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VORWÄRTS/722: Der "arabische" Frühling - Mit der Unterdrückung brechen


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 15/16/2011 vom 1. Mai 2011

Mit der Unterdrückung brechen

Von Michi Stegmaier


Der "arabische" Frühling geht ungebrochen weiter. Ali El Hashash, Soziologe, lebt und arbeitet in der Schweiz und betreut Jugendprojekte in der arabischen Region. Im Interview spricht er von den Ursachen und dem Verlauf der arabischen Revolution.


VORWÄRTS: Was mit einer Selbstverbrennung in Tunesien begann, hat sich in vielen Ländern unterdessen zu regelrechten Volksaufständen entwickelt. Wieso dieser revolutionäre Umbruch, was sind die ökonomischen Hintergründe und wieso gerade jetzt?

EL HASHASH: Die Ursachen für die Volksaufstände in der arabischen Welt können aus meiner Sicht ohne die globalen Zusammenhänge nicht ernsthaft erklärt und begriffen werden. Es sind sowohl globale Faktoren wie auch regionale Besonderheiten. Ohne den Rahmen zu sprengen, möchte ich kurz auf beide Dimensionen eingehen. Wie bekannt hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten die Macht in einem atemberaubenden Tempo strukturell in den Händen einer global agierenden Schicht konzentriert. Wer sind diese Herrschenden und wie sieht das Verhältnis zu den Beherrschten aus?

Diese Herrschenden wollen längst von einem herkömmlichen Wirtschaftsprozess nichts mehr wissen, aber erwecken ständig den "homo economicus" in uns derart, dass wir uns ihren spekulativen Geist zu eigen machen, dass wir keine andere Vorstellung von zwischenmenschlicher Beziehung haben sollen als das während Jahrtausenden verinnerlichte Modell der Bedürfnisbefriedigung auf Kosten anderer Mitmenschen. Der geographische Radius ihres Handelns ist unser Planet, aber sie lassen die von ihnen gesponserten Parteienlandschaften den ewigen Status des "homo nationalis" predigen. Ihre verwertbaren Waren sind Mensch, Tier und Natur. Sie ziehen, wenn Gefahr im Verzug ist, am selben Strang, aber sie überlassen es uns, im Sumpf der Konkurrenz das Prinzip "jeder gegen jeden" immer wieder und in jedem Winkel des Planeten aufs neue brutal zu reproduzieren. Sie verhindern damit systematisch jede Form produktiver, menschlicher Kooperation und wir verwandeln uns dabei in Börsianer. Postmodern gilt: Im Wissenschaftsbetrieb, in der Politik und Wirtschaft wie in der Liebe: Nicht zusammenhängendes Denken und Fühlen ist gefragt, sondern das beziehungslose fragmentierte Ausführen. Alles Leben orientiert sich an ihren selbst verfassten Quartalsberichten. Alle unsere Lebensgrundlagen - Nahrungskette, Energie, Gesundheit, Bildung und Wohnräume - sind von ihnen enteignet, profitabel verwertet und befinden sich unter ihrer gnädigen Kontrolle. Diese Herrschenden sind apolitisch, aber speisen den "homo politicus" mit horrenden Honoraren ab und befördern damit Politklassen aller Couleur zu Verwaltungsräten ihrer Dienste. Sie sind nicht religiös, aber bedienen sich des "homo religiosus", der die Klassenspaltung zum "Gottesgesetz" erhebt, und weltliche soziale Gerechtigkeit tröstend auf das "Jenseits" vertagt.

Für ihre Funktion benötigen sie keine besondere Ausbildung oder gar Allgemeinbildung, betreiben aber mittels ihrer medialen Lakaien flächendeckend öffentliche Meinungsmissbildung. Sie sind nicht in Kategorien wie Weisse, Schwarze, Gelbe und Braune voneinander getrennt, aber sie finanzieren grosszügig Denkfabriken von Apologeten und Agitatoren der Rassenideologien und des "Kampfes der Kulturen" mit dem Ziel, den grossen Rest des "homo sapiens" in endlose Grenzziehungen aller Art zu verwickeln und gefangen zu halten. Die Herrschenden sind vielfältig miteinander verwoben und verfilzt. Gleichgültig ob sie in Form eines Ölscheichs aus Saudi-Arabien, wo die Quellen der religiösen Finsternis in alle Himmelsrichtungen bei Bedarf übersprudeln, oder in Form der elegant verpackten herablassenden Gestalt eines Sarkozy oder Obamas in Erscheinung treten. Sollte jemand irgendwo auf dem indischen Subkontinent oder in Afrika, in der arabischen Welt oder in Lateinamerika, in Griechenland oder Spanien, die Stimme dagegen erheben oder eine Gruppe "engstirniger" Bauern ihr Recht auf ihr Saatgut beanspruchen und nicht an die Weltkonzerne abgeben wollen, so sind die von ihren Rüstungsindustrien ausgestatteten Söldner-AGs zur Stelle. Zuvor jedoch greifen sie zurück auf ihre altbewerte Welt-Show-Bühne wie UNO, Weltbank, Währungsfond, Welthandels- und Weltgesundheitsorganisation. Ihre Strategien werden aber immer in geschlossener Gesellschaft im Club of Rome, Club of Paris, Davoser-Forum oder in der eidgenössisch geprüften Idylle in Vevey geschmiedet.

VORWÄRTS: Welchen Einfluss haben diese Realitäten auf die arabische Revolution?

EL HASHASH: Also zusammengefasst geht es um die strukturelle Machtverschiebung und Machtkonzentration in den Händen einer dünnen, global agierenden Schicht eines, verniedlicht ausgedrückt, "homo parasiticus", der zunehmend unerträglich den Rest der Menschheit in einem tödlichen Würgegriff hält. Dagegen gärt der Widerstand und ebenfalls in allen Teilen der Welt. In Lateinamerika, wo zunehmend der Befreiungsgeist viele Länder erfasst und wo der Prozess verschiedene Formen annimmt. Was sich zum Beispiel in Bolivien abspielt, hat direkte Folgen für den Widerstand in der arabischen Region. Die Verbindung wird ersichtlich, wenn wir Portraits lateinamerikanischer Revolutionäre auf den Plätzen in Tunis, in Kairo, in Ammen, Gaza oder in Aden sehen. Auch die Aufstände in Griechenland, wo die revolutionäre Jugendbewegung die Machtstrukturen insbesondere der systemerhaltenden Sozialdemokratie und deren Gewerkschaftsaristokratie noch nicht überwunden haben, sind Gegenstand der Diskussionen.

Das ist sozusagen die Kulisse, vor der der Aufstand in der arabischen Region stattfindet. Nun zu den Besonderheiten der Region: In der arabischen Welt, wo das Minimum an gesellschaftlicher Kontrolle fehlte, schien für den arabischen Teil des "homo parasiticus" alles machbar zu sein. Die schlimmste Variante des US-amerikanischen Modells wurde dort in aller Offenheit praktiziert. Zum einen agieren unverhohlen in der Politik wie in der Wirtschaft dieselben Personen. Zum anderen haben sie alles, was Volkseigentum oder staatliche Einrichtungen ist, sich selbst gutgeschrieben. Das heisst in ihrem Jargon privatisiert. Die Verelendung der Menschen auf allen Ebenen erreichte ein unerträgliches Mass, während die schwindelerregenden Einnahmen von Erdöl und Erdgas in aller Offenheit zur Finanzierung von Kriegen im Irak, Afghanistan oder auch gegen den Gazastreifen sowie gegen den libanesischen Widerstand verwendet werden. Der Rest der unvorstellbaren Geldsummen flossen zurück in die Zentren der Macht in Form von Beteiligungen an international tätigen Konzernen oder als Spende für die Wiederwahl auserwählter westlicher Politiker. Und von den Prestigebauten auf Sand ganz zu schweigen. Praktisch haben sie, mit Ausnahme Syriens, die in US-amerikanischen Denkfabriken produzierte Strategie des "Kampfes gegen den Terror" in Papageienmanier medial und sicherheitspolitisch brutal umgesetzt. Zu diesem Zwecke haben sie sich regelmässig im ägyptischen Sharm El Shaikh zusammen mit ihren israelischen Gleichgesinnten getroffen und die systematische Eliminierung des palästinensischen Widerstandes durch den israelischen Staat mitgetragen. Ein Siedlerstaat im Übrigen, der zunehmend zum Finanzrecyclingsystem für die russische und US-amerikanische Finanzmafia verwandelt wird.

VORWÄRTS: War das aber nicht schon immer so? Was ist neu an den bestehenden Verhältnissen?

EL HASHASH: Auf der anderen Seite der Barrikaden und unbemerkt von den jeweiligen Systemen sowie von fast allen Forschungseinrichtungen hat sich aber in der Zwischenzeit eine neue, bewusste und selbstbewusste Generation von jungen Frauen und Männern formiert, die mit dem Verelendungsprozess, der Verlogenheit bestehender politischer Kräfte und der Unterdrückung und Demütigung brechen will. Sie sehen Zusammenhänge dort, wo intellektuelle oder oppositionelle Parteikader sich in fragmentierte Einzelteile verstricken. Diese neue Generation denkt und handelt auch global, aber ist dabei, einen Gegenentwurf zum noch herrschenden System des homo parasiticus zu entwickeln. Sie reden nicht über die gesellschaftliche Vielfalt, sondern sie leben sie. Sie stellen gesellschaftliche Prämissen infrage, kennen keine Tabus, sehen alles als veränderbar und sind offensichtlich bereits zum Handeln übergegangen. Der unmittelbare Anlass des Umbruchs kann verschieden sein, die grundlegenden Bedingungen sind jedoch gleichartig. Dies wird auf jeden Fall noch sehr lange im Mittelpunkt sozialwissenschaftlicher Analysen stehen. Sicher ist, der gelungene revolutionäre Auftakt zur gesellschaftlichen Neugestaltung in der arabischen Welt hat alle überrascht, ist im vollen Gange und wird lange andauern. Entsprechend vielfältig sind auch die dagegen wirkenden Kräfte.

VORWÄRTS: Bei uns wird vor allem von einer Demokratiebewegung gesprochen. Was verbirgt sich hinter schwammigen Begriffen wie "Demokratie" oder "Freiheit"? Werden sich die Menschen mit freien Wahlen zufriedengeben oder verbirgt sich dahinter nicht mehr?

EL HASHASH: Allgemein gesehen, wenn wir Menschen Begriffe benutzen, so beziehen wir uns auf soziokulturell tief verankerte und historisch gewachsene Bedeutungen, welche uns in zwischenmenschlichen und sozialen Beziehungen notwendige Orientierung stiften. Nur diese teilweise selbstverständlichen Bedeutungen sind und können nicht überall in der Welt dieselben sein. Daraus resultieren viele Irritationen. Zum anderen hat auch jeder Begriff in derselben Gesellschaft, entsprechend der gesellschaftlichen Spaltung, mindestens zwei sich widersprechende Konzepte, und zwar hinsichtlich der Frage Freiheit von was und wozu. Ist es die Freiheit von Unterdrückung und Ausbeutung? Ist es die Freiheit des freien Unternehmertums, des kolonialen Systems des homo parasiticus, der zu Genoziden führt und in der Unfreiheit von Milliarden von Menschen mündet? Oder meinen wir einfach individuelle Freiheiten, welche im Grundgesetz verankert sind? Aus den Diskussionen der Jugendgruppen dort sowie der Analyse von deren Webseiten, kann ich folgendes sagen: die Jugend kämpft für die Freiheit von fremder Willkür und damit für die Aufhebung der gesellschaftlichen Unterdrückungsverhältnisse. Die Frage wozu und wie künftige Gesellschaftsstrukturen aussehen können: das ist noch offen, das ist Gegenstand eines Gestaltungsprozesses, welcher in einem demokratischen Klima zu geschehen hat, also dass sich alle uneingeschränkt an einem Diskussionsprozess beteiligen können.

VORWÄRTS: Auf dem Tahrir-Square in Kairo haben wir immer wieder gehört, dass es den Menschen um ihre "Ehre" und Würde geht. Auch aus Syrien oder dem Jemen hören wir immer wieder vom "Tag der Würde". Was müssen wir uns darunter vorstellen?

EL HASHASH: Die dortigen Diskussionen über die Würde des Menschen finden ebenfalls wie bei Freiheit und Demokratie nicht ohne die weltweiten Lebenserfahrungen statt. Es wird auf den Widerspruch hingewiesen, dass zwar in westlichen kapitalistischen Gesellschaftsordnungen das Grundprinzip "die Würde des Menschen ist unantastbar" in den jeweiligen Verfassungen abstrakt festgeschrieben, die Praxis jedoch zeigt, dass zum einen dieses Prinzip im wesentlichen den Herrschenden vorenthalten ist. Und zum Zweiten, dass gegenüber Andersartigkeiten, anderen Gesellschaften und Gemeinschaften auf unserem Planet jedoch das Prinzip anders ausgelegt wird. Also die Würde des Menschen ist antastbar, sonst wären zum Beispiel die andauernden Kriege der NATO und die Vernichtung von hunderttausenden Menschen gemäss dem vermeintlichen Grundrecht nicht durchführbar. Auch die innenpolitische Situation bezüglich dem Verhältnis zu Minderheiten und der Umgang mit Andersartigkeiten, in den jeweiligen westlichen Ländern wie sonstwo, wird bewusst diskutiert. Es ist höchst interessant zu beobachten, dass in all den politischen Auseinandersetzungen die bisherigen praktischen Erfahrungen und die konkreten Ergebnisse gegenwärtiger Gesellschaftsstrukturen im Focus stehen und nicht abstrakte Grundprinzipien. Es wird also auf die gemachten Lebenserfahrungen gebaut. Aus den inhaltlichen Diskussionen der Jugendbewegungen habe ich die Einsicht gewonnen, dass unter dem Begriff "Würde" die Aufhebung des erwähnten Widerspruchs verstanden wird. Das bedeutet, es muss für alle Menschen gelten. Zudem wird der Begriff inhaltlich belegt, mit dem Recht auf Arbeit, dem Recht auf gegenseitigen Respekt, Wertschätzung, Selbstachtung, Partizipation und der politischen Mitgestaltung der Lebensbedingungen und das Recht auf die Möglichkeit der Verfügung über die eigenen Lebensbedingungen. In diesem Sinne ist "Würde" die Oberkategorie der politischen Ziele, während die Parolen "Vielfalt respektieren, Freiheit, Demokratie und soziale Gerechtigkeit" deren Bestandteile sind. Der Begriff "Ehre" umschreibt den Umstand der bewussten Teilhabe an einem revolutionären Veränderungsprozess, sich am Widerstand zu beteiligen, die Pflicht zu kämpfen, um die Gesellschaft neu zu gestalten.

VORWÄRTS: Sie sind beruflich oft in der Region und waren gerade in Jordanien. Wie haben Sie die Stimmung erlebt und was passiert derzeit in Jordanien?

EL HASHASH: Zusätzlich zu den bereits beschrieben ökonomischen Gegebenheiten ist Jordanien ein Zentrum für das US-amerikanische Militär. Fast kein US-amerikanischer Söldner reist weiter in den Irak, ohne eine Ausbildung in spezifisch ausgebauten Ausbildungszentren absolviert zu haben. Sie werden nicht militärisch ausgebildet, sondern in der psychologischen Kriegsführung basierend auf den soziokulturellen Eigenheiten der arabischen Menschen. Sie nennen es "Cultural Awarness Training". Zudem ist Jordanien der Ausgangspunkt für die Ausführung von verschiedensten geheimdienstlichen und paramilitärischen Aktionen gegen Syrien, gegen den Widerstand im Libanon und in der Westbank. Diese Rolle des Regimes ist der breiten Bevölkerung bewusst. Die Bevölkerung besteht bis zu zwei Dritteln aus palästinensischen Flüchtlingen. Die bisherige politische Stabilität des Regimes resultiert aus der feinsäuberlich erarbeiteten und ständig reproduzierten psychologischen Trennung zwischen Palästinensern und "echten" Jordaniern. Dementsprechend ist die politische Landschaft. Der jordanische Block wirft dem anderen vor, reine palästinensische Politik zu betreiben und umgekehrt. Dies unabhängig davon, ob sie sich links bezeichnen oder als islamische Bruderschaft. Alle, einschliesslich der Gewerkschaftsführung, sehen damit das bestehende System als Garant für die Einheit des Landes. Sie sind somit Systemträger. Nur die Jugendbewegung, die sich seit einem Jahr stark formiert, Proteste durchführt und sich politisch engagiert, will von all dem nichts wissen. Für sie ist es grotesk, über solche künstlich geschaffenen, imaginären Trennlinien überhaupt zu diskutieren, wo der Widerstand über die Grenzen hinweg global entfacht wird. Als vor einigen Tagen der italienische Revolutionär Vittorio in Gaza ermordet wurde, haben die Jugendgruppen in Amman eine Reihe von Aktionen durchgeführt. Unter anderem versammelten sie sich vor Botschaften und riefen: "Wir sind alle Vittorio". Die immer stärker werdende Bewegung mit der Forderung nach Freiheit und sozialer Gerechtigkeit, rief das Regime einschliesslich der Opposition auf den Plan. Sie versuchen seit drei Monaten mit allen Mitteln, die Bewegung zu spalten und zu zerstören. Das Königshaus versucht durch Scheinzugeständnisse und die Opposition durch Scheinforderungen, die Jugend zu übertönen. Aber ähnlich wie in anderen arabischen Ländern gewinnt die Jugendbewegung zunehmend an Stärke und politischer Klarheit und schafft ihre eigenen Strukturen. Es ist ihr auch bewusst, dass auf Grund der Rolle des Regimes für die USA und Israel der Widerstand sehr lang und extrem gefährlich sein wird.

VORWÄRTS: Der Westen versucht mit allen Mitteln die Kontrolle über die Befreiungsbewegungen in den verschiedenen Ländern zu bekommen. Wie ist die öffentliche Wahrnehmung in den "arabischen" Ländern und wie wird mit diesem Widerspruch umgegangen?

EL HASHASH: Der revolutionäre Prozess in der arabischen Region ist noch ganz am Anfang, ob nun in Tunesien oder Ägypten, wo die Herrschaftssymbole zu Fall gebracht wurden, oder auch in anderen Ländern, wo die Bewegung verschiedene Formen annimmt. Grundsätzlich jedoch kämpfen alle diese Bewegungen unbewaffnet und stützen sich auf die gewaltige Kraft der Massen. Weiter stehen sie inhaltlich im antagonistischen Widerspruch zur Demokratie des Herren Obamas oder zur Freiheit des Herren Sarkozy. Auch von besonderer Bedeutung ist die Erkenntnis, dass diese Bewegungen sozialpolitisch und sozialökonomisch im Widerspruch zu der klassischen Opposition stehen, insbesondere zu der Bewegung der islamischen Bruderschaft, welche von der Gleichstellung der Frauen und der Aufhebung der ökonomischen Unterdrückung nichts wissen will. In diesem Sinne sieht sich die revolutionäre Jugendbewegung mit internen und externen konterrevolutionären Kräften konfrontiert, welche sich in jeder Phase des Kampfes andere Konstellationenformen annehmen. Dazu zählen: die direkten militärischen Interventionen, wobei sie keinen Widerspruch sehen zwischen der NATO-Aggression in Libyen und der Invasion in Bahrain. Libyen und die Golfstaaten werden - wenn es so weiter geht - zur Ausgangsbasis konterrevolutionärer Aktivitäten, die medial vom Sender "Al Jazeera" begleitet werden; die Bewaffnung reaktionärer Kräfte, die Anschläge auf staatliche Institutionen verüben; die Allianz der Opposition mit den Kräften des Systems; das Arrangement der islamischen Bewegung mit den USA; die ökonomische Machtausübung durch die Weltbank. Besonders gefährlich ist die psychologische Kriegsführung der Herrschenden. Ein Beispiel ist die Kraft der Bilder: indem die Massenmedien Photos von bewaffneten "revolutionären Männern" aus Libyen, die keine sind, ständig wiederholen. Damit versuchen sie die Bilder der jungen revolutionären Frauen und Männer aus Tunesien und Ägypten, welche revolutionären Optimismus in aller Welt auslösten, zu ersetzen. Sie wollen also verhindern, dass der Funke entfacht wird und auf andere Weltteile überspringt - koste es was es wolle!

VORWÄRTS: Was können wir als solidarische Menschen tun und was aus diesem Prozess lernen? Haben sie etwas mit unseren Lebensrealitäten zu tun und falls ja, wo sehen Sie Schnittstellen?

EL HASHASH: Dass sich die kapitalistische Gesellschaftsordnung weltweit in einer fundamentalen Krise befindet und dass die Menschheit mit den gleichen Existenzproblemen konfrontiert ist, ist mittlerweile eine Binsenweisheit. Die sogenannte Finanzkrise und die nukleare Katastrophe in Japan zeigen doch, wie dünn die Basis unserer Lebensbedingung ist. Die Lage kann sich in Windeseile dramatisch verändern. Ebenfalls die Verelendung in den Staaten, die Bankrott gehen und nur noch mittels Umverteilung von unten nach oben künstlich am Leben erhalten bleiben, ist offensichtlich. Aus meiner Sicht kann das jeweilige politische System keine Antwort bieten, weil die Grundbeschaffenheit des Systems samt seiner politischen Parteienlandschaft und sonstigen Organisationsformen selbst die Krise produziert. Sie sind ein Bestandteil dessen, was sie förmlich kritisieren. Also woher soll dann noch eine Alternative kommen? Hier sehe ich die Schnittstellen zu dem eingeleiteten revolutionären Prozess in der arabischen Region bestehen und möchte diese in Form der gewonnenen Erkenntnisse darstellen. Erstens: es ist ihnen gelungen, die bestehenden Systemstrukturen, das Organisationsmonopol sämtlicher Parteien sowie die Macht der Gewerkschaftsaristokratie von unten zu überwinden und ihre eigene Struktur des Widerstandes zu bilden. Zweitens: das Sicherheitsbedürfnis der Menschen kann einer der wichtigsten Gründe sein, warum sich Menschen an ein System klammern. Die Jugendbewegungen in Tunis und Ägypten haben durch die flächendeckend und ad hoc gebildeten Volkskomitees gezeigt, dass die Menschen selbst für ihre Sicherheit sorgen können und dies noch effektiver, als es jedes Regime tut. Und drittens: In der Widerstandsliteratur ist die Überzeugung verbreitet, dass ohne Partei mit klarem Gesellschaftsentwurf und klarer eindeutiger Ideologie, keine erfolgreiche Revolution möglich sei. Genau dieses Denkmuster macht Menschen vielerorts blind für neue Optionen. Und dieses Konstrukt wurde durch die revolutionäre Jugendbewegung mindestens in Frage gestellt. Nicht deine Ideologie oder welche Kleider du trägst ist entscheidend, sondern was du zur gemeinsamen Gestaltung unseres Daseins beiträgst, und ob du nicht im Geiste der Konkurrenz sondern in einer Art kooperativer Integration der Fähigkeiten und Ziele mitzuwirken bereit bist. Beeindruckend ist, dass je länger der Widerstand andauert, desto schärfer wird diese neue Form zwischenmenschlicher Beziehung. Ich denke, dass diese Erkenntnisse für die Jugend von heute sehr wahrscheinlich keine Neuen sind, denn das ist ihre Realität. In diesem Sinne bin ich auch nicht in der Lage, Empfehlungen zu geben, was hier getan werden soll oder nicht. Meine veralteten Denkmuster über Kampfformen sind nicht brauchbar, das haben mir die Jugendlichen dort und hier gelehrt. Es ist aber sehr fraglich, ob der helvetische Kantönligeist, die deutsche Leitkultur oder die Identitätsdebatte der französischen Grande Nation und sonstige Konstrukte den Widerstand einer neuen global denkenden, fühlenden und handelnden Generation noch bremsen kann. Die Aufstände der Jugend in den Pariser Vorstädten vor fünf Jahren, die Aufstände in Griechenland und die Widerstandsaktionen in vielen europäischen und anderen Städten zeigen, dass die Jugend weltweit in Bewegung ist. Und das ist die beste Form globaler Solidarität.

VORWÄRTS: Es ist ja vor allem die Jugend, die mutig auf die Strasse geht. Bei uns ist viel von Facebook und den modernen Medien die Rede, ohne welche die Revolution nicht denkbar gewesen sei. Andererseits lassen sich ja Diktaturen nicht virtuell stürzen und der revolutionäre Umsturz wurde letztendlich auf der Strasse erkämpft. Wie beurteilen Sie persönlich die Rolle der neuen Medien?

EL HASHASH: Auch dort in den arabischen Massenmedien wird teilweise von diesem Unfug geredet, dass ohne Facebook keine Revolution denkbar wäre. Würde ich dieser Logik Folge leisten, würde ich die Revolutionen in der Menschheitsgeschichte, wo kein Facebook existierte doch negieren, was einer Lächerlichkeit gleich kommt. Denn in jeder historischen Phase gab und gibt es verschiedene Arten von Kommunikationsmittel. Diese Mittel werden von den Herrschenden genutzt und als Waffe eingesetzt, aber auch ebenso von revolutionären Bewegungen oder Gruppen. Die neuen Medien beziehungsweise Kommunikationsmittel haben jedoch die Koordinationswege und den Austausch wesentlich erleichtert. Darüber hinaus hat es die neue Generation weltweit geschafft, durch kreative Nutzung der Mittel dem Monopol der Herrschenden auf Informations- und Wissensquellen ein Ende zu setzen. Ich denke hier zum Beispiel an die Rolle von Wikileaks. Also an der Stelle der Monopole steht nun ein weltweites Netz der Gegenmacht von unten. Aber Revolutionen müssen immer noch die Menschen auf den Strassen und den Plätzen machen, mit welchen Kommunikationsmitteln auch immer.

VORWÄRTS: Wie nehmen die Menschen die Doppelmoral des Westens wahr? Ist es überhaupt ein Thema und wird das Doppelspiel innerhalb der Befreiungsbewegungen thematisiert?

EL HASHASH: Ja, sie nehmen es sehr bewusst wahr. Die Diskussion über die Doppolmoral findet in den kritischen Medien statt. Aber bei den Jungendgruppen steht nicht die Frage einer vermeintlichen Doppelmoral im Mittelpunkt. Sie sehen das Doppelspiel als Ausdruck einer einzigen Moral, nämlich der Moral der Herrschenden. Sie machen Witze über die Fäulnis der weltweiten politischen Kultur der Herrschenden - infolge von Wikileaks-Veröffentlichungen.


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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 15/16/2011 - 67. Jahrgang - 1. Mai 2011, S. 6-7
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Mai 2011