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VORWÄRTS/1059: Die Mauer muss weg


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 39/40 vom 15. November 2014

Die Mauer muss weg

Von Michi Stegmaier



Anlässlich des 25. Jahrestages des Falls der Berliner Mauer klauten AktionskünstlerInnen des "Zentrums für politische Schönheit" mehrere Kreuze, welche an die Mauertoten erinnern, und brachten diese an die Aussengrenzen der Festung Europa. Und für den 9. November rief das Zentrum zum "ersten europäischen Mauerfall" auf.


Gross war am Nachmittag des 4. November die Entrüstung, als bemerkt wurde, dass die weissen Kreuze, die am Berliner Spreeufer vor dem Reicbstagsgebäude aufgestellt waren, verschwunden waren. Aufmerksam auf das Verschwinden des Mahnmals wurde man jedoch erst, als das "Zentrum für politische Schönheit" (ZPS) die Medien informierte, dass die vierzehn Kreuze kollektiv die Flucht vor den Gedenkfeierlichkeiten zu "25 Jahren Mauerfall" ergriffen hätten. Dies in einem Akt der Solidarität, um über die Aussengrenzen der Festung Europa zu ihren Brüdern und Schwestern in die marokkanischen Bergwälder vor der spanischen Enklave Melilla zu fliehen.

Die mediale Empörung über die künstlerische Intervention liess nicht lange auf sich warten. Während seitens der Politik der Künstlergruppe "Pietätslosigkeit" und Instrumentalisierung der Mauertoten vorgeworfen wurde und der politische Staatsschutz ein Strafverfahren wegen "besonders schweren Diebstahls" einleitete, erinnerten die AktivistInnen daran, dass in den letzten Jahren Tausende an den europäischen Aussengrenzen umgekommen sind. "Gedenken wir nicht der Vergangenheit, gedenken wir der Gegenwart - und reissen die EU-Aussenmauern ein. Nicht mit warmen Worten, sondern mit Bolzenschneidern!", fordert Philipp Ruch, künstlerischer Leiter des ZPS, und kündigte für den 9. November im Rahmen einer Performance gleich noch den Abriss der europäischen Aussenmauern an.


Der zweite Akt

Das ZPS nimmt die aktuellen Gedenkfeierlichkeiten zum Anlass, um auf den grössten europäischen Skandal der letzten 25 Jahre aufmerksam zu machen. Denn dem Fall der Berliner Mauer folgte der Bau einer neuen, weitaus mörderischeren Mauer. Konservativen Schätzungen zufolge starben in den letzten zwanzig Jahren an den europäischen Aussengrenzen 30.000 Menschen beim Versuch, Europa zu erreichen. Europa feiert den Fall der Mauer und betreibt - als hätte die Geschichte nichts mit der Wirklichkeit zu tun - gleichzeitig die eigene Selbsteinmauerung. Die AktivistInnen, die sich selbst als "aggressive Humanisten" und "Kampfgruppe gegen die Unmenschlichkeit" bezeichnen, kündigten deshalb als zweiten Teil ihrer Performance den "ersten europäischen Mauerfall" an. Ein Freilichttheater, das den Eröffnungsakt des Festivals "Voicing Resistance" des Berliner Gorki-Theaters darstellt und jedem die Möglichkeit bieten soll, selber ein Mauerheld zu werden. Innert fünf Tagen kam bei einer Online-Spendenaktion das Sechsfache der für die Aktion budgetierten 5600 Euro zusammen. Über dreihundert Menschen meldeten sich für eine Mitfahrt an und fanden sich am 6. November pünktlich um 13 Uhr vor dem Maxim-Gorki-Theater in Berlin ein. Nachdem alle Reisenden und die Büsse von der Polizei mit den Worten "Ihr fordert hier zu einer schweren Straftat auf" durchsucht wurden, fuhren immerhin zwei Busse und 140 AktivistInnen mit drei Stunden Verspätung los. Bei Redaktionsschluss war die "künstlerische Intervention" noch im Gange und wurde von der serbischen Polizei in Richtung bulgarische Grenze eskortiert. Bulgarische NationalistInnen riefen über Facebook dazu auf, den Konvoi zu stoppen, da bei einem Fall der europäischen Aussenmauer die "Zukunft Bulgariens auf dem Spiel stehe".

Das "Zentrum für Politische Schönheit" tritt seit mehreren Jahren immer wieder mit kreativ-provokativen Aktionen in Erscheinung. So sollte 2012 etwa eine ganze Rüstungsfabrik in einen Betonsarkophag eingegossen werden und vor vier Jahren schichteten die AktionskünstlerInnen einen Berg von über 16.000 Schuhen vor dem Brandenburger Tor auf, um an die Rolle der UN-Truppen beim Massaker in Srebrenica zu erinnern.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 39/40 - 70. Jahrgang - 15. November 2014, S. 5
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Dezember 2014


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