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VORWÄRTS/681: Auf die Verfassung gespuckt


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 35/36/2010 vom 24. September 2010

INLAND
Auf die Verfassung gespuckt


sit. Die bürgerliche Mehrheit im Nationalrat hat sich auf die 11. AHV-Revision geeinigt. Die Renten sollen nicht mehr alle zwei Jahre der Teuerung angepasst werden und das Rentenalter der Frauen wird von 64 auf 65 Jahren erhöht. Die Linke ergreift das Referendum - und sie muss diesmal einen Schritt weiter denken.


Die Rente ist kein Almosen, sondern ein von der Schweizer Verfassung garantiertes Recht. Im Artikel 112 des Gesetzes über die Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung, Absatz 2, Buchstabe b, steht, dass "die Renten den Existenzbedarf angemessen zu decken" haben. Die Verfassung ist bekanntlich die Grundlage für sämtliche Gesetze. Weiter ist daran zu erinnern, dass gemäss Artikel 3 des Parlamentsgesetzes die Mitglieder der Bundesversammlung und die von der Bundesversammlung gewählten Personen (Bundesräte, BundeskanzlerIn, BundesrichterInnen und im Kriegsfall der General) den Eid oder das Gelübde ablegen. Der Eid lautet: "Ich schwöre vor Gott dem Allmächtigen, die Verfassung und die Gesetze zu beachten und die Pflichten meines Amtes gewissenhaft zu erfüllen." Das Gelübde ist der gleiche Satz einfach ohne die religiöse Konnotation "vor Gott dem Allmächtigen". Eid und Gelübde sind vor dem Gesetz gleichgestellt. Die Theorie ist klar. Aber welchen Stellenwert hat die Verfassung und der Eid oder das Gelübde in der politischen Praxis?


Manipulierbarer AHV-Fonds

In Artikel 112, Absatz 2, Buchstabe c der Verfassung wird festgehalten: "Die Renten werden mindestens der Preisentwicklung angepasst." Dies ist momentan alle zwei Jahre der Fall, anhand des so genannten "Mischindex", der dem arithmetischen Mittel zwischen Lohn- und Preisindex entspricht. Geht es nach dem Willen der Bürgerlichen, soll dies in Zukunft nicht mehr der Fall sein. Die 11. AHV-Revision sieht vor, die Rente nur noch dann anzupassen, wenn der Deckungsgrad des AHV-Fonds höher als 70 Prozent der jährlichen Gesamtausgaben ist und (!) sich der Konsumentenpreisindex um mehr als 4 Prozent erhöht hat.

Aktuell beträgt der Deckungsgrad des Fonds 117 Prozent. Der Deckungsgrad ist jedoch mit einem "buchhalterischen Trick" leicht manipulierbar. Und zwar indem bei der Berechnung der Höhe des Fonds das bestehende Guthaben gegenüber der IV von 14 Milliarden und der aus einem Teil des Nationalbankgolds resultierende Erlös von rund 7 Milliarden nicht mehr berücksichtigt werden. Das Vermögen des AHV-Fonds sinkt und der Deckungsgrad fällt im Verhältnis zu den jährlichen Gesamtausgaben der AHV unter 70 Prozent. So ein Manöver hinter den Kulissen kann dazu führen, dass bereits ab 2011 die Indexierung der Rente ausfällt.

Durch die 11. AHV-Revision wird die automatische Rentenanpassung praktisch aufgehoben. Verfassung, Eid oder Gelübde werden so zur Farce. Die Folge ist, dass die RentnerInnen nach und nach Kaufkraft verlieren. Dies hat fatale Auswirkungen auf die Lebensbedingungen von vielen BezügerInnen mit einer bescheidenen Rente. Sie werden gezwungen, Beiträge der Sozialhilfe in Anspruch zu nehmen und sehen sich an den Rand der Armut gedrängt.


Frauen als schutzbedürftige Objekte?

Die Bürgerlichen spucken auf die Verfassung und auf den Volkswillen. Denn die aktuelle 11. AHV-Revision ist in vielen Teilen eine Neuauflage jener 11. AHV-Revision, die im Jahr 2004 an der Urne mit einem grossen Mehr verworfen wurde. Bereits damals wollten der Bundesrat und die bürgerlichen Parteien die "verlangsamte Anpassung der Rente" einführen. So nennen sie die faktische Aufhebung der automatischen Rentenanpassung. Ein weiterer Hauptgrund für das Scheitern des ersten Versuchs vor sechs Jahren war die Erhöhung des Frauenrentenalters von 64 auf 65 Jahren. Genau diese Anpassung zum Schlechteren ist in der aktuellen Revision wieder vorhanden. Argumentiert wird dabei mit der Gleichstellung von Mann und Frau. Mit welcher Verlogenheit und Arroganz es die Bürgerlichen tun, ist in der NZZ vom Donnerstag, 16. September zu lesen: "Den Frauen stehen heute alle Türen offen, und sie machen von ihren Möglichkeiten auch Gebrauch. Das Bemühen der Linken, aber auch der Frauenorganisationen, das weibliche Geschlecht a priori als schutzbedürftig darzustellen, mutet insofern hoffnungslos veraltet an."

Ein Blick auf die Realität zeigt, dass die Schweiz vom Ziel der Gleichberechtigung zwischen Frau und Mann noch weit entfernt ist. So sind zum Beispiel die Löhne der Frauen im Durchschnitt deutlich tiefer als jene der Männer. "Der standardisierte monatliche Bruttolohn (Median) der Frauen im privaten Sektor beträgt 4997 Franken, jener der Männer 6198 Franken." Dies ist nicht die Behauptung von irgendwelchen Linken, sondern das Resultat der schweizerischen Lohnstrukturerhebung 2008, die vom Bundesamt für Statistik durchgeführt wurde.


Die Weichenstellung

So steht die Eidgenossenschaft in Sachen AHV am gleichen Ort wie im Jahre 2004 - und ist keinen Schritt weiter. Dies sollte die Linke zum Nachdenken bewegen. Sie kann zum geplanten Sozialabbau wiederum nur wenige Alternativen vorlegen. Und diese sind bei der breiten Bevölkerung kaum bekannt. Die Bürgerlichen hingegen treiben den Sozialabbau kräftig voran, getreu dem Motto: Was heute nicht ist, kann morgen werden. So wird die 12. AHV-Revision bereits vordiskutiert und dabei soll die Finanzierungsfrage komplett neu geregelt werden. In welche Richtung dies zu geschehen hat, zeigen die Bürgerlichen mit der aktuellen Revision. Dazu sei noch erwähnt, dass die SVP bereits für diese Revision die komplette Aufhebung einer Rentenanpassung gefordert hat.

Will die Linke das Morgen zumindest mitgestalten, muss sie diesen Abwehrkampf gewinnen. Daher auf in den Referendumskampf, doch diesmal mit der Aufforderung, auch einen Schritt weiter zu denken!


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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 35/36/2010 - 66. Jahrgang - 24. September 2010, S. 3
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. September 2010