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VORWÄRTS/583: Kriminalisierung à discrétion


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 15/16 vom 17. April 2009

Kriminalisierung à discrétion

Von Michi Stegmaier


Am 7. April marschierten rund hundert Sans-Papiers und UnterstützerInnen vor das Migrationsamt des Kanton Zürichs. Mit einer kämpferischen Demo protestierten sie lautstark gegen die unsägliche Alltagsrepression und den Umstand, dass vielen von ihnen seit anfangs Jahr jegliche Form von Identitätspapieren entzogen wurde.


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Wer als Sans-Papier in einem der verschiedenen Nothilfezentren lebt, hat sich längst an die ständigen Polizeirazzien und Personenkontrollen gewöhnt. Eigentlich sind die meisten Sans-Papiers in den Notunterkünften ehemalige Asylsuchende, und von daher bei den Behörden bestens bekannt, trotzdem weigert sich der Amtsschimmel, den betreffenden Personen entsprechende Papiere auszuhändigen, die das bestätigen. Zwar haben die im Asylbereich tätigen Organisationen für ein Mal so etwas wie Zivilcourage gezeigt und in der Vergangenheit von sich aus behelfsmässige Pseudo-Ausweise ausgestellt. Unterdessen wurde aber auch dem seitens der Behörden ein Riegel vorgeschoben. Die gängige Praxis hat noch andere negative Auswirkungen für die Betroffenen. So können eingeschriebene Briefe nicht bei der Post abgeholt werden und selbst das Ausleihen von Büchern in einer Bibliothek wird zum Ding der Unmöglichkeit.


Der Identität beraubt

"Nun haben wir gar nichts mehr um uns auszuweisen", erzählt der algerische Flüchtling Reda. "Kommst du in eine der vielen Polizeikontrollen, wirst du in der Regel immer verhaftet und auf den Polizeiposten mitgenommen. Dort werden dir die Fingerabdrücke abgenommen und da ja jeder Asylsuchende erkennungsdienstlich erfasst ist, kannst du, wenn du Glück hast, nach ein paar Stunden wieder gehen. Manchmal hat man aber auch Pech, oder es ist Wochenende, und du bleibst gleich für mehrere Tage in Haft, einfach so", meint Reda schulterzuckend. Für Ishmael von der Sans-Papiers Gruppe "The Six Campers" ist klar, dass man sie mit allen Mitteln zermürben und den Widerstand brechen will. "Mit unserem Protest wollen wir auf unsere unmögliche Situation aufmerksam machen und fordern ein Ende der Kriminalisierung. Wir sind Menschen wie jeder andere auch. Selbst Hunde bekommen in der Schweiz einen Ausweis. Uns wird aber seitens der Behörden die Identität gestohlen und wir sind weniger wert als ein Tier", beklagt sich Ishmael aus Sierra Leone. Auch Marc Müller vom Flüchtlingscafé "Refugees Welcome" kritisiert die Zürcher Behörden scharf. "Das Fehlen von Identitätspapieren hat System. Man verweigert damit bewusst das Recht auf die Existenz innerhalb einer Gesellschaft. Mit unseren Aktionen geht es auch darum, die SchreibtischtäterInnen mit der Existenz der Sans-Papiers zu konfrontieren und zu zeigen, wie sinnlos und ineffizient die ganze Repressionsmaschinerie ist", führt Müller von Refugees Welcome aus. "Seitens der Behörden erwarten wir ganz klar Lösungen, welche nicht ausschliesslich mit Diskriminierung, Schikane und Nötigung verbunden sind", betont Müller weiter. Wie allgegenwärtig die Repression ist, zeigt der Umstand, dass gleichentags in der Notunterkunft Zürich-Altstätten mehrere Sans-Papiers bei einer Kontrolle verhaftet wurden. Dabei seien gemäss Augenzeugen alle anwesenden Personen kontrolliert worden. Einer der Verhafteten habe sich seiner Verhaftung widersetzt, worauf er von mehreren Polizisten geschlagen und mit Fusstritten traktiert worden sei. Geschichten, die man jeden Dienstag im Flüchtlingscafé hören kann, sofern man das will. Unter den Sans-Papiers hat es auch viele, welche gefoltert wurden und vom Krieg und schlimmen Erfahrungen schwer gezeichnet sind. Diese Menschen bräuchten Betreuung und Schutz und keine weiteren traumatisierenden Erlebnisse. Die Schweizer Behörden hingegen interessiert das alles einen Feuchten. Hauptsache einer weniger, der in einer Statistik auftaucht.


Gemeinnützige Arbeit verboten

Nicht schlecht staunen musste Antonin, der seit über elf Jahren in der Schweiz ist, als er wieder mal eine Busse wegen Schwarzfahrens mit gemeinnütziger Arbeit im "Werkraum 4" abgelten wollte. Dort wurde ihm mitgeteilt, dass sie neue Weisungen hätten und es leider nicht mehr möglich sei, Bussen abzuarbeiten, da er sich illegal in der Schweiz aufhalte und deshalb für ihn ein generelles Arbeits- und Beschäftigungsverbot bestünde. Notabene eine Busse, die er sich einfing, als er unterwegs zum kantonalen Sozialamt war. Dort muss Antonio wöchentlich antraben, ansonsten gilt er als untergetaucht und wird zur Fahndung ausgeschrieben. Das Perfide an dieser Geschichte: Für die An- und Rückreise gab es bis zur Besetzung der Predigerkirche keine Tickets. Da im Kanton Zürich die Nothilfe aber in Form von Migros-Gutscheinen ausbezahlt wird, blieb ihm jeweils gar nichts anderes übrig als ohne Billet zu fahren. Absolut kein Verständnis für diese Praxis hat man bei Refugees Welcome. "Die ganze Repressionsschiene drückt die Menschen in eine paranoide Parallelwelt. Auf der einen Seite hast du einen Rechtsstaat. Auf der anderen Seite ist dieser für immer mehr Menschen inexistent und sie sind allen Formen von behördlicher Willkür ausgesetzt. Dass abgewiesene Asylsuchende keine gemeinnützige Arbeit mehr machen können, ist nur noch schizophren und peinlich", ereifert sich Müller mit hochrotem Kopf.

Was soll man bloss von einem Land halten, dass sich humanitäre Tradition und Menschenrechte in leuchtenden Lettern auf den schwabbeligen Bauch tätowiert hat? Wo auf der einen Seite sich der SVP-Stammtisch darüber ereifert, dass auf Grund des neuen Strafgesetzbuches ein beachtlicher Teil der Vergewaltiger, Totschläger und anderer Kapitalverbrecher nicht ins Gefängnis müssen, auf der anderen Seite aber Menschen, deren einziges Vergehen darin besteht, sich illegal hier aufzuhalten, für Monate, wenn nicht Jahre, eingesperrt werden. Was ist schlimmer? Ein Kapitalverbrechen oder der Wunsch nach einem menschenwürdigen Leben ohne Hunger und Verfolgung? Irgendwas läuft hier falsch und so langsam beginnt es in diesem Land zu stinken; aber so richtig.


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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 15/16, 65. Jahrgang, 17. April 2009, Seite 1
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Mai 2009