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VORWÄRTS/831: Frühling der Ahornblätter - Protestbewegung im kanadischen Québec


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 23/24 vom 8. Juni 2012

Frühling der Ahornblätter



Redaktion. Im kanadischen Québec formiert sich seit über drei Monaten eine veritable Protestbewegung. In den hiesigen Medien kriegt man von den Massenprotesten, die teilweise über 200.000 Menschen auf die Strasse bringen, nur sehr wenig mit. Deshalb dokumentieren wir im Folgenden den Bericht einer Studentin, die sich aktiv an den Protesten beteiligt.

Die StudentInnen aus Québec streiken nun seit mehr als 100 Tagen. Der Streik wurde durch die Entscheidung der neoliberalen Regierung ausgelöst, die Studiengebühren in fünf Jahren um 75 Prozent zu erhöhen. Dies entspricht einer Erhöhung von 1.625 Dollar. Es war Mitte Februar, als die ersten Abstimmungen über einen Streik abgehalten wurden. Einige Studentenvereinigungen begannen zu streiken und langsam weitete sich der Streik aus: Anlässlich einer nationalen Demonstration am 22. März waren es bereits um die 300.000. Mittlerweile hat sich die Zahl der Streikenden bei etwa 175.000 eingependelt.

Die Regierung bezeichnete den Streik in einer orwellschen Anwandlung als "Boykott". Damit wollte sie verhindern, dass sich die Debatte vertieft. Nachdem die Bewegung an Fahrt aufnahm, versuchte die Regierung, sie klein zu halten, dann sie lächerlich zu machen und sie schliesslich zu missachten. Der Premierminister, der auch Minister der Jugend ist, weigerte sich kategorisch, mit den StudentInnen zu sprechen.


Eine erste Radikalisierung

Demonstration folgte auf Demonstration: Zuerst originell, festlich und farbig. Später nahmen sie engagiertere Wendungen: die internationale Demonstration für das Recht auf Bildung und die feministische Demonstration sind nur zwei von vielen Beispielen. Jeden Tag nahmen sich die StudentInnen die Strasse und wurden dabei sehr oft Opfer von unverhohlener und unbestrafter Polizeibrutalität. Am 22. März demonstrierten über 200.000 friedlich. Kinder, Eltern, Grosseltern, ArbeiterInnen, Arbeitslose und StudentInnen hatten sich zusammengetan, um von der Regierung eine Rücknahme der Erhöhung der Studiengebühren zu fordern. Alle trugen das "rote Quadrat", das Symbol des Kampfes der StudentInnen. Es war die grösste Demonstration in der Geschichte Québecs. Die Regierung zeigte sich "unbeeindruckt". Das hatte die erste Radikalisierung der Bewegung zur Folge. Die Regierung verweigerte noch immer jeden Dialog. Anstelle von festlichen Demonstrationen mehrten sich Störaktionen. Die Studentenassoziation CLASSE (coalition large pour une solidarité syndicale étudiante), die radikalste der drei nationalen Studentenvereinigungen, rief dazu auf, "die gleiche Sprache wie die Regierung zu sprechen". Blockaden, Besetzungen und Vandalismus wurden jeden Morgen gängige Praxis, dies führte von Anfang an zu erheblicher Repression.


Die alte Gewaltfrage

Die Regierung konnte nun eine neue Waffe einsetzen: die StudentInnenbewegung als "gewalttätig" und von Gruppen der radikalen Linken "unterwandert" darzustellen. Die Regierung lancierte einige betrügerische Angebote, die alle kategorisch zurückgewiesen wurden. Nur falls CLASSE sich von der Gewalt der StudentInnen distanzieren würde, sollte es Verhandlungen geben. Da CLASSE aber eine Basisorganisation ist, können die WortführerInnen keine Positionen vertreten, die nicht in einer Generalversammlung beschlossen werden. So distanzierte sich CLASSE nicht von der Gewalt. Im Gegenzug lud sie die zwei anderen Gewerkschaften, FEUQ und FECQ, zu Verhandlungen ein. Aus Solidarität mit CLASSE weigerten sich diese aber ebenfalls. Der Versuch von "teile und herrsche" schlug fehl.

Zur gleichen Zeit versuchte die Regierung, den Konflikt auf eine rechtliche Ebene zu ziehen und es regnete Anordnungen, die Streikposten für illegal erklärten. Es folgten Konfrontationen zwischen Streikposten und StudentInnen, die zurück in den Unterricht wollten. Hauptsächlich aber kam es zu Auseinandersetzungen zwischen Einheiten der Aufstandsbekämpfung und StudentInnen.

Am Ende der Woche des 20. April veranstalte die Regierung eine Messe zum "Plan Nord", einem Plan zur Betreibung von Bergbau im Norden von Québec. Die Regierung stimmte zu, die nötige Infrastruktur zu finanzieren, damit Bergbaufirmen unsere Ressourcen auf dem traditionellen Territorium der Ureinwohner Kanadas ausbeuten können, ohne wirklich Abgaben und Steuern zu zahlen. Die Demonstrationen dagegen endeten in Ausschreitungen. Es kam zu vielen verletzten und verhafteten StudentInnen. Am 22. April kehrten über 200.000 BürgerInnen für den "Tag der Erde" auf die Strasse zurück. Die "roten Quadrate" waren überall. Diese Demonstration für das Gemeinwohl und gegen den "Plan Nord" der Regierung zeigt gut, wie der Kampf der StudentInnen in einen grösseren Kampf für soziale Gerechtigkeit und Widerstand gegen den Neoliberalismus eingebunden ist.


Schockgranaten und Spezialgesetze

Die Demonstrationen gingen weiter, die Repression ebenfalls. Eine Demonstration am Rande eines Kongresses endete in Ausschreitungen und mit mehreren Verletzten. Auch die fast täglichen Nachtdemonstrationen werden unterdrückt: Tränengas, Schockgranaten und Schlagstöcke hinterlassen jeden Abend Verletzte. Und jeden Morgen spricht das Fernsehen von der Gewalt der DemonstrantInnen. Es wird mit dem Finger auf den "Schwarzen Block" gezeigt. Die Desinformation der Medien will uns beibringen, dass "anarchistische Grüppchen die Demonstrationen infiltrieren, um zu randalieren". Doch es sind StudentInnen, die diese Methoden für ihre Demos wählen. Das Risiko steigt, dass das nächste Semester annulliert wird. Statt zu verhandeln, setzte die Regierung ihre letzte Waffe ein: ein "Spezialgesetz, das das Semester bis zum August aussetzt und unter anderem alle spontanen Demonstrationen und Streikposten für illegal erklärt. Grosse Bussen sind für OrganisatorInnen von illegalen Demonstrationen vorgesehen. Gleichzeitig verbietet ein neues städtisches Gesetz auch das Tragen von Masken während einer Demonstration.


Populärer Kampf

Die nächtlichen Demonstrationen gehen dennoch weiter. An der ersten Demo nach der Verabschiedung des Spezialgesetzes nahmen ungefähr 30.000 Personen teil, die StudentInnen waren nicht in der Mehrheit. Während der nächsten Tage gingen tausende Menschen auf die Strasse. Es gab hunderte Verhaftungen und mehrere Verletzte. Am 22. Mai, gingen Zehntausende Personen auf die Strasse und führten die grösste Demonstration zivilen Ungehorsams in der Geschichte Kanadas durch. Tatsächlich wurde die Route nicht bekanntgegeben und die Demonstration war damit illegal. Die Unterstützung für die StudentInnen wächst auch wegen des Spezialgesetzes. Die Menschen sind empört: Abends gehen Familien auf ihre Balkone und schlagen auf Töpfe, auch auf der Strasse machen DemonstrantInnen jeden Abend ab 20 Uhr Lärm. Sie verteidigen ihre Demonstrationsfreiheit und beweisen, dass der Streik zwar einer der StudentInnen ist, der Kampf aber ein populärer.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 23/24/2012 - 68. Jahrgang - 8. Juni 2012, S. 9
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Juni 2012