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VORWÄRTS/667: Ausschaffung stürzt Familie ins Unglück


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 26/27/2010 vom 9. Juli 2010

Ausschaffung stürzt Familie ins Unglück


augenauf bern. Am Morgen des 29. Juni 2010 wurde der 18-jährige Tschetschene Islam Asaev von der Kantonspolizei Bern von seinen Geschwistern getrennt und im Rahmen des Dublin-Abkommens nach Polen ausgeschafft. Angesichts der Hintergründe des Falles zeichnet sich dieses Vorgehen durch eine ausserordentliche Härte aus.


Im Herbst 2009 reisten Khuseyn und Tamara mit ihren vier Kindern Islam, Abu-Bakar, Khasan und Tanzilla von Polen kamen in die Schweiz und beantragten Asyl. Die Familie wurde in Tschetschenien verfolgt und fühlte sich in Polen vom russischen Geheimdienst verfolgt. Ausserdem fehlte der kranken Mutter Tamara dort eine genügende medizinische Behandlung und auch der Vater Khuseyn hatte von den Überfällen in Tschetschenien verschiedene gesundheitliche Schäden davon getragen, deren Behandlung in Polen nicht möglich war. Auf das Asylgesuch in der Schweiz wurde gemäss Dublin-II-Verordnung (Polen hatte der Familie eine vorläufige Aufnahme gewährt) nicht eingetreten. Die psychischen und physischen Leiden der Familie wurden nicht berücksichtigt. Seit dem Nichteintretensentscheid des BFM im Januar 2010 muss die Mutter der sechsköpfigen Familie in der Psychiatrie aufgrund akuter Suizidalität stationär betreut werden.

Im April 2010 erfolgte ein plötzlicher Ausschaffungsversuch am Vater Khuseyn und den drei jüngsten Kindern. Da der Vater Khuseyn nicht ohne die Mutter Tamara gehen wollte, wurde er in Kloten gewaltsam zum Aussteigen gezwungen. Der gesundheitlich sehr angeschlagene Vater Khuseyn brach zusammen und wurden bewusstlos ins Krankenhaus eingeliefert. Weder im Polizei- noch im Spitalbericht wird festgehalten, was die Zwangsmassnahme beinhaltete und wie es zu den Verletzungen kam. Khuseyn erlitt einen psychosomatischen Schock und ist seit diesem Vorfall auf einen Rollstuhl angewiesen. Die vier Kinder des Ehepaars blieben im Durchgangszentrum Enggistein wohnhaft, wo sich der älteste Sohn Islam um seine Geschwister kümmerte.


Bezugsperson entzogen

Am 29. Juni wurde Islam ausgeschafft. Zum ersten Mal von seiner Familie getrennt, befindet sich der gerade erst 18 Jahre alt gewordene Islam nun alleine in Polen. Alle Verbindungsmöglichkeiten zu seiner Familie wurden gekappt, er konnte nicht einmal sein Natel mitnehmen. Während Tagen wusste niemand, wo er ist, wie er behandelt wird, wo er in der ersten Zeit wohnen soll und wie er weiter betreut wird. Ausserdem wurde mit einer Ausschaffung nach Polen das Risiko einer Weiterausschaffung nach Tschetschenien in Kauf genommen, wo ihm aufgrund der politischen Aktivität seines Vaters Haft und Folter drohen würden. Einzig die Tatsache dass der Sohn Islam 18 Jahre alt ist, ermöglichte es dem Migrationsamt ihn auszuschaffen. Jedoch hat auch er ein Recht auf eine familiäre Einheit.

Aufgrund der nicht angekündigten Ausschaffung von Islam bleiben seine Geschwister nun unbetreut in der Schweiz zurück. Den drei minderjährigen Kindern wurde die Betreuungs- und Bezugsperson entzogen. Nun muss einerseits ihre Betreuung separat organisiert werden. Andererseits wurde eine erneute psychische Belastung der Kinder in Kauf genommen, denn sie mussten bereits einen Ausschaffungsversuch miterleben. Aufgrund der Kinderrechtskonvention sollte das Kindswohl absolute Priorität haben, was insbesondere für behördliche Zwangsmassnahmen gelten muss. Für die gesundheitlich schwer angeschlagenen Eltern hatten der Schock der unerwarteten Trennung und die Ungewissheit über das weitere Schicksal ihres Sohnes massive Auswirkungen. Die Mutter unternahm infolge der Ausschaffung einen weiteren Suizidversuch und die psychische Verfassung des Vaters verschlechterte sich erheblich. Beide Eltern mussten aufgrund dieses schweren Rückschlags und der rapiden Verschlechterung ihres psychischen Zustands in die geschlossene Abteilung der Psychiatrie verlegt werden. Im Interesse einer Verbesserung der gesundheitlichen Lage der Eltern hätte von einer Trennung der Familie abgesehen werden müssen, denn die Stabilität der psychischen Befindlichkeit hängt für die einzelnen Familienmitglieder aufgrund ihrer schwierigen Situation und den schlimmen Erlebnissen in Tschetschenien, Polen und der Schweiz stark von der familiären Einheit ab. Augenauf Bern ist schockiert über dieses Vorgehen und stellt fest, dass die Ausschaffungspraxis ungeachtet der Menschenrechte und der Kinderrechtskonvention betrieben wird.

Diese Schicksalsschläge wurden von den ausführenden Behörden bewusst in Kauf genommen. Einmal mehr zeigt sich deutlich, dass die schweizerische Ausschaffungspraxis ohne Rücksicht auf persönliche Schicksale und mögliche Folgen mit aller Härte durchgesetzt wird. Das Auseinanderreissen dieser bereits schwer traumatisierten Familie ist für augenauf Bern eindeutig menschenunwürdig und verletzt elementare Grundrechte.


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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 26/27/2010 - 66. Jahrgang - 9. Juli 2010, S. 3
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veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Juli 2010