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VORWÄRTS/754: Die Herrscherin Justitia


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr.31/32 vom 9. September 2011

Die Herrscherin Justitia

Von Siro Torresan


Die gerechte Justitia, die unabhängig und neutral mit verbundenen Augen Recht spricht, gibt es nicht. So finden in der Schweiz praktisch täglich politische Prozesse statt, denn der Arm des "Strafrechtsstaates" reguliert die unteren Klassen. Ein Interview mit Rechtsanwalt Marcel Bosonnet, der seit Jahrzehnten linke, politische AktivistInnen verteidigt.


VORWÄRTS: Was genau ist unter einem "politischen Prozess" zu verstehen.

MARCEL BOSONNET: Eine allgemeingültige Definition des politischen Prozesses gibt es nicht. Die Anklage und das Gericht unterscheiden in Strafverfahren oft den Beschuldigten einerseits als privaten Widersacher, andererseits als einen Feind des Gemeinwohls. Ich würde deshalb alle jene Strafverfahren als politische Prozesse bezeichnen, bei denen das Gericht und der Justizapparat im Angeklagten einen politischen Feind wahrnimmt und entsprechend agiert.

VORWÄRTS: Die Wahrnehmung und die entsprechende Einschätzung des Gerichts entscheiden, ob es ein politischer Prozess wird?

MARCEL BOSONNET: Ja, ganz genau, dieser Schritt ist ganz entscheidend! Das Gericht würde zwar nie und nimmer zugeben, dass es ein politischer Prozess ist. Es bezeichnet sich selber als unpolitisch, sprich gerecht, objektiv und unparteiisch. Falls aber das Gericht den Angeklagten als politischen Feind betrachtet und entsprechend einstuft, unterliegt er nicht mehr den gleichen Rechtsanwendungen wie andere Angeklagte, obwohl das gleiche Strafrecht angewendet wird. In solchen Verfahren sprechen wir JuristInnen vom "Feindstrafrecht", das zur Anwendung kommt. Es unterscheidet sich vom sonstigen Recht, obwohl - wie gerade erwähnt - formal die gleichen Gesetze angewendet werden. Bildlich gesprochen wird in einem solchen Prozess in einem Ausnahmezustand verhandelt.

Am besten lässt sich das am konkreten Beispiel des Verfahrens gegen die drei AnarchistInnen aufzeigen: Der Gerichtspräsident versicherte zwar, dass die Gesinnung der Beschuldigten beim Ausgang des Verfahrens keine Rolle spielt. Doch er selber ordnete gleichzeitig Massnahmen an, die den fundamentalen Bestimmungen eines fairen Verfahrens widersprachen und dem Beschuldigten eine wirksame Verteidigung erschwerten oder gar verunmöglichten. So wurde zum Beispiel die Befragung von wesentlichen Entlastungszeugen nicht zugelassen. Weiter wurden der Verteidigung Akten vorenthalten, die der Bundeskriminalpolizei und der Bundesanwaltschaft bekannt sind. Es handelt sich dabei offensichtlich um Geheimakten, die entlastend für die Angeklagten sein müssen. Denn wären die Akten für die Angeklagten belastend, würden sie sicherlich als Beweismittel im Sinne der Anklage vorliegen. In solchen Fällen ist es meine Aufgabe als Verteidiger, den politischen Charakter des Verfahrens aufzuzeigen und die Rechte einzufordern, die sonst allen anderen zugestanden werden.

Besonders ausgeprägt zeigt sich die politische Justiz zudem in Asylverfahren und gegen AusländerInnen. Ich glaube, in keinem anderen Teil des Strafrechts lässt sich dessen politischer Gehalt derart gut erkennen, wie im Ausländerrecht. Es beginnt mit der Unterscheidung EU-BürgerInnen und andere, nicht EU-BürgerInnen. Dann lässt sich klar erkennen, dass bereits ohne strafbare Handlung jemand während 18 Monaten in ein Gefängnis geschlossen werden kann, nur weil er nicht über eine Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz verfügt.

VORWÄRTS: Du hast den Prozess gegen die drei AnarchistInnen erwähnt. Sie wurden kürzlich zu dreieinhalb Jahren verurteilt. Einen der drei Angeklagten hast Du verteidigt. Wie ist deine Einschätzung zum Prozess?

MARCEL BOSONNET: Diese drei Personen hat man bekanntlich bei einer angeblichen Verkehrskontrolle überprüft und verhaftet. In ihrem Fahrzeug befanden sich Sprengstoffutensilien und Bekennerschreiben hinsichtlich eines Anschlags auf das IBM-Nanotechnologiezentrum in Rüschlikon. Bis kurz vor der Anklage wurde in der Öffentlichkeit geltend gemacht, die drei Personen hätten versucht, das Nanotechnologiezentrum IBM in die Luft zu sprengen. Unmittelbar vor der Anklageerhebung wurde dieser Anklagepunkt fallen gelassen, denn er war nie gerechtfertigt. Er diente alleine dazu, in den Medien und in der Öffentlichkeit politische Stimmung zu erzeugen. Somit verblieben der Anklagepunkt des Besitzes von Sprengstoff und die Vorbereitung einer Brandstiftung. Die Schweiz ist das einzige Land in Europa, das bereits ein Verhalten bestraft, bevor überhaupt der Versuch einer Straftat begangen wurde. Die drei AnarchistInnen wurden somit auf Grund ihrer Überlegungen und nicht wegen dem Versuch, das IBM-Nanozentrum in die Luft zu sprengen, verurteilt. Und somit letztlich wegen ihrer politischen Gesinnung. Dies ist ein klassischer Ausdruck eines politischen Prozesses.

VORWÄRTS: Kannst du das bitte genauer erklären?

MARCEL BOSONNET: Generell muss für eine strafbare Handlung der subjektive und (!) der objektive Tatbestand erfüllt sein. Ich muss die Tat mit Wissen und Wollen begehen und ich muss auf der objektiven Seite eine strafbare Handlung begangen haben. Fehlt eines oder beides, kann ich nicht bestraft werden. Festzuhalten ist auch, dass der Versuch einer strafbaren Handlung dann beginnt, wenn es in der Regel kein Zurück mehr gibt. Ein Beispiel: Angenommen, du stehst an einer Kreuzung, in deiner Tasche hast du Einbruchwerkzeuge und ein Tagebuch, in dem steht, dass du heute ins Haus mit der Nummer 65 einbrechen willst. Der subjektive Tatbestand besagt in diesem Fall, dass Du in ein Haus einbrechen willst. Die objektive Handlung beginnt jedoch erst dann, wenn du mit dem Versuch beginnst, die Türe aufzubrechen, ab da gibt es nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge kein Zurück mehr, da du die Straftat am Begehen bist. Nun ist aber im Schweizer Strafrecht die Grenze der Strafbarkeit Richtung erlaubter Handlung vorverschoben worden. So können bereits Taten bestraft werden, die noch keinen Versuch darstellen. Die drei AnarchistInnen wurden deshalb nicht nur wegen Besitz von Sprengstoff verurteilt, sondern dank dem Tatbestand einer strafbaren Vorbereitungshandlung wegen der Vorbereitung einer Brandstiftung ohne, dass sie mit ihren Handlungen die Schwelle des Versuches überschritten hätten. Entscheidend waren letztlich die von ihnen mitgeführten Bekennerschreiben, in dem das Gericht die Gesinnung der AnarchistInnen zu erkennen glaubte.

Und dies ist, ich wiederhole mich, ein klassischer Ausdruck eines politischen Prozesses. Ich füge folgendes hinzu: Bereits vor dem ersten Verhandlungstag wurden allen Angeklagten ihre umfangreichen Prozessunterlagen und das Schreibmaterial weggenommen. Eine eigene Verteidigung wurde ihnen dadurch verunmöglicht und sie somit um ein Recht beraubt, das sonst alle haben. Auch die Uhren wurden ihnen während der ganzen Dauer des Prozesses weggenommen. Weder am Tage noch in der Nacht konnten sie sich an Uhrzeiten orientieren. Sie waren komplett isoliert und durften auch während dem Hofgang mit niemanden Kontakt haben. Den Angeklagten, die nur Italienisch sprechen, wurde nur eine einzige Einvernahme eines Zeugen übersetzt. Selbst als das Gericht das Urteil verkündete und begründete, wurde dies nicht übersetzt. Sie wurden aus dem Saal geführt ohne zu wissen, zu was sie verurteilt wurden. Dies alles sind Fakten, die beweisen, dass die Angeklagten nicht als Prozesspartei mit eigenen Rechten wahrgenommen wurden, sondern als politische GegnerInnen. Die ProzessbeobachterInnen wurden von der Bundespolizei während der Prozesstage minutiös überwacht. Alle ihre Bewegungen wurden in einem umfangreichen Protokoll festgehalten. Wer am Prozess teilnahm musste wissen, dass er in diesen Tagen überwacht wurde.

VORWÄRTS: Gibt es zurzeit laufende politische Prozesse in der Schweiz?

MARCEL BOSONNET: Den kommenden Prozess gegen Andrea Stauffacher (Aktivistin des Revolutionären Aufbaus) ist offensichtlich ein politischer Prozess. Seit Jahren werden gegen Andrea durch die Staatsanwaltschaften, die Bundeskriminalpolizei und die Bundesanwaltschaft verschiedene Strafverfahren geführt. Dabei wurden alte Vorfälle bis zum Jahre 2002 durch die Bundesanwaltschaft wieder ausgegraben, die bereits durch die Staatsanwaltschaft Zürich eingestellt wurden. Vor Einreichung der Anklage beim Bundesstrafgericht hat die Bundesstaatsanwaltschaft das Strafverfahren in fast der Hälfte der untersuchten Fälle eingestellt. Wir werden in wenigen Wochen sehen, wie begründet diese Anklage ist und welche Ziele damit verfolgt werden.

Gerade aber auch in Prozessen, die ohne mediales Getöse durchgeführt werden, zeigt sich der politische Charakter des Strafprozesses. Zum Beispiel jenes Verfahren gegen eine peruanische Frau, die beschuldigt wurde, sich mehrere Jahre ohne Bewilligung in der Schweiz aufgehalten und bei verschiedenen Haushalten als Raumpflegerin gearbeitet zu haben. Sie wurde verhaftet, mit einer Strafe wegen illegalem Aufenthalt belegt und das Geld, das sie in all den Jahren verdient hatte, wurde ihr als illegaler Gewinn weggenommen. Sie wurde mit 5.00 Franken zurück in ihre Heimat abgeschoben. Oder ich denke auch an den Bauarbeiter, der aus gutem Grunde streikte und anschliessend wegen Nötigung verurteilt wurde. In einer Frage ausgedrückt: Sind nicht die Prozesse gegen Polizeibeamte, die AusländerInnen misshandeln und gleichwohl regelmässig von den Gerichten freigesprochen werden, Paradebeispiele für politische Prozesse, weil bei ihnen exemplarisch der Herrschaftscharakter des Rechts zur Erscheinung kommt? Es ist meines Erachtens ein grosser Irrtum zu meinen, nur die Prozesse gegen linksstehende Personen seien politische Prozesse.

VORWÄRTS: Als Anwalt verteidigst du seit vielen Jahren politische AktivistInnen. Welche Entwicklung stellst du fest?

MARCEL BOSONNET: Früher brauchte es ein Verbrechen, um bestraft zu werden. Heute ist dies nicht mehr nötig, wie es das Ausländerrecht beweist. In der heutigen Zeit der sozialen Unsicherheit zielt das Strafrecht auf eine Neuausrichtung des Verhaltens all derer, die in prekären finanziellen Verhältnissen leben und somit am Rande der Gesellschaft. Nicht mehr der Arm des Wohlfahrtstaates, sondern der Arm des Strafrechtstaates reguliert die unteren Klassen. Dabei benutzt die bürgerliche Politik in der freien Marktwirtschaft das Gefängnis als eine Art Staubsauger zur Entsorgung des "Sozialmülls". So kann der Ausländer ohne Aufenthaltsbewilligung 18 Monate in ein Gefängnis eingesperrt werden, ohne dass er ein Delikt beging. Zunehmend werden Jugendliche ausgeschult und in Gefängnisse oder in gefängnisähnliche Institutionen eingesperrt. Neue Jugendgefängnisse werden gebaut. Sozialhilfebezüger werden im Hinblick auf allfälligen "Missbrauch" überwacht und allenfalls auch bei geringen Vergehen drakonisch bestraft.

VORWÄRTS: In einem Satz: Wo führt diese Entwicklung hin?

MARCEL BOSONNET: Es gibt Parallelen zur Entwicklung der Gesellschaft, die immer autoritärer wird und immer mehr Menschen fundamentale Rechte vorenthält. Es erfolgt eine staatliche Politik der Kriminalisierung der Folgen der staatlich vorangetriebenen Armut. Dabei werden einerseits die Sozialbehörden in ein Instrument zur Überwachung und Kontrolle der sozialen Gruppen, die sich der neuen Wirtschafts- und Moralordnung nicht fügen, umfunktioniert. Andererseits erfolgt ein zunehmender massiver Rückgriff auf den Freiheitsentzug mit dem immer mehr versucht wird, soziale Probleme (zum Beispiel Jugendunruhen) mit Hilfe des Strafrechts zu lösen. Letztlich wird damit dem Mensch das Recht entzogen, Mensch zu sein.


POLITISCHER CHARAKTER

"Im allgemeinen Strafprozess, in dem zum Beispiel über Gewalt, Eigentum und Moral geurteilt wird, zeigen sich klar politische Bruchlinien in der Gesellschaft. Es wäre allerdings ebenso naiv, einzig den Strafprozess als Ort der politischen Justiz zu ordnen. Es ist vielmehr zu beachten, dass das Recht generell einen politischen Charakter aufweist und aufweisen muss, was sich exemplarisch am Eigentumsbegriff zeigt. Erst wenn die Funktion des Rechts in der bürgerlichen Gesellschaft als Herrschaftsinstrument begriffen werden kann, zeigt sich das Wesen des Strafrechts."
Marcel Bosonnet


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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 31/32/2011 - 67. Jahrgang - 9. September 2011, S. 3
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. September 2011