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VORWÄRTS/766: Fußball und Gewalt


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr.37/38 vom 21. Oktober 2011

Fussball und Gewalt

Von Michi Stegmaier


Nach dem Abbruch des Zürcher Derbys liegen die Nerven blank. Zukünftig soll schon alleine beim Abbrennen von Pyros der sofortige Spielabbruch folgen. Selbst der Einsatz von Militär gegen Fussballfans wird im "Blick am Abend" lautstark als Lösung propagiert.


In den frühen 90er Jahren waren es vor allem glatzköpfige Skins mit stahlbewappneten Clownsschuhen, die für Chaos in und um die Stadien sorgten. Nach der Tragödie vom Heysel-Stadion 1985 mit 39 Toten wuchs die öffentliche Sensibilität für die allgegenwärtige Gewalt in den Arenen und die englischen Vereine wurden für fünf Jahre von allen internationalen Wettbewerben ausgeschlossen. Kommerzialisierung, Stadionverbote à la carte, drakonische Haftstrafen und öffentliche Brandmarkung waren die gesellschaftliche Antwort. Die Reaktion der Gewalttäter liess nicht lange auf sich warten. Die Haare wurden wachsen gelassen, man(n) kleidete sich sportlich elegant und selbst das Tragen der vereinseigenen Farben war jetzt verpönt, denn Tarnung war nun das Gebot der Stunde. So zogen junge Männer bei strahlend blauem Himmel mit robusten Regenschirmen bestückt durch die europäischen Metropolen. Der Hooligan war geboren. Eine weitere Folge von Heysel war, dass die Stadien zu regelrechten Hochsicherheitszonen und Festungen umfunktioniert wurden. Hermetisch abgeriegelte Sektoren für die Fans, NATO-Draht und totale Videoüberwachung waren die Lösung. Temporär und bis zur Hillsborough-Katastrophe am 15. April 1989: Auf Grund der strengen Eingangskontrollen standen tausende SupporterInnen des FC Liverpools kurz vor Anpfiff des FA-Cup-Halbfinals gegen Nottingham Forrest noch vor dem Stadion. Es kam zu einem Gedränge und Massenpanik, keine Fluchtwege weit und breit und Menschenmassen, die gegen die Gitter gedrückt und zerquetscht wurden. 96 Tote und 766 Verletzte blieben zurück. Was als Schutz für die ZuschauerInnen gedacht war, entpuppte sich als tödliche Falle. Gitter in Stadien sind seither ein Unding.

Auf Repression folgte Anpassung. Der Hooligan wurde durch den Ultra ersetzt. Aus einer geschlossene Gruppe, die unabhängig von der eigenen Fankurve agierte, wurde nun eine Massenbewegung. Eine Intervention der Polizei war kein Angriff mehr auf eine kleine unsympathische, isolierte Gang, sondern nun eine Attacke auf die Fankurve als Ganzes.


Übergeordnete Interessen

Mit Repression und vor Geilheit triefender Berichterstattung - die heutigen Hooligans sitzen in den Redaktionsstuben - alleine lässt sich die Gewalt in und um die Stadien nicht bekämpfen. Das zeigt die Entwicklung der letzten Jahre. Meldepflicht, Wegweisungsartikel und Videoüberwachung verfehlten ihre Wirkung. Die aktuelle Situation in den Schweizer Stadien ist eben auch eine Folge von Inkompetenz, Streitereien um Zuständigkeiten und der Aufstockung der Polizeikräfte. Der Fussball verkommt zum Spielball übergeordneter Interessen. Dabei wären Prävention, nachhaltige Fanprojekte, Fingerspitzengefühl und Fantasie gefragt.. Und da gibt es sehr wohl Spielraum, wie unlängst der türkische Verein Fenerbahce Istanbul bewies. Zu einem Geisterspiel verdonnert, fragt der türkische Kultclub beim Verband an, ob nicht anstelle der leeren Ränge Frauen und Kinder bis 12 Jahren das Spiel besuchen dürfen. Gefragt, bewilligt und über 40.000 Frauen und Kinder sorgten für eine bunte und bombastische Stimmung. Selbst die Gästemannschaft wurde mit einem warmen Applaus begrüsst. Die internationale Beachtung dieser Geste war immens. Und in der Schweiz? Hier findet Roger Müller von der "Swiss Football League" den Einsatz der Schweizer Armee bei Fussballspielen "prüfenswert". Noch Fragen? Dem Schweizer Fussball und seiner Fankultur stehen schwere Zeiten bevor. In den vergangenen Jahren sind lebendige Kurven entstanden, die durch ihre Choreografien und Gesängen durchaus zu beeindrucken wissen. Offensichtlich treffen die Fankurven in einer immer reglementierten Welt einen Nerv der Zeit.


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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 37/38/2011 - 67. Jahrgang - 21. Oktober 2011, S. 5
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. November 2011