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VORWÄRTS/947: Eine weltweite Protestbewegung


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr.27/28 vom 19. Juli 2013

Eine weltweite Protestbewegung

Von Maurizio Coppola



Neben den vielen wichtigen Unterschieden zwischen den weltweiten sozialen Protesten zeigt ein genauerer Blick die Gemeinsamkeiten, die man hervorheben muss, um die allgemeine Stossrichtung dieser Protestbewegungen einzuordnen. Dieser Beitrag stellt einen Versuch dar, diese Gemeinsamkeiten zu umschreiben, und Vereinfachungen und Verfälschungen zu vermeiden.


Als sich im Frühjahr 2011 in Tunesien ein Strassenhändler selbst verbrannte, weil sein ambulanter Gemüsestand verboten wurde, konnte sich noch niemand vorstellen, dass dieses Ereignis sinnbildlich zum Auslöser eines weltweit neuen Protestzyklus mutieren würde. Dass der "arabische Frühling" eine solche symbolische, aber auch gesellschaftliche und politische Bedeutung erlangt hat, bedeutet bei weitem nicht, dass nicht schon vorher wichtige Protestbewegungen aufgekommen sind, die in ihrer Intensität und Qualität eine globale Bedeutung gehabt hätten. Erinnert sei hier nur an ein Beispiel, nämlich an die haitianischen Hungerunruhen im Jahre 2008, die wegen der stark gestiegenen Lebensmittelpreise ausgebrochen waren. Aufgrund der Verschärfung der Krise des kapitalistischen Gesellschaftssystems, das nun in seiner Totalität tangiert wird, können wir heute jedoch vermehrt beobachten, wie der komplexe Krisenzusammenhang Proteste, Revolten und Revolutionen auslöst, sowohl in den Zentren, wie auch in den Peripherien der Weltgesellschaft. Die Proteste offenbaren also durchaus tiefere Risse der kapitalistischen Produktionsweise, und wir sollten zumindest einen Blick auf diese Wurzeln wagen.


Eine Bewegung der Proletarisierten

Die tiefliegenden Gründe für den Ausbruch der spezifischen Formen von Protesten, Revolten und Revolutionen im arabischen Raum, aber auch in Südafrika, in der Türkei, in China und jüngst in Brasilien liegen in der sozio-ökonomischen Entwicklung des kapitalistischen Gesellschaftssystems. Rapide Urbanisierung, zunehmende Informalisierung der Arbeit und soziale, politische und ökonomische Marginalisierung breiter Teile der Proletarisierten haben die Befriedigung grundlegender Bedürfnisse stark eingeschränkt und die Verarmung eines grossen Teils der Bevölkerung akzentuiert. Hinzu kommen repressive Kontrollmechanismen und mafiöse Strukturen, welche die Bevölkerung schikanieren. Mit den sozialen Protesten in einem krisengeprägten Kontext drängen diese Menschen vermehrt mit neuem Selbstbewusstsein und Durchsetzungsvermögen auf tatsächliche soziale Reformen und Veränderungen.

Gerade die Protestbewegungen im arabischen Raum brechen also mit orientalistischen Klischees statischer und zur Veränderung unfähiger islamischer Gesellschaften. Doch sie brechen auch mit der Vorstellung von "Mittelschichtsbewegungen", bei denen es um einige wenige Rappen für den öffentlichen Verkehr (Brasilien) oder um Bäume in einem öffentlichen Park (Türkei) geht. Unabhängig von der soziologischen Unbrauchbarkeit des "Mittelschicht"-Begriffs zeigen der jahrelange Streikzyklus vor der Besetzung des Tahrir-Platzes in Ägypten, der Anschluss der streikenden ArbeiterInnen der Türkish-Airlines an die Proteste auf dem Taksim-Platz und die Besetzung der Strassen mit Luxusläden durch die Favelas-BewohnerInnen in Rio de Janeiro, dass diejenigen Menschen auf Veränderungen drängen, die nichts anderes zum Leben haben als den Verkauf ihrer Arbeitskraft.


Ende der Vertretung

Die Zunahme vielfältiger Formen des Aktivismus (von direkten, informellen Handlungen Einzelner bis zu kollektiven Platzbesetzungen und Streiks) gehen einher mit dem Niedergang der traditionellen Organisationen wie Kooperativen, Gewerkschaften, NGOs, religiöse Organisationen und klassische Parteien. Gerade der strukturelle Wandel der von den Protesten betroffenen Regionen hat die Legitimität tradierter kollektiver Organisationen in Frage gestellt, da sie meist eine Mitverantwortung tragen für die ständige Prekarisierung der Proletarisierten. Das neue Selbstbewusstsein und Durchsetzungsvermögen der Menschen geht einher mit der Ablehnung einer "Stellvertretungspolitik". Die Protestbewegungen zeichnen sich durch eine ständige gegenseitige Bezugnahme aus, Slogans wie "Taksim ist überall" weisen darauf hin. Die Lernfähigkeit der Klasse wird durch die Möglichkeiten der neuen Informationssysteme beschleunigt. Mit einem Smartphone können innert weniger Minuten Informationen über Proteste durch den ganzen Globus geschickt werden. Darin den Keim des Kommunismus zu sehen, wie das einige "linke TheoretikerInnen" tun, wäre masslos übertrieben. Sehr wohl werden jedoch dadurch neue Möglichkeiten eröffnet, die vorher so nicht existierten.

Gleichwohl lösen die gegenseitige Bezugnahme und die Ablehnung der politischen Vertretung die grundsätzlichen Probleme sozialer Bewegungen nicht und stellen eine Herausforderung dar: Wie können Kontinuität und Zusammenführung der emanzipatorischen Proteste politisch gesichert werden gegenüber dem repressiven Charakter des Staates und angesichts reaktionärer Kräfte, die sich zum Teil an den Protesten beteiligen?

Die Forderungen der weltweiten Protestbewegungen können - abstrahiert von ihren spezifischen Inhalten - mit den Begriffen "Brot, Gleichheit und Unabhängigkeit" zusammengefasst werden. Ihrem sozialen Inhalt nach appellieren sie an einen regulierenden Staat und sind somit bürgerlich-demokratisch. Doch die angewandten Kampfmittel nehmen durchaus radikale Formen an, die das Potential haben, über den bürgerlich-demokratischen Rahmen zu gehen. Angesichts der Tatsache, dass wir den Kommunismus nicht als Zustand denken müssen, der hergestellt werden soll, oder als Ideal, wonach sich die Wirklichkeit zu richten hätte, sondern als Bewegung, welche die jetzigen Zustände aufhebt, gilt den weltweiten emanzipatorischen Protestbewegungen unsere tiefste Solidarität.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 27/28 - 69. Jahrgang - 19. Juli 2013, S. 1
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Juli 2013