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VORWÄRTS/886: Die doppelten Ketten sprengen


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr.47/48 vom 21. Dezember 2012

Die doppelten Ketten sprengen

Von Jacqueline Kalbermatter und David Loher



Derzeit wird in Griechenlands Nordosten der Grenzzaun zur Türkei hochgezogen. Und kürzlich hat Italien der tunesischen Nationalgarde Patrouillenboote überlassen zur effektiveren Überwachung der Seegrenze. Doch der paralysierte Blick auf das Grenzspektakel an Europas Aussengrenze übersieht die Vielfalt an Grenzziehungen, die längst nicht alle an der Grenze stattfinden.


Europa macht seine Grenzen dicht. Eurosur, ein System zur Überwachung der Schengengrenze, das 2014 in Betrieb gehen soll, ist ein Beispiel dafür. Und dass die Schengengrenze schon weit über Schengen hinausreicht, zeigt das von der EU finanzierte SURCAP-Projekt, welches zum Ziel hat, die irreguläre Migration von Weissrussland Richtung Ukraine (und damit weiter Richtung Westeuropa) zu kontrollieren. Diese Tendenzen mit dem Bild der Festung Europas zu beschreiben, führt jedoch zu diversen Schwierigkeiten - theoretischen wie politischen: Erstens ist das Bild der Festung Europas nicht in der Lage, die Deterritorialisierung der europäischen Grenze zu erfassen. Die Grenzziehung findet in diesem Fall nicht am Grenzzaun, sondern in den Datenbanken statt. Zweitens produziert die Durchlässigkeit der Grenzen eine Masse an entrechteten MigrantInnen, welche als billige und fügsame Arbeitskräfte bereitstehen. Und drittens können MigrantInnen mit dem Bild der Festung Europas nicht als politische Subjekte, sondern nur als passive Opfer der Verhältnisse dargestellt werden. Als Kritik gedacht, verkehrt sich so das Bild der Festung Europas in sein Gegenteil.


Grenzzäune und Datenbanken

Der überwiegende Teil der Einwanderung nach Europa von Personen, die sich ohne gültigen Aufenthaltstitel im Schengenraum aufhalten, erfolgt nach wie vor auf legalem Weg über die Flughäfen. Als so genannte "Visa Overstayers" lassen sie ganz einfach ihr Visum auslaufen. Nicht weiter verwunderlich, dass sich deshalb die Bemühungen, Migration zu kontrollieren, ebenso sehr auf diese neuralgischen Punkte konzentrieren, wie auf die Sicherung der Evros-Grenze oder der Überwachung des Mittelmeers. In diesem Fall findet Grenzziehung nicht durch Zäune und Grenzpatrouillen statt, sondern in den Datenbanken. Die EU hat 2001 so genannte "black" und "white lists" (die später in "positive" bzw. "negative lists" umbenannt wurden) eingerichtet. Während die "white list" jene Staaten umfasst, deren BürgerInnen kein Visum für die Einreise in den Schengenraum benötigen, so stehen auf der "black list" jene, für deren BürgerInnen eine allgemeine Visumspflicht besteht. Neben auffallend vielen muslimischen Ländern finden sich allgemein die so genannten Entwicklungsländer auf der "black list". Der Geograf Henk van Houtum bezeichnet dies an Etienne Balibar anschliessend als neue Form von Apartheid.

Ein weiteres Beispiel für die Deterritorialisierung der Grenze ist im Asylbereich die Eurodac-Datenbank. In dieser werden die Fingerabdrücke aller Asylsuchenden im Schengenraum gesammelt. Damit soll verhindert werden, dass Asylsuchende in mehr als einem Staat im Schengenraum ein Gesuch stellen. Das führt zur Situation, dass Asylsuchende in jenem Land quasi eingesperrt bleiben, in dem sie zum ersten Mal mit Behörden in Kontakt traten.


Arbeitsteilung nach Aufenthaltsstatus

Zudem entpuppt sich die Idee einer Festung als politisch irreführend, weil sie die Kritik an der Migrationsabwehr trennt von einer Kritik an den Arbeits- und Ausbeutungsverhältnissen: Die kapitalistischen Staaten des Zentrums sind auf die Strategie des Imports von Arbeitskräften zur Steigerung der Mehrwertproduktion angewiesen. Migrationspolitik ist stets mit Arbeitsmarktpolitik gekoppelt. Die Migrationspolitik wirkt als eine Art Filter für den Arbeitsmarkt, indem Personen aus Drittstaaten nur mit entsprechenden und in Europa anerkannten Qualifikationen eine Aufenthaltsbewilligung erhalten. Für alle anderen bleibt der Weg über das Asylverfahren oder die illegale Migration. Die Nachfrage nach billigen und unqualifizierten Arbeitskräften wird dann aus dieser Masse entrechteter MigrantInnen rekrutiert. Es geht dabei gerade nicht darum, MigrantInnen auszuschliessen, sondern ihre wertbildende Substanz, also ihre Arbeitskraft, durch die Entrechtung einzuschliessen und der Ausbeutung zu unterwerfen. Jene Arbeitskräfte, welche nicht in den Arbeitsmarkt eingebunden sind, fungieren als Reservearmee. Ihre Funktion ist, Schwankungen der Akkumulation auszugleichen. Dazu kommt der disziplinierende Charakter für die anderen ArbeitnehmerInnen. Charakteristisch für die Migrationspolitik Europas ist somit nicht die hermetische Abschottung, sondern die relative Durchlässigkeit der Grenzen. Emmanuel Terray bezeichnet diese Arbeitsteilung nach Aufenthaltsstatus als "délocalisation sur place". Sans-Papiers und Personen aus dem Asylbereich arbeiten oft als unqualifizierte Arbeitskräfte in der Gastronomie, Landwirtschaft, Baubranche und in Privathaushalten. Der disziplinierende Charakter dieser Arbeitsverhältnisse artikuliert sich nicht nur dadurch, dass MigrantInnen aus Angst vor der Ausweisung davor zurückschrecken, Widerstand gegen die ausbeuterischen Arbeitsverhältnisse zu leisten, sondern auch in der Tatsache, dass der Erwerb einer stabilen Aufenthaltsbewilligung mit dem Vorweisen eines festen Arbeitsverhältnisses verbunden ist. Mit David Harvey lässt sich folgern, dass die kapitalistische Akkumulation sowohl über die Ausbeutung durch Lohnarbeit als auch durch Enteignung der Lebensgrundlage und Rechte von Menschen gesichert wird.


Migration als soziale Bewegung

Das europäische Grenzregime mit dem Bild der Festung zu beschreiben, führt schliesslich zum Problem, dass dabei MigrantInnen als politische Subjekte und handelnde Akteure aus dem Blickfeld verschwinden. Sie tauchen entweder - im Falle des hegemonialen Narrativs - als eine zu regulierende und zu managende anonyme Masse auf, oder aber sie werden beschrieben als Opfer der herrschenden Machtverhältnisse, wie das im "kritischen" Menschenrechtsdiskurs geschieht. In beiden Fällen sind MigrantInnen jedoch Objekte und keine Subjekte. Eine emanzipatorische Sicht auf Migration muss jedoch MigrantInnen zwingend als politische Subjekte verstehen. In diesem Sinne ist Migration eine soziale Bewegung im wortwörtlichen Sinn.

Aus diesen Überlegungen ergeben sich wesentliche politische Konsequenzen für eine antirassistische Bewegung: Der Kampf der Menschen, welche im Arbeitsprozess enteignet werden und derjenigen, welche durch den Raub ihrer Lebensgrundlage enteignet werden, muss als politischer Widerstand der "Enteigneten" zusammengedacht werden.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 47/48/2012 - 68. Jahrgang - 21. Dezember 2012, S. 16
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Januar 2013