung an ihr, begleitet vom Ja des Begehrens nach dem anderen. Ohne die Bereitschaft, lieb gewonnene Gewohnheiten kollektiv zu verlernen und sich von zahlreichen Annehmlichkeiten - nicht zuletzt patriarchaler Natur, die uns diese zerstörerische Gesellschaft nach wie vor bietet - zu trennen, bleibt systemveränderndes Handeln eine Art Hobby oder schlimmer noch: ein Geschäft. Wir sind auf mannigfache Weise in dieses System verstrickt, und es wäre eine Illusion zu glauben, dass wir diese Verstrickungen alleine durch individuelles Handeln loswerden können. Und natürlich wird es auch im Kollektiv kein Honiglecken. Dennoch: Letztlich bleibt die Selbstveränderung im Prozess der Gesellschaftsveränderung wesentlicher Maßstab wirklicher Emanzipation.

Wir sind heute gewissermaßen in die Frühzeit der kommunistischen Bewegung zurückgeworfen. Unser enormer Vorteil liegt darin, dass wir aus den Fehlversuchen und Fallstricken der Geschichte dieser Bewegung lernen können. Das Ergreifen politischer Macht führte im besten Fall zu einer Verbesserung der Lebensumstände der Multitude - stets aber um den Preis ihrer Entmachtung. Letztlich zerschellte an der modernen politischen Logik der Souveränität jeder Ansatz zu einer sozialen Revolution. Diese aber, der Übergang zu einer neuen kulturellen, sozialen und ökonomischen Ordnung, wurde nicht zuletzt durch die Eigenlogik der Politik be-, wenn nicht verhindert. Die Russische Revolution ist nur ein Beispiel dafür - wenngleich auch das bedeutendste.

Ich wage aber auch zu bezweifeln, dass die von den Bolschewiki liquidierten Räte heute eine Möglichkeit für eine Instituierung einer freien Gesellschaft abgeben können. Räte sind eine probate Organisationsform in bewegten Zeiten. Als solche tauchen sie im gesamten Verlauf der neueren Geschichte in Umbruchzeiten auf. Sie sind die praktische Kritik eines herrschaftlich verfassten Repräsentationsprinzips, sie sind die bestmögliche Annäherung an partizipative und herrschaftsfreie Institutionen. Aber sie sind eine Form der Partizipation der AktivistInnen, d. h., eine lebendige Rätedemokratie braucht die permanente Mobilisierung möglichst vieler Mitglieder der Gesellschaft. Flaut die Bewegung ab, droht erneut die Interessensvertretung der Inaktiven durch die Aktiven. In diesem Zwang zur Bewegung liegt eine autoritäre Tendenz: Wer will schon permanent aktiv sein, von Plenum zu Plenum laufen, von Rat zu Rat? Ist nicht das Ziel einer befreiten Gesellschaft die Möglichkeit der Ruhe, der Faulheit und des Genusses für alle? Die bürgerliche Lösung des Dilemmas bestand in der repräsentationspolitischen Verherrschaftlichung der Räte, ihrer Umbiegung zu den mehr als bekannten Formen real existierender Medizinal-, Betriebs- oder gar Nationalräte. Wie aber kann die Instituierung einer Gesellschaft aussehen, die Selbstorganisation, Kreativität, Freiheit und Muße für alle ermöglicht? Hier stellt sich meines Erachtens die Dringlichkeit der Institutionenfrage (vgl. Castoriadis 1990).

Toni Negri hat die Perspektive der kommenden Revolution einmal in das schöne Bild gepackt, wonach Widerstand, Aufstand und "konstituierende Macht" zusammenfallen (vgl. Hardt/Negri). Ich schlage vor, es wie folgt zu lesen: Den alltäglichen Zumutungen sich im Alltag widersetzen, Gelegenheiten nutzen, um gemeinsam mit möglichst vielen anderen das Projekt der Herrschaft ernsthaft am Funktionieren zu hindern, und im gleichen Zug alternative, nicht-entfremdete Institutionen eines "Guten Lebens für alle" als gleichsam "geschäftslose" Alternative zu den Staatsapparaten auf bauen. Der zweite Aspekt mag politisch genannt werden oder auch nicht, wesentlich erscheint mir das Nicht-Vergessen auf den dritten. Er verankert den revolutionären Prozess im Sozialen. Er ist der kommunistische Horizont.

PS: Nein, es ist nicht wurscht, wer an der Regierung ist. Und nein, es ist auch nicht wurscht, ob eine linke Opposition in den Institutionen vertreten ist oder nicht. Das vernünftigste linke "Angebot" zu wählen, erscheint mir durchaus sinnvoll; nur sollen wir diesen Angeboten im Hinblick auf das oben geschriebene pragmatisch begegnen, nicht ideologisch - oder gar hoffnungsvoll.

Literatur

Agamben, Giorgio: "Europa muss kollabieren", Interview mit Iris Radisch, in: Die Zeit, Nr. 35/2015.

Birkner, Martin: Aufhebung der Institutionen als konkrete Utopie, in: Alexander Neupert-Doppler: Konkrete Utopien. Unsere Alternativen zum Nationalismus, Schmetterling-Verlag, Stuttgart 2018.

Castoriadis, Cornelius: Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie, Suhrkamp-Verlag, Frankfurt a.M. 1990.

Debord, Guy: Die Gesellschaft des Spektakels, Edition TIAMAT, Berlin 1996.

Leder, Anna: "Sind Räte sexy?" - Die konkrete Utopie, in: Anna Leder et. al. (Hg.): Die Rätebewegung in Österreich. Von sozialer Notwehr zur konkreten Utopie, Mandelbaum-Verlag, Wien 2019.

Negri, Antonio: Empire und die konstituierende Macht der Multitude. Interview mit Thomas Atzert und Jost Müller, in: Atzert, Thomas/Müller, Jost (Hg.): Kritik der Weltordnung. Globalisierung, Imperialismus, Empire. ID-Verlag, Berlin 2003.

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Jenseits der Politik

Wie die Objektivierung aller Lebensbereiche das Links-Rechts-Schema unterläuft

von Peter Klein

Die Menschen, die in wachsender Zahl auf die Straße gehen, um dort mit Wut in der Stimme zu verkünden, sie seien "das Volk", pochen damit auf die Einhaltung eines Versprechens, von dem sie glauben, dass es ihnen mit der demokratischen Staatsform gemacht worden sei. Laut diesem Glauben ist es in der Demokratie "das Volk selbst", das sich direkt oder vermittels frei gewählter Abgeordneter regiert. Und wenn dabei Resultate herauskommen, die unerwünscht sind, die für immer mehr Menschen eine Verschlechterung ihrer Lebenssituation bedeuten: steigende Mieten etwa, ein Arbeitsmarkt, der die Masse der Bevölkerung mit Billig-Jobs abspeist, die den Ausblick auf eine entsprechend schmale Rente eröffnen, während der Reichtum, der sich bei den Wenigen ansammelt, nur noch obszön genannt werden kann, dann stimmt etwas nicht mit der Demokratie, dann haben die gewählten Politiker ihr Versprechen, das Wohl des Volkes zu mehren, nicht gehalten, dann sind womöglich Betrug und Verrat im Spiel.

Öffentlich - privat: eine unglaubwürdige Struktur

Was die Protestierenden bei dieser Überlegung außer Acht lassen, ist die gesellschaftliche Form, in der sie sich befinden. Sie sind allesamt Staatsbürger, und als solche sind sie Bestandteil jener Rechtsstruktur, die sich erst mit dem modernen Kapitalismus durchgesetzt hat. Diese Struktur gewährleistet ihnen den Status, persönlich freie Besitzer ihrer Arbeitskraft zu sein, die miteinander um die auf dem Markt angebotenen Arbeitsplätze konkurrieren. Ob die Demokratie nun "direkt" ausgeübt wird, in Volksabstimmungen zu einzelnen Fragen, oder "indirekt" - diese Struktur ist den Wahlen und Abstimmungen immer schon vorausgesetzt. Solange die Menschen nichts anderes im Sinn haben, als in dieser Struktur zu funktionieren, solange es ihnen nur um die damit in Zusammenhang stehenden Konditionen geht, Lohn- und Gehaltsfragen also, Fragen der Arbeitsbedingungen, so lange haben sie der Krise des Kapitalismus nichts entgegenzusetzen - nichts als die Erinnerung an jene Vorkrisenzeiten, in denen man beim Wort "Reform" noch nicht an den neoliberalen Sozialabbau und die Digitalisierung aller Lebensbereiche dachte.

Der verbitterte Blick zurück, der im Wortsinn sicherlich als reaktionär zu bezeichnen ist, sollte aber nicht fehlinterpretiert werden. Er ist kein Beitrag zur Stabilisierung der Rechtsstruktur, die der als "Marktwirtschaft" firmierende Kapitalismus für sein reibungsloses Funktionieren benötigt. Und er führt natürlich auch nicht dorthin zurück, wohin die politischen Ideologen der verschiedenen Richtungen meinen, dass er führen müsste oder könnte.

Das gesellschaftliche Sein wiegt, wenn es um solche Fragen geht, schwerer als das Bewusstsein. Und dieses Sein zeigt uns heute ein Vergesellschaftungsniveau, das für die der Politik vorausgesetzte Rechtsstruktur schon per se zum Problem geworden ist. Die Privatleute, die vom "Genuss (ihrer) privaten Unabhängigkeit und der Verfolgung (ihrer) Privatinteressen (derart) in Anspruch genommen" werden (ich zitiere Benjamin Constant mit einer 1819 in Paris gehaltenen Rede, in: Gall, S. 60), dass sie ihre gemeinsamen Angelegenheiten den Spezialisten der Politik überlassen müssen, sind heute nicht mehr die kleinen Handwerker und Ladenbesitzer des 18. Jahrhunderts, die die Theoretiker des ursprünglichen Liberalismus vor Augen hatten. Mit einigen Gesellen, Lehrlingen und Gehilfen ausgestattet, die zum Kreis der Familie gezählt wurden, verfügten diese "Hausväter" über eine entsprechend umfangreiche Privatsphäre, die, das Wort "Bürgerstand" sagt es, deutlich stabiler war als das, was heute so genannt wird.

Heute ist die Privatsphäre auf den geschlechtsneutralen Punkt des vereinzelten Individuums zusammengeschrumpft, das ständig dazu aufgefordert wird, seine Internetkontakte mittels komplizierter Passwörter vor dem Rest der Welt zu schützen, der offensichtlich, wie in der Konkurrenzgesellschaft nicht anders zu erwarten, als "fremd" und "feindlich" zu bestimmen ist. Der Freund dagegen ist der liberale Rechtsstaat, der sich mit extra Datenschutzgesetzen um die Integrität unserer privaten Insel sorgt. Millionen von Menschen, die in den westlichen Ländern als Singles leben, sind dabei auf die Alimentierung durch den Staat (Rentenversicherung, Arbeitslosengeld, Kindergeld, Ausbildungsbeihilfe etc.) angewiesen, und überhaupt gehört zur westlichen Lebensweise das Funktionieren der öffentlichen Infrastruktur, die Versorgung aller Haushalte mit Gas, Wasser und Strom ebenso wie die Müllabfuhr, das Unterrichts- und das Gesundheitswesen. Vom Schneeschippen bis zur Zimmerlautstärke, von der Vorsorgeuntersuchung bis zur Definition der Raucherkneipe, vom Mietrecht bis zum Urlaubsrecht, von der Pendlerpauschale bis zur Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung: In allen Lebensbereichen hat der treu sorgende Staat die Gesetze und Regeln erlassen, die uns auch mental in der Spur des vereinzelten Individuums halten (sollen).

Als staatsunmittelbare Rechtsperson ist es diesem Individuum möglich und wird ihm nahegelegt, sich "selbständig" und "selbstverantwortlich" in der total verrechtlichten Welt der modernen Demokratie zu bewegen, ohne auf die - ohnehin rar gewordene - Verwandtschaft oder sonst ein persönliches Umfeld angewiesen zu sein. Wer das Laub des über den Zaun ragenden Baums zu entsorgen hat, wer gerade mit der Hausordnung an der Reihe ist, wer wo und wie lange parken darf - alles ist geregelt, nichts muss das vereinzelte Individuum selbst entscheiden oder selbst organisieren. Die Fähigkeit, direkt miteinander zu kommunizieren und gemeinsame Projekte zu verabreden, wird von den in einem geradezu verzweifelten Ausmaß mit Kommunikationsmitteln ausgerüsteten Individuen nicht "abgerufen". Was Wunder, dass sie verkümmert ist und in den Zweifels- und Konfliktfällen durch den Gang vors - hoffnungslos überlastete - Gericht ersetzt wird.

Es versteht sich, dass diese Struktur umso fragiler und brüchiger wird, je weiter das Rechtssystem sich verästelt und ausdifferenziert. Die Allgegenwart des Staates bedeutet nicht, dass er mächtig ist, sie bedeutet nur, dass die Situation, in der wir uns als vereinzelte Individuen befinden, absurd geworden ist. Um sich in ihrer Vereinzelung halten zu können, sind die modernen Individuen in hohem Maß auf den Staat angewiesen, sie sind hochgradig verstaatlicht und, indem sie im Denken und Verhalten in den Gleisen ihres Privatinteresses bleiben, der direkte Ausdruck staatlicher Funktionen und Leistungen. Eine Schizophrenie, die den Staat als eine eigenständige, vom täglichen Leben abgesonderte Institution ebenso unglaubwürdig macht wie das autonome und selbstverantwortliche Individuum, für das sich viele Menschen, in deren Köpfen die "westlichen Werte" wabern, noch halten.

Die objektivierende Wirkung des Rechtssystems

Der Stress, in dem sich diese Struktur heute befindet, und die zeittypischen Krisensymptome, die damit verbunden sind, lassen sich nach meinem Dafürhalten aus der objektivierenden Wirkung ableiten, die die Verrechtlichung aller gesellschaftlichen Beziehungen hat. Bekanntlich ist diese "Objektivität", die aus dem Kapitalismus "die Wirtschaft" und aus uns allen "Bürger" gemacht hat, im Verlaufe von mehreren "Antidiskriminierungsschüben" entstanden. Dabei wurden gewisse empirische Unterschiede, die frühere Generationen als bedeutsam für die rechtliche und gesellschaftliche Stellung der Menschen erachteten, "neutralisiert" (ein Ausdruck von Carl Schmitt) bzw. in den Hintergrund gerückt. Auf die Vorstellungen und Illusionen, mit denen für das "gleiche Recht" gefochten wurde, welche "Macht" den ins Rechtssystem eingebundenen Unterschichten zuwachsen werde, kann ich hier nicht näher eingehen. Wichtig ist nur zu verstehen, dass die politischen Richtungsbestimmungen "links" und "rechts", die seinerzeit kennzeichnend waren für die gesellschaftlichen Konflikte, mit diesem Neutralisierungsprozess ebenfalls in den Hintergrund gedrängt wurden. Oben und unten, reich und arm gibt es natürlich immer noch, mit dem Ende des "sozialdemokratischen Jahrhunderts" und dem Übergang zu den neoliberalen "Reformen" haben diese Kategorien an Bedeutung sogar wieder gewonnen. Gleichwohl muss festgehalten werden, dass allein schon die Wahrnehmung der mit diesen Kategorien bezeichneten Wirklichkeit sehr stark dadurch modifiziert worden ist, dass sich die "Wirtschaft" und die "Karrierechancen", die sie bietet, als eine objektive, für alle Staatsbürger gleiche Gegebenheit präsentieren. Das bringt es nämlich mit sich, dass die Stellung, die jemand in der gesellschaftlichen Hierarchie einnimmt, weitgehend zu seiner persönlichen Angelegenheit geworden ist: abhängig vom Ehrgeiz, der Intelligenz und der Leistungsbereitschaft des betreffenden Individuums, das ja in seiner Vereinzelung zusammen mit diesem Objektivierungsprozess entstanden ist.

Zum besseren Verständnis des Zusammenhangs von "Subjekt" und "Objekt" zitiere ich hier aus einem bisher unveröffentlichten Text, der die praktische Relevanz der Kant'schen Kategorie des "allgemeinen Gesetzes" für die bürgerliche Gesellschaft zu erweisen sucht: "Um die subjekterzeugende Wirkung des allgemeinen Gesetzes verstehen zu können, ist es entscheidend wichtig, dass man von dem jeweiligen Sachverhalt, der zu regeln ist, sei er ökonomisch, sozial oder existenziell einzustufen, komplett absieht. Die Frage ist nicht, ob die betreffende Sache allgemein ist, sondern ob sie als allgemeine betrachtet und behandelt wird. Es kommt allein darauf an, dass sie als Rechtsmaterie beschrieben und anerkannt und somit in den Rang einer allgemeinen Angelegenheit erhoben wird. Der Blick ist also rein auf diese Form der Allgemeinheit zu richten, die (...) als etwas für sich Bestehendes gedacht werden muss, eben als die Metaphysik der bürgerlichen Epoche. Egal, in welcher Lebens- oder beruflichen Situation ich mich befinde, ob ich Vollwaise bin oder alleinerziehende Mutter, ob ich als Flussschiffer, Imker oder Anlageberater arbeite: in dem Maße, in dem der betreffende Tatbestand zu einer Kategorie des Rechtssystems wird, an dem bestimmte vom Staat erbrachte oder geforderte Leistungen hängen, bekommt er ein unpersönliches, objektives Aussehen. Als eine im Rechtssystem vorgesehene Norm wird er zum normalen Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens. Das Gesetz macht ihn zu etwas, das prinzipiell für jeden Menschen in Betracht kommt, mit dem jeder Mensch als mit einer Tatsache des täglichen Lebens rechnen kann; und als eine solche allgemein menschliche Angelegenheit kann die Situation oder Lebenslage, in der ich mich befinde, nicht mehr das Wesen meiner Person bestimmen. Sie hört auf, eine von meiner 'Individualität unzertrennliche Qualität' zu besitzen, wie es in der Deutschen Ideologie heißt (MEW 3, S. 76)."

Das Verhalten zu der Tätigkeit, die ich ausführe, oder zu der Situation, in der ich mich befinde, wird auf diese Weise ein äußerliches. Ob ich Autofahrer "bin" oder Biochemiker oder Mama oder Papa: Ich bin das alles nicht. Die Situation, in der ich mich befinde, ist auf vielfältige Weise genormt, sie ist in dieser Genormtheit schon vor mir da, steht mir als etwas, in das ich mich "einzuarbeiten" oder "hineinzufinden" habe, damit ich es "richtig" ausführen kann, gegenüber. Ich gehe in ihr nicht auf (so sehr ich mich als abstraktes Individuum nach solcher Selbstvergessenheit sehnen mag), sie ist vielmehr eine Rolle, die ich - zeitweise - übernommen habe, eine Funktion, die ich ausführe. Als ihr Funktionär aber kann ich meine Sache gut oder schlecht machen. Die Individuen werden in ihrer "Performance" vergleichbar, ein allgemeines Messen und Bewerten hebt an. Man denke an die Bewertungsportale für Ärzte und Lehrer im Internet oder an das freihändig betriebene Werten in den diversen Facebook-Communities, das schon die eine oder andere Schülerin in den Selbstmord getrieben hat. Es war wohl der Taylorismus, die "wissenschaftliche Betriebsführung", durch den diese funktionalistische Denkweise auf breiter Front zum Durchbruch gekommen ist. Aber in der Unterscheidung zwischen "mir" als einer freien Rechtsperson und meiner "Arbeitskraft", die ich auf dem Markt anbiete, ist sie natürlich vorgezeichnet.

Inzwischen hat sich diese Struktur in allen Lebensbereichen ausgebreitet. Unterstützt von den empirischen Wissenschaften, sorgt eine überaus reichhaltige Ratgeberliteratur dafür, dass wir mit jenen "Fakten" versorgt werden, die es uns erlauben, auch in dem engen Bezirk unseres Privatlebens funktionalistisch zu denken und zwischen "richtig" und "falsch" zu unterscheiden. Auch die Fragen des persönlichen Wohlbefindens oder des Erfolgs beim anderen Geschlecht kann das moderne Individuum mit jener "instrumentellen Vernunft" angehen, deren Kritik schon Max Horkheimer ein Anliegen war. Richtig essen, richtig atmen, richtig entspannen, richtig Urlaub machen - auf Grünkohl kann man gut schlafen, eine Entschlackungskur pro Jahr beugt dem Krebs vor, und ausreichend Bewegung ist bei "unserer sitzenden Lebensweise" ja vor allem wichtig. Zeit für die Liebe und Zeit für die Kinder sollen wir uns nehmen und öfters mal die Seele baumeln lassen. Diese großartigen Tipps für Selbstoptimierer haben natürlich ihren funktionalistischen Sinn. Nämlich dafür, dass wir den "Belastungen des modernen Lebens" standhalten, dass wir unsere "Leistungsfähigkeit" steigern und fit für die Firma bleiben. Und mit Lebensfreude hat die Gesundheit angeblich auch etwas zu tun.

Nebenbei aber bekommen wir etwas mit von der realen Situation, in der sich die modernen Individuen befinden. Die schimmert nur allzu deutlich durch die Ratgeber-Inflation hindurch. Wenn permanent vom Lockerlassen und von der Entspannung die Rede ist, dann weiß man, wie es im "wirklichen Leben" zugeht, das uns der Kapitalismus gewährt. Wenn die Zeit so groß geschrieben wird, die wir uns für die angenehmen Dinge des Lebens nehmen sollten, fehlt sie offensichtlich in der eng getakteten Lebenswelt des modernen Kapitalismus. Jedenfalls geht der Funktionalismus der "Arbeitswelt" bruchlos über in den Funktionalismus der "Freizeit" und des privaten Lebens. Damit wir uns auch hier zurechtfinden und die Zügel nicht schleifen lassen, gibt es die Wellness- und Freizeit-Industrie. Die sorgt mit allen möglichen Trainings- und Mess-Apparaturen dafür, dass wir den Vorschriften für ein gesundes, glückliches, erfolgiches etc. Leben genügen können. Die Konturen der hier waltenden "Objektivität" sind nicht so scharf gezeichnet wie im Rechtssystem. Die Dystopie, die Juli Zeh in dem Roman "Corpus delicti" entwirft, wo den Menschen ein festes Sportpensum abverlangt wird und Schlaf- und Ernährungsberichte anzufertigen sind, ist noch nicht Wirklichkeit geworden. Gleichwohl ist dies eine weitere Verstrebung, die in das Gemäuer der uns umgebenden Objektivität eingezogen worden ist. Und von dem kommt, wenn wir fragen, warum etwas schief gelaufen ist in unserem Leben, stets das gleiche Echo zurück: Selber schuld.

Aggression nach innen und außen

In den Zeiten des gleichfreien Individuums und seiner Selbstverantwortung liegt der Fehler immer bei diesem. Mindestens hätten wir es besser machen können: fleißiger lernen, genauer zuhören, weniger Alkohol trinken, mehr Sport treiben. Ohnehin reicht unser empirisch konkretes Dasein niemals an die glattpolierten Kategorien heran, in denen sich die gesellschaftliche Objektivität präsentiert, der wir uns, um unsere "Chancen" zu wahren, anzupassen haben. Wer an diese unserem abstrakten Ich vorgeschaltete Objektivität glaubt, schlimmer noch: wer sie verinnerlicht hat, kann sich eigentlich nur schlecht und als Versager fühlen. Wobei der Größenwahn, der sich im Falle des Erfolgs einstellt, auch nicht gerade als Wohlbefinden einzustufen ist. Die Aggression, die mit der Frage nach der Schuld einhergeht, dürfte sich in den allermeisten Fällen gegen die eigene Person richten. Die weite Verbreitung der Depression und verwandter seelischer Zustände, die auf die komplette Lähmung aller Lebensgeister bis hin zum Selbstmord hinauslaufen, spricht dafür. Die Krankenkassen haben, natürlich mit dem Hinweis auf die "Kosten", die ihnen deshalb entstehen, schon mehrfach Alarm geschlagen.

Wer aber von seinem Temperament (und den Hormonen: sexuell frustrierte junge Männer spielen nach verbreiteter Ansicht die Hauptrolle) nach außen getrieben wird, wer sich benachteiligt und verraten fühlt und die Ursache für seine schlechten Gefühle in seiner Umgebung sucht, der findet dort eigentlich niemanden mehr, der wirklich zuständig wäre. Wir sind ja alle nur Ausführende von irgendwelchen mit Geld bezahlten Funktionen, denen das Rechtssystem den Stempel des objektiven Geltens aufgedrückt hat. Die Verantwortung, die justiziabel ist, besteht nur immer der jeweiligen Funktion gegenüber, die korrekt auszufüllen ist. Und Funktionsträgern, die - etwa im Arbeitsamt, im Gerichtssaal oder in der Bank - "bloß ihre Arbeit tun", begegnet man nicht als Personen, man kann ihnen nicht persönlich böse sein. Auch den kollektiven Ressentiments, die in den politischen Massenbewegungen des 20. Jahrhunderts gepflegt wurden und die den Aggressionen halfen, eine Richtung gegen "die Anderen" einzuschlagen, gleich ob rassistisch, nationalistisch oder soziologistisch bestimmt, ist der hassenswerte Feind abhanden gekommen. Sie wurden ersetzt durch den "demokratischen Diskurs", bei dem es um die objektiv zu konstatierenden "Fakten" geht und um die Frage, wie sie im Licht der "westlichen Werte" einzustufen sind. Wobei die "Finanzierbarkeit" einer politischen Entscheidung und die "internationale Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft", an der ja die "Arbeitsplätze" hängen, den selbstverständlichen Hintergrund aller Diskussionen bilden.

Das sind Fakten, die man nicht eigens zu thematisieren braucht. Dagegen sind die klugen Köpfe, die uns in den Talkshows und Diskussionsrunden die Kunst des sachlichen und zivilisierten Meinungsstreits vorführen, gerne bereit einzuräumen, dass es Menschen gibt, die das "Gefühl" haben, benachteiligt und abgehängt zu sein. Für einen Staat, der sich die "Allgemeinheit" auf die Fahne geschrieben hat, ist dies sehr wohl ein, wie es heißt: ernst zu nehmendes Thema. Hier muss diskutiert werden - wobei natürlich, wie auch sonst überall, das Schwergewicht auf der "Differenzierung" zu liegen hat. Denn die Gefühle sind ja unterschiedlich. Verschiedene Individuen nehmen die gleiche Situation verschieden wahr. Und manch einer, der unten war, ist dank seiner "Kreativität" oder einer wundervollen "Geschäftsidee" und mit viel Arbeit doch wieder auf die Füße gekommen.

Kurz gesagt: Der Druck, den der Kapitalismus mit seinen Effizienz- und Leistungskriterien auf die Menschen ausübt, hat im Verlauf der neoliberal moderierten Krise zugenommen. Viele haben Angst, ihre Arbeit nicht mehr zu schaffen, entlassen zu werden und ins soziale Abseits zu geraten. Viele befinden sich schon darin. Und das Plätschern der lauwarmen Brühe aus unverbindlicher Freundlichkeit und Besserwisserei, das sich "demokratische Öffentlichkeit" nennt, wirkt nicht mehr beruhigend oder einschläfernd, es wird - sofern man es noch zur Kenntnis nimmt - zunehmend als Hohn empfunden. Nämlich von denjenigen, die weniger gut reden, sehr wohl aber spüren können, dass sie in der kapitalistischen "Wohlstandgesellschaft" die Rolle des Losers innehaben.

Die Aggressivität der Menschen, die in der Konkurrenzgesellschaft ja immer eine Rolle spielt, hat jedenfalls zugenommen. Sie ist gewissermaßen über die sehr flach gewordenen Ufer der Privatsphäre (häusliche Gewalt, Autoverkehr, Sportereignisse) getreten und auf eine für unsere Zeit typische Weise öffentlich geworden. Spektakulär sind die erratischen Gewaltakte, die in den letzten Jahren von sich reden machten, vor allem deshalb, weil sie, anders als der gute alte Raubüberfall, keinerlei Ziel oder Zweck oder Richtung erkennen lassen. Jeden und jede, der oder die den Leichtsinn besitzt, mit der UBahn zu fahren, auf einem Bahnsteig zu stehen oder sich sonst an einem öffentlichen Ort, etwa einem Weihnachtsmarkt, aufzuhalten, kann es treffen. Die jungen Männer, die mit einem Mal explodieren und zuschlagen und treten und stechen, zeigen uns einen Hass, der gewissermaßen autonom geworden ist. Nicht einmal Mordlust kann man diesen Erscheinungsformen des geradezu philosophisch reinen Hasses unterstellen. Der lächerlichste Anlass genügt, um ihn hervorbrechen zu lassen, und oft genug ist gar kein Anlass vonnöten. Jedenfalls keiner, der sich unmittelbar aus der konkreten Situation heraus verstehen ließe.

Sehr wohl aber scheint mir das blindwütige Umsichschlagen zu einer Gesellschaft zu passen, die sich rein aufs blindwütige Funktionieren verlegt hat - entlang von Erfolgskriterien, die sich von den existentiellen Bedürfnissen der Menschen meilenweit entfernt haben. Da der Druck, den die von der Geldbewegung gesetzten Notwendigkeiten ausüben, in allen Lebensbereichen und schon von Kind auf wirksam ist, hat das, was sich da anstaut bei den jungen Losern der Leistungsgesellschaft, eine Tendenz zur Totalität. Der Druck, der von allen Seiten kommt, erzeugt den entsprechenden Gegendruck, sodass die Entladung in jede beliebige Richtung erfolgen kann. Der Amoklauf, der mit der Selbsttötung des um sich schlagenden bzw. schießenden Individuums endet, scheint mir daher, weil der Hass hier auch gegen die eigene Person gerichtet ist, dieser Art von Totalität am besten zu entsprechen. Er hat, wie bekannt, seit den 90er-Jahren des letzten Jahrhunderts einen beachtlichen Aufschwung erlebt. Wobei sich die USA in ihrer Rolle als "westliche Führungsmacht" gerade auf diesem Gebiet hervorragend bewährt haben. Dass der islamistische Terror, soweit er in den westlichen Metropolen stattfindet, ebenfalls hier einzuordnen ist, also dem kapitalistisch induzierten Konzept des Allround-Hasses folgt, nicht etwa einer politischen oder gar theologischen Strategie, halte ich für eine Selbstverständlichkeit. Darauf muss hier nicht weiter eingegangen werden.

Die Wendung zur Systemkritik

Erst in allerjüngster Zeit werden diese Phänomene, in denen die kapitalistische Krise vorwiegend individuell erlebt wird und individualistische Ausdrucksformen annimmt, ergänzt und überlagert von einer Bewegung, bei der die soziale Grundlage sich deutlicher als solche bemerkbar macht. Aggressivität und Gewaltbereitschaft sind hier ebenfalls hervorstechende Merkmale, aber der Hass versucht doch, eine die Menschen verbindende Richtung einzuschlagen. In den verwendeten Parolen ist diese Richtung natürlich systemimmanent, und sie wird, da sie der "Weltoffenheit" des globalen Kapitalismus zuwider läuft, von den Ideologen der Demokratie gerne als "rechtsradikal" oder "rechtspopulistisch" entsorgt. Im Falle der Unruhen à la Chemnitz und Köthen, wo sich die dort seit den neunziger Jahren etablierte Neonazi-Szene als Stichwortgeber angedient hat und weiterhin andient, ist das leicht zu bewerkstelligen. Anders dagegen verhält es sich mit den französischen "Gelbwesten", die ja von rechten und linken Ideologen hofiert werden. Und die soziale Grundlage der Wut ist so oder so nicht wegzudiskutieren.

Diese Wut aber scheint mir bei den protestierenden Menschen, von denen viele ja zum ersten Mal auf die Straße gehen, das eigentlich Bemerkenswerte zu sein, wichtiger als die ideologischen Brocken, die von allen Seiten heranschwirren. Sie hat lange gebraucht, um öffentlich in Erscheinung zu treten, und sie dürfte bei der gediegenen Krise, in der sich der Kapitalismus befindet, nachhaltigen Charakter besitzen. Sie hat eine Tendenz zur "schrecklichen Vereinfachung", oftmals werden "die Politiker" pauschal an den Pranger gestellt, sodass sie möglicherweise ausbaufähig ist. Für den einen oder anderen Bürger, der bislang nur bis zum Monatsende gedacht hat, könnte sie zu einem Motiv werden, die kapitalistische Gesellschaft als ganze in den Blick zu nehmen. Vorläufig sollte man sie als Sand im Getriebe des herrschenden Moralismus willkommen heißen.

Dieser nennt den Kapitalismus niemals beim Namen, weder als Ursache der Klima- noch der Flüchtlingskatastrophe, tut aber so, als seien mit ein paar "unseren Egoismus" einschränkenden Gesetzen alle Probleme zu bewältigen: "Wir schaffen das." Allgemein geltend, wie es sich für demokratische Gesetze gehört, wenden sie sich an die oberen und die unteren Etagen der Gesellschaft gleichermaßen. Enger geschnallt wird der Gürtel aber immer nur bei jenen, die sich unten befinden. Offenbar haben die Leute das moralische Geseiche satt, das von den Reichen verlangt, ihre "Profitgier" zu zügeln, und von den Lohnempfängern, "maßvoll" in ihren Forderungen zu sein und ihre "Anspruchshaltung" zu überdenken. In der Chefetage wird der "internationale Wettbewerb", der ganze Weltregionen in den Ruin gertrieben hat, wie eine Naturtatsache behandelt, oft wird ihm sogar als der Quelle "unseres Wohlstands" und der "Warenvielfalt" ein Loblied gesungen; wenn die unten aber das glei che Spiel spielen, wenn sie den "Wettbewerb" auf ihre Weise verstehen und die ausländischen "Mitbewerber" auf dem Arbeitsmarkt anpöbeln und handgreiflich werden, dann schüttelt der Vorstandsvorsitzende den Kopf und spricht von "Rassismus". Heuchelei ist das, nichts weiter. In einer Welt des rücksichtslosen Catch-as-catch-can, in der die Vorstandsgehälter explodiert sind und die Bonuszahlungen der Banken in die Milliarden gehen, sollen ausgerechnet die sogenannten kleinen Leute moralischen Edelmut auf bringen und vom Diesel-Fahrverbot bis zur Benzinsteuer, von der Rentenkürzung bis zum befristeten Arbeitsvertrag die Maßnahmen gutheißen, die es dem Kapitalismus erlauben, mit dem "ewigen Wachstum" noch ein Weilchen fortzufahren.

Für die moralisierende Linke, die vor allem Bekenntnisse hören will: Bekenntnisse zu einem Ismus, mit dem sich schöne Bilder und Vorstellungen verbinden lassen - allseitige Toleranz und Weltoffenheit, Friede mit der Natur - sind die rabiaten Wutbürger natürlich ein Graus. Und in der Tat sind sie, ins herkömmliche politische Schema gepresst, eher rechts orientiert, man kann in ihrem Protest gegen staatliche Umweltauflagen auch eine Ergänzung des Neoliberalismus von unten sehen - à la "freie Fahrt für freie Bürger!". Aber Vorsicht - im Hintergrund kichert die Dialektik! In Sachsen macht man sich angesichts der hässlichen Schläger-Szenen bereits Sorgen ums "Investitionsklima", und in Frankreich soll die wiederholte Blockade von Verkehrskreiseln die Just-in-time-Lieferung von Werkstücken verhindert und in etlichen Fabriken die Produktion zum Stocken gebracht haben. Sogar am heiligen Index des BIP, der ein wenig nach unten gezuckt hat, soll dies abzulesen sein.

Man kann also den Kapitalismus und seinen von allen konkreten Bedürfnissen abgekoppelten Produktionszwang durchaus beeinträchtigen, wenn man nur ordentlich "auf seine Gefühle hört" und öffentlich "dazu steht" - ein altes Motto der Psycho-Szene. Was sich in dieser neuen, meines Erachtens jenseits der Politik angesiedelten, von ihr jedenfalls nicht zu steuernden Bewegung möglicherweise andeutet, ist die praktische Korrektur eines theoretischen Mankos, das die traditionelle Linke seit dem 19. Jahrhundert mit sich herumschleppt: zu glauben, dass die Prinzipien der Demokratie, an denen sie die Realität des Kapitalismus zu messen pflegt, irgendetwas mit Antikapitalismus zu tun haben.

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2000 Zeichen abwärts

Die Parteiwut

Der Doktor schlug ferner vor, jeder Abgeordnete einer Nationalversammlung solle, nachdem er seine Meinung ausgesprochen und verteidigt habe, gezwungen werden, seine Stimme für die entgegengesetzte Meinung abzugeben. Geschehe das, so werde das Resultat unfehlbar zum Vorteil der Allgemeinheit ausfallen.

Wenn die Parteiwut in einem Staat zu heftig wird, so sei ein wunderbares Mittel anzuwenden, damit der Friede wiederhergestellt werde. Die Methode ist folgende: Man nimmt ungefähr hundert Führer von jeder Partei und stellt sie paarweise, nach Ähnlichkeit ihrer Schädel, auf. Alsdann sägt ein geschickter Operateur die Schädel eines jeden Paares zur gleichen Zeit und in solcher Weise ab, daß er die Gehirne auf die gleiche Weise teilt. Alsdann werden die abgesägten Teile des Hirnschädels vertauscht, indem jeder dem Kopf seines Gegners angefügt wird.

Allerdings scheint dieses Verfahren einige Geschicklichkeit zu erfordern. Der Professor versicherte uns jedoch, der Erfolg sei unfehlbar, wenn die Operation nur geschickt ausgeführt werde. Seine Schlußfolgerung war diese: Da die beiden Gehirne dann in einem Schädel die Sache unter sich ausmachen, werden sie sich bald gegenseitig verständigen und dadurch jene Mäßigung und Regelmäßigkeit im Denken bewirken, die in den Köpfen derjenigen so sehr zu wünschen wäre, die einzig zu dem Zweck auf die Welt gekommen zu sein glauben, deren Bewegung zu überwachen und zu lenken. Was nun den qualitativen und quantitativen Unterschied der Gehirne der Parteiführer betrifft, so versicherte uns der Doktor aus eigener Erfahrung, daß dieser völlig belanglos sei.

aus: Jonathan Swift, Gullivers Reisen (1726),
Berlin(Ost) 1985, S. 208

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Akademische Ausgüsse

In einem Gebetsbuch zelebriert Lisa Herzog einmal mehr Arbeit und Politik

von Franz Schandl


"Worauf es deswegen bei dem Studium der Wissenschaft ankommt, ist, die Anstrengung des Begriffs auf sich zu nehmen. Sie erfordert die Aufmerksamkeit auf ihn als solchen. (...) Der Gewohnheit, an Vorstellungen fortzulaufen, ist die Unterbrechung derselben durch den Begriff ebenso lästig als dem formalen Denken, das in unwirklichen Gedanken hin und her räsoniert. (...) Räsonieren hingegen ist die Freiheit von dem Inhalt und der Eitelkeit über ihn."

(G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes)


Krise? - Aber woher denn! Arbeit? - Aber unbedingt! Dem "Ende der Arbeit" stellt Lisa Herzog ganz forsch die "Rettung der Arbeit" gegenüber. Doch was soll da eigentlich gerettet werden? Auffällig ist wieder einmal die saloppe Ontologisierung, indem diesem Begriff jedes Tun und Handeln zugeschlagen wird. Arbeit ist also keine bestimmte Form der Tätigkeit, sondern eine elementare Eigenschaft der Gattung. Gearbeitet wurde immer, sagt der gesunde Menschenverstand und Lisa Herzog nickt das einfach ab: "Arbeit ist eine zutiefst menschliche Angelegenheit: etwas, das so sehr zu unserem Wesen gehört, dass es sie wahrscheinlich auch dann noch gäbe, wenn die sozialen Verhältnisse komplett anders organisiert wären und Maschinen uns noch mehr Aufgaben abnehmen könnten, als es vermutlich je der Fall sein wird. Menschen wollen etwas schaffen, sie wollen ihre Welt gestalten - Arbeit ist eine zentrale Form, die dieser Drang annimmt." (S. 9) Es ist also der eherne Drang, der die Arbeit schafft, nicht die gesellschaftliche Bedrängung, die sie setzt. Arbeit wird zum Instinkt, jede prinzipielle Distinktion erscheint vor diesem Hintergrund als weltfremd, absurd, aussichtslos. "Gegen wen aber schreibe ich damit an? Wer könnte dagegen sein, die Arbeit zu retten?" (S. 14), sagt sie mit der Selbstsicherheit einer fränkischen Hausfrau. "Menschsein bedeutet, die materielle Umgebung zu formen und selbst dadurch geformt zu werden." (S. 10) Nur, das ist nicht Arbeit. Arbeit ist lediglich eine bestimmte Form dieser tätigen Formierung und nicht jedes Verhalten schlechthin.

Dass wir es andersherum auffassen, mag schon sein, bloß ist das reine Affirmation, die durch sprachliche Usurpation uns so weit gebracht hat, jedes Tun als Arbeit anzusehen, ja anzupreisen. Nicht zufällig sprechen wir heute sogar von Hausarbeit und Trauerarbeit, Erziehungsarbeit und Beziehungsarbeit etc. Uferlos ist sie geworden, die Arbeit. Während ihr realer Spielraum schrumpft, weitet sich ihr virtueller Gedenkraum unablässig aus. "Partnerschaft und gelebte Liebe ist Arbeit", verkündet inzwischen nicht nur die Open-Mind-Akademie aus Mörfelden-Walldorf. Auch Parship behauptet das. Alles ist Arbeit und Arbeit ist unser alles.

Unbestritten ist, dass heute Akzeptanz in erster Linie durch Arbeit erfolgt. Anerkennung via Arbeit sagt freilich, dass wir ohne sie nackt sind, nichts gelten. Anerkennung wird den Menschen also nicht für ihr Menschsein gezollt, sondern für die Arbeitsbereitschaft, d.h. sich auf dem Markt zu verdingen und dies auch zu können. Anerkennung ist hier eine indirekte, eine, die vom Menschen abstrahiert und ihn ob seines ökonomischen Wertes (ein)schätzt. Erst wenn ich deine Charaktermaske kenne, vermag ich zu registrieren, welchen Wert du hast. Achtung ist kein prinzipielles Gut, sondern eine spezifische Ware. Man muss sie sich verdienen.

"Dass man im Lauf seines Berufslebens mehrfach Brüche und Veränderungen erlebt, was in Zukunft eher die Regel als die Ausnahme sein könnte, muss dann nicht unbedingt eine Bedrohung sein - es können auch Chancen darin liegen, nicht lebenslang auf eine bestimmte Bahn festgelegt zu sein." (S. 53f.) Aber beide Male entscheiden nicht die Subjekte. Sie bestimmen weder die Festlegungen noch die Aussonderungen. Bezogen bleibt eins allerdings immer auf die gesellschaftliche Form des Stoffwechsels, d.h. dass man Geld haben muss, für das man zu arbeiten hat oder arbeiten lässt. Die Inhalte werden flexibler, doch das Betriebssystem bleibt unverändert. Der Zwang, flexibel sein zu müssen, wird bei Herzog zur Freiheit nicht gebunden sein zu müssen. Freilich hängt solche Freiheit sehr davon ab, wie man am Markt positioniert ist, resp. selbst zu disponieren vermag. Ist letzteres nicht der Fall (also in den meisten Fällen!), dann wirkt Flexibilisierung wie eine Peitsche. Es ist schließlich ein fundamentaler Unterschied, ob man flexibel handeln kann oder ob man flexibilisiert wird. Aktiv und Passiv sind nicht eins, sie sind eine Differenz ums Ganze.

So stellt sich abermals die Frage: Wem nutzen die Chancen und wen benutzen sie bloß? Es ist pure Ideologie, jede Entwicklung als Chance wahrzunehmen, jedes Risiko auszuloben und überall gute Seiten zu erkennen. Hier grassiert das positive Denken. Mit Denken im eigentlichen Sinne hat diese Lust an hingebender Unterwerfung jedoch nichts zu schaffen.

Mitreden-Mitbestimmen-Mittun

"Menschliche Arbeit bedeutet immer auch, Verantwortung für das zu übernehmen, was man tut - das gilt für einen Manager wie für eine kleine Angestellte. Man mag sich der Haftung für das eigene Handeln entziehen können - die moralische Verantwortung wird man dadurch nicht los. Arbeiten heißt nicht nur, bestimmte konkrete Schritte auszuführen, sondern sich zu überlegen, warum sie zu tun sind, wie sie sich in einen größeren Zusammenhang einfügen." (S. 129) Letzteres heißt es dezidiert nicht, da wird der Arbeit etwas angedichtet, was im Regelfall völlig unerheblich ist. Es gilt vielmehr, Aufträge auszuführen, um an Geld zu kommen. Verantwortung übernehmen bürgerliche Subjekte für die ihnen gestellten Aufgaben. Die Erledigung steht im Mittelpunkt, nicht Ursache oder gar Wirkung. Muskel, Nerv und Hirn sind für ersteres veranschlagt.

Mittuer sind zwar Mittäter, doch täten sie nicht mit, zeitigte es für sie fatale Folgen, eben weil man sie von den Gehaltslisten streichen würde. Daher machen sie mit und definieren den Zwang via Mitbestimmung und Zustimmung in Selbstbestimmung um. Es gilt nicht bloß, das Falsche richtig zu machen, sondern auch das Falsche für richtig zu halten. Via falsches Bewusstsein wird das Falsche richtig. So hat dann alles seine Richtigkeit.

Wo ein "mit" vorne klebt, sollte man vorsichtig sein. Zwischen Denken und Mitdenken etwa besteht ein gravierender Unterschied. Mitdenken kommt über Kapieren nicht hinaus, es ist unkritisch wie zweckgebunden. Mitdenken erfüllt bloß eine Funktion, bedeutet lediglich darüber zu reflektieren, was zu tun ist, nicht was ist. Das Ziel steht nicht in Frage. Mitdenken ist eine Kategorie für die Beschränkten zur Aufrechterhaltung der Beschränkungen. Da mag das Know how unserer Spezialisten und Fachkräfte noch so groß sein. So tief ihr Wissen auch reicht, ihr Bewusstsein bleibt seicht.

Geradezu hanebüchen folgende Passagen: "Wenn man also Demokratie als die beste Organisationsform im politischen Bereich anerkennt, warum sollten ihre Prinzipien dann nicht auch auf den wirtschaftlichen Bereich anwendbar sein?" (S. 167): "Warum, so die Frage, sollte man diese Mechanismen nicht auch in der Wirtschaftswelt einsetzen?" (S. 164) Ja, warum denn nicht? "Die Frage wäre also, wie derartige Firmen - die heutigen Aktiengesellschaften - demokratisch gestaltet werden könnten. Einen konkreten Vorschlag dazu hat Isabelle Ferreras vorgelegt. Sie schlägt ein Zwei-KammernSystem vor, in dem jeweils die Kapitalund die Arbeitsseite vertreten sind. Um Entscheidungen zu treffen, müsste in beiden Kammern eine Mehrheit gefunden werden." (S. 169)

Nur was ist, wenn in beiden Kammern keine Mehrheiten zustande kommen oder sich widersprechende. Steht dann der Betrieb still? Schon allein, wenn diese "Partizipationsarbeit" bezahlt werden müsste (oder sollen die Arbeitenden sie in ihrer Freizeit erledigen?), würden sich extreme Wettbewerbsnachteile für solche Firmen ergeben. Experimente der Selbstverwaltung zeigen, dass die Arbeiter durch ein ihnen zusätzlich oktroyiertes Unternehmerdasein doppelt belastet werden: Neben der eigentlichen Arbeit haben sie nun auch noch die Absatzmärkte zu studieren, sie müssen sich umfassend informieren, müssen diskutieren und lobbyieren, taktieren und intrigieren. Warum sollen sie das wollen? Ist es da nicht viel weniger aufreibend und insbesondere bequemer, sich ein Bier oder einen Film reinzuziehen als an diesem Partizipationsmarathon teilzunehmen?

Mitbestimmung unter kapitalistischen Bedingungen bedeutet Erhöhung des Aufwands bei Schmälerung der Erträge. Reibungsverluste wären groß und Fehlentscheidungen häufig. Demokratieverdrossenheit würde schnell um sich greifen. Das sind allesamt schlechte Utopien, deren Bruchlandung schon in der Konstruktion vorgegeben ist. Eine Demokratisierung der Firmen ist nur durch Aufblähung der Bürokratie zu erreichen, die wiederum das Agieren der Betriebe am Markt erschwert, weil Entscheidungsfindungsprozesse sich viel mühsamer gestalteten als durch Autorität und Hierarchie. Mehr als ein Verkomplizieren ist hier nicht drin. Es droht die Manövrierunfähigkeit.

Die Bourgeoisie und ihre Ideologen haben völlig recht: Demokratie in der Wirtschaft ist die Selbstbestimmung der Eigentümer. Punkt. Arbeitermitbestimmung ist ein furchtbar alter Hut. Auch der hundertste Anlauf wird zeigen, dass Selbstverwaltung und Mitbestimmung unter kapitalistischen Vorzeichen ökonomisch zum Scheitern verurteilt sind. Der unvermeidliche Flop führt hierauf realiter zu nichts anderem, als dass einmal mehr in triumphalistischer Manier verkündet wird, dass Selbstverwaltung nie und nimmer funktionieren kann. Aber aufgepasst, das spricht nicht gegen Selbstverwaltung, sondern nur gegen ihre Einbettung in Kapital und Demokratie.

Die gemeinhin geforderte "Integration und Partizipation auf Augenhöhe" (S. 185), kann schon deswegen nicht statthaben, weil durch den Wert verschiedene Wertigkeiten von Menschen über den Markt reguliert werden. Dass etwas und jemand minderwertig ist, ist immanent und das drückt sich auch in ihrer unterschiedlichen Geschäftsfähigkeit aus, in allen Schattierungen zwischen ökonomisch bedingter Achtung und Ächtung. Dieser ungleiche Wert der Menschen wird über die sogenannte Leistung begründet, die nichts anderes darstellt als den Grund und die Legitimation sozialer Degradation.

Im Rausch der Demokratie

"Für die Gestaltung der künftigen Arbeitswelten wird es entscheidend sein, ob die Stimmen der Betroffenen und insbesondere der Beschäftigten, denen es um die Qualität ihrer Arbeit in Symbiose mit den digitalen Systemen geht, gehört werden oder nicht." (S. 160) Die entscheidende Stimme des kapitalistischen Treibens ist jedoch die Rentabilität, alle anderen Kriterien sind Trabanten. Partizipation in den Betrieben nützt gar nichts, wenn der Zweck aller ökonomischen Tätigkeit weiterhin der Profitmaximierung dient und in der Verwertung liegt. Auch Transparenz kann es unter den unmittelbaren Erfordernissen der Betriebsgeheimnisse gar nicht geben. Sie stirbt an der Konkurrenz einen schnellen Tod.

Aber die Autorin lässt nicht locker. "Das langfristige Ziel muss deshalb sein, auch die Arbeitswelt demokratisch zurückzuerobern: ohne Dogmatismus, unter Berücksichtigung der komplexen Rahmenbedingungen einer globalisierten Welt, mit einer gehörigen Portion Realismus, aber eben doch mit der Ausrichtung an dem Ideal, dass wir als Bürgerinnen und Bürger die Ausübung von Macht demokratisch kontrollieren - auch die Ausübung wirtschaftlicher Macht!" (S. 174) Mit Verlaub: Wann war die Arbeitswelt im Herzog'schen Sinne denn demokratischer: Unter Friedrich Ebert? Konrad Adenauer? Helmut Schmidt?

Die objektiven Vorgaben geraten unserer demokratieberauschten Autorin aber völlig aus dem Visier. Ebenso die ehernen Rationalisierungen, gegen die ebensowenig entschieden werden kann, weil nur sie das wirtschaftliche Überleben sichern. Dafür will Herzog Ansätze "für eine gerechte und demokratische Gestaltung der Arbeitswelt herausarbeiten" (S. 26). Stets wird via gedankenloses Vokabular unsere Reflexion in die Kläranlage der Affirmation geleitet. Schließlich kulminieren die Fürbitten in ein seliges Gebet an die Werte: "Was fehlt, ist eine Einigung auf grundlegende Werte und die Entwicklung einer Vorstellung davon, wohin es mit der digitalen Transformation der Arbeitswelt im Interesse des Gemeinwohls gehen könnte." (S. 8) In Werten wir denken und glauben und schwärmen. Amen. Wann immer den Gemeinen wohl wird, wird einem wie mir ganz unwohl.

Arbeitsteilung-Arbeitsverdichtung-Arbeitszeit

Auch was Marx so meint, meint Herzog zu wissen. So meinte dieser etwa, dass "Arbeitsteilung an sich der menschlichen Natur" widerspreche (S. 60) und sie verweist dabei konkret auf die Deutsche Ideologie. Wie kommt der nur zu solchem Unsinn, werden sich die Leser fragen anstatt zu fragen wie sie dazu kommt. Bei Marx lesen wir an der Stelle, auf die Herzog sich für ihre Ansicht beruft, Folgendes: "Wie weit die Produktionskräfte einer Nation entwickelt sind, zeigt am augenscheinlichsten der Grad, bis zu dem die Teilung der Arbeit entwickelt ist. Jede neue Produktivkraft (...) hat eine neue Ausbildung der Teilung der Arbeit zur Folge." (MEW 3, S. 21f., Siehe auch S. 33, 46ff.; weiters MEW 23, S. 375f.; MEW 40, S. 560ff.)

Im Ersten Band des Kapital heißt es: "In der Gesamtheit der verschiedenartigen Gebrauchswerte oder Warenkörper erscheint eine Gesamtheit ebenso mannigfaltiger, nach Gattung, Art, Familie, Unterart, Varietät verschiedner nützlicher Arbeiten - eine gesellschaftliche Teilung der Arbeit. Sie ist Existenzbedingung der Warenproduktion, obgleich Warenproduktion nicht umgekehrt die Existenzbedingung gesellschaftlicher Arbeitsteilung. In der altindischen Gemeinde ist die Arbeit gesellschaftlich geteilt, ohne dass die Produkte zu Waren werden. Oder, ein näher liegendes Beispiel, in jeder Fabrik ist die Arbeit systematisch geteilt, aber diese Teilung nicht dadurch vermittelt, dass die Arbeiter ihre individuellen Produkte austauschen. Nur Produkte selbständiger und voneinander unabhängiger Privatarbeiten treten einander als Waren gegenüber." (MEW 23, S. 56f.)

Die Teilung von Produktionsprozessen (gemeinhin "Arbeitsteilung" genannt) ist keinesfalls als eine prinzipielle Frage von Pro oder Contra zu diskutieren, sondern sie ist maßgeblich nach den jeweiligen Vorgaben und Erfordernissen zu bestimmen. Was wird weshalb wozu geteilt? Nicht nur im Kapitalismus. Bei aller Forcierung polytechnischer Fähigkeiten, werden nie alle alles tun können und auch wollen. Ob Marx oder Herzog hier undifferenziert argumentieren, überlasse ich gerne dem Publikum.

Die Autorin vereinseitigt Arbeitsteilung und Technik zu einer menschlichen Erfolgsgeschichte, diese wird wieder einmal zu einer Erzählung des Fortschritts. Kategorisch behauptet sie: "Es hat schon zur Natur menschlicher Arbeit gehört, diese in ihre Schritte zu zerlegen und Gerätschaften aller Art einzusetzen, um sie zu erleichtern." (S. 25) Arbeit wird aber nicht bloß erleichtert, sie wird vor allem verdichtet und damit wiederum erschwert. Früher war Arbeit oft kräfteraubender, weil körperlich anstrengend, nunmehr ist sie effizienter, aber psychisch belastender. Die Berufsbilder haben sich geändert wie die Krankheitsbilder mit ihnen. Das permanente Versprechen technischer Innovation weniger arbeiten zu müssen, sollte sich freilich nicht erfüllen. John M. Keynes sagte schon in den 1930er-Jahren eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit auf 15 Stunden voraus. Eingetreten ist das nicht. Wir sind heute mehr beschäftigt als ehedem, da mag die gesetzliche Arbeitszeit auch einige Male herabgesetzt worden sein. Ziel ist nämlich nicht, Arbeit zu erleichtern, sondern sie zu verbilligen. Erleichterung ist maximal ein Effekt. Die zentrale Erschwernis liegt heute jedenfalls in dieser Intensivierung.

In "prometheischer Scham" (Günther Anders) hechelt der Arbeiter der Maschine nach. Die weitgehende Abschaffung des Bummelns in der Arbeit beseitigt Erholungsphasen, die früher inhärent gewesen sind. Der Taylorismus sorgt für die Eliminierung unproduktiver Unterbrechungen, die zu Lasten der Beschäftigten geht, seien diese unselbständig oder outgesourced. Betulichkeit, Genügsamkeit, Lockerheit, bedächtiges und ruhiges Schaffen; das alles darf man nicht durchgehen lassen. Tachinieren verboten! Es herrscht das strenge Regime der Leistung, das Diktat der Arbeitsökonomie in allen Sparten. Niemand soll mehr eine ruhige Kugel schieben. Blau machen geht gar nicht! Verwertungsfreie Sequenzen sind zu liquidieren. Standort! Konkurrenz! Wachstum!

"Im günstigsten Fall wird durch den Einsatz neuer Technologien die Zeit, die für wirtschaftlich notwendige Arbeit gebraucht wird, verringert - es bleibt mehr Lebenszeit für andere Aktivitäten, einschließlich der Pflege derartiger Hobbys." (S. 65) Bewerkstelligen sie das wirklich, wenn wir alles, d.h. auch das Nichtmonetäre berücksichtigen? Wenn wir Entwicklung als einen organischen Prozess betrachten, nicht als statistische Markierung reduzierter Momente? Aber selbst wenn Herzog recht hätte, stellt sich immer noch die Frage, wie diese Verringerung sich ausdrückt. Illustrieren wir es an einem Beispiel. Angenommen wird, dass 4 Arbeiter 20 Stück in 20 Stunden herstellen. Wenn sie nun aber die gleiche Stückzahl in 10 Stunden fertigen könnten, reduziert sich paradoxerweise nicht deren Arbeitszeit, sondern die Beschäftigtenzahl auf zwei bei gleicher Arbeitszeit. Die Freiwerdung der Arbeitszeit wird zur Freisetzung der Arbeiter genutzt. Verwendet wird der Produktivitätsanstieg dazu, den Kostpreis der Ware Arbeitskraft zu senken, indem man weniger variables Kapital beschäftigen muss, kurzum Arbeiter entlässt. Das Kapital will also nicht die Arbeitszeit, sondern die Produktions- und Umlaufszeit der Waren reduzieren.

Märchenstunde Staatsbürgerkunde

Es ist keine große, dafür aber eine maßlose Erzählung. Unablässig schwätzt die demokratische Bewusstlosigkeit von der Mündigkeit. Wir, das sind die selbstbestimmten Wesen. "Was die Arbeit mit uns macht, hängt maßgeblich davon ab, was wir mit der Arbeit machen. Vor uns liegt die Aufgabe, die gestellten Fragen politisch zu beantworten." (S. 186) Herzog schreibt: "Dass die Dinge sich irgendwie von selbst regeln, dass alles einer höheren Logik folgt, dass man nichts tun kann und deshalb sowohl Privatleute als auch Politikerinnen aus ihrer Verantwortung entlassen sind - diese Logik klingt vertraut. (...) Aber in Bezug auf die digitale Transformation scheint es teilweise eine ähnliche Haltung zu geben: Sie wird als etwas wahrgenommen, das einer höheren Logik folgend einfach passiert." (S. 71f.) Indes passiert sie nicht tatsächlich, und ist nicht umgekehrt die Illusion der politischen Steuerung geradezu kontraproduktiv, da sie etwas unterstellt, was diese Kraft gegen jene nie entfalten kann. Die Autorin streut Sand in die Augen anstatt analytische Hilfe zu leisten. D.h. nicht, dass man nichts tun kann, sehr wohl aber, dass es nötig wäre, zu überlegen, welche Form dieses Tun annehmen kann, ohne es gleich voreilig der Sphäre der Politik zu überantworten.

Politik wird groß geschrieben. Was die nicht alles könnte, wenn sie nur wollte. Sätze, wie wir sie zur Genüge kennen und wie sie auch jeder Werbebroschüre entnommen werden könnten, sind solcher Natur: Es geht um "ein 'taking back control' im Sinne einer demokratischen Kontrolle der Wirtschafts- und Arbeitswelt." (S. 21f.) Oder: "Dabei bieten neue Kommunikationstechnologien zahlreiche neue Möglichkeiten der Partizipation, die dem alten Projekt einer Demokratisierung der Wirtschaftswelt ganz neuen Auftrieb verschaffen können. Diese Chance sollten wir als Gesellschaft nicht ungenutzt lassen (...)." (S. 18) Der Socken ist nur frisch, weil frisch gewaschen. Neu ist da gar nichts.

Auf jeden Fall gelte es "aktiv die Rahmenbedingungen zu gestalten" (S. 21). Ja, der Rahmen und seine Bedingungen. Vielleicht sollte man sich dereinst aufraffen, dieses Wort (von einem Begriff ist ja kaum zu sprechen) zu hinterfragen. In etwa: Setzen die Bedingungen den Rahmen oder der Rahmen die Bedingungen? Und was ist der Rahmen, kann man den dechiffrieren? Wäre spannend, bevor man stracks meint, den Bedingungen einfach einen beliebigen Rahmen auf halsen zu können. Es ist das politizistische Kauderwelsch, das hier schwadroniert. Herzog agiert gleich einer akademischen Sprechpuppe. Immer wird eine Autonomie der politischen Entscheidung vorausgesetzt als sei sie, da mag sie sich auch noch so desavouieren, eine gegebene Sache. Natürlich bleibt auch die Kategorie der Politik unreflektiert. Was sie können kann, ist was sie können will, so das krude Credo, das nicht und nicht verhallen möchte.

Die Politikillusion erreicht geradewegs schwindelnde Höhen: "Denn auf der Ebene der Politik gibt es erst recht keine 'unsichtbare Hand', die ohne den aktiven Einsatz menschlicher Individuen irgendwie alles zum Besten führen würde. Anders formuliert: die 'Hände', die Märkte gestalten, sind die Abgeordneten in Parlamenten, die als Volksvertreter über Gesetze und Regulierungen abstimmen. Es sind die Bürgerinnen und Bürger, die sie wählen oder ihnen mit Abwahl drohen. Und es sind Richterinnen und Richter, die Recht sprechen und dafür sorgen, dass die demokratisch beschlossenen Regeln eingehalten werden." (S. 80f.) Sie dachten, sie seien an der Macht und waren doch nur an der Regierung. Die aktuelle Ohnmacht der Politik erscheint sodann als Unfähigkeit und Unwille. Dafür wird einmal mehr das Märchen der Souveränität vorgetragen. Was sagen? Die Abgeklärtheit diverser Politiker ist wahrlich der Aufgeklärtheit solcher Wissenschaft vorzuziehen.

Mitten im Staatsbürgerkunde-Unterricht für maßlos Fortgeschrittene vernehmen wir dieses: "Wenn dieser Rahmen zugunsten derjenigen, die mehr haben, verzerrt wird - sei es, weil sie durch Lobbyismus Einfluss auf die Politik nehmen, sei es, weil sie sich bessere Anwälte leisten können -, dann verschiebt sich das System zu ihren Gunsten. Damit wird es ihnen leichter gemacht, noch mehr Geld zu verdienen, um dann noch mehr politischen Einfluss zu nehmen und noch mehr Regeln zu ihren Gunsten zu verzerren - ein sich selbst verstärkender Prozess, der die Ungleichheit in unseren Gesellschaften weiter anwachsen lässt und dafür sorgt, dass die Märkte immer weniger zum Wohl aller und stattdessen immer stärker zugunsten derjenigen wirken, die sowieso schon ganz oben stehen." (S. 81) Aber diese Oberfläche hat einen Untergrund, den zu benennen sich Herzog scheut oder den sie überhaupt nicht sieht. Politik wird vorgeführt als die geradezu sichtbare Hand, die, wenn sie nur richtig eingriffe und zugriffe, vieles gut machen und erledigen könnte. Doch nicht Beschlüsse und Pläne der Betroffenen schaffen Tatsachen, sondern das geschäftstüchtige Treiben der Konkurrenten, deren Aufgabe darin besteht, diesen Gesetzen des Kapitals zu entsprechen. Nicht Entscheidungen schaffen Resultate, sondern Resultate Entscheidungen.

Hierarchie gegen Demokratie?

"Unser politisches System beruht auf der demokratischen Kontrolle von Hierarchien und der repräsentativen Interessensvertretung durch gewählte Politiker, die ihr Mandat nur dann behalten, wenn sie den Interessen ihrer Wähler dienen, denn diese können sie andernfalls abwählen. Das System funktioniert nicht perfekt, und man kann trefflich darüber streiten, welche Varianten am besten sind, ob Mehrheitswahlen oder Verhältniswahlen, kürzere oder längere Wahlperioden, mehr oder weniger föderale Ansätze. Alles in allem aber gilt der berühmte Satz Winston Churchills: Die Demokratie ist die schlechteste Regierungsform - abgesehen von allen anderen!" (S. 163) Halleluja.

Schon die behauptete Dichotomie zwischen "Hierarchie oder Demokratie?" (S. 143), sollte einen stutzig machen. Demokratie als Form der Herrschaft kombiniert Hierarchie und Bürokratie in ganz bestimmter rechtlicher Form. Hierarchie verschwindet übrigens nicht, wenn sie in das Innere der Unterworfenen verlegt wird. Das holzschnittartige Bild von Entscheidungsprozessen und Partizipationsverläufen, von Transparenz und Effizienz ist analytisch mehr als bescheiden. Das Inventar der Autorin gedeiht bloß auf der Bekenntnisebene der Konventionalität. Dass Lisa Herzog Philosophin ist, fällt nicht wirklich auf.

Ideologin ist sie auf jeden Fall. "Denn es gibt für die Grundordnung einer freiheitlichen, demokratischen Gesellschaft vielleicht kaum eine gefährlichere Tendenz, als wenn der Eindruck entsteht, man hänge die Kleinen und lasse die Großen laufen." (S. 104) En passant findet sich der alte konservative Kampf begriff von der FdGO ("Freiheitlich-demokratischen Grundordnung") bei der Autorin als korrekte Beschreibung des politischen Systems wieder. Man ist bass erstaunt über diese Geschichtsvergessenheit. Andererseits ist ihr Eindruck natürlich auch kein falscher. Solange es systembedingte Positionierungen gibt, werden die Kleinen gehängt und nicht die Großen. Wobei auch nichts gewonnen wäre, würde man die Großen ebenfalls hängen. Dass Menschen hängen und vor allem hängen gelassen werden, ist schlicht zu überwinden. Für die "Gleichheit der Sanktionierung" (S. 125) zu plädieren, ist überhaupt ausgesprochen abgeschmackt. Eine Gleichheit der Sanktionierung kann es unter dem Vorzeichen des Geldes gar nicht erst geben. Auch asymptotisch nicht. Recht ist primär eine Frage der ökonomischen Potenz.

Affirmation und Akademie

Von Leibniz über Kant und Hegel bis zu Adorno verachteten bedeutende Denker den gesunden Menschenverstand. "Dich auf Beistimmung der allgemeinen Menschenvernunft zu berufen, kann dir nicht gestattet werden; denn das ist ein Zeuge, dessen Ansehen nur auf dem öffentlichen Gerüchte beruht", schrieb Immanuel Kant 1783 in seinen "Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik die als Wissenschaft wird auftreten können." (Werkausgabe Band V, Frankfurt am Main 1988, S. 137)

Unsere Pragmatikerin hingegen hält ein diesbezügliches Bekenntnis für obligat. (Vgl. etwa S. 151) Ihr Band entspricht dem auch. Präsentiert wird eine Liste konventioneller und konditionierter Vorurteile. Der Marxismus etwa hat erneut seinen Auftritt als Fatalismus, der auf den Zusammenbruch wartet. "Wenn er (der Kapitalismus, F.S.) dann zusammengebrochen sei, werde eine bessere Gesellschaft auf Grundlage eines völlig anderen Wirtschaftssystems folgen, so das Versprechen. Bis dahin aber können wir, polemisch gesagt, nur abwarten und Tee trinken." (S. 76). Polemisch gesagt, sollte ich mir jetzt einen Schnaps gönnen.

Wie Lisa Herzog, Jg. 1983, Professorin für Politische Philosophie in München, gestrickt ist, zeigt eine andere Stelle. Ohne Umschweife kommt sie dort zur Sache: "Aus historischer wie globaler Perspektive betrachtet, ist es ein unglaubliches Privileg, Mitglied eines gut funktionierenden Systems hochentwickelter Arbeitsteilung zu sein." (S. 46) Gut? Funktionierend? Hochentwickelt? Wir, die wir in der besten aller Welten leben, sollen es jetzt noch besser machen. Die Bestesten hier sind wir! Wie viel Verdrängung benötigt man zu solcher Deskription? Die Krise ist da in fast horxartiger Manier zu einer Erfindung des Alarmismus geworden. Aber unsere Autorin ist, vergessen wir nicht, was sie ganz unmissverständlich betont, Mitglied des Systems, inzwischen eine dekorierte Mitarbeiterin der Indokrinationsbrigaden der Scientific Communties.

In ihren praktischen Vorschlägen kommt Herzog nicht über die Forderung nach besseren Versicherungssystemen hinaus, nicht einmal dem bedingungslosen Grundeinkommen vermag sie etwas abzugewinnen. (Vgl. etwa S. 134ff., 185). "In Zeiten zunehmend unsicherer Beschäftigung muss der wichtigste Fokus sozialstaatlicher Reformen sein, den Versicherungsgedanken der Sozialsysteme zu stärken." (S. 139) Es ist ein begriffsloses Traktat, das es lediglich versteht, Alltagsfloskeln abzuphrasieren. Keine Selbstverständlichkeit, an der Herzog vorbeikommt. "Dass Arbeit zur menschlichen Natur gehört, ist ein Gedanke, der sich durch die Geschichte des politischen Denkens zieht." (S. 10) Zweifellos, wer Arbeit nur im beschränkten Common Sense versteht, vermag zu gar keiner anderen Einschätzung zu kommen. Das, was gesellschaftlich bedingt ist, ist ihr unbedingt.

Die arbeitskritischen Debatten der letzten Jahrzehnte sind völlig spurlos an ihr vorbeigegangen. So sei etwa - um es an einem bürgerlich-liberalen Denker zu illustrieren - stellvertretend Ralf Dahrendorf genannt, der vor vielen Jahren in einem vielbeachteten Beitrag in der Zeit (Nr. 48/1982) davon gesprochen hat, dass der Arbeitsgesellschaft die Arbeit ausgehe, dass es unterschiedliche Ebenen menschlichen Tuns gebe u.v.m. Nicht nur Dahrendorf findet sich nicht einmal im Literaturverzeichnis. Die Akademie durchfährt gerade einen Tunnel der Ignoranz. Um nicht schwarz zu sehen, pinselt sie alles rosa aus. Alles scheint machbar. Anything goes. Es herrscht konformiertes wie konformierendes Alltagsdenken. Diese Wissenschaft ist schlicht und einfach abgesoffen. In universitären Kreisen ist es wieder chic geworden, dafür zu sein. Lukrativer wohl allemal. Zelebriert wird ein Hochamt für Arbeit und Politik. Die Dreißigjährigen wirken jedenfalls älter als die Achtzigjährigen.

Mit solchem Schriftgut kann man zwar in Oxford habilitieren, auf diversen Universitäten brillieren, auf den Wissenschaftsmärkten bilanzieren, aber kritische Theorie kann man damit nicht produzieren. Diverse Happen erinnern an Forschung von der Stange, an serielle Produkte, deren Sätze auch Politikerreden und Reklametexten entnommen sein könnten. Es rieseln die Slogans. Herzog plaudert sich durch die Seiten. Da ist nichts neu, da nichts originell und vor allem überhaupt nichts kritisch. Der Bottich der Naivität wird fast ausgeschöpft. Es ist davon auszugehen, dass solche Bücher von Computerprogrammen fabriziert werden könnten, so wie sie es verstehen, Textbausteine formallogisch aneinanderzuketten. Der Algorithmus bringt das locker bald hin.

Der Arbeit Schluss

"Warum wollen Menschen arbeiten?" (S. 181), fragt Herzog. - Wollen sie? Also ich will dezidiert nicht. Wenn man unter Arbeit versteht, sich auf dem Markt zu verdingen, sich für ihn fit zu machen und fit zu halten, um Einkommen zu lukrieren, dann ist das etwas, was ich entschieden ablehne und verabscheue. Dass viel zu viele es aber tatsächlich möchten, verdeutlicht die Hegemonie der Arbeit in den Köpfen. Der kollektive Wuscher besagt: Da wir arbeiten müssen, haben wir es auch zu wollen! Diese Normierung erscheint auch Lisa Herzog als Normalität. Erwerbsarbeit leistet aber nur eine bestimmte Art von Integration, nämlich jene in die kapitalistische Betriebsamkeit, die man nicht mit des Lebens Möglichkeiten verwechseln sollte, so sehr sie aktuell auch den Alltag determiniert.

Was wir ohne Arbeit wären, ist relativ leicht zu sagen: Weniger krank, weniger nervös, weniger gestresst, wenig ausgebeutet, weniger unterworfen, weniger drangsaliert. Das ist nicht wenig. Nikotin und Alkohol machen heute viel weniger Leute kaputt als die Arbeit, abgesehen davon sind viele Exzesse des Rauchens und Saufens den unerträglichen Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen geschuldet. Viele brauchen das, sonst halten sie es nicht aus. Das spricht für sie, wenngleich es keine Lösung ist. Die Rettung kann die Arbeit nur noch auf den Friedhof fahren. Wir sollten nicht mitfahren. Damit wir tun können, was wir wollen, müssen wir auf hören zu arbeiten.

Lisa Herzog, Die Rettung der Arbeit. Ein politischer Aufruf,
Hanser Verlag, Berlin 2019, 222 Seiten, Paperback ca. EUR 22,00

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Rezens

Philipp Mattern (Hg.): Mieterkämpfe. Vom Kaiserreich bis heute - Das Beispiel Berlin.
Bertz + Fischer 2018, 212 Seiten, ca. 8,00 Euro

Seit etlichen Jahren wird die Wohnungsfrage zumeist unter dem Schlagwort Gentrifizierung diskutiert, die mit der Vertreibung von Menschen aus ihren Wohnungen und Stadtteilen zum Zweck der Profitsteigerung einher geht. Doch dass Mieter*innen nicht erst seit Latte macchiato und Hipstern in einem strukturellen Widerspruch zu Vermieter*innen stehen, wird oft vergessen. Dass sich die Leute gegen hohe Mieten und schlechte Wohnbedingungen aber auch immer gewehrt haben, wird aktiv vergessen gemacht. Der vorliegende kleine Band bietet hier ein wenig Abhilfe, wenn auch lediglich auf Berlin beschränkt.

Getragen ist das Büchlein vom Anspruch, zu zeigen, dass "Miete und Wohnen stets Kampffelder waren". Das gelingt den Autor*innen, die zumeist einen aktivistischen Hintergrund haben, recht gut. Ohne die Widersprüche in den Auseinandersetzungen zu kaschieren oder Heroisierungen zu betreiben, vermitteln die Beiträge einen lebhaften Einblick in die Kämpfe um urbanen Wohnraum. Angefangen von den Moritzplatz-Krawallen von 1863 über die Mieterräte, Mieterverteidigungstrupps und Mietstreiks der 20er und 30er Jahre, bis zum Schwarzwohnen und den Hausbesetzungen in Ostberlin. Frappierend ist die sich beim Lesen bestätigende Erkenntnis, dass von einer Stellvertreter*innenpolitik wenig zu erwarten ist, sondern sich Verhältnisse nur ändern, wenn die Leute selbst und kollektiv aktiv werden. Wie das gehen kann, darüber lässt sich aus den historischen Beispielen einiges lernen.

R.P.

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Immaterial World

Anti- oder Politik?

von Stefan Meretz


Die Frage, ob Politik oder Antipolitik der richtige Ansatz ist, scheint mir müßig zu sein. Beide bewegen sich im Rahmen von Macht und Herrschaft. Während sich Politik positiv auf die Erringung von Macht oder wenigstens Einfluss bezieht, die sie für Veränderungen nutzen will, lehnt Antipolitik genau dies ab. Politik ist für den antipolitischen Ansatz eine bürgerliche Form, die sie nicht bedienen und damit reproduzieren will. Antipolitik setzt eher auf die Schaffung autonomer Handlungsformen, um eigene Ziele durchzusetzen. Doch so ansprechend das auf den ersten Blick klingt, gelang bisher nicht, antipolitische Handlungsformen genauer zu bestimmen, geschweige denn sie zu verbreiten. Am Ende kommt Antipolitik nicht über die abstrakte Negation von Politik hinaus.

Mit der Antipolitik verhält es sich damit ähnlich wie mit dem wertkritischen Ansatz insgesamt. Die Kritik ist teilweise brilliant, und dennoch überschreitet sie den Rahmen der einfachen Negation, des bloßen "dagegen", meist nicht. Antipolitik wie Wertkritik vergeben damit ihr konstruktives Potenzial. Beide wagen es nicht, "positiv" zu sein, da sie nicht im Parlament oder bei der bloßen Umverteilungsrhetorik enden wollen. Nachvollziehbar. Negatorische oder auch revolutionäre Ansätze drücken sich damit häufig um die Frage, wie sie sich in der Gegenwart praktisch auf den dominanten Kapitalismus beziehen wollen. Damit ist der Alltag selten ein Gegenstand kritischer Reflexion. Das richtige Leben ist auf später verschoben.

Konstruktive Ansätze müssen sich hingegen in jedem Fall mit Geld, Markt und Politik auseinandersetzen - ob sie wollen oder nicht. Ihre Grundüberlegung, dass sich eine neue Gesellschaftsform stets innerhalb der alten zu entwickeln beginnt, zwingt sie, den Bezug zu den herrschenden Formen bewusst zu gestalten. In der Keimformtheorie zeigt sich dies als Kriterium der doppelten Funktionalität: Die neuen sozialen Formen müssen sowohl innerhalb der alten Gesellschaft funktionieren wie gleichzeitig inkompatibel zu dieser sein, um nicht langfristig aufgesogen zu werden.

Ökonomisch wird das Kriterium der doppelten Funktionalität häufig durch eine unterschiedliche Gestaltung von Binnen- und Außenverhältnis umgesetzt. Während nach außen die dominante Logik von Tausch und Geld bedient werden muss, gelten zum Beispiel in vielen Commons-Projekten intern Vereinbarungen wie "Beitragen statt Tauschen" und "Besitz statt Eigentum". Eine solche Differenzierung von Innen und Außen lässt sich jedoch nicht in gleicher Weise auf die Politik übertragen. Zueinander verhalten sich Commoners nicht politisch, Politik zielt per se auf das Außen, auf das Öffentliche und den Staat.

In der politisch-rechtlichen Sphäre haben commonsorientierte Bewegungen invertierende Ansätze ausgebildet. Politischrechtliche Interventionen haben hier das Ziel, ursprünglich vom Gesetzgeber intendierte Zwecksetzungen umzukehren. So dient das Urheberrecht eigentlich dazu, andere mittels der Durchsetzung des sogenannten geistigen Eigentums von der Nutzung immaterieller Werke auszuschließen. Freie Lizenzen basieren zwar auf dem Urheberrecht, sie drehen jedoch den Sinn um und erlauben auf Basis der garantierten Exklusivverfügung den Zugriff für alle. Sie schließen das Ausschließen aus. Ein weiteres Beispiel ist das Mietshäusersyndikat, das mit Hilfe einer trickreichen Rechtskonstruktion dafür sorgt, dass Häuser von denen besessen und organisiert werden, die drin wohnen, womit sie dem Markt als Spekulationsobjekt entzogen bleiben. Ziel der invertierenden Ansätze ist es, die staatlich-politisch gewollte Logik der Exklusion zu neutralisieren oder gar ins Gegenteil, in eine Logik der Inklusion, zu verkehren.

Kernidee dieser Ansätze ist die Vergrößerung des autonom gestaltbaren Handlungsspielraums jenseits der herrschenden Exklusionslogik. Daraus lässt sich wiederum ein Kriterium für politische Interventionen oder die Kooperationen mit staatlichen Institutionen entwickeln: Sie sind sinnvoll, wenn dadurch Logiken des Alten neutralisiert oder invertiert werden können, um die Handlungsbedingungen transformativer Bewegungen zur Aufhebung des Kapitalismus zu verbessern. Umgekehrt sind sie nicht sinnvoll, wenn es nur darum geht, das alltägliche Geschäft der Verwertungslogik und ihrer politisch-staatlichen Rahmengestaltung zu betreiben.

Das ist leicht hingeschrieben, in der Praxis sind die Übergänge fließend und den Handelnden oft nicht bewusst. Nicht selten können wir beobachten, dass Menschen von der Politik und ihren Institutionen mehr verändert werden, als dass sie diese verändern. Institutionelle Aussteiger*innen berichten von haarsträubenden Verhältnissen und sozialen Beziehungen in Parlamenten und Behörden. Selbstorganisation und Commoning sind dort nahezu ausgeschlossen, denn die immanenten Logiken und Zwänge sind zu mächtig. Wer sich den Logiken der Politik unterordnet und die Mechanismen beherrscht, hat Einfluss oder kann ihn sich einbilden, wer sich nicht unterordnet und sie nicht beherrscht, wird nicht lange mitspielen. Das gilt nicht nur für staatlich-institutionelle Orte wie Parlamente und Behörden, sondern auch die außerparlamentarische Organisation von Politik auf der Straße ist oft von Machtspielen durchzogen. Auch hier soll Einfluss und Meinung der "richtigen Linie" schließlich irgendwann in "richtige" staatliche Handlungen fließen - und sei es in Form ultimativer Machterringung nach einer Revolution.

Kommt also um, wer sich in die Politik begibt? Wer dies als Einzelkämpfer*in tut und die politisch-staatliche Institution als Ort der Veränderung verklärt, ist in der Tat hochgradig gefährdet. Wenn politische Interventionen gleich welcher Art ins Auge gefasst werden, dann sollten mindestens zwei Dinge geklärt sein. Erstens sollte die Intervention auf die konkrete Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten autonomer Gruppen, von Commons, Initiativen, Projekten usw. zielen. Zweitens sollten die Intervenierenden in einem sozialen Netzwerk eingebunden und aufgehoben sein, um den Stress und das Leid, die eine Intervention bedeuten können, emotional und reflektiv auffangen zu können. Um es auf eine Formel zu bringen, lautet mein Vorschlag: Commoning ist die unabdingbare Basis, Politik das notwendige Übel, Transformation das angestrebte Ziel.

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Redundantes zur Antipolitik

Von der politischen Kritik zur Kritik des Politischen

von Franz Schandl


Anfang Texteinschub
"Alle Emanzipation ist Zurückführung der menschlichen Welt, der Verhältnisse auf den Menschen selbst. Die politische Emanzipation ist die Reduktion des Menschen, einerseits auf das Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, auf das egoistische, unabhängige Individuum, andererseits auf den Staatsbürger, auf die moralische Person. Erst wenn der wirkliche individuelle Mensch den abstrakten Staatsbürger in sich zurücknimmt und als individueller Mensch in seinem empirischen Leben, in seiner individuellen Arbeit, in seinen individuellen Verhältnissen Gattungswesen geworden ist, erst wenn der Mensch seine 'forces propres' (eigenen Kräfte, F.S.) als gesellschaftliche Kräfte erkannt und organisiert hat und daher die gesellschaftlichen Kräfte nicht mehr in der Gestalt der politischen Kraft von sich trennt, erst dann ist menschliche Emanzipation vollbracht." (Karl Marx)
Ende Texteinschub


1. Politik erscheint den Bürgern als das Feld ihrer Selbstbestimmung, indes sie doch nur das öffentliche Terrain ihrer Selbstknechtung darstellt. Der Modus der Politik garantiert die Herrschaft der Form. Keine neue, keine alternative, keine revolutionäre Politik wird daran etwas ändern. Die Zukunft der Politik liegt in der Notstandsverwaltung ökologischer und ökonomischer, sozialer und mentaler Dauerkrisen.

2. Politik ist eine immanente Form. Die Form, in der man agiert, ist das staatsbürgerliches Interesse im Besonderen resp. das bürgerliche Interesse im Allgemeinen. Durch dieses Agieren bestätigen die Praktikanten die vorausgesetzten Bedingungen, gehen nicht über sie hinaus, sondern erfüllen sie. Politik ist der öffentliche Spielraum der Staatsbürger. Politiken mögen verschieden sein, aber ihre Grundstruktur zwingt sie, die aktuelle kapitalistische Verwertung zu bedienen. Was nicht heißt, dass das immer gelingt.

3. Das Politische determiniert sich als bürgerlich, wenn schon nicht bürgerlich gewesen, so stets als bürgerlich geworden. Politik ist ein staatsbürgerliches und bürgerliches Programm. Mit ihr kann nur so weitergemacht werden wie bisher. Politik hat keine Perspektive und Politik ist keine Perspektive. Emanzipation ist jenseits des politischen Wirkens zu konzipieren.

4. Der Staatsbürger ist ein ganz bestimmter, männlich und weiß codierter Exponent, nicht nur weil er andere ausschließt (Ausländer, Migranten etc.), sondern weil er einer Konfiguration folgt, in der Charaktermasken und nicht Menschen im Mittelpunkt stehen. Politik heißt nicht, dass Menschen agieren, sondern dass Charaktermasken interagieren, d.h. Interessen substituieren und simulieren.

5. Die Frage, die Antipolitik stellt, ist die naheliegende aber verdrängte und vergessene, nämlich was Politik kann, anstatt wie üblich zu behaupten, dass Politik, sei sie nur die richtige, kann, was sie will. Dass nicht Politiken, sondern Politik selbst, also das ganze System von politics, policy, polity ein grundlegendes Problem ist, wird ignoriert. Erst durch Antipolitik wird Politik selbst Gegenstand der Kritik. Wir wechseln von der politischen Kritik zur Kritik des Politischen.

6. Jedes Anti definiert sich vom Abstoßungspunkt her. Damit demonstriert es seine Entschiedenheit, aber auch seine Begrenztheit. Antipolitik agiert zwar vorerst weiterhin im politischen Feld, allerdings nicht mehr synthetisch affirmativ, sondern kritisch der Form gegenüber, die sie letztlich als einen zu negierenden Inhalt versteht. Sie tut dies in einem schizophrenen Bewusstsein. Antipolitisch meint nicht unpolitisch.

7. Antipolitik ist der Versuch, das eigene Wollen außerhalb der Politik zu denken und zunehmend dort zu verorten. Antipolitik will das Öffentliche weiten, ausdehnen; möchte demonstrieren, dass Raum jenseits des politischen Sektors machbar sein sollte.

8. "Keine Politik ist möglich!" ist erstens eine Absage an alle herkömmlichen Varianten der Politik, zweitens ist es aber auch eine Absage an die Politik generell. Und drittens ist das Motto eine transpositive und offensive Ansage. "Ist möglich" heißt es, nicht "ist unmöglich".

9. Das Verlangen der Politik orientiert sich an Geld, Recht und Macht. Immer wieder geht es um ein Justieren an Staat und Markt. Angesagt ist Bessern und Mildern, Kürzen und Schärfen. Die Form selbst gerät nicht in den Fokus der Erörterung. Der Trieb der Politik ist die Reform, der Trieb der Antipolitik ist die Transformation.

10. Politik sagt: Wir nehmen die Interessen unserer Setzung wahr. Antipolitik sagt: Wir nehmen uns als Gegensatz unserer Setzung wahr. Wir sind nicht die, zu denen wir gemacht werden. Nicht der freie Wille ist Voraussetzung der Antipolitik, sondern der Unwille zur Entsprechung. Akteure des Lebens wollen wir sein, nicht Kunden des Geschäfts.

11. Politik heißt auf die Interessen von Charaktermasken abzustellen, Antipolitik heißt Menschen gegen ihre sozialen Zwangsrollen zu aktivieren. Das ist der Unterschied zwischen: "Ich nehme meine Interessen wahr", also etwas mir durch Stellung im System Zugeordnetes, und: "Ich nehme mich wahr", "Ich will mich verwirklichen". Wenn man von Bedürfnissen spricht, an die anzuknüpfen wäre, gilt es sorgfältig zu unterscheiden und deren Beschaffenheit genau anzuschauen. Handelt es sich um Bedürfnisse von Rollenträgern = Interessen; oder um Bedürfnisse wider den Rollenzwang = Ansprüche?

12. Antipolitik setzt sich als Kontrapunkt zur selbstverständlichen Akzeptanz der Politik, sie ist aber nicht einfach als dessen Jenseits zu fassen. Antipolitik steht für den Prozess einer Entwöhnung. Das Nein ist unabdingbar, aber nicht ausreichend. Im Zuge der gesellschaftlichen Transposition wird die Praxis verschiedene immanente wie transzendente Formen umfassen und amalgamieren. Da kann eins zweifellos aufgerieben werden, aber das wird man sonst auch, noch dazu mit höherer Wahrscheinlichkeit.

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Strukturkrise der Marktwirtschaft und gesellschaftliche Emanzipation

von Michael Beykirch

Seit 2008/09 beherrschen Staatsschulden- und Währungskrisen die europäische und internationale Medienlandschaft. Folgen wir den regierenden Parteien, dann handelt es sich bei diesen um vorübergehende Krisen. Es entsteht der Eindruck, die Politik und die nationalen WährungshüterInnen haben alles unter Kontrolle. Doch welche Perspektiven ergeben sich aus der internationalen Schuldenkrise? Was sind ihre tieferliegenden Ursachen und welche Möglichkeiten gibt es, aus dieser herauszukommen? Einen hilfreichen Ansatz zur Beantwortung dieser Fragen liefern wertkritische Krisentheorien (Lohoff 2016; Lohoff & Trenkle 2012; Kurz 2012; 2007; 1995). Diesen zufolge handelt es sich weder um vorübergehende finanzielle Schwierigkeiten einzelner Länder noch um ein Fehlverhalten bestimmter PolitikerInnen, sondern um eine Strukturkrise des globalen warenproduzierenden Systems, kurz: der Marktwirtschaft.

Sektorenübergreifende Verdrängung der Lohnarbeit

Der Ausgangspunkt der Strukturkrise geht bis in die 1970er Jahre zurück. Mit dem Auf kommen der dritten Industriellen Revolution, also der Einführung der Mikroelektronik, der Informations- und Computertechnologien in der Industrieproduktion, hatte die Verdrängung der lebendigen Arbeitskraft in der Herstellung von Waren historisch neue Dimensionen angenommen. "Die 'mikroelektronische Revolution' eliminiert nicht nur in dieser oder jener spezifischen Produktionstechnik lebendige Arbeit in der unmittelbaren Produktion, sondern erstmals auf breiter Front und quer durch alle Produktionszweige hindurch, selbst die unproduktiven Bereiche [Handels-, Banken- und Dienstleitungssektor, eigene Anm.] erfassend. Dieser Prozess", so schrieb Robert Kurz bereits im Jahr 1986, "hat gerade erst angefangen und wird erst in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre richtig greifen. Vermutlich wird er noch bis zum Ende des Jahrhunderts und darüber hinaus dauern." (Kurz 1986, Hervorhebung im Original) Während auf der einen Seite die Produktivitätspotentiale der gesellschaftlichen Produktion enorm stiegen und immer größere Warenmengen in kürzester Zeit hergestellt werden konnten, waren auf der anderen Seite immer weniger Menschen für die Herstellung der Produkte notwendig.

Was vom Standpunkt der gesellschaftlichen Bedürfnisbefriedigung wie eine Befreiung vom Joch der Arbeit klingt, ist vom Standpunkt der kapitalistischen Unternehmen jedoch der Entzug der Existenzgrundlage. Denn anders als die meisten Bücher und ÖkonomInnen der konservativen Volkswirtschaftslehre es vorgeben, ist nicht die Herstellung von Gütern für die Bedürfnisbefriedigung der Menschen der übergeordnete Zweck der Produktion, sondern die Geld- und Kapitalvermehrung (Lohoff & Trenkle 2012: 22). Die Geldvermehrung aber wird in Anbetracht der Verdrängung der lebendigen Arbeitskraft durch die mikroelektronische Revolution immer schwieriger. Um zu verstehen, warum das so ist, muss der enge Bezugsrahmen der Volkswirtschaftslehre verlassen werden, demnach Geld ein neutrales und praktisches Mittel zur Steuerung der Güterproduktion und zur Erleichterung des gesellschaftlichen Austausches ist. Gemäß der Werttheorie, die von Marx begründet wurde, ist Geld Ausdruck sozialer Verhältnisse und abstrakter Reichtum (vgl. Lohoff 2018). So tauschen in einer Gesellschaft aus zersplitterten und isolierten PrivatproduzentInnen letztere ihre Produkte auf der Grundlage des Arbeitsaufwandes aus, der für ihre Herstellung notwendig ist und sich im Preis einer Ware widerspiegelt. Mit der zunehmenden Verdrängung der lebendigen Arbeitskraft aus der Produktion durch Maschinen wird jedoch der menschliche Arbeitsaufwand immer geringer und die Quelle des abstrakten Reichtums versiegt.

Praktisch ist das an den historisch sinkenden Wachstumszahlen und Profiten der kapitalistischen Unternehmen sichtbar. In der frühen Phase des Kapitalismus sowie in der Zeit der fordistischen Fließbandproduktion konnte die schrumpfende Wertmasse noch durch die Erschließung neuer Produktionszweige ausgeglichen werden. Denn die Erschließung neuer Produkte für die Massenproduktion führte zur Schaffung neuer Arbeitsplätze und damit zu einer Ausweitung der Wertschöpfungsketten. Mit dem Auf kommen und der Verbreitung der "mikroelektronischen Revolution" ist diese historische Kompensation aber nicht mehr möglich. Die Erschließung neuer Produktionszweige, also die teils gewaltsame "Globalisierung" der Marktwirtschaft und die Integration immer neuer Produkte in die Massenproduktion, führt nicht mehr zu einem "Wiedereinsaugen vorher und anderswo 'überflüssig gemachter' Arbeitsbevölkerung", da auch die neuen Produktionszweige aufgrund der Mikroelektronik von vornherein wenig arbeitsintensiv sind. Das Verhältnis kippt um: "von nun an wird unerbittlich mehr Arbeit eliminiert als absorbiert werden kann. Auch alle noch zu erwartenden technologischen Innovationen werden immer nur in die Richtung weiterer Eliminierung lebendiger Arbeit gehen, alle noch zu erwartenden neuen Produktionszweige werden von vornherein mit immer weniger direkter menschlicher Produktionsarbeit ins Leben treten." (Kurz 1986)

Entfesselung der Finanzmärkte und des Kredits

Die sektorenübergreifende Verdrängung der Lohnarbeit aus den produktiven Arbeitsbereichen äußert sich nicht nur in einem Schrumpfen der Wertmasse. Sie äußert sich auch in einer zunehmenden Einengung des Marktes. Während auf der einen Seite immer mehr Waren in immer kürzerer Zeit hergestellt werden können, sind auf der anderen Seite immer weniger Menschen über die Lohnarbeit in die Warenproduktion integriert, was nichts anderes heißt, als dass auch immer weniger Menschen Zugang zu den Mitteln bekommen, um sich die produzierten Waren zu kaufen. Die Einengung des Marktes konnte bisher nur dadurch abgewendet werden, dass seit dem Ende der 1970er und seit Anfang 1980er Jahre, ausgehend von der Reagan-Administration in den USA und der Thatcher-Administration in Großbritannien, die Finanzmärkte entfesselt und die massenhafte Vergabe von Krediten über Privat- und Zentralbanken in Gang gesetzt wurden (Lohoff 2016: 6ff.; 2014: 6; Lohoff und Trenkle 2012: 66ff., 209ff.; Kurz 2012).

Die Entfesselung der Finanzmärkte war auf der einen Seite begleitet von einem rasanten Anwachsen verschiedener Dienstleistungssektoren. Auf der anderen Seite fanden globale InvestorInnen im Kredit- bzw. Zinsgeschäft lukrative Anlagesphären für ihr vagabundierendes Kapital, wie sie angesichts versiegender Profitquellen in der Realwirtschaft immer weniger zu finden waren. Finanzprodukte - wie Aktien, Staatsanleihen, Derivate, Optionen usw. - überfluteten zunehmend die Märkte, während Regierungen, Unternehmen und VerbraucherInnen das geliehene Geld in die Realwirtschaft investierten (Lohoff & Trenkle 2012: 63f., 205f., 239f.). Die "Akkumulation von Waren zweiter Ordnung", wie Lohoff und Trenkle die Verlagerung der Kapitalakkumulation auf die Ebene von Finanzmärkten und Finanzmarktprodukten bezeichnen, drehte den Spieß um: von da an war nicht mehr das Kreditgeschäft Anhängsel der realwirtschaftlichen Kapitalakkumulation, sondern umgekehrt, die Realwirtschaft wurde zum Anhängsel der "Akkumulation von Waren zweiter Ordnung" an den Finanzmärkten.

Die radikale Liberalisierung der Finanzmärkte vermochte nicht nur die strukturellen Schranken der Kapitalbzw. Wertakkumulation - also die sektorenübergreifende Verdrängung der Lohnarbeit durch Informations- und Computertechnologien - zu überwinden. Auch ermöglichte sie einen erneuten Aufschwung des globalen Kapitalismus, da die Auf blähung des internationalen Kreditgeschäfts über Zentral- und Geschäftsbanken die zahlungsfähige Konsumtionskraft der Gesellschaft erweiterte (Lohoff & Trenkle 2012: 224f.). Abgesehen von vereinzelten regionalen und sektoralen Krisenerscheinungen, hat sich so über zwei Jahrzehnte hinweg eine expansive Dynamik entfaltet, die erst nach dem Platzen der "Dotcom"-Blase Anfang der Nuller Jahre und dann nach dem Platzen der kreditfinanzierten Immobilienblase im Jahr 2008/09 in den kapitalistischen Kernländern zum Stillstand kam (Lohoff 2016: 27ff.). Im Zuge dieser Krisen drohte der über rund drei Jahrzehnte aufgetürmte Kredit- und Schuldenberg in sich zusammenzufallen. Doch in beiden Situationen schafften es die Zentralbanken durch Öffnung der Kreditschleusen einen Zusammenbruch der internationalen Finanz- und Kreditströme zu verhindern. Zwar konnte auf diese Weise die Zahlungsunfähigkeit von Geschäftsbanken, von Regierungen, Unternehmen und Privatpersonen sowie die damit einhergehende Entwertung von Waren und Produktionskapazitäten abgewendet werden. Allerdings droht mit der Kreditschwemme der Zentralbanken die "Große Entwertung" auf das Geldmedium selbst überzugreifen (Lohoff 2018: 104-107; 2016: 55f.; Konicz 2015; Lohoff & Trenkle 2012: 256ff.; Jellen 2012), welche sich über den Umweg von Staatsbankrotten und Währungsinflation bereits ankündigt.

Strukturelle Zwänge der kapitalistischen Warenproduktion

Um die Krise der Geldwirtschaft zu überwinden, müsste nichts weiter als das Geld selbst bzw. die Grundstruktur der kapitalistischen Produktionsweise überwunden werden. Letztere basiert auf einer Trennung der Gesellschaftsmitglieder in atomisierte WarenproduzentInnen und Lohnabhängige, die ihren gesellschaftlichen Zusammenhang über Waren- und Geldbeziehungen regeln. In der Zersplitterung der gesellschaftlichen Produktions- und Austauschbeziehungen und der Vermittlung über Waren und Geld entstehen jedoch Konkurrenzverhältnisse, die mit Interessengegensätzen und strukturellen Zwängen einhergehen. So produzieren Unternehmen nicht in Absprache mit der Gesellschaft, sondern für einen anonymen Markt und stets in Konkurrenz zu anderen Unternehmen. Die Unsicherheiten des Absatzmarktes beherrschen dabei das Denken und Handeln der ProduzentInnen. Wer nicht vom Markt verdrängt werden will, ist gezwungen finanzielle Rücklagen zu bilden, Lohnkosten einzusparen oder neue Produktionsmethoden einzuführen, um die Herstellungskosten der Waren zu verringern.

Die Vermehrung des Geldes wird zum wichtigsten Hebel, um sich gegen die Konkurrenz durchzusetzen, wobei die Herstellung von Waren nur Mittel zum Zweck der Geldvermehrung ist. Ähnliches gilt für Lohnabhängige, die in ständiger Konkurrenz zu anderen Lohnabhängigen stehen und um eine begrenzte Anzahl an Arbeitsplätzen konkurrieren. Sie müssen ihre Arbeitskraft verkaufen und Geld verdienen, um Zugang zum Warenreichtum zu erhalten. Die Trennung der "atomisierten Individuen" (Trenkle 1996: 75) und die "Konkurrenz zwischen den Unternehmen stellen die Frage nur so: selbst ruiniert werden oder andere ruinieren" (Lenin 1974: 362). Bereits Karl Marx notierte in seinem Werk Das Kapital: "Die Konkurrenz herrscht jedem individuellen Kapitalisten die immanenten Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise als äußere Zwangsgesetze auf. Sie zwingt ihn, sein Kapital fortwährend auszudehnen, um es zu erhalten, und ausdehnen kann er es nur vermittelst progressiver Akkumulation." (Marx 1962: 618)

Neben solchen "äußeren Zwangsgesetzen" kommen innere Zwänge für die WarenproduzentInnen, insbesondere für die große Industrie, hinzu: ihr Primat der Profitmaximierung und Kapitalverwertung gerät konstant in einen Widerspruch zu dem immanenten Drang, die neuesten Produktionsmethoden einzuführen. Denn die Einführung der neuen Produktionsmethoden, die mit der Verdrängung lebendiger Arbeitskraft einhergeht, untergräbt die Profitmaximierung und Kapitalverwertung, die auf der Ausbeutung der lebendigen Arbeitskraft und der Verwertung der durch die Arbeitskraft geschaffenen Werte basiert. Mit jeder Maschine, durch welche LohnarbeiterInnen in einem Unternehmen verdrängt werden, sinkt der Umfang des Profits, den das Unternehmen im Verhältnis zu seinen Gesamtausgaben macht. Dieser immanente Widerspruch, den Marx (1983: 251-277) im Zusammenhang des "tendenziellen Falls der Profitrate" beschreibt, zwingt die Unternehmen beständig, den Umfang ihrer Produktion auszudehnen, um der Verringerung ihrer Profitproduktion entgegenzuwirken. Dieser Kompensations- bzw. "Akkumulationstrieb" (ebd.: 254) aus dem Inneren der Kapitallogik heraus beschleunigt nicht nur den Ressourcenverbrauch, entgegen der Vorstellungen vom "Grünen Kapitalismus". Auch verschärft der Akkumulationstrieb die Konkurrenz zwischen den Unternehmen in diesen oder jenen Produktionssphären mit der Folge regelmäßiger Überproduktionskrisen, also der Überfüllung der Märkte mit Waren und überschüssigen Produktionskapazitäten: "Da nicht Befriedigung der Bedürfnisse, sondern Produktion von Profit Zweck des Kapitals", schreibt Marx im dritten Band des Kapitals, und da es diesen Zweck nur durch Methoden der Akkumulation erreicht, in der der wachsende Umfang der Maschinerie einen wachsenden Umfang des Warenausstoßes zur Folge hat, "so muß beständig ein Zwiespalt eintreten zwischen den beschränkten Dimensionen der Konsumption auf kapitalistischer Basis [also der beschränkten zahlungsfähigen Nachfrage der fluktuierenden Masse an LohnarbeiterInnen, Anm. des Verf.] und einer Produktion, die beständig über diese ihre immanente Schranke hinausstrebt." (Ebd.: 267)

Grenzen der Staatlichen Planwirtschaft

Eine Wirtschaft jenseits der strukturellen Zwänge der kapitalistischen Warenproduktion und Überproduktionskrisen muss schließlich die Zersplitterung der gesellschaftlichen Produktions- und Austauschverhältnisse über Waren- und Geldbeziehungen und die daraus resultierenden Konkurrenzverhältnisse überwinden. Marx und Engels forderten, die Produktionsmittel der privaten Hand zu entziehen und unter gesellschaftliche Koordination und Verwaltung zu stellen. Marxistisch inspirierte Bewegungen nahmen diese Forderung zum Anlass, um die Wirtschaft ihrer Länder zu verstaatlichen und so der privatwirtschaftlichen Konkurrenz den Boden zu entziehen. Wie die historischen Erfahrungen z.B. in der Sowjetunion oder in Kuba zeigen, konnten auf diese Weise zwar die blinde Konkurrenz des Marktes sowie Überproduktionskrisen überwunden werden, jedoch traten mit der zentralen Planung neue Probleme auf (Trenkle 1996; Kurz 1994; Stahlmann 1991).

Eines dieser Probleme zeigte sich bei dem Versuch, die Arbeitsquanten aller gesellschaftlich hergestellten Produkte und Zwischenprodukte zu berechnen. Die Berechnung des "Werts" war jedoch nicht nur wegen der gesamtwirtschaftlichen Komplexität unmöglich, sondern vor allem weil er "keine real auffindbare Größe", sondern ein gesellschaftliches Verhältnis darstellt (Stahlmann 1991: 46). Die Planwirtschaft war dem Missverständnis unterlegen, "dass der Wert, weil er in der Produktion entsteht, durch Verausgabung lebendiger Arbeit, auch unmittelbar durch Feststellung des Produktionsaufwands planbar sei. Zur Verwandlung lebendiger in tote Arbeit, also in Wert, bedarf es aber der gesellschaftlichen, sprich: Marktvermittlung, also der Herstellung der gesellschaftlich durchschnittlichen Arbeitszeit, die wiederum nur indirekt über den Markt gemessen werden kann." (Ebd.: 46)

Der Versuch, die Arbeitsquanten zu berechnen, war Ausdruck eines tieferliegenden Problems: der Beibehaltung der Waren- und Geldwirtschaft. Über das kollektive Eigentum war die Trennung der Menschen zwischen Produktion und Konsum zwar juristisch aufgehoben, nicht aber in der Praxis, insofern die wirtschaftliche Basisstruktur - die Zersplitterung und Atomisierung der gesellschaftlichen Produktions- und Austauschverhältnisse über Waren- und Geldbeziehungen - unangetastet blieb. Damit einhergehend waren auch die Interessengegensätze zwischen ProduzentInnen und Lohnabhängigen nicht aufgehoben. Waren die Lohnabhängigen an guter Produktqualität und niedrigen Preisen interessiert, so wollten die ProduzentInnen dagegen ihren Arbeitseinsatz minimieren und hohe Einkommen erzielen (Trenkle 1996: 87). Anstatt der blinden Marktgesetze erhob sich nun eine zentrale Planungselite und staatliche Gewalt über die Gesellschaft, die über die Produktion und Verteilung der Produkte bestimmte und die Preise der Waren festlegte. "Ein abstrakter Zwang wird also durch einen anderen ersetzt. Den Partikularinteressen tritt an Stelle der blinden unerbittlichen Marktgesetze nun die abstrakte Allgemeinheitszumutung durch politische Institutionen gegenüber." (Ebd.: 87) Im Zusammenhang dieser hier grob skizzierten Grundprobleme war die staatliche Planwirtschaft weniger mit einer Überproduktion als mit einer Unterproduktion konfrontiert, die sich über planwirtschaftliche Unflexibilität, Mangelwirtschaft und Desinteresse der Individuen an wirtschaftlicher Effizienz und Gestaltung äußerte.

Dezentrale Planung und Selbstorganisation in der Solidarischen Landwirtschaft

Die staatliche Plan- und Kommandowirtschaft des "Realsozialismus" ist "glücklicherweise auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet", erklären Lohoff und Trenkle in Die Große Entwertung (Lohoff & Trenkle 2012: 292). Ob sie wirklich der Vergangenheit angehört, darf angesichts des fortschreitenden Zerfallsprozesses des globalen warenproduzierenden Systems allerdings angezweifelt werden. Denn sie stellt immer noch eine Alternative dar, um Krisen wie die gegenwärtige strukturelle Überproduktionskrise unter Beibehaltung staatlicher Autorität zu überwinden.

Eine andere Alternative, die auf Autonomie und Selbstbestimmung der Gesellschaftsmitglieder setzt und die Probleme staatlicher Planwirtschaft überwindet, bilden dagegen dezentrale, bedürfnisorientierte und kooperative Formen gesellschaftlicher Selbstorganisation. Solche Formen existieren beispielsweise in Projekten der Solidarischen Landwirtschaft. In diesen ist die Zersplitterung und Atomisierung der gesellschaftlichen Produktions- und Austauschverhältnisse über Kooperationsverhältnisse zwischen ProduzentInnen und KonsumentInnen praktisch aufgehoben - unabhängig von den verschiedenen Rechtsformen der Projekte. Als Kollektive mit bis zu mehreren Hundert Mitgliedern unterhalten sie gemeinsam die Produktion und regeln über direkte Absprachen, wo, was, wie und wieviel Nahrungsmittel produziert werden sollen. So entstehen lokale, transparente und basisdemokratische Produktions- und Verteilungskreisläufe als dezentrale Planwirtschaften, in denen sowohl die strukturellen Zwänge und Interessengegensätze des Marktes als auch die Herrschaft der abstrakten Allgemeinheit über die Interessen der Einzelnen aufgehoben sind.

Solidarische Landwirtschaften agieren jedoch nicht vollkommen unabhängig von den Zwängen des Marktes. So sind die Projekte hochgradig abhängig von finanziellen Beiträgen der Mitglieder. Mit diesen beziehen sie Maschinen, Treibstoff, Material und Rohstoffe auf dem anonymen Markt und unterhalten ihre fest angestellten Arbeitskräfte. Diese Abhängigkeit vom Geld äußert sich in tendenziell hohen Mitgliedsbeiträgen, die für viele Menschen eine Hürde darstellen und die Solidarischen Landwirtschaften zu einem Nischendasein verurteilen.

Auf der anderen Seite jedoch ermöglicht die (finanzielle) Absicherung durch das Kollektiv Planungssicherheit für die Produktion. Der Kollektivbetrieb kann für ein Jahr die Produktion dezentral planen und Anbaumethoden anwenden, die unter marktwirtschaftlichen Konkurrenzverhältnissen nicht möglich wären. Er kann auf den Einsatz von Pestiziden und Monokulturen verzichten, Bedarfsgehälter einführen und die Produktion den Bedürfnissen von Menschen und Natur anpassen.

Geld spielt in Solidarischen Landwirtschaften also weiterhin eine Rolle. Allerdings ist das Geld unter den veränderten Rahmenbedingungen nicht mehr der eigentliche Zweck der Produktion, sondern ein Mittel zum Zweck des Aufbaus, der Erhaltung und der Weiterentwicklung der Bedarfsproduktion des Kollektivs. An diesem Punkt stellt sich die Frage, wie diese Abhängigkeiten vom Geld bzw. von den Zwängen des Marktes verringert werden können. Eine Möglichkeit innerhalb der Solidarischen Landwirtschaften wäre, engere Kooperationsbeziehungen zwischen den bestehenden Projekten anzustreben und auf gemeinsame, vorgelagerte Maschinen- und Saatgutproduktionsstätten zurückzugreifen. Diese könnten die Solidarischen Landwirtschaften nach Bedarf mit Maschinen und Saatgut beliefern und ihre Abhängigkeiten von Märkten und Geld reduzieren. Nicht mehr das Geld oder das Kriterium der Finanzierbarkeit würde die gesellschaftlichen Produktions- und Austauschbeziehungen regieren, sondern die Absprachen zwischen den Menschen auf der Grundlage der Kooperation sowie des uneingeschränkten Zugangs zu den Produktionsmitteln und Produkten. Das würde nicht nur für Solidarische Landwirtschaften gelten, sondern auch für andere Bereiche der gesellschaftlichen Reproduktion und Verteilung. Das Zusammenspiel zwischen solchen lokalen und überregionalen Kooperationsbeziehungen in einer dezentral, ohne Waren- und Geldbeziehungen organisierten Gesellschaft könnten wir uns dann "als ein gestaffeltes System aufeinanderbezogener lokaler, regionaler und überregionaler Kreisläufe vorstellen, bildlich gesprochen vielleicht wie eine stufenförmig aufgebaute Pyramide, bei der die Dichte der stofflichen Verflechtungen mit zunehmender Höhe abnimmt" (Trenkle 1996: 79).

Zugang zu Ressourcen, Produktionsstätten und Produkten

Die Projekte der Solidarischen Landwirtschaft und andere Beispiele - wie die dezentrale Energieversorgung mit erneuerbaren Energien - zeigen, dass die Möglichkeiten theoretisch vorhanden sind, "um eine dezentrale, aber global vernetze und technisch effiziente Produktionsweise aufzubauen" (Trenkle 2015). Eine Produktionsweise, die auf der Grundlage der Kooperation organisiert und mit dem Ziel vereinbar ist, die Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen und die natürlichen Grundlagen zu schützen.

Praktisch stößt diese Perspektive jedoch auf unterschiedliche Hürden. Da ist zum einen die Frage der Organisation. Eine solche gesellschaftliche Produktionsweise, die nicht über Geld- und Waren-, sondern über Kooperationsbeziehungen organisiert ist, setzt komplexe Organisationsstrukturen voraus, die schrittweise aufgebaut, erprobt, eingespielt und vor Maßnahmen der Repression geschützt werden müssen.

Zum anderen besteht das Problem des uneingeschränkten Zugangs zu den gesellschaftlich bereits vorhandenen Ressourcen, Produktionsmitteln und Produkten. Die wachsenden Strukturen der gesellschaftlichen Selbstorganisation - darunter auch die Solidarischen Landwirtschaften - benötigen einen solchen Zugang, wenn sie sich langfristig von ihrem Nischendasein sowie von ihrer Abhängigkeit vom Geld und den strukturellen Zwängen der kapitalistischen Warenproduktion emanzipieren wollen (Lohoff 1996; Trenkle 2015). Der Zugang zu diesen Ressourcen wird umso notwendiger, je weiter der Zerfallsprozess des warenproduzierenden Systems voranschreitet und die Menschen vom Warenreichtum und der Sicherung ihrer Grundbedürfnisse abschneidet.

In diesem Punkt unterscheidet sich der selbstorganisierte Sektor von morgen von dem selbstorganisierten Sektor aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Letzterer konnte keinen Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen, Produktionsmitteln und Produkten gewinnen und kam daher über einen oberflächlichen Grad der Selbstorganisation nicht hinaus. Viele dieser Organisationen wurden vom System der Geld- und Warenbeziehungen vereinnahmt oder haben die Form sozialer Armutsverwaltung im Zuge wachsender Privatisierungen angenommen (Lohoff 1996). Die Vereinnahmungen konnten nach Lohoff u.a. deshalb stattfinden, weil der globale Kapitalismus trotz seiner sich anbahnenden Strukturkrise Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre über die massive Ausdehnung der Kredit- und Schuldensphäre eine erneute internationale Expansionsdynamik entfalten konnte. Diese schuldenfinanzierte Expansionsdynamik stößt nun aber mit zunehmender Geschwindigkeit an ihre Grenzen.

Der Prozess der Einengung des Marktes bahnt sich unauf haltsam seinen Weg und wird zwangsläufig gesellschaftliche Konfliktfelder erzeugen, die wiederum spontane Formen der Selbstorganisationen annehmen können. Diese neuen Formen der Selbstorganisation befinden sich dann aber in einem "gründlich veränderten Kontext" (ebd.: 102), da eine fehlende Expansionsdynamik ihre erneute Vereinnahmung verhindert. In diesem veränderten Kontext rückt der politische Kampf um die gesellschaftlichen Ressourcen in den Mittelpunkt. Denn wenn die neuen Formen der Selbstorganisation nicht zu einer massenhaften Form der Armutsverwaltung mutieren wollen, dann müssen sie "so viele stoffliche Ressourcen (Gebäude, Produktionsmittel etc.) und Finanzen wie nur irgend möglich" erkämpfen und die Rahmenbedingungen verbessern, damit der selbstorganisierte Sektor gestärkt und weiterentwickelt werden kann (Trenkle 2015). Das bedeutet, dass die gesellschaftlichen Emanzipationsbewegungen den uneingeschränkten Zugang zu diesen Mitteln von der Politik und dem Staat einfordern müssen, der die Kontrolle über diese verfügt. Auf der anderen Seite könnte eine linke Politik und Partei eine solche Bewegung der gesellschaftlichen Selbstorganisation auf lokaler und globaler Ebene mit allen Kräften fördern.

Die strategische Zielsetzung linker, emanzipatorischer Arbeit würde sich damit grundlegend ändern: War in der traditionellen Linken, insbesondere im Leninismus, noch "jede Form der Selbstorganisation dem Ziel der Eroberung der Staatsmacht untergeordnet und musste danach verschwinden oder auch gewaltsam zum Verschwinden gebracht werden", so muss heute umgekehrt "der Auf- und Ausbau des selbstorganisierten Sektors als Basis für die Aufhebung der kapitalistischen Produktions- und Lebensweise im Mittelpunkt des politischen Handelns stehen. [...] Für Lenin und den traditionellen Marxismus war das Absterben des Staates ferne Zukunftsmusik. Hingegen hat gesellschaftliche Emanzipation heute von vornherein die sukzessive Rücknahme des Staates in die Gesellschaft zum Inhalt." (Ebd.)

Die Landwirtschaft war das erste große Opfer in der Aufstiegsphase der kapitalistischen Produktionsweise. In der "Ursprünglichen Akkumulation des Kapitals" (Marx 1962: 741ff.) wurden große Teile der Landbevölkerungen gewaltsam von Grund und Boden getrennt und zur Lohnsklaverei verurteilt, während die privatisierte Landwirtschaft fortan den wachsenden Bedarf an Rohstoffen in den industriellen Zentren belieferte. In den Projekten der Solidarischen Landwirtschaft dagegen entstehen heute erste Formen gesellschaftlicher Selbstorganisation, die (in der Praxis) auf dem kollektiven Zugang zu Land und dessen Produkten basieren und erste Ansätze einer nicht-monetären und selbstbestimmten Produktion und Verteilung aufzeigen. Eben darin liegt auch das größte Potential dieser Projekte. Sie zeigen Perspektiven auf, die über die kapitalistische Produktionsweise und ihre Kategorien Ware, Geld und Wert hinausweisen. In dieser Hinsicht nehmen die Landwirtschaftsprojekte eine Vorreiterrolle ein.

Wie sich diese Projekte jedoch weiterentwickeln, hängt von noch ungeklärten Fragen ab: Werden die Menschen innerhalb der Projekte das Potential der Solidarischen Landwirtschaften als Alternative zu kapitalistischer Warenproduktion erkennen? Werden sie sich gemeinsam sowie mit anderen selbstorganisierten Gruppen für einen uneingeschränkten Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen, Produktionsmitteln und Produkten einsetzen? Mit welchen aktuellen Problemen, Widersprüchen und Grenzen sind die Projekte in der praktischen Umsetzung der Kooperationsbeziehungen konfrontiert und wie werden sie mit diesen umgehen? Und schließlich, kann die Solidarische Landwirtschaft Perspektiven eröffnen, auch andere Lebensbereiche wie zum Beispiel die Textil- und Kleidungsherstellung, die Wohnungswirtschaft, die Pflegearbeit, die Energieversorgung usw. in ein dezentrales, gestaffeltes System aufeinander bezogener lokaler, regionaler und überregionaler Produktions- und Verteilungskreisläufe zu übertragen? Könnten solche Kreisläufe über den uneingeschränkten, kooperativen Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen, Produktionsstätten und Produkten den Zwängen des Geldes und der Finanzierbarkeit entzogen und den Gesellschaftsmitgliedern zur Sicherung ihrer Grundbedürfnisse zu Verfügung gestellt werden?


Literatur

Jellen, Reinhard (2012): Alle Zentralbanken sind dabei, sich in Bad Banks zu verwandeln, www.krisis.org.

Konicz, Thomas (2015): Auf eine Neues. Wann platzt die Liquiditätsblase, in der das Weltfinanzsystem verfangen ist?, in: Konkret, 6/2015.

Kurz, Robert (2012): Geld ohne Wert, Berlin: Horlemann.

ders. (2007): Weltmacht und Weltgeld, in: Widerspruch, Bd. 27, H. 53.

ders. (1995): Die Himmelfahrt des Geldes, in: Krisis, Nr. 16/17.

ders. (1990): Der Kollaps der Modernisierung, Leipzig: Reclam.

ders. (1986): Die Krise des Tauschwertes, in: Marxistische Kritik, Nr. 1.

Lenin, Wladimir Illich (1974): Imperialismus und Sozialismus in Italien, in: Lenin Werke, Bd. 21, Berlin: Dietz.

Lohoff, Ernst (2018): Die allgemeine Ware und ihre Mysterien, in: Postmonetär denken, Wiesbaden: Springer VS.

ders. (2016): Die letzten Tage des Weltkapitals, in: Krisis, 5/2016.

ders. (2014): Kapitalakkumulation ohne Wertakkumulation, in: Krisis, 1/2014.

ders. (1996): Krise und Befreiung - Befreiung in der Krise, in: Krisis, Nr. 18, S. 93-132.

ders. (1995): Die harte Landung des Dollar, in: Krisis, Nr. 16/17, S.77-126.

Lohoff, Ernst / Norbert Trenkle (2012): Die große Entwertung, Münster: UNRAST.

Marx, Karl (1962): Das Kapital, in: MEW, Bd. 23, Berlin: Dietz.

ders. (1983): Das Kapital, in: MEW, Bd. 25, Berlin: Dietz.

Stahlmann, Johanna W. (1990): Die Quadratur des Kreises, in: Krisis, Nr. 8.

Trenkle, Norbert (2015): Die Abwicklung des Kapitalismus, in: Widerspruch, 61/2015.

ders. (1996): Weltgesellschaft ohne Geld, in: Krisis, Nr. 18.

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2000 Zeichen abwärts

Hotline-Spionage

Computerprogramme dringen immer weiter in unser Leben ein. Als ich in der letzten Ausgabe der Streifzüge schrieb, dass Algorithmen zunehmend an den Personalentscheidungen von Unternehmen beteiligt werden, ahnte ich noch nicht, dass uns ähnliche Programme auch bald im außerberuflichen Alltag belästigen könnten. Wie ich berichtete, kommt das Personalauswahlprogramm "Precire" bereits in über 100 Unternehmen zum Einsatz. Es soll die charakterliche Eignung von Bewerbern feststellen, indem es mit ihnen am Telefon ein automatisiertes Interview durchführt und dabei deren Wortwahl, Stimmlage, Betonung etc. analysiert. Anschließend fällt es ein Urteil darüber, wie neugierig und wie risikofreudig sein Gegenüber ist, ob es nach Dominanz strebt etc.

Ähnliches ist jetzt mit den Anrufern bei Call-Centern geplant. Wer schon einmal eine Hotline kontaktiert hat, kennt die automatische Abfrage, die höflich dazu auffordert, der Aufzeichnung des Gesprächs zuzustimmen - angeblich "zur Verbesserung der Servicequalität". Künftig sollte man sich gut überlegen, ob man dem nachgibt. Es könnte nämlich um mehr gehen als um die Überwachung des Call-Center-Mitarbeiters, die ja schon Grund genug wäre, die Bitte abzulehnen. Laut der Zeitschrift Technology Review (Ausgabe 2/2019) testen zur Zeit Unternehmen, wie man Sprache und Stimme des Anrufers analysieren kann, um mit Hilfe einer mitlaufenden Software ein Persönlichkeitsprofil von ihm zu erstellen. Das würde dann unter anderem bestimmte Persönlichkeitsmerkmale sowie ein emotionales Profil enthalten. Anschließend könnten diese Daten gehandelt werden. Beispielsweise um Werbung passgenau auf die betreffende Person zuzuschneiden oder sie bei anderen Entscheidungen zu beeinflussen, beispielsweise vor Wahlen. Man darf außerdem davon ausgehen, dass die dabei eingesetzten selbstlernenden Programme ständig anhand von Verkaufszahlen und anderen Kennziffern geprüft und im Sinne des Verwertungsgeschehens optimiert werden.

P.S.

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Die letzte Karte der Sozialdemokratie

von Lars Distelhorst

Wir leben in einer Leistungsgesellschaft. Über diese Gesellschaftsdiagnose sind sich die meisten ebenso einig wie über die Berechtigung der allseits erklingenden Forderung nach der gerechten Anerkennung erbrachter Leistungen sowie der damit einhergehenden Notwendigkeit gerechter Quantifizierung und Entlohnung. Nach Konservativen und Liberalen finden nun langsam auch die Sozialdemokraten zum Begriff der Leistung und versuchen ihn für eine Revitalisierung ihrer Politik fruchtbar zu machen. Angesichts der wenig erfreulichen Prognosen in Österreich und dem Sturz ins Bodenlose in Deutschland ist diese Absicht mehr als verständlich und entsprechend engagiert fallen die Wortmeldungen aus.

Pamela Rendi-Wagner wies klar darauf hin, es dürften nicht Faktoren wie Geburt, Herkunft oder Hautfarbe sein, die über die Chancen eines Menschen entscheiden. Gegen solche feudalen Atavismen Stellung beziehend, forderte sie deswegen einen "fairen Leistungsbegriff", der es den leistungsfähigen Menschen erlauben solle, gesellschaftlich aufzusteigen. Reichtum und Privilegien dürfen demnach auf keinen Fall mehr zählen als "Leistungsbereitschaft und Einsatzfreude", damit "hart arbeitende Menschen" nicht ständig der Missachtung ihrer Anstrengungen ausgesetzt sind und irgendwann vielleicht einfach nur noch resignieren. Ins selbe Horn bläst auch die deutsche SPD, wenn sie eine Grundrente oberhalb der bloßen Grundsicherung für all jene fordert, die 35 Jahre in die Rentenkasse eingezahlt haben, damit Arbeit sich lohnt und der Lebensleistung eines Menschen mit Wertschätzung begegnet wird.

Dass es aktuell die Sozialdemokratie ist, die den Begriff der Leistung so lautstark im Munde führt, verwundert allerdings nur bedingt. Schon Paul Lafargue beklagte die Einfallslosigkeit der damaligen Arbeiterbewegung, der nichts Besseres einfiel, als mehr Arbeit zu fordern und dann noch für alle. Insofern hat Rendi-Wagner historisch betrachtet vielleicht sogar Recht, wenn sie den Begriff der Leistung als originär sozialdemokratisches Terrain bezeichnet und dürfte damit wohl auch bei ihren deutschen Genossen und Genossinnen auf Zustimmung stoßen. Ob diese Tristesse des politisch Imaginären indes geeignet sein wird, die Wählergunst von rechts in Richtung Sozialdemokratie zu verlagern, darf indes bezweifelt werden, da mit dem Leistungsbegriff einige recht pikante Probleme einhergehen.

Unsinnig bis widersprüchlich

Dort, wo Leistung mehr sein soll als ein Aufruf wie: "Jetzt habt euch mal nicht so und strengt euch gefälligst richtig an!", kommt sie um inhaltliche Konkretion nicht herum. Dies trifft in besonders starkem Maße zu, wenn sie nicht nur zur Messung von Arbeitsproduktivität bemüht, sondern obendrein noch, wie es SPÖ und SPD vorschwebt, zum Orientierungsprinzip sozialer Gerechtigkeit erhoben wird. In diesem Fall wird sie von einer Bewertung individueller Tätigkeiten zu einem gesellschaftlichen Verteilungsprinzip, dessen Legitimität unlösbar mit der Möglichkeit verknüpft ist, eindeutig bestimmen zu können, was Leistung ist und wie sie gemessen werden kann. An dieser Stelle fallen drei Probleme direkt ins Auge.

Bevor überhaupt von Leistung gesprochen oder sie gemessen werden kann, muss eine Einigung darüber erzielt werden, was denn als Leistung gelten soll und kann. Sieghard Neckel zufolge besteht eine Leistung in einem "individuell zurechenbaren Aufwand", der zu einem "gesellschaftlich gewünschten Ergebnis" führt. (Welche Gleichheit, welche Ungleichheit?, Hg. v. Berger, Peter A./Schmidt, Volker H., Wiesbaden 2004) Bereits hier wird die Relevanz gesellschaftlicher Konstruktionsmechanismen deutlich, da die Frage nach dem gesellschaftlich Wünschenswerten auf die konkrete Gestalt der gesellschaftlichen Hegemonie zurückgeht. Die überwiegend von Frauen geleistete Reproduktionsarbeit mag heute zwar mehr Anerkennung genießen als früher (auch wenn diese in den meisten Fällen einen deutlichen gönnerhaften Unterton hat), wird jedoch als Leistung nur von den wenigsten mit Lohnarbeit auf eine Stufe gestellt. Doch sogar wenn der Rahmen dessen, was als Leistung zählt und was nicht, einmal abgesteckt ist und nicht weiter in Frage gestellt wird, reproduziert sich das Konstruktionsproblem auf kleinerer Ebene.

Auch auf den ersten Blick so einfache Tätigkeiten wie das Verladen von Paketen oder die Arbeit in einem Café entpuppen sich bei näherem Hinsehen als unendlich komplexe soziale Phänomene. Sicherlich kann man Pakete oder die durch Kaffee und Kuchen erwirtschafteten Einnahmen zählen, doch umfasst dies nur einen sehr geringen Teil der erbrachten Leistung. Jeder Arbeitsprozess setzt sich aus Faktoren wie sozialen Kompetenzen, dem Umgang mit Stress, der individuellen Lebensführung usw. zusammen, und jeder dieser Aspekte bildet einen Teil dessen, was anschließend als Leistung bezeichnet wird. Dies auch nur annähernd exakt zu quantifizieren, ist vollkommen unmöglich und müsste zudem für jeden Arbeiter und jede Arbeiterin individuell durchgeführt werden. Lässt man von der Leistung allerdings alles weg, was zu ihrer Entstehung beiträgt, um sich stattdessen auf die Quantifizierung des Endergebnisses zu konzentrieren, misst man nicht mehr Leistung, sondern Produktivität. Damit aber ist man wieder bei der Ausbeutung angekommen.

Das zweite Problem ist das der Koproduktion. In einer auf Dienstleistungen, Arbeitsteilung und Spezialisierung basierenden Arbeitswelt werden Arbeitsprozesse nicht von einer Person alleine getragen. In der Regel setzt Arbeit heute Kooperation voraus, wodurch es (wenn überhaupt) nur noch unter großen Schwierigkeiten möglich ist, dem "gesellschaftlich gewünschten Ergebnis" einen entsprechenden "individuellen Aufwand" zuzuordnen. Viele Köche verderben zwar keineswegs den Brei, können aber vor dem Endprodukt ihrer Arbeit stehend nicht sagen, wer welchen Teil des Kuchens gebacken hat.

Die Dynamik der Dienstleistungsgesellschaft bringt in den Faktor Koproduktion noch eine weiter reichende Form der Komplexität ein. Wo es innerhalb von Teams vielleicht noch ein Gefühl dafür geben mag, wer wie viel zum Gelingen des gemeinsamen Arbeitsprozesses beiträgt, wird dies bei Dienstleistungen nicht selten unmöglich. Eine gute Zahnärztin wird auf eine korrekte Diagnose ebenso achten wie auf die möglichst schmerzfreie Behandlung ihrer Patienten und Patientinnen. Ob ihr damit Arbeit ebenso ab wie von der Bereitschaft ihres Gegenübers, sich regelmäßig die Zähne zu putzen und Nachsorgetermine einzuhalten. Das gleiche gilt im Falle von Grundschullehrern, Psychotherapeutinnen oder Friseuren. Ohne die Mitwirkung der Konsumenten und Konsumentinnen einer Dienstleistung ist deren Produktion in der Regel nicht möglich, wodurch die Quantifizierung eines individuell messbaren Aufwands nicht länger denkbar ist.

Das dritte Problem besteht in einer nicht aufzuhebenden Gerechtigkeitsproblematik. Wenn aus den beiden vorhergehenden Gründen Leistung weder zuverlässig definiert noch gemessen werden kann, verwandelt sie sich in eine Zuschreibung, die, statt in objektiven und nachvollziehbaren Kriterien zu wurzeln, das Produkt willkürlicher Festlegungen ist. Ob die Konservativen, die Liberalen oder die Sozialdemokratie hier über die Definitionsmacht verfügen, mag etwas am Inhalt der Zuschreibung ändern, nimmt ihr jedoch keineswegs ihren willkürlichen Charakter. Die unlösbar mit ihm verbundene Willkür disqualifiziert den Leistungsbegriff für jede Diskussion über soziale Gerechtigkeit.

Doch auch wenn eine genaue Quantifizierung von Leistung im Bereich des Möglichen läge, bliebe noch immer ein Gerechtigkeitsproblem bestehen. Selbst wenn alle Menschen unter Bedingungen von Chancengleichheit ihr Bestes gäben, um ein gesellschaftlich gewünschtes Ergebnis zu erzielen und ihre Anstrengungen zudem noch zuverlässig gemessen werden könnten, würde dies nichts an der Tatsache ändern, dass dieser Prozess Gewinner und Verlierer produziert. Auch im theoretisch unmöglichen Szenario einer funktionierenden Leistungsgesellschaft bleiben die meisten im Rennen um die Spitze auf der Strecke.

Früher war alles besser

Leistung ist aus diesem Blickwinkel ein Begriff, der sich vor allem durch seine Inhaltsarmut auszeichnet. Das war indes keineswegs immer so. In ihrer Studie "Die Erfindung der Leistung" (Berlin 2018) zeichnet Nina Verheyen die geschichtliche Entwicklung und die semantischen Verschiebungen des Leistungsbegriffs nach. Im 18. Jahrhundert forderte der bürgerliche Bildungsbegriff von den Zöglingen nicht die Konkurrenz um möglichst gute Noten, um diese anschließend gegen entsprechende Plätze innerhalb der Karriere- und Statushierarchie zu tauschen. Vielmehr ging es um die Herausbildung eines "ganzen Menschen", der sich durch seine geschulten Sinne und einen festen Platz im sozialen Gefüge auszeichnete. Natürlich sollte dieser Mensch auch arbeiten und dabei erfolgreich sein, doch galt es im Unterschied zu den Implikationen des heutigen Leistungsdiskurses ein Übermaß an Verausgabung zu vermeiden, damit die anderen Aspekte des Lebens und die mit ihnen einhergehenden Verantwortlichkeiten nicht zu kurz kamen. Im Zweifelsfall konnte auf Arbeit sogar zugunsten der sinnlichen Freuden und gesellschaftlicher Verpflichtungen verzichtet werden, wie die aus schätzungsweise 10 % der Bürgerlichen bestehende Gruppe der Rentiers bewies, die ausschließlich von ihrem (in den meisten Fällen wohl geerbten) Vermögens lebten. Verheyen bringt die tiefe Kluft zwischen dem damaligen und dem heutigen Leistungsbegriff anschaulich auf den Punkt, wenn sie schreibt: "Leisten verwies weniger auf die individuellen Möglichkeiten eines Menschen als vielmehr auf seine Pflichten anderen gegenüber. Entsprechend verwendete man das Verb im Deutschen lange nur in Zusammenhang mit einem bestimmten Objekt. Der Mensch leistete stets 'etwas', etwas Konkretes, das von ihm erwartet wurde, er leistete noch nicht an sich."

Geschichtlich betrachtet hat der Leistungsbegriff eine stetige semantische Reduktion durchlaufen. Heute ist Leistung zwar ein positiv besetzter Begriff, insofern es als tugendhaft gilt, früh aufzustehen, arbeiten zu gehen und sich dabei anzustrengen, doch inhaltlich betrachtet weist er eine deutliche Leerstelle auf, da er nicht mehr mit konkreten Inhalten oder Zielen verbunden ist, um stattdessen die Bereitschaft zur Verausgabung an sich zu bezeichnen. Als Leistung gilt letztlich, was der Produktion von Waren dient, die sich am Markt behaupten und dergestalt ihren Tauschwert realisieren.

Da es hier nicht auf gute Absichten, gesellschaftliche Nützlichkeit (Erwünschtheit und Nützlichkeit sind keineswegs dasselbe) oder auch nur die konkrete Art der Ware ankommt, ist es sinnvoll, mit Blick auf das produzierende Individuum von Erfolg statt Leistung zu sprechen. Erfolgreich ist das, was sich am Markt behauptet. Dies aber hat nichts mit ethischen Erwägungen wie Gerechtigkeit zu schaffen und ist als Prinzip gesellschaftlich gerechter Verteilung vollkommen ungeeignet. Die Diskussion um Leistungsgerechtigkeit landet mit dem Erfolg schließlich wieder bei einer Gesellschaft, in der die Menschen nach ihrer Marktperformance statt ihres Engagements gewogen werden und damit genau bei dem, was sie vorgeblich überwinden wollte.

Die aufs ökonomische Kalkül reduzierte Interpretation des Leistungsbegriffs ist ein Zeichen dafür, wie weit die Ökonomisierung der Gesellschaft heute bereits vorangeschritten ist. Zwar mag der Begriff sich hier und da noch aus den Restbeständen anderer gesellschaftlicher Lebensbereiche bedienen, indem er sich als Verantwortung, sozialer Beitrag oder Artikulation von Solidarität verkleidet. Doch bei näherer Betrachtung beschreibt er in letzter Konsequenz immer nur die abstrakte Quantität der zur Produktion abstrakter Werte investierten abstrakten Arbeitsleistung.

Die Leere des Leistungsbegriffs entspricht in diesem Sinne der Leere der Gesellschaft. Der moderne Kapitalismus rechtfertigt sich in zusehendem Maße nur noch durch seine Faktizität und verweist (was genau genommen dasselbe ist) dabei gleichzeitig auf seine Alternativlosigkeit. Leistung ist ein integraler Bestandteil dieser Ideologie, da sie wie eine objektiv existierende Tatsache erscheint, die exakt quantifiziert und verglichen werden kann. Wo die Ideologie sich auf die Zahl zurückzieht, verliert sie in gleichem Maße an konkretem Inhalt. Die Verbreitung des Leistungsdiskurses ist aus diesem Grund ein Gradmesser für die Aushöhlung der Ideologie und die ethische Gewalt eines Systems, das Sozialintegration nur noch durch den Druck seiner Faktizität herstellen kann.

Wenn Autoren und Autorinnen wie Verheyen oder Honneth im Anschluss an ihre kritischen Analysen des Leistungsbegriffs zu dem Schluss kommen, dieser dürfte auf keinen Fall nur seinen Protagonistinnen und Protagonisten überlassen werden, da er sich gegen den Kapitalismus wenden ließe, indem die Frage gestellt wird, wer welchen Beitrag für das Funktionieren der Gesellschaft leistet, ist Vorsicht angebracht. Wie auch immer man es dreht, macht die Unbestimmtheit des Leistungsbegriffs ihn für jede kritische Intention zunichte. Und sogar, wenn es gelänge, diese Unbestimmtheit in den Griff zu bekommen: Wer würde schon in einer Gesellschaft leben wollen, in der die Frage, wer was vom Kuchen bekommt, stets mit der Frage verknüpft wird, wer ihn unter welchen Anstrengungen gebacken hat? Eine funktionierende Leistungsgesellschaft ist eine ebenso verheerende Dystopie wie eine dysfunktionale. "Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!" - alles andere ist eine verzagte Forderung.

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Geisterbahn der Sozialpolitik

von Nikolaus Dimmel

Ökonomisch und ökologisch betrachtet ist es zappenduster. Kein Wachstum in Sicht. Das Zwei-Grad-Ziel in unerreichbarer Ferne. Die Arbeit 4.0 drängt Schlechtqualifizierte in die abgehängte Prekarität. Das Volumen geleisteter Arbeitsstunden sinkt oder stagniert. Die bereinigten Nettolöhne fallen und fallen. Working Poor, Niedriglöhner, Alleinerziehende, NEET, Asylberechtigte und Altersarme reichen einander die Klinke auf den Sozialämtern. Die untersten 25 % der Mieter geben 50 % des Haushaltsnettoeinkommens für den Wohnaufwand aus. Selbstbehalte in der sozialen Sicherung steigen. Das Pflegegeld hat 30 % seines Kaufkraftwertes gegenüber dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des Pflegegeld-Regimes verloren. In den Hochburgen der Vermarktlichung der Daseinsvorsorge sind 2,60 Euro aufzubringen, um einen Kilometer mit dem öffentlichen Verkehrsmittel zu fahren. Willkommen in der Geisterbahn der postpolitischen, postdemokratischen und postwohlfahrtsstaatlichen Regulationsweise.

Bumsti-Basti-Tunnel

Quietschend biegt der Sozialstaatswagen um die Kurve hinein in den Bumsti-Basti-Tunnel faschistoider Austerität. Dort dann grelles Licht, ohrenbetäubender Marschmusiklärm, Videos mit Trachtenauflauf im Schnellvorlauf. Im Hintergrund Burschenschafterchöre, die sich zur siebten Million einen absingen. Der Wagen nähert sich einer Sortierrampe. Links geht es zu einer Falltür mit der Aufschrift §10-AlVG-Sperren, Mehrkindfamilien, AusländerInnen, AsylwerberInnen, Langzeitarbeitslose & Schmarotzer. Rechts geht es zur Versorgung von Personen, die zu einem imaginierten "Volk" zu zählen sind.

Ins Rampenlicht treten weiße, normalisierte Mittelschichtfamilien mit beschränkter Kinderanzahl, freiwilliger Bankkreditknechtschaft, hohem Psychopharma-Konsum, moderater Daueralkoholisierung, verschämter häuslicher Gewalt und einer noch von drastischen Prekarisierungserfahrungen verschonten Erwerbsbiographie. Insbesondere die als Ehrliche, Anständige, hart Arbeitende und Senioren mit faschistischer Vergangenheit ("Trümmerfrauen") Etikettierten gehören zum Zielpublikum dieser völkischen, benevolenten und paternalistischen Sozialpolitik. Und über allem sitzen die ebenso geifernden wie moralinsauren Frauen der Bourgeoisie im Gewölk der Charity. Ihr Motto lautet: Ausspeisungstafeln für alle!

Derlei Sozialpolitik von rechts für die "Unseren" und gegen die "Parasiten" versteht sich als lizenzierte Täuschung. Ein griffiges Beispiel für diese Art von verquaster Benevolenz ist der Familienbonus in Höhe von 1.500 Euro/Jahr ab dem 1.1.2019. Hier erzählt das Märchen des BMF, dass 950.000 Familien und 1,6 Mio. Kinder von einer Steuerlast von 1,5 Mrd. Euro befreit würden. Pars pro toto kann man zeigen, wie hier gelogen wird: Zum Ersten lebten 2018 überhaupt nur 1,5 Mio. Kinder und Jugendliche in Österreich. Zum Zweiten profitieren nur Lohn- bzw. Einkommensteuerzahler vom Bonus. Denn der Bonus vermindert als Absetzbetrag unmittelbar die Einkommensteuer, kann aber nicht zu einer Negativsteuer führen. Anspruch hat also, wer als familienbeihilfenberechtigte Person mehr als 1200 Euro verdient. 40 % der abhängig Beschäftigten aber zahlen gar keine Lohnsteuer. Für den Rest gelten Einschleifregelungen. Voll ausschöpfen kann man den Bonus indes erst mit 1750 Euro/Monat. Der Familienbonus ist also eine Mittelschichtförderung. Nach wie vor unklar ist zudem, ob der als Negativsteuer ausgestaltete Kinderabsetzbetrag 2019 gestrichen wird.

Mit der neuerlich zur Sozialhilfe zurückmutierten Mindestsicherung wird den 330.000 armutsgefährdeten Kindern, Unqualifizierten und ImmigrantInnen ökonomisch eine aufs Maul gegeben. Man verbrämt nicht einmal mehr, dass man statt der Armut die Armen bekämpft; jetzt wird je nach Sachlage mit heruntergelassenem Visier oder Hose gekämpft, indem man Leistungen für Mehrkindfamilien, Unqualifizierte ohne Pflichtschulabschluss und Personen mit eingeschränkten Sprachkompetenzen reduziert.

In der Arbeitslosenversicherung "neu" steht der Entfall der Notstandshilfe als Versicherungsleistung auf der Tagesordnung. In einem degressiven Modell werden Arbeitslose mit längerer vorangehender Beschäftigungsdauer auch länger Arbeitslosengeld erhalten. Für Beschäftigte, für die kürzer eingezahlt wurde, sinkt die Bezugsdauer. Zugleich gilt, dass die Bezugshöhe mit der Dauer der Arbeitslosigkeit sinkt. Auch hier dasselbe antikonstitutionalistische Bild: Die Notstandshilfe ist laut Judikatur des EGMR (1996) eine Versicherungsleistung, daher ein "vermögenswertes Recht". Verfassungswidrigerweise aber will das "Racket" an der Macht auf das Vermögen von bisherigen (auch älteren) NotstandshilfebezieherInnen greifen.

Dass damit Armut und der ganze Dreck an belastenden, entwürdigenden Lebensbedingungen, die damit verbunden sind, sozial vererbt wird, ist kein "übersehenes Faktum", sondern Intention. Das nämlich liefert das Argument, dass alle sozialarbeiterisch-sozialpädagogische Intervention nicht nur der letzten 45 Jahre ohnehin vergeblich war (und ist). So kann man die soziale Hilfe neoliberal "gebrandet" als Mechanismus der "welfarization" denunzieren. Die Armen, so der Tenor der Marktfundamentalisten, erhalten mit sozialen Dienst- und Transferleistungen doch nur falsche Anreize, in der aus 500-860 Euro/Monat sozialen "Hängematte" zu verweilen. Der Kalauer lautet: Wer die faulen Armen bekämpft, bekämpft auch die Armut.

Von der Inklusion zum freien Fall

Dass die Unterschicht in Österreich zwölf Jahre kürzer lebt als die Oberschicht und noch dazu weniger gesunde Lebensjahre aufweist, was solls? Die bisherige Verbetriebswirtschaftlichung sozialer Dienste, die Ökonomisierung sozialer Hilfen unter dem Stichwort "social return on investment", aber auch die gerade vorbereitete Dezentralisierung bzw. Föderalisierung der Kinder- und Jugendhilfe machen vor allem eines deutlich: dass man sich vom wohlfahrtsstaatlichen Inklusionsprinzip bereits sukzessive verabschiedet hat und nunmehr zu einem liberalen, marktradikalen Modell der Selbsthilfe durchstoßen möchte. Unter dem Regime festgelegter Tagsätze und zugleich outputorientierter Leistungsverträge müssen die freien Wohlfahrtsträger mit Strategien des "Creamings" reagieren, also nur eingeschränkt betreubare Jugendliche den Jugendämtern zurückstellen. Zurück bleiben depravierte Existenzen im freien Fall.

Auf diese Weise wird in der sozialpolitischen Geisterbahn eines faschistoiden "Rackets", das nicht müde wird, auf Austrofaschismus und Nationalsozialismus zu referenzieren, jenem, der hat, auch gegeben. Wer hingegen so gut wie nichts mehr hat, dem wird genommen. Das erstaunt nicht. Denn "hidden agenda" ist die Polarisierung der Gesellschaft zwischen "uns" und "denen", "weiß" und "schwarz", christlich und muslimisch, reich/vermögend und arm/verschuldet, in Lohnknechtschaft arbeitend und arbeitslos herbeizuführen. Es geht hierbei darum, jene Milieus gegen eine als homogen phantasierte virtuelle Gruppe von "anderen" Trittbrettfahrern, Sozialschmarotzern, langzeitarbeitslosen Arbeitsunwilligen sowie in Sozialsysteme Einwandernden aufzuwiegeln, die sich von sozialer Stagnation oder sozialem Abstieg bedroht fühlen.

Dass es nun zu radikalen Einschnitten im Sozialhilferichtsatz (aka Mindeststandard) bei Menschen ohne Pflichtschulabschluss bzw. guten Deutschkenntnissen kommt, dass die Notstandshilfe zerstört und Zumutbarkeitsbestimmungen neuerlich verschärft werden, dass die Folgen des Pflegenotstands refamilisiert werden, ist kein Betriebsunfall, sondern drückt aus, dass der fordistische Kompromiss im Klassenkampf aufgekündigt wurde. Das spiegelt sich auch in der Fusion der Sozialversicherungsträger, in der künftig Arbeitgebervertreter Leistungen für Arbeitnehmer determinieren werden.

Ordnung des Ressentiments

So gut wie nichts ist an den Narrativen der rechten Sozial(reform)politik empirisch haltbar. Darum aber geht es gar nicht. Vielmehr steht im Zentrum des Kalküls dieser Politik, sozialpolitische Maßnahmen als Teil einer völkischen Identitätsbildung zu nutzen, die gegenüber den sozialökonomischen Verwerfungen des Kapitalozän (= Anthropozän plus gesellschaftliche Refeudalisierung plus digitaler, repressiv aufgerüsteter Überwachungsstaat) immunisiert. Dabei geht es also nicht um Sozial-, sondern um Ordnungspolitik.

Die vor dem Hintergrund Ordnungspolitik durchgesetzte kognitive Lähmung und der vorläufige Endsieg der Politik des Ressentiments basieren auf einer offen antikonstitutionalistischen sozialpolitischen Positionierung. Deren Modus ist die kommissarische Verwaltung. Daher ließ sich die Ministerin für Krankheit und Asoziales im November 2018 ein dem kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetz nachempfundenes Ermächtigungsgesetz zuschneidern, das es der Regierung ermöglicht, jenseits des Art. 18 B-VG Rechtsakte ("Vorbereitungshandlungen") ohne gesetzliche Grundlage zu verabschieden. Dollfuß lässt grüßen.

Ob dieser ordnungs- und sozialrechtspolitische Hyperaktivismus, der mit satter Parlamentsmehrheit Verfassungswidriges und zur Not mit einer über die NEOS beschafften Verfassungsmehrheit dekretiert, dann auch hält, was angekündigt wird, ist indes eigentlich völlig egal. Denn hier geht es nicht um sozialpolitische Regulierung, sondern um die ordnungspolitische Durchsetzung eines residualen Wohlfahrtsstaates. Kurz: Soziale Sicherheit soll vermarktlicht und finanzialisiert werden. Dabei werden Instrumente des Bürgerkriegs "von oben", des gramscianischen Bewegungskrieges, der finanzkapitalistischen "Landnahme" der Daseinsvorsorge, die Symbolik autoritärer Diskretion und ein Schmitt'sches Freund-Feind-Schema verknüpft.

Dass diese kommissarische Symbolpolitik einmal mehr, dann wieder weniger an den Klippen des Verfassungs- und Europarechts zerschellt, ist egal. Tatsächlich wurden Teile der Reform der Mindestsicherung bereits (abgesehen von Oberösterreich) als verfassungswidrig aufgehoben. Auch der Organisationsreform der Sozialversicherung wird dasselbe Schicksal beschieden sein. Die Europäische Kommission hat angekündigt, die geplante Indexierung der Familienbeihilfe per Vertragsverletzungsverfahren zu bekämpfen. Jegliche Indexierung der Familienbeihilfe nach Lebenshaltungskosten in den Mitgliedsstaaten ist europarechtlich unzulässig.

Gleichwohl gibt der Erfolg ihrer Frames den Rechten recht. Kaum jemand fragt, wieso 900 Mio. Euro Brutto-Aufwand (Einnahmen von Dritten oder Unterstützten sind hier nicht gegengerechnet) für die Mindestsicherung bei einem Sozialaufwand von 108 Mrd. Euro ein Finanzierungsproblem darstellen sollten. Kaum jemand versteht, dass Mindestsicherung nichts anderes als Wirtschaftsförderung ist. Jeder Euro geht ohne Sparquote in den Konsum, 20 % davon fließen an den Fiskus als Mehrwertsteuer zurück. Kaum jemand fragt mehr, wo die Vermögens-, Erbschafts- und Schenkungssteuer abgeblieben ist. Die Partei überwiegend pensionierter Wohlfahrtschauvinisten einschließlich der Symbolagenten des 6. bis 9. Wiener Gemeindebezirks, vertreten durch Frau Rendi, findet Vermögenssteuern auch irgendwie prohibitiv. Einmal arriviert, will man mit dem Pöbel nicht teilen.

Die Rechte darf sich sicher sein, dass die Verlierer dieser Entwicklung - bereits 2000 bis 2016 haben die untersten 20 % der EinkommensbezieherInnen 20 % ihrer Nettolöhne eingebüßt - entweder gar nicht wählen (Wahlbeteiligung Nationalratswahl 2017: 80 %) oder rechts wählen. Ihnen ist erinnerlich, dass das Lumpenproletariat immer schon die Speerspitze der herrschenden Klasse in ihren Attacken auf die Bastionen der Arbeiterbewegung war.

Die Symbolpolitik des "Rackets" ist erratisch. Denn das zentrale Narrativ, der propagandistische Frame rechtsextrem-rechtspopulistischer Politik, setzt voraus, dass die Wahnvorstellung einer ethnisch, kulturell und sozial homogenen "in-group" von arbeitsamen ÖsterreicherInnen einerseits und andererseits einer "out-group" von Leuten, die Ersteren die hart erarbeitete Butter vom Brot fressen, kontrafaktisch aufrechterhalten bleibt. Daher muss derlei Politik strikt empiriebefreit vorgetragen werden. Mit seinem "Nein" zum Migrationspakt hat das "Racket" eindrücklich vor Augen geführt, dass ihm jede Debatte um ein Management der Migration ein Legitimationsrisiko darstellt. Denn es braucht (!) mangels anderer Themen die ungesteuerte, tödliche, Gewalttraumata und religiöses Delirium mit sich schleppende, tunlich illegale Immigration. Und es braucht die Arbeitslosen, Armen und ImmigrantInnen, um die Angst der Mittelschichten vor dem Absturz instrumentalisieren zu können.

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Ein Leben in Stress

von Lorenz Glatz

"Politik" ist griechisch und meint die "Technik", das Leben der politai/Bürger in der polis/dem (Stadt-)Staat zu regeln. In den Politai wie den Bürgern steckt die Mauer, die der Stadt, die der Burg. Verteidigung und Angriff, Gewalt und Krieg. Konstitutiv für "Politik" ist der Stress des Fremden und des Feinds. Er begründet die Komplizenschaft der bewaffneten "Bürger" und die Bereitschaft zu Feindschaft. Den Mitbürger unterscheidet vom Feind und Konkurrenten, dass er mit einem auf derselben Seite kämpft, nicht aber dass er konkurriert und, wenn es sich ergibt, haut, sticht und schießt.

1. Nach über zweitausend Jahren hat sich dieses Muster in den Alltag durchgeätzt. Er ist Politik geworden. Der Feind ist in "Wettbewerb" und "Ranking" überall, Konkurrenz belebt schließlich das Geschäft. Wir haben ein Leben im Gerangel mit Geld, mit Kaufen und (sich) Verkaufen. Mit "Tausch" halt. Als "Tauschgegner" sind wir umso besser dran, je mehr wir täuschen können. So ein Leben stellt uns regelmäßig gegeneinander auf. Getauscht wird, wenn nehmen/rauben sich nicht rentiert. Das erste ist die gebremste Form des zweiten. Die Relation hat mit Macht zu tun. Politik und Staat regeln beides, unter den Bürgern und mit ihnen gegen andere.

Von Kampf, Konkurrenz und Wettbewerb zu Bürgern gemachte Menschen tun sich schwer, sich als Freunde arglos und fürsorglich aufeinander einzulassen, leichter geht es als (Banden von) Subjekte(n) auf Objekte. Statt um Lust und Freundschaft miteinander geht es darum, wozu wir einander benutzen können und wer nutzlos oder schädlich ist. Bürgerliches Recht regelt den Umgang von Gegnern, um deren Feindschaft latent zu halten.

2. Politik gilt als souverän, an allem schuld und zu allem im Gutem wie im Bösem fähig. Sie hängt an Geldvermehrung per Kapitalverwertung. Politik kann deren Widerpart nicht sein, sie ist die andere Seite der Medaille, Ausdruck desselben Stresses. Sie formiert und verwaltet, ob demokratisch oder diktatorisch, die Staaten als "Standorte" des konkurrenzfundierten Kapitals. Sie teibt die Bürgerinnen gegen die Konkurrenz der andern Staaten, drückt unter diesen die schwachen nieder, sucht Anschluss an die starken, geht Bündnisse ein, führt Kriege oder vermeidet sie, betreibt alles, was sich "rentieren" kann.

Als "business as usual" funktioniert nichts mehr. Die Verwertung scheint dauerhaft zu stocken, die fünfte große Welle von Kapitalverwertung, die Informationstechnologie, entwertet seit über dreißig Jahren mehr variables Kapital, d.h. Arbeit, als sie neues schafft. Verwertung gelingt in Summe nicht mehr über Arbeit in Produktion und Verkauf, sondern fiktiv als Vorgriff auf die Zukunft, als ungedeckte Spekulation. Der Kapitalismus mutiert zu einer aggressiven Glaubensgemeinschaft für die wunderbare Wiederkehr des fetten Mehrwerts. Zugleich setzt eine Flucht in Realien ein, die für Menschen unverzichtbar und kaum vermehrbar sind: Grund und Boden, um davon sich zu ernähren und darauf zu wohnen. Auch die Infrastruktur wird vom großen Geld weltweit monopolisiert. Es will "auf der sicheren Seite sein", was immer mit der Geldvermehrung durch Arbeit auch geschieht.

An den sozialen Rändern schmilzt der industrielle Kapitalismus, er setzt seinen Gewaltkern frei. Das treibt zig Millionen Menschen in die Flucht. Die Politik als Verwalterin der Krise wird auch im Zentrum zu einer Mischung von ratlos, wundergläubig, verrückt, brutal und blutig. Ob liberal und reformerisch oder nationalistisch, faschistoid und rassistisch, die Illusion, dass es mit Markt und Geld, mit Kapital und Arbeit weitergehen kann, ist zäh. Der Lohn der Arbeit fällt, die Schere zwischen reich und arm klafft immer weiter.

3. Die "mehr als menschliche Welt", die "Natur", "die Erde" ist von uns "untertan zu machen", das ist die Berufung der "Krone der Schöpfung", der "Ebenbilder Gottes", das gilt schon als biblisch und ist weithin unbestritten. Es ist pure Hybris. Die Mitwelt ist dem Menschen nicht untergeordnet. Es sind Wesen sui generis in ihrer lebendigen, organischen und anorganischen Vielfalt, mit denen wir vor- und rücksichtsvoll im Wissen um unseren Zusammenhang und die Beschränktheit unseres Wissens umgehen müssten. Keines ihrer Geschöpfe kann die Erde beherrschen. Ihre Reaktion auf die Lebensweise des dominanten Teils der Menschheit zeigt das deutlich - Klimaerwärmung, Artensterben, Rückgang der Bodenfruchtbarkeit, Erschöpfung von Ressourcen usw.

Entweder wird die Lebensweise schleunig geändert, oder ein Großteil der Menschheit wird an der Reaktion der Erde zugrundegehen, absaufen, verhungern oder im Kampf ums Überleben sterben. Die Wirtschaftsweise, die Mensch und Welt zum Rohstoff und Mittel für den Zweck grenzenlosen Geldwachstums macht, fährt gegen die Wand. Für diesen absurden Zweck werden wir einem wahnsinnigen Konkurrenzkampf unterworfen, wird unsere Lebenszeit verschwendet, zahllose Lebewesen gemordet und die Ressourcen der Erde für eine Produktion verschwendet, die zu einem Großteil Ramsch und Gift ist und uns bestenfalls mit Surrogaten eines guten Lebens abspeist.

4. Dieser Gang menschlicher Entwicklung der letzten paar tausend Jahr war nie unbestritten. Bessere Lebensweisen wurden mit Gewalt erstickt. Von der Luxus-Kritik der Kyniker und (vor allem) häretischer Teile des Christentums und der Mystik über die franziskanische Geschwisterlichkeit der ganzen Welt bis zur Konsum- und Zivilisationskritik der Beatniks, Hippies und Kommunen, der kritischen Theorie, der Versuche solidarischen Wirtschaftens und der Verteidigung der Subsistenz liegen Gedanken und Praktiken zum Entwickeln an. Eins muss sich bloß umschauen, die Versuche sind unterwegs und haben Bedarf an Mittun und auch an jeder Menge Korrektur.

Der Widerspruch und Widerstand gegen das üble Alte und der Lernprozess mit den Experimenten, für das Neue Boden zu gewinnen, werden sich angesichts der heraufziehenden multiplen Katastrophen noch sehr verdichten, und es wird noch viel dafür zu lernen sein, wie eins die Gewalttätigkeit der Verteidiger des tief gestaffelten Systems von Herrschaft unterlaufen kann. Wenn uns das vorgefundene Leben schon stressen muss, dann sollten wir uns doch lieber dafür stressen, da heraus zu kommen. Das könnte auf dem Weg auch lustvoll sein.

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Auslauf

Was heißt denn hier "anti-"?

von Petra Ziegler

Ach, wenn sie nur endlich begreifen würden! Endlich wieder die Menschen - bevorzugt "die Unsrigen" - in den Mittelpunkt stellen, endlich für Gerechtigkeit sorgen, endlich faire Rahmenbedingungen schaffen, endlich Maßnahmen gegen den Klimawandel setzen, endlich das Richtige tun ...! Aller stoßseufzenden Verdrossenheit zum Trotz, scheint das Zutrauen in das, was Politik kann oder zumindest potentiell könnte, beim Gros der Bevölkerung kaum Grenzen zu kennen. Wäre da nur nicht das stets unfähige politische Personal, das dazu noch, nicht selten, in die eigene Tasche wirtschaftet.

Die wiederholt Enttäuschten wenden sich frustriert ab, von "denen da oben", die sich nur für ihresgleichen interessieren und die die Ängste und Forderungen derer, die sich abgehängt fühlen, weder sehen noch anerkennen wollen. So oder so ähnlich wird kurz gefasst der Zulauf erklärt, den Typen wie Donald Trump oder Jair Bolsonaro haben, für die sich in jüngster Zeit immer öfter die Zuschreibung "Antipolitiker" im medialen Diskurs findet. Und nur zu gerne bedienen sie sich auch selbst dieses Labels, um sich dergestalt als Gegner des jeweiligen Polit-Establishments zu inszenieren.

Silvio Berlusconi könnte ein Beispiel für Italien sein, oder - folgt man der Darstellung des französischen Politologen Jacques de Saint Victor in seinem 2015 erschienenen Essay "Die Antipolitischen" - das "MoVimento 5 Stelle" von Beppe Grillo mit seinem "Devono andare tutti a casa" - "Sie sollen alle nach Hause gehen!" Saint Victor beschreibt den "antipolitischen Reflex" als "eine Art moralische Entrüstung und Rebellion vonseiten wachsender Randgruppen der Öffentlichkeit, die bestrebt sind, sich von der alten Politik zu befreien", verbunden mit Forderungen nach einer direkten Demokratie im Glauben, man "könne die traditionellen Eliten durch eine neue digitale Polis ersetzen, die ohne die alten, eingerosteten, überholten, delegitimierten Institutionen der Repräsentativdemokratie auskäme". Als weitere Beispiele nennt er die spanischen "Indignados", die "Aganaktismeni" (die "Zornigen") in Griechenland, oder die Bewegung "Occupy Wall Street", die sich als Vertreter der "99 % Habenichtse" gegenüber dem "1 % Besitzenden" verstehen.

Was diese Gruppen verbindet ist eine vage "Systemverdrossenheit". Adressat ihrer recht diversen Forderungen (von Umweltschutz und Umverteilung bis hin zu einer, wie im Fall der Fünf-SterneBewegung, deutlich regressiven Asylpolitik) ist freilich wiederum "die Politik".

Dem halten wir entgegen: Politik ist eine auf Staat und Markt bezogene Handlung. Sie dient nicht der Entfaltung unserer Möglichkeiten und Fähigkeiten, sondern in ihr nehmen wir nur die Interessen unserer Rollen in der bestehenden Ordnung wahr. Durch die Politik können keine Alternativen dazu geschaffen werden. Sie verwaltet die Gesellschaft, ihr Medium ist das Geld. Staat, Markt und Politik gehören zusammen. Das politische System gerät mehr und mehr aus den Fugen. Es ist keine bloße Krise von Parteien und Politikern, sondern eine Erosion des Politischen. Politik ist verkommen, aber nicht weil die Politiker verkommen sind, sondern weil sie an ihre Schranken stößt. Ihr letzter Horizont ist die Notstandsverwaltung ökonomischer, sozialer und ökologischer Dauerkrisen. - Muss Politik sein?, fragen wir ketzerisch und behaupten: Keine Politik ist möglich!

Antipolitik meint stattdessen, dass wir uns gegen unsere sozialen Zwangsrollen aktivieren. Klar und unmissverständlich: Wir wollen nicht die sein, zu denen wir gemacht werden. Dieses anti setzt nicht auf Variation des Bestehenden, es sagt radikal Nein! zur Notwendigkeit der Verhältnisse, so wie sie sind.

In der Bedeutung, in der das Attribut "antipolitisch" derzeit in den Medien Einzug hält, scheint der Begriff im Sinne emanzipatorischer Bestrebungen verloren. Die eigenen Lebensbedingungen bewusst und gemäß freier Übereinkunft zu gestalten setzt jedenfalls den Ausbruch aus dem Käfig der bürgerlichen Form und mithin den Abschied von der Politik-Illusion voraus.

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AUS DEM IMPRESSUM

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Quelle:
Streifzüge Nr. 75, Frühling 2019
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Juni 2019

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