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VORWÄRTS/981: Linke verteidigen "Erfolgsmodell Schweiz"


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr.1/2 vom 17. Januar 2014

Linke verteidigen "Erfolgsmodell Schweiz"

Von Maurizio Coppola



Am 9. Februar wird über die sogenannte Masseneinwanderungsinitiative der SVP abgestimmt. Die SVP warnt in ihrer Kampagne vor den Folgen der "Masslosigkeit" bei der Zuwanderung. Unternehmensverbände und Gewerkschaften hingegen bezeichnen die Initiative als "Abschottung" und verweisen auf den wirtschaftlichen Nutzen von MigrantInnen.


Die Anfang Februar zur Abstimmung kommende Vorlage will das zurzeit herrschende Migrationsregime der Schweiz in Frage stellen. Denn die Volksinitiative "gegen Masseneinwanderung" fordert, dass die Schweiz die Zuwanderung von AusländerInnen eigenständig steuert, das heisst durch jährliche Höchstzahlen und Kontingente begrenzt. Der Wortlaut der Initiative präzisiert zudem: "Die Höchstzahlen gelten für sämtliche Bewilligungen des Ausländerrechts unter Einbezug des Asylwesens. Der Anspruch auf dauerhaften Aufenthalt, auf Familiennachzug und auf Sozialleistungen kann beschränkt werden" (Art. 121a, Abs. 3 BV).


Das Zwei-Kreise-Modell

Mit den Verhandlungen über die Personenfreizügigkeit im Rahmen der Entstehung eines europäischen Wirtschaftsraumes bildete sich ein Migrationsregime heraus, das als Zwei-Kreise-Modell bezeichnet wird und die traditionelle utilitaristische Einwanderungspolitik der Schweiz noch einmal verschärfte. Als erster Pfeiler dieses Modells gilt der freie Personenverkehr mit der EU, welcher seit 2004 stufenweise eingeführt wird. Bislang geschützte Arbeitsmärkte wurden geöffnet und die Kontingentierung ausländischer Arbeitskräfte abgeschafft. Der freie Personenverkehr macht es nunmehr für Unternehmen möglich, mit ihrem Personal ohne Beschränkungen Aufträge in einem anderen Land auszuführen. Was sich vor allem dann lohnt, wenn sie die branchenüblichen Lohn- und Arbeitsschutzbestimmungen unterbieten. Die Initiative will wieder "bürokratische Hürden" einführen, so dass sich Unternehmen und Arbeitskräfte nicht mehr "frei" auf dem schweizerischen Markt bewegen können, sondern für Tätigkeiten in der Schweiz eine spezielle Bewilligung einholen müssen.

Den zweiten Pfeiler der selektiven Migrationspolitik bildet das 2006 revidierte Ausländergesetz, das eine restriktivere Einwanderungspolitik für Nicht-EU-ArbeitsmigrantInnen vorsieht. Die Einreisebewilligung hängt von strengen Vorgaben hinsichtlich des Qualifikationsbedarfs und der Grösse der Kontingente ab. Diese Revision hat zu einer allgemeinen Prekarisierung in Branchen geführt, in denen schon prekäre Verhältnisse herrschten, beispielsweise dem Gastgewerbe, dem Bau, der Landwirtschaft, der Hausarbeit, der Reinigungsbranche oder dem Sexgewerbe. Denn, in diesen Branchen mit niedriger Wertschöpfung und geringer Arbeitsproduktivität ist der Rückgriff auf niedrige Entlohnung und prekäre Arbeitsverhältnisse die einzige Möglichkeit, Gewinne zu garantieren. Für die Nicht-EU-ArbeitsmigrantInnen wird sich arbeitsmarkttechnisch mit der SVP-Initiative wenig bis nichts ändern. Sie werden heute schon diskriminiert und als ArbeitsmigrantInnen zweiter Klasse behandelt.


Die Positionen

Seit Dezember 2013 läuft nun die Kampagne für und gegen die Masseneinwanderungsinitiative an. Die SVP hat zwar mit einem "Extrablatt" praktisch wieder alle Haushalte mit ihrer Propaganda bedeckt. Doch im Gegensatz zur Abstimmung über die Minarett-Initiative Ende 2009 fällt ihre Kampagne zumindest momentan im öffentlichen Raum relativ bescheiden aus.

Anfang Januar präsentierte sich dann eine Koalition von Unternehmensverbänden (unter anderen der Schweizerische Arbeitgeberverband, der Schweizerische Gewerbeverband, hotelleriesuisse, der Schweizerische Bauernverband, H+ Die Spitäler der Schweiz, swissmem und economiesuisse) vor den Medien. In einer Mitteilung begründen sie ihre Ablehnung der SVP-Initiative: "Die hohe Wertschöpfung, die Arbeitsplätze und Wohlstand schafft, ist nur mit den nötigen Fachkräften zu erreichen. Da die Schweiz ein kleines Land mit entsprechend beschränkten Personalressourcen ist, braucht der Wirtschaftsstandort Fachkräfte aus Europa."

Die Gewerkschaften schlagen in die gleiche Kerbe wie die Unternehmensverbände. In ihrem "Dossier zur fremdenfeindlichen Abschottungsinitiative" wird ihre Ablehnung der Initiative erläutert: "Die Schweiz ist in vielen Bereichen auf die Einwanderung angewiesen. [...] MigrantInnen arbeiten in der Schweiz, weil wir sie brauchen [...]. MigrantInnen tragen zu unserem Wohlstand bei. Sie sind Teil des 'Erfolgsmodells Schweiz'. Ohne MigrantInnen funktioniert unser Land nicht." Die Rückkehr zu Kontingenten bedeute den Wegfall der mit der Personenfreizügigkeit verknüpften flankierenden Massnahmen zum "Schutz" der schweizerischen Lohn- und Arbeitsbedingungen. Gerade diese müssten jedoch verstärkt und besser umgesetzt werden, um die Personenfreizügigkeit nicht in Frage zu stellen.


Linker Utilitarismus

Die gewerkschaftliche Position ist in mehreren Hinsichten problematisch. Erstens bedeutet die Stärkung und bessere Umsetzung der Personenfreizügigkeit samt ihren flankierenden Massnahmen die Zementierung des Zwei-Kreise-Modells. Zwar wurde durch die Personenfreizügigkeit zwischen der Schweiz und der EU das Saisonnierstatut für EU-ArbeitsmigrantInnen abgeschafft, doch gleichzeitig wurden die Mauern um Europa höher und dicker. Die Arbeits-, Lohn- und Wohnbedingungen der heutigen Nicht-EU-ArbeitsmigrantInnen gleichen stark denjenigen der damaligen Saisonniers. Zweitens beschränkt sich die Verteidigung von ArbeitsmigrantInnen fast ausschliesslich auf das Argument ihrer ökonomischen Funktion für die Schweiz. Es müsste die Gewerkschaft doch zumindest nachdenklich stimmen, wenn die Unternehmen mit den gleichen Argumenten (MigrantInnen tragen zu unserem Wohlstand bei) für ein Nein zur SVP-Initiative werben. In der "sozialpartnerschaftlichen" Tradition begleiten die Gewerkschaften den migrationspolitischen Utilitarismus der Unternehmen mit ihrer "linken" Variante. Drittens geben die Gewerkschaften mit der Forderung der Stärkung der flankierenden Massnahmen die Situation der ArbeitsmigrantInnen - und schliesslich aller ArbeiterInnen - in die Hände des Staates. Demjenigen Staat, der keinen Moment zögert, wenn es um Ausschaffungen von MigrantInnen oder Räumungen von Streikposten (beispielsweise beim Streik bei SPAR in Dättwil) geht.

In einem Punkt haben die Gewerkschaften jedoch recht: Ohne MigrantInnen funktioniert die Schweiz nicht. Es ist somit für alle ArbeiterInnen zu hoffen, dass die MigrantInnen aufhören zu funktionieren, so dass die SVP samt ihrer Masseneinwanderungsinitiative bachab geht.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 1/2 - 70. Jahrgang - 17. Januar 2014 , S. 3
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Januar 2014