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VORWÄRTS/601: Zwangsarbeit in der Schweiz?


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 31/32 vom 21. August 2009

Zwangsarbeit in der Schweiz?

Von Silvia Nyffenegger


Die Zwangsarbeit an sich sowie die Erwerbsarbeit von Sans-Papiers sind beide illegal. Doch der volkswirtschaftliche Nutzen der Arbeit von Sans-Papiers in Privathaushalten entspräche einem Gegenwert von mehreren 100 Millionen Franken, wäre die Arbeit legal. Verschiedene Organisationen der Zivilgesellschaft unterstützen Sans-Papiers auf ihrem Weg in die Legalität.


Es gibt Zwangsarbeit auch hierzulande. Doch liegt es in deren illegalen Natur, sich dem Blick von aussen zu entziehen. Während Jahren galt die öffentliche Aufmerksamkeit der Zwangsarbeit von Frauen in der Prostitution. Der erzwungenen Erwerbsarbeit hingegen erst seit kurzer Zeit. Die Zwangsarbeit ist wie die Zwangsprostitution und die Entnahme von Körperorganen eng mit dem Menschenhandel verknüpft. Zuständig für diese drei Formen der Ausbeutung ist in der Schweiz seit 2003 die Koordinationsstelle gegen Menschenhandel und Menschenschmuggel (KSMM) des Bundesamtes für Polizei, Bern. Aufgabe der KSMM ist es, das UNO-Übereinkommen gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität, die beiden UNO-Zusatzprotokolle sowie das Fakultativprotokoll zur UNO-Kinderrechtkonvention umzusetzen. Die Schweiz ratifizierte diese Verträge 2005.

Schätzungen von 2002 zufolge, sollen in der Schweiz 1500 bis 3000 Personen, mehrheitlich Frauen, von dieser Form sexueller Ausbeutung betroffen sein. Aktuelle Schätzungen über die Ausbeutung der Arbeitskraft und die Organentnahme gibt es laut der KSMM nicht. Doch alle drei Formen der Ausbeutung seien eng mit der Migration verbunden. Die Opfer würden durch Schuldknechtschaft, Nötigung oder Gewalt in ein Abhängigkeitsverhältnis gebracht und von dem oder den Tätern ihres Selbstbestimmungsrechts beraubt. 2005 waren weltweit rund 56 Prozent der Opfer erzwungener Arbeitsausbeutung Frauen, bei der erzwungenen sexuellen Ausbeutung sogar 98 Prozent, so die Internationale Arbeitsorganisation ILO.


Hart arbeiten und mit Angst leben

Die Gefährdung von Sans-Papiers durch strukturelle Ausbeutung bedeutet nicht Zwangsarbeit im obigen Sinn. Doch Sans-Papiers sind diesbezüglich die verletzlichste Bevölkerungsgruppe in der Schweiz. Potentielle Sans-Papiers wandern von Staaten ausserhalb der EU/EFTA in die Schweiz ein. Auf einen legalen Aufenthaltsstatus haben sie so gut wie keine Aussicht. Das bedeutet, dass sie Papierlose - Sans-Papiers werden, wenn sie trotzdem im Zielland Schweiz bleiben, was viele tun.

Die Motivation der informellen ArbeitsmigrantInnen ist in der Regel freiwilliger und wirtschaftlicher Natur. Weibliche Sans-Papiers arbeiten ausgesprochen oft in Privathaushalten. Obwohl der Lohndruck gross ist, die Sans-Papiers-Hausangestellten Überstunden arbeiten und überbeansprucht sind, senden sie monatlich wenige Hundert Franken in die Heimat. Das ist für Kinder und Eltern dennoch viel Geld.

Oftmals beginnen Arbeitgeber aber mit der Zeit, das Abhängigkeitsverhältnis auszunutzen. So senkt er den Lohn, sobald er weiss, dass seine Hausangestellte keine Aufenthaltsbewilligung hat, stellt keinen Arbeitsvertrag aus oder verlangt sexuelle Dienstleistungen. Irregulär Angestellte melden solche Delikte nicht der Polizei. Sans-Papiers haben in der Regel Angst, sich an eine spezialisierte Anlaufstelle zu wenden.

Wisse ein anderer Arbeitgeber hingegen, dass er eine Sans-Papiers beschäftigt, kontaktiere er immer öfter eine Sans-Papiers-Anlaufstelle, um die Erwerbssituation zu regeln. Doch damit wachse die Gefahr, dass das Migrationsamt vom illegalen Aufenthaltsstatus vernimmt und die Hausangestellte ausschafft. Die Angst vor Entdeckung und Denunziation ist allgegenwärtig. Sie ist das Druckmittel, um die illegal anwesenden Hausangestellten auszubeuten.

Es ist kein Zufall, dass eine Auftragsstudie des Bundesamtes für Migration über Sans-Papiers, den Arbeitsmarkt und die Asylpolitik aus dem Jahr 2005 die Privathaushalte an erster Stelle der Branchen setzt, wo Sans-Papiers arbeiten. Privathaushalte sind der grösste Arbeitssektor für Sans-Papiers. Es folgen gemäss dem Bundesamt die Gastronomie, das Baugewerbe, die Reinigung und die Landwirtschaft. Auch das Sexgewerbe sei erwähnt. Doch hier gibt es für "Tänzerinnen" - stossend - eine behördliche Bewilligung. Die erwähnte Studie zählt rund 90.000 Sans-Papiers in der Schweiz, eine Zahl, auf welche sich auch die Gewerkschaft UNIA stützt. Auch in der Schweiz ist der Anteil Frauen an der weltweiten Migration grösser als derjenige der Männer.


Die strukturelle Ausbeutung von Sans-Papiers gründet einerseits im Gefälle der globalen Wirtschaft. Lassen auf der einen Seite Frauen des Südens ihre Kinder und Angehörigen zurück, um im Norden Geld zu verdienen, so sorgen dieselben Frauen für die Kinder, Angehörigen und Haushalte des Ziellandes, in der Regel bei mehreren Arbeitgebenden gleichzeitig. Somit können einheimische Frauen und Mütter einer qualifizierten Erwerbsarbeit nachgehen. Diese Freiheit gründet zum Teil auf der strukturellen Ausbeutung zugewanderter, meist ebenso gut qualifizierter Frauen.

Andererseits werden die Menschenrechte insofern mit Füssen getreten, als Sans-Papiers behördlich von der übrigen Bevölkerung ausgegrenzt und illegalisiert werden. Als Folge davon können diese ihr Anrecht auf die landesüblichen Arbeitsbedingungen und auf die Gesundheitsvorsorge nicht einfordern.

Der Ruf nach der kollektiven Regularisierung der Sans-Papiers ertönt in der Schweiz und in Europa schon seit Jahren. Wie viel Geld in der Form entgangener Einnahmen aus Steuern und Sozialversicherungen lässt der Staat springen, indem er durch Einschränkungen eine Klasse rechtloser Menschen schafft? Welche Investitionen für öffentliche Betreuungsangebote spart der Staat ein, indem er Sans-Papiers die Arbeit in Privathaushalten überlässt? Die Interprofessionelle Gewerkschaft der ArbeiterInnen, Basel hat diese Fragen 2007 für den Kanton Basel-Stadt beantwortet: Die steuerlichen Einbussen belaufen sich auf 2.1 Millionen Franken pro Jahr. Die der Sozialversicherungen auf 3.7 Millionen Franken pro Jahr. Ein ansehnlicher Betrag angesichts einer Bevölkerungsgruppe, welche nicht nur am privaten, sondern auch am öffentlichen Leben teilnehmen möchte. Zudem liege das gesamtschweizerische Potential, bei Kinderkrippen und der Betreuung alter Menschen zu sparen indem auf Sans-Papiers zugegriffen wird, bei mehreren 100 Millionen Franken. Zu diesem Schluss kommt eine Genfer Expertenkommission. Ein allzu grosser Betrag für einen Wirtschaftsektor, in welchem erwerbstätige Frauen ohne geregelten Aufenthalt fast 40 Prozent der Arbeit leisten.

Zwangsarbeit gibt es auch in der Schweiz. Diese sowie auch die strukturelle Arbeitsausbeutung existieren beide im Verborgenen. Obliegt es heute Organisationen der Zivilgesellschaft, sich für die Rechte von Sans-Papiers stark zu machen, so ist die Zwangsarbeit und der Menschenhandel Sache der internationalen Strafverfolgungsbehörden.


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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 31/32 - 65. Jahrgang - 21. August 2009, Seite 2
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. September 2009