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VORWÄRTS/716: Die unterschätzte Revolution


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 13/14/2011 vom 8. April 2011

Die unterschätzte Revolution


mic. Während die Welt gebannt nach Fukushima und Libyen schaut, geht die "arabische" Revolution weiter und nimmt Tempo auf. Millionen gehen in Ägypten, dem Jemen, Syrien und Jordanien auf die Strasse. Es ist ein Brotaufstand der Armen. Die Halbwahrheiten und die Bilder, welche von den Medien hier bei uns vermittelt werden, stimmen selten mit dem überein, was tatsächlich geschieht. Sie haben nichts mit der Revolution zu tun, die ich in Ägypten miterlebt habe.


Im Jemen, wo die Rebellion zeitgleich mit Ägypten begann, gehen immer noch Hunderttausende auf die Strasse. Präsident Saleh will von einem Rücktritt nichts wissen. Aus Bahrain und dem Oman hört man nur etwas, wenn wütende Jugendliche erschossen werden. Und mit Syrien hat der Aufstand ein Land erreicht, in dem es nur wenige für möglich hielten.

Auch in Ägypten und Tunesien kommt es wieder zu Demonstrationen und Zusammenstössen. In Libyen wird vor allem eine Idee zerbombt, die Idee der Würde und Freiheit. Das Gespenst der Revolution geht um. Und so unterschiedlich die Ausgangslage in den einzelnen Ländern ist, so identisch sind die Rebellionen. Ein schlichtes "Hau ab!", das ist die Parole, die alle zu einem kollektiven Aufschrei vereint. In den letzten Tagen vor Mubaraks Abgang in Ägypten schrien Hunderttausende immer wieder "Get out! Get out!". Und im Jemen kritzeln sich Jugendliche "go out" auf die Arme. Das ist keine Liebeserklärung an den Westen, sondern die Aufforderung genau hinzusehen. Die Bewegungen inspirieren sich gegenseitig und lernen in einem atemberaubenden Tempo. Ein Zeltlager im Zentrum der Hauptstadt, der "Tag des Zorns", der "Tag der Würde", der "Tag der Freiheit" und der "Marsch der Millionen". In Tunesien und Ägypten hat es geklappt, auch wenn der Sturz des Diktators vor allem ein "symbolischer" Akt war. Aber genau um das ging es den Leuten.


Westliche Denkmuster

Die westlichen Medien spielen, freundlich formuliert, eine sehr suspekte Rolle. Meist erfährt man wenig an News und Hintergründen. Es wird erstaunlich vage berichtet. Die ökonomischen und sozialen Hintergründe, der Zusammenhang mit der Finanzkrise, die tiefe Krise des globalen Kapitalismus, die Interessen des Westen und die politischen Forderungen, sie werden kurzerhand unter dem Begriff "Demokratiebewegung" abgebucht und ausgeblendet. Nicht der Wunsch nach Demokratie und Parteien treibt die Menschen auf die Strasse, sondern Korruption, Unterdrückung und die soziale Notlage. Es ist ein Brotaufstand der Armen. Es ist ein Ausbrechen, der gut ausgebildeten, aber arbeitslosen Mittelschicht. Es ist Aufstand gegen die sexuelle Doppelmoral. Es ist eine Rebellion der Minderheiten. Und vieles mehr. So erstaunt es nicht, dass die Wahrnehmung der Ereignisse bei arabisch sprechenden Menschen eine andere ist als die von uns, die sich über die zur Verfügung stehenden Kanäle informieren. Die Halbwahrheiten und die Bilder, welche von den Medien vermittelt werden, stimmen selten mit dem überein, was wirklich passiert. Doch was tun? (vorwärts lesen und arabisch lernen! Anm. d. Red.). Auf jeden Fall hat die ägyptische Revolution, wie sie hier in den Medien dargestellt wurde und wird, nichts mit der Revolution zu tun, die ich selbst in Ägypten miterlebt habe.


Die Würde und die Freiheit

In Ägypten sagten uns die Menschen immer wieder, dass "es nicht sein kann, dass das kleine hungernde Tunesien den Diktator verjagt, während in Ägypten nichts passiert." Das sei doch eine Frage der "Ehre", nun müssen sie auch. Ich habe die Tiefe dieses Satzes im ersten Moment nicht wirklich begriffen. Erst mit der Zeit verstand ich, dass Jahrzehnte der Angst, des Schweigens und Duckens hinter diesem Satz stehen. Der Satz verbirgt eine revolutionäre Sprengkraft, welche die Eliten zittern lässt wie nie zuvor. In den Köpfen der Menschen ist etwas geschehen und zwar in der ganzen Region, egal ob die Revolution schon begonnen hat oder noch nicht. Etwas, das mit unserem wohl behüteten Hintergrund nur bedingt fassbar ist. Etwas, dass vor keiner Grenze hält machen und in verschiedenen Sprachen verstanden werden wird. Die Angst, Sie ist weggeblasen. Die Jugend, die nichts anderes als die Diktatur kannte, hat die Herzen der arabischen Welt im Sturm erobert. Sie hat etwas getan, woran die Alten längst jede Hoffnung verloren hatten. Und davor kann man sich nicht tief genug verbeugen. Die Sogwirkung und Dimension dieses Aufbruchs wird im Westen völlig unterschätzt. Ausser von den Herrschenden, die panisch versuchen, diese Rebellionen irgendwie in kontrollierbare Bahnen zu lenken.


Die arabische Halbinsel

Kippt Saudi-Arabien und die arabische Halbinsel, dann hat der globale Kapitalismus ein Problem. Das soll und wird um jeden Preis verhindert werden. Gaddafi kam da gerade recht, die Linke befindet sich wieder mal in einem Dilemma, rauft sich oder nimmt schulterzuckend die Zuschauerrolle ein, weil sie schon lange nichts mehr begreift. Noch bleibt es relativ ruhig auf der arabischen Halbinsel, noch lassen sich die Menschen mit Mililiardengeschenken fröhlich stimmen. Was die Herrschenden aber erschauern lässt, ist diese Idee, dieser Virus in den Köpfen der Menschen. Etwas, dass nicht käuflich ist. König Abdullah wird während seines "Spitalaufenthaltes" Mitte Februar in den USA Obama und Clinton wohl tüchtig den Marsch geblasen haben. Seither hält sich Washington zur Frage der "Demokratiebewegung" auf der arabischen Halbinsel vornehm zurück. Da gibt es auch nicht viel zu sagen. Was soll man schon erzählen? Von der absolutistischen Monarchie und dem goldenen Schlaraffenland? Von amputierten Gliedmassen und der Scharia? Eine nette Bande, die sich da gefunden hat. Gewinnt die arabische Revolution weiter an Dynamik, dann könnte es nur eine Frage der Zeit sein, bis die Flamme der kollektiven Rebellion auch Riad erreicht. In Bahrain und dem Sultanat Oman brodelt es seit Wochen bereits gewaltig. Vom Jemen ganz zu schweigen. Wir erleben, wie Millionen von unterdrückten, ausgebeuteten und ihrer Utopien beraubter Menschen, sich mit einer Wucht erheben, wie es die Welt selten zuvor gesehen hat. Sie werden sich nicht länger von den herrschenden Banden und Eliten demütigen und unterdrücken lassen. Das ist nun eine Frage der "Ehre" und der Würde. Was zurzeit in der arabischen Welt passiert, das ist ein Zerbrechen von Autoritäten, die jahrzehntelang vom Westen gestützt wurden. Sie zittern, die Mächtigen. Und das aus gutem Grund. Zuerst das Öl und dann gleich noch die Atomkraft. Was für ein grässlich verkaterter Jahresbeginn.


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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 13/14/2011 - 67. Jahrgang - 8. April 2011, S. 1-2
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. April 2011