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VORWÄRTS/991: Hungerstreik für mehr Rechte


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 5/6 vom 14. Februar 2014

Hungerstreik für mehr Rechte

von Maurizio Coppola



Am Mittwoch, den 29. Januar 2014, traten über 20 IranerInnen in einen Hungerstreik und besetzten den Vorplatz des Bundesamt für Migration (BfM) in Wabern bei Bern. Sie sahen sich vor allem mit Repression und Marginalisierung konfrontiert. Die Bewegung wächst jedoch und ist entschlossen, den Kampf weiterzuführen.


Die iranischen Hungerstreikenden waren Frauen und Männer mit Ausweisen F (vorläufig Aufgenommene) und N (Asylsuchende) oder hatten einen negativen Asylentscheid erhalten, können aber nicht ausgeschafft werden, weil die Ausschaffung in den Iran als "unzumutbar" bezeichnet wird. Mit ihrer politischen Aktion wollten sie den Druck auf die politischen Verantwortlichen der Schweiz erhöhen. Zwei Forderungen standen im Zentrum ihres Protests, wie sie in ihrem Manifest festhalten: "1. Die Schweiz soll politisch anerkennen, dass die Islamische Republik Iran die Menschenrechte systematisch verletzt und aktiv werden, um Menschenrechtsverletzungen des Irans zu verhindern. 2. Einen zügigen und positiven Bescheid auf unser Asylgesuch, um wieder ein normales Leben zu führen."


Die Wurzeln der Bewegung

Die Bewegung der iranischen Hungerstreikenden hat ihre Wurzeln im politischen Kampf für einen säkularen iranischen Staat. Die Mehrheit der Hungerstreikenden war im Iran politisch aktiv und entschied aufgrund der massiven Unterdrückung gegen soziale Bewegungen das Land zu verlassen. Der hungerstreikende Aktivist R.B. erklärt beispielsweise, dass er im Iran als Student sowohl an der Universität, wie auch als Arbeiter beim nationalen Automobilhersteller Iran Khodro für Freiheit und Rechte kämpfte. Iran Khodro ist mit 53.000 Mitarbeitenden einer der wichtigsten Produktionsstätten in Teheran. Der "Grünen Protestbewegung" des Jahres 2009 gingen schon zwei Jahre davor Arbeitskämpfe voraus, an denen sich R.B. mit seinen ArbeitskollegInnen beteiligte. Die gewerkschaftliche Forderung nach mehr Rechten am Arbeitsplatz war begleitet von der politischen Forderung nach einem säkularen, demokratischen Staat, in dem die Menschenrechte anerkannt und respektiert werden. Doch die damalige Regierung um Präsidenten Mahmud Ahmedinedschad fuhr mit einer massiven Repression ein. Auch die anfängliche Hoffnung nach einer radikalen Veränderung von unten durch die "Grüne Bewegung" verblasste schnell. Die radikalsten AktivistInnen wurden festgenommen, gefoltert und wurden nie wieder gesehen. So musste auch R.B. untertauchen, sah zwei seiner Mitarbeiter und engen Freunde nie wieder und entschied, den Iran zu verlassen.


Viel Repression, kaum Solidarität

Mit dem Beginn des Hungerstreiks besetzten die AktivistInnen auch gleich den Vorplatz des Bundesamtes für Migration (BFM) in Bern. Die Besetzung stiess auf wenig Solidarität. Mit Ausnahme einiger vereinzelter AktivistInnen, welche Infrastruktur und Internetauftritt sicherstellten, war kaum jemand aus der "Linken" an der Seite der Hungerstreikenden zu finden. Nach nur zwei Tagen reichte BernMobil, die Besitzerin des Gelände vor dem BFM, eine Strafanzeige ein, so dass am 31. Januar um 4.30 Uhr die Polizei mit einem Grossaufgebot die Hungerstreikenden räumte und die AktivistInnen mit Handschellen abführte. Die Repression hat die Hungerstreikenden nicht aufgehalten. Nach ihrer Freilassung versammelten sich die IranerInnen, um die Fortführung des Hungerstreiks zu entscheiden.

Vorübergehende Unterstützung fanden die Hungerstreikenden in der Reithalle und im Kirchengemeindehaus Johannes, wo sie einige Nächte verbringen konnten. Auf der Suche nach einer ruhigen Bleibe in der Innenstadt baten die AktivistInnen in der Heiliggeistkirche um Kirchenasyl. Nach zwanzig Minuten jedoch liess sie die Kirchgemeindepräsidentin polizeilich aus der Kirche vertreiben. Und auch bei der Dreifaltigkeitskirche wurden sie rausgeworfen. Gleichzeitig versuchen sie den Druck auf die Politik zu erhöhen und forderten ein Treffen mit Bundespräsident Didier Burkhalter und BFM-Direktor Mario Gattiker. Seit 1979 nimmt die Schweiz die konsularischen und diplomatischen Interessen des Irans in Ägypten wahr. Die wirtschaftlichen Beziehungen sind traditionell gut. 2012 exportierte die Schweiz ein Handelsvolumen von fast 500 Millionen Franken in den Iran. Die Streikenden betonen: "Wenn die Schweiz dem Iran die Hand reicht, soll sie auch uns, die Leidtragenden des Regimes, anerkennen!"

Nach zehn Tagen Hungerstreik befanden sich die iranischen AktivistInnen in eine Sackgasse: Das BFM weigerte sich, ein Gespräch einzugehen. Der Hungerstreik hätte ins Leere laufen können. So entschieden sie sich, den Hungerstreik abzubrechen, ihren Widerstand neu zu formieren und mit neuen Mitteln den Kampf um ihre Rechte zu organisieren.


Die Notwendigkeit unserer Unterstützung

Warum ist es nun wichtig, einen solchen Kampf um "Menschenrechte, wie ihn die hungerstreikenden IranerInnen führten, zu unterstützen? Erstens handelt es sich um eine selbstorganisierte Bewegung, die gerade nicht von politischen Organisationen infiltriert ist und instrumentalisiert wird. Im Gegenteil: Die AktivistInnen betonen stets ihre Unabhängigkeit von Parteien, auch wenn Einzelne politischen Organisationen angehören. Zweitens zeigen die iranischen AktivistInnen exemplarisch auf - so wie vor ihnen die syrischen AktivistInnen, die im September 2013 mit der Forderung nach stabilen Aufenthaltsbedingungen den Vorplatz des BFM besetzten -, dass nicht nur Menschen, sondern auch Kampfformen migrieren. Der Hungerstreik hier kann als Weiterführung ihres Kampfes im Iran für mehr Rechte und Freiheit betrachtet werden. Drittens handelt es sich bei den iranischen AktivistInnen in erster Linie um Proletarisierte, die zum unteren Segment der Arbeiterklasse gehören. Bei einer politischen Anerkennung ihres Status mutieren sie zu billigen und ausbeutbaren Arbeitskräften. Ihr heutiger Kampf um mehr Rechte und Freiheit ist somit nur der Beginn eines Kampfes gegen Ausbeutung und Unterdrückung.

Es geht nicht darum, die Bewegung nach unseren Interessen zu modeln, sondern in einem solchen Hungerstreik - also auf der Basis der unter unseren Augen vor sich gehenden Bewegung - das Interesse aller Proletarisierten hervorzuheben. So können wir in einem Kampf um "Menschenrechte", der uns als Festhalten an dem bürgerlichen Staat erscheint, einen Teil einer grösseren Bewegung erkennen, von der wir Teil sind und lernen können. Ausgehend davon beginnen wir dann vielleicht, aus unseren politischen Mikrokosmen auszubrechen und uns Gedanken zu machen, unter welchen Bedingungen wir leben und arbeiten.

INFORMATIONEN ZUM HUNGERSTREIK: HUNGERSTREIK2014.TUMBLR.COM

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 5/6/2014 - 70. Jahrgang - 14. Februar 2014, S. 3
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Februar 2014