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VORWÄRTS/847: Wisch und weg!


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr.29/30 vom 20. Juli 2012

Wisch und weg!

Von Maurizio Coppola



Am 12. Juli 2012 erschien im Seismo Verlag ein Buch über Sans-Papiers-Hausarbeiterinnen im Kanton Zürich. Die Resultate bestätigen Studien über prekäre Arbeits- und Lebensverhältnisse der Betroffenen. Doch die politischen Perspektiven gehen nicht über die Probleme hinaus, die die Sans-Papiers-Bewegung seit Jahren mit sich trägt.


"Wir versuchen, ihre verschiedenen Lebensrealitäten zu dokumentieren und ihre Perspektiven und Wünsche hörbar zu machen" (S. 24), so definieren die Co-AutorInnen das Ziel ihrer Studie. Es gehe darum, das "strategische Schweigen" (S. 23) zu durchbrechen, welches die Arbeits- und Lebenssituation der Sans-Papiers-Hausarbeiterinnen durch das Nicht-Thematisieren von Haushaltstätigkeiten und durch ihren illegalisierten Aufenthalt dominiert.

Rund 8000 Sans-Papiers-Hausarbeiterinnen arbeiten in jedem 17. Zürcher Privathaushalt. Sektoranalysen in den Kantonen Genf und Basel und breitere Studien, die die Situation der Sans-Papiers in der ganzen Schweiz zu erfassen versuchen, zeigen die Bedeutung ihrer Arbeit.


Prekarisierung als dynamischer Prozess

Durch die strukturellen Umbrüche des globalisierten Kapitalismus ist ein prekarisierter Weltmarkt für weibliche Arbeitskräfte entstanden. Privathaushalte stellen einen "Mikrokosmos sozialer Ungleichheiten in der globalisierten Ökonomie" dar (S. 152). In diesem "doppelten Niemandsland von Privatheit und Illegalität" (S. 17) sammeln die AutorInnen Alltagserfahrungen der Sans-Papiers-Hausarbeiterinnen. Sie beziehen sich auf ein theoretisches Verständnis, das von "Prekarisierung als einem weitreichenden Prozess ausgeht, der nicht nur die Erwerbsverhältnisse, sondern auch Faktoren ausserhalb der Lohnarbeit thematisiert" (S. 24). Dazu gehören beispielsweise Gesundheit, Wohnen, soziale Netze und transnationale Lebenssituationen. Unter Einbezug von Diskriminierungsformen, die Geschlecht, Herkunft und Aufenthaltsstatus betreffen, geht es den AutorInnen zudem darum, die "gefühlte Prekarisierung" zu erfassen, die zu vielfältigen Strategien des Umgangs mit der eigenen Lebenslage führt.


Autonomie der Migration und Rolle des Staates

Die AutorInnen brechen mit dem Opfer-Diskurs, der die Migrationsforschung prägt und sich an die neoklassischen Ökonomie-Modelle anlehnt. "In unserer Untersuchung versuchen wir, die Migrantinnen als aktive Subjekte und als Entscheidungsträgerinnen zu betrachten und nicht als Spielbälle ökonomischer und politischer Bedingungen" (S. 34). Das Datenmaterial - Erhebung der Arbeits- und Lebensverhältnisse von 56 Sans-Papiers-Hausarbeiterinnen, 14 Leitfadeninterviews und ein Gruppengespräch mit vier Personen - bestätigt, dass sich Migrationsmuster vermehrt in Richtung zirkulärer und pendulärer Bewegungen gewandelt haben. Die Lebensrealitäten der Migrantinnen schwanken also zwischen einem "Hier" und einem "Dort".

Die Gründe für die Auswanderung sind vielfältig. Frauen migrieren, um patriarchal familiären und normativen Strukturen zu entkommen. Bei einigen Frauen stehen Abenteuerlust und Wissensdurst im Zentrum. Der wichtigste Grund für den Anstieg der internationalen Migration sind aber die stetig wachsenden Ungleichheiten auf globaler Ebene. Kriege, politische Unruhen, Umweltkatastrophen und Ressourcenknappheit sind zunehmende Fluchtgründe. Diese entsprechen den ökonomischen Entwicklungen, die einen Weltmarkt für weibliche Arbeitskräfte produzieren. "Die Nachfrage nach billigen, flexiblen Arbeitskräften wird immer häufiger auf einem globalisierten Arbeitsmarkt befriedigt" (S. 43). Gerade für illegalisierte Migrantinnen bleibt die Arbeit in Privathaushalten die einzige Alternative, solange sich an ihrem Aufenthaltsstatus nichts ändert. Hier wird dem Staat eine spezifische Rolle bei der Produktion von irregulärer Migration zugeschrieben: Einerseits sind die Staatsgrenzen Filter einer differenzierten Verwaltung von Migrationsströmen, die den informellen Arbeitsmarkt nähren, andererseits werden die irregulären MigrantInnen in einer "administrativen Vulnerabilität" ohne soziale Rechte gehalten. Somit schafft der Staat die prekarisierte ArbeiterInnenschaft am rechten Ort und auf dem geringstmöglichen Lohnniveau.


Theorie der Lohnarbeit und politische Perspektiven

Die Darstellung der prekären Arbeits- und Lebenssituationen der Sans-Papiers-Hausarbeiterinnen bestätigen die Resultate vorheriger Studien. Weitere interessante Aspekte finden sich in den beiden letzten Kapiteln der Studie, wobei genau diese auch als die strittigsten erscheinen. In Anlehnung an Marx sprechen die AutorInnen von Sans-Papiers-Hausarbeiterinnen als "dreifach freie Lohnarbeiterinnen: nicht nur frei von Produktionsmitteln und frei, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, sondern auch frei von Reproduktionsverpflichtungen für eigene Angehörige" (S. 160). Diese Erweiterung überzeugt nicht. Erstens widerspricht sie den Forschungsresultaten und somit der sozialen Realität der Sans-Papiers, die sehr wohl Reproduktionsarbeit im Herkunftsland leisten, wenn auch "nur" in Form von Geldtransfers für Kinder und Eltern, etwa für Ausbildungs- oder Gesundheitskosten. Darüber hinaus behalten sie auch aus der Ferne Beziehungen zu ihnen aufrecht. Und nicht wenige Sans-Papiers-Frauen leisten zudem auch private Care-Aufgaben in der Schweiz. Zweitens blendet diese ausschliesslich auf geschlechtliche Verteilung von Reproduktionsarbeit fokussierende Erweiterung der doppelt freien Arbeiterin aus, dass kapitalistische Lohnarbeit "Verwertung der Arbeitskraft" bedeutet und Reproduktionsarbeit per definitionem ausschliesst. Genau hier müsste eine "kritische Theorie der Lohnarbeit" ansetzen, die Gender, Ethnizität und Klasse mit einbezieht.

Abschliessend werden zwei politische Perspektiven formuliert: die kollektive Regularisierung der Sans-Papiers und die Regulierung des Arbeitsmarktes der Privathaushalte. Diese politischen Überlegungen reichen nicht sehr weit, denn einerseits geben die AutorInnen diejenigen Forderungen wieder, die die Sans-Papiers-Bewegung nun seit über zehn Jahren ins Zentrum ihrer Aktivitäten stellt. Andererseits fehlt eine kritische Reflektion dieser an den Staat gerichteten Forderungen: Wie kann der Staat denn - selbst Produzent irregulärer Migration - diese regulieren und regularisieren? Überlegungen "über die Staatlichkeit hinaus" sind angesichts migrationspolitischer Entwicklungen und Herausforderungen der Sans-Papiers-Bewegung nötiger denn je.


Alex Knoll, Sarah Schilliger, Bea Schwager (2012): WISCH UND WEG! Sans-Papiers-Hausarbeiterinnen zwischen Prekarität und Selbstbestimmung. Zürich: Seismo Verlag. 191 Seiten. 38.- ChF.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 29/30/2012 - 68. Jahrgang - 20. Juli 2012, S. 8
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. August 2012