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VORWÄRTS/992: "Wir sind doch keine kranke Gesellschaft"


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 5/6 vom 14. Februar 2014

"Wir sind doch keine kranke Gesellschaft"

von Thomas Schwendener



In den leuten zwanzig Jahren hat sich die Zahl der jungen IV-BezügerInnen beinahe verdreifacht. ExpertInnen schlagen Alarm und rechnen vor allem die Kosten vor, statt nach den gesellschaftlichen Ursachen zu fragen.


Anerkennend vermerkt der "Tages-Anzeiger" kürzlich, dass die Invalidenversicherung die Zahl der neuen Renten seit 2003 von Jahr zu Jahr hätte reduzieren können. Die Zeitung rechnet den interessierten LeserInnen vor: "Insgesamt ging [die] Zahl [der RenentenbezügerInnen] von 2008 bis 2012 um 7 Prozent zurück, bei den Jungen nahm sie hingegen um 13 Prozent zu." Diese Zunahme bei den jungen NeurentnerInnen sei ein Problem, wie selbst die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) festgestellt habe.

Bei den Jugendlichen in der Schweiz belaufen sich die psychischen Ursachen bei Neurenten in der Invalidenversicherung (IV) auf 70 bis 80 Prozent. Schuld sind meistens ADHS oder eine sogenannte Persönlichkeitsstörung. Viele der jungen RentnerInnen haben keine Stelle in der Arbeitswelt gefunden und erhalten deshalb bereits mit 18 Jahren staatliche Leistungen.


Befristete Renten?

Der "Tages-Anzeiger" befragt zur Untermauerung des Problems einen Experten, den Kinder- und Jugendarzt Oskar Bänziger, der in Zürich bis vor kurzem den regionalärztlichen Dienst der IV Nordostschweiz geleitet hat. Stellvertretend für einen Teil seiner Zunft gibt er zu Protokoll: Die IV biete für junge Versicherte "Fehlanreize". Ohne berufliche Ausbildung fände man kaum eine Arbeit, bei der ein Einkommen erzielt werde, das gleich hoch sei wie die Rente mit Ergänzungsleistungen. Deshalb gäbe es kaum einen Anreiz, aus der Rente herauszukommen.

Die Lösung Bänzigers sieht die Einführung befristeter IV-Renten für unter 25-Jährige vor. Die jungen Erwachsenen müssten dann auch intensiv begleitet und betreut werden. Man kann sich etwa ausmalen, was das für die Betroffenen bedeutet. Immerhin weist Bänziger auch darauf hin, dass die Anforderungen auf dem Arbeitsmarkt in den letzten Jahren gestiegen seien und dies für Jugendliche mit psychischen Problemen zu einer grossen Hürde für den Einstieg in die Berufswelt geworden sei.

Das "Bundesamt für Sozialversicherungen" (BSV) erklärt, dass es die entsprechenden Instrumente "verbessern" und die Qualität der erstmaligen beruflichen Ausbildung erhöhen wolle. Zudem werde in den nächsten Monaten geprüft, ob man Änderungen im bestehenden Rentensystem vorschlagen wolle, etwa befristete Renten.


Das übliche Verfahren

Die Aussagen der betreffenden Stellen zeigen das übliche Muster: Auf eine Zunahme der Rentenleistungen wird damit reagiert, dass man die Zulassungsschwelle erhöht und die BezügerInnen strenger behandelt. Das ist im Dienste des nationalen Standortes auch folgerichtig: Die Sanierung der Staatsfinanzen auf dem Buckel bestimmter Segmente der Proletarisierten war noch immer die adäquate Reaktion auf vermeintliche Probleme. Stattdessen müsste man sich fragen, wie ein solcher Anstieg an psychischen Erkrankungen zustande kommt. Eine einfache Antwort darauf gibt es nicht, aber der Zusammenhang zwischen einer Gesellschaft, die ihre Mitglieder ständig in Konkurrenz gegeneinander wirft und die permanente Einsatzbereitschaft einfordert, muss aufgezeigt werden. Zudem ist es nicht von der Hand zu weisen, dass sich die Anforderungen des Arbeitsmarktes für den Einzelnen - gerade auch für Jugendliche - in den letzten Jahren verschärft haben.

SVP-Nationalrat Toni Bortoluzzi will die Gründe für die häufigen psychischen Krankheiten erforschen lassen. "Wir sind doch keine kranke Gesellschaft", gab er zu Protokoll. Eine Studie, die von dieser Prämisse ausgeht, dürfte in ihren Resultaten zumindest fragwürdig bleiben.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 5/6/2014 - 70. Jahrgang - 14. Februar 2014, S. 4
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Februar 2014