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VORWÄRTS/899: Marx' Ökonomiekritik


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr.05/06 vom 15. Februar 2013

Marx' Ökonomiekritik

Von Peter Streckeisen



"Kritik der politischen Ökonomie" - so lautet der Untertitel des "Kapital". Aber was ist damit genau gemeint? Wir finden bei Marx nicht in erster Linie "die bessere Wirtschaftstheorie", sondern eine grundlegende Infragestellung der Ökonomie an sich.


Im ersten Beitrag dieser Reihe ("Marx' Baustellen", 25. Januar 2013) ist mir ein Fehler passiert: Ich wollte aufrufen, Marx als Quelle der Kapitalismuskritik neu zu entdecken, schrieb aber "Marxismuskritik". Es war allerdings wie ein freudscher Versprecher, denn tatsächlich geht es mir auch darum, mit Marx den Marxismus zu hinterfragen. In der Hinsicht ist diese Frage von Bedeutung: Was wollte Marx mit seiner "Kritik der politischen Ökonomie" und was ist im Marxismus daraus geworden?


Marxistische Ökonomie

Generationen von MarxistInnen haben versucht, auf der Basis des "Kapital" eine marxistische Wirtschaftslehre zu schreiben, die der "bürgerlichen Ökonomie" überlegen sei. Ein eindrückliches Beispiel ist Ernest Mandels "Marxistische Wirtschaftstheorie" (1968): Der Verfasser versucht zu beweisen, der Marxismus ermögliche eine "Synthese aller menschlichen Wissenschaften". Doch indem die marxistische Ökonomie Marx auf einen Ökonomen reduziert, zieht sie ihm die Zähne der Gesellschaftskritik. Marx war angetreten, um die kapitalistische Ökonomie durch gesellschaftliche Verhältnisse zu erklären und die "Naturgesetze" der Wirtschaft als "verrückte" aber "objektive Gedankenformen" zu entlarven. Im Gegensatz dazu erklärt die marxistische Ökonomie (fast) alles - Kultur, Politik oder Alltagsleben - durch die Wirtschaft. Zumindest "in letzter Instanz", wie es bei Louis Althusser heisst. Der Kapitalismus zeichnet sich dadurch aus, dass "die Wirtschaft" sich als eigene gesellschaftliche Realität verselbständigt, deren Logik alle Bereiche des sozialen Lebens beeinflusst und teilweise durchdringt. Es ist keine andere Gesellschaft bekannt, die eine derart von kulturellen Normen und direkten Sozialbeziehungen entfesselte Ökonomie kennt. Der Kapitalismus hat nicht nur eine "Ökonomie an sich", sondern eine "Ökonomie für sich", wie Pierre Bourdieu in Abwandlung der Klassenbegriffe von Marx festhält. Kapitalismuskritik sollte diese "Diktatur der Ökonomie" über das Denken und Handeln der Menschen ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. Das tut die marxistische Ökonomie aber nicht, weil sie Marx ökonomisch liest.


Die berühmte Entdeckung

Ein Beispiel. Im Abschnitt über die "Verwandlung von Geld in Kapital" deutet Marx an, dass der kapitalistische Mehrwert weder aus der Zirkulation noch der Produktion kommt, sondern auf der Verwandlung des Arbeitsvermögens in eine Ware beruht. Im Marxismus wurde dies als Entdeckung gefeiert, die es erlaubt zu verstehen, wie Ausbeutung stattfindet, wenn "Äquivalente" getauscht werden. Die Entdeckung führt zum politischen Programm: Die Arbeiterklasse muss gegen ihre Ausbeutung kämpfen, eigentlich gehört ihr der ganze Reichtum der Gesellschaft, und wenn sie einen steigenden Anteil von diesem erkämpft, wird sie letztlich die politische Macht gewinnen und eine "Diktatur des Proletariats" errichten.

Aber kann ausgehend von Marx' Entdeckung nicht anders theoretisiert und politisiert werden? Die Verwandlung des Arbeitsvermögens in eine Ware ist der Punkt, an dem Marx der besonderen Form auf die Spur kommt, die Beziehungen zwischen Menschen im Kapitalismus annehmen: In dieser Gesellschaft müssen die Menschen (juristisch) gleich sein, um (sozioökonomisch) ungleich zu sein. Was formal gerecht ist, erweist sich als zutiefst ungerecht. So entsteht soziale Ungleichheit. Das Kapital macht die Menschen vergleichbar und ungleich, mehr oder weniger "wert", indem es sie auf ihre Nützlichkeit reduziert. Die Lohnabhängigen sind nicht nur zum "Verkauf ihrer Arbeitskraft" gezwungen, sondern zur Anpassung ihrer Person an die Erfordernisse des Kapitals. So stellt das Bildungswesen nicht nur Ungleichheit her und legitimiert diese durch Zeugnisse und Diplome (auch das sind "Wert-Formen"), sondern richtet junge Menschen zum Dienst am Kapitalismus her.


Regierungswissenschaft

Durch diese Brille gewinnt ein anderes Programm an Bedeutung: Der Kampf gegen alle kapitalistischen "Realabstraktionen", das heisst gesellschaftlichen Prozesse, welche Menschen und Sozialbeziehungen auf einen abstrakten wirtschaftlichen Wert reduzieren. Dafür interessiert sich die marxistische Ökonomie kaum. Sie bleibt in der Tradition der Ökonomie als "Regierungswissenschaft" gefangen und sucht nicht nur Theorien, welche die "Notwendigkeit des Sozialismus" beweisen, sondern auch Instrumente, mit denen politische Macht ausgeübt werden kann. Wie das konkret aussieht, haben die Menschen in der Sowjetunion, in China oder Kuba am eigenen Leib erfahren müssen.

Was wir hingegen bei Marx finden, ist eher so etwas wie eine "Wissenschaft der Kritik", die nie zum Ende kommt, sondern kapitalistische Verhältnisse immer wieder neu analysiert. Die ökonomischen "Tendenzen", die Marx beschreibt (etwa das "Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate"), sind nicht allgemein gültige Naturgesetze. Wie David Harvey betont, handelt es sich um theoretische Modelle, die von Voraussetzungen ausgehen (wie etwa die Definition der Wirtschaft als geschlossenes System), die in der Realität nicht gegeben sind oder gleich bleiben. Wenn sich Geschlechterverhältnisse verändern oder natürliche Ressourcen erschöpfen oder neue internationale Beziehungen entstehen, werden solche Ausgangsbedingungen über den Haufen geworfen. Weil sie übersahen, dass die Beschränkung des "ceteris paribus" auch für die Modelle von Marx gilt, sagten marxistische Ökonomen immer wieder den Zusammenbruch des Kapitalismus voraus. Bis der "real existierende Sozialismus" zusammenbrach!


Ökonomiekritik 2.0

Im "Kapital" schwankt Marx teilweise selbst unreflektiert zwischen Ökonomie und Ökonomiekritik. Es ist an uns herauszufinden, welche Dimension mehr verspricht. Für mich ist die Antwort eindeutig. Wenn wir die Schiene der marxistischen Ökonomie verlassen, können wir Marx' Ökonomiekritik auch mit feministischen Reflexionen, ökologischen Fragen oder postkolonialer Theorie in Verbindung bringen. Denn alle diese Ansätze stellen in Frage, was aus ökonomischer Sicht als gegeben gilt: die Trennung von bezahlter und unbezahlter Arbeit, die Verwertung natürlicher Ressourcen oder die Vorherrschaft des westlichen Entwicklungsmodells auf weltweiter Ebene. Das scheinbar "Normale" wird eben gerade durch solche "Realabstraktionen" hergestellt, für deren Analyse Marx Pionierarbeit geleistet hat.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 05/06 - 69. Jahrgang - 15. Februar 2013, S. 8
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. März 2013