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VORWÄRTS/1129: Auf der Flucht nach Europa


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 29/30 vom 28. August 2015

Auf der Flucht nach Europa

Von Michi Stegmaier


Seit Wochen dominiert das Thema Flucht und Asyl die europäischen Medien und bewegt die Menschen. Kein Tag vergeht, an dem nicht gleich mehrere Schlagzeilen im reichen Europa für Aufregung sorgen.


Es sind erschütternde Bilder, welche uns derzeit tagtäglich erreichen, ob nun aus Calais, von den griechischen Ferienparadiesen Kos oder Lesbos, von der griechisch-mazedonischen Grenze, von den Bootsflüchtlingen, welche weiterhin mutig den gefährlichen Seeweg vom Bürgerkriegsland Libyen in Richtung Lampedusa wählen, in der Hoffnung, dass sie, sobald sie die internationalen Gewässer erreichen, von der italienischen Küstenwache, Handelsschiffen oder karitativen Organisationen gerettet werden. Alle ProtagonistInnen dieser Schauplätze scheint ein Credo zu einen: "Alles oder nichts, ein Zurück wird es nicht geben." Und obwohl Notrufe nicht mehr einfach ignoriert werden können wie noch vor zwei Jahren, und auch wenn der hundertfache Tod nicht mehr bloss mit einem Schulterzucken zur Kenntnis genommen wird, sind alleine seit Jahresbeginn 2500 Menschen bei ihrer Flucht nach Europa im Mittelmeer ertrunken.


Die Balkanroute

Zehntausende auf der Flucht vor Bürgerkrieg, Verelendung und religiösem Fanatismus, vor allem aus Syrien, Afghanistan und dem Irak versuchen derzeit, über die sogenannte Balkanroute nach Nordeuropa zu gelangen. Sie haben die wenigen Kilometer über die Ägäis in Schlauchbooten überquert und sitzen an Land oft wochenlang unter unwürdigen Bedingungen fest, was auf Grund der scharfen innereuropäischen Kontrollen bisher meist die Endstation bedeutete. Wie schon zuvor Italien pfeift aber inzwischen auch Griechenland auf das Dubliner Abkommen, nach dessen Logik derjenige Staat, in dem jemand zuerst ankommt, auch für das Asylgesuch zuständig wäre, was wiederum Länder wie die reiche Schweiz ausserordentlich erquickt, da man schon vom Himmel fallen muss, um sachgerecht die eidgenössischen Asylkriterien zu erfüllen.

Inzwischen reisen über Griechenland und die Balkanroute etwa gleich viele Flüchtlinge nach Europa wie über Italien. Nach einer vergleichsweise kurzen Seepassage landen viele auf einer der bekannten Ferieninseln, wo seit Wochen Notstand bezüglich Unterbringung und Versorgung herrscht. Ein Überleben ist oft nur durch die grosse Solidarität der griechischen Zivilgesellschaft möglich. Nach der Registrierung reisen viele Flüchtlinge nach Athen weiter, doch die jetzigen Verhältnisse bieten ihnen keine Perspektiven. Zwar wurden unter der Syriza-Regierung die Politik der Razzien gestoppt und einige der berüchtigtsten Knäste für Illegalisierte geschlossen, doch kaum jemand will - auch angesichts der ökonomischen Situation - länger in Griechenland bleiben.


Ausnahmezustand in Mazedonien

Nachdem am 20. August in Mazedonien der Ausnahmezustand verhängt und der Grenzübergang bei Gevgelija geschlossen wurde, kam es zu dramatischen Szenen: Polizei, Grenzwacht und Sondereinheiten gingen mit Blendgranaten und Tränengas gegen Flüchtlinge vor. Am folgenden Tag durchbrachen trotzdem 1500 Menschen die Grenzabsperrung und bei Redaktionsschluss wurde die Grenze wieder geöffnet, um eine weitere Eskalation zu verhindern, nachdem Tausende während Tagen im Niemandsland zwischen Griechenland und Mazedonien ausharren mussten. Mit Extrazügen und mit aus dem ganzen Land zusammengezogenen Bussen werden die Flüchtlinge derzeit weiter nach Serbien transportiert. Der grosse Andrang auf den Grenzübergang Gevgelija lässt sich auch mit dem ungarischen Grenzzaun erklären, der momentan gebaut und 150 Kilometer lang und vier Meter hoch sein wird. Ursprünglich sollte er bis November fertiggestellt werden. Inzwischen wurden die Bauarbeiten aber mittels des Einsatzes von Militär und Strafgefangenen intensiviert, damit die neue EU-Aussenmauer schon Ende August bereitsteht. Viele Flüchtlinge befürchten nun, dass dadurch eine Weiterreise nach Deutschland und in die skandinavischen Länder nicht mehr möglich sein wird. Zudem schliesst Ungarn derzeit seine Flüchlingsunterkünfte und eröffnet an der Peripherie grosse Lager, während die EU mit der serbischen Regierung über ein Mega-Lager für eine halbe Million Asylsuchende verhandelt.


Klima des Hasses

Währenddessen verkündet die deutsche Regierung, dass bis Ende Jahr mit 800.000 Asylgesuchen gerechnet werde. Die Slowakei wiederum will nur noch christliche Flüchtlinge aufnehmen. Und als die Europäische Kommission vor ein paar Wochen die polnische Regierung darum bat, knapp 4.000 Flüchtlinge aus Eritrea und Syrien aufzunehmen, war die Empörung sowohl bei rechten wie linken PolitikerInnen gross. Unterdessen hat die polnische Regierung zähneknirschend und gegen 70 Millionen Euro Hilfsgelder aus Brüssel der Aufnahme von 2000 Menschen zugestimmt. Soviel zur viel zitierten europäischen Solidarität.

Es stinkt schon ziemlich, wenn man bedenkt, dass viele der heutigen PolitikerInnen in Polen, Ungarn und der ehemaligen Tschechoslowakei während des Kalten Krieges selber geflohen sind. Auch in den Westen natürlich, wo ihnen Studium bezahlt und hunderttausende Franken in den Allerwertesten geschoben wurden. Nun aber schweigen diese Leute mit wenigen Ausnahmen oder hetzen sogar offen gegen die heute Geflüchteten.

Und was schon vor Jahren von vielen AktivistInnen und Menschenrechtsorganisationen prophezeit wurde, ist längst Realität: die europäische Abschottungspolitik und die Festung Europa sind auf ganzer Linie gescheitert. Zurück bleiben zehntausende Tote und eine historische Epoche, über die spätere Generationen richten werden. Und während die Aussengrenzen immer undurchlässiger werden, entstehen im Innern neue sichtbare und unsichtbare Mauern und ein Klima des Hasses, welches letzten Endes nur zwei Gewinner kennen wird: Die extreme Rechte und den politischen Islam. Letzterer insbesondere, wenn man die jetzt Ankommenden als Aussätzige und Unerwünschte empfängt, denn wer Wind sät, wird Sturm ernten. Es ist erstaunlich, dass beide extremistischen Strömungen sowohl von der bürgerlichen Mehrheitsgesellschaft wie auch von der emanzipatorischen Linken weiterhin belächelt und unterschätzt werden.


Aktive Solidaritätsnetze

Auf den Flüchtlingsrouten in das vermeintlich sichere Europa entstehen aber auch zahlreiche Solidaritätsstrukturen, um das grösste Elend abzufedern. So etwa Moscheen, die gemeinsam mit christlichen Organisationen zu helfen versuchen. Ebenso helfen Organisationen wie "medico international" oder "Medicins sans Frontières" mit Zelten, Lebensmitteln und medizinischer Notversorgung, eine humanitäre Katastrophe abzuwenden. Und vielerorts gibt es grosse Solidarität seitens der Zivilgesellschaft, wobei es oft ausgerechnet mittellose Menschen sind, welche die grösste Solidarität zeigen. Es entstehen Nottelefone für Bootsflüchtlinge, karitative FluchthelferInnenstrukturen, ehrenamtliche Netzwerke von ÄrztInnen und RechtsanwältInnen und Gruppen, welche Übergriffe durch Polizei, mafiöse Cliquen und Grenzbehörden dokumentieren, veröffentlichen und so präventiv das Schlimmste verhindern. Gleichzeitig ist aber die Ratlosigkeit der Politik und der sozialen Bewegungen gross und emanzipatorische Ansätze für eine offensive Migrations- und Asylpolitik sind faktisch nicht vorhanden. Und das muss für die Zukunft mindestens so viele Sorgen bereiten wie der rassistische Mob von rechts unten, der wieder durch die Strassen marschiert.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 29/30 - 71. Jahrgang - 28. August 2015, S. 8
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft vorwärts, PdAS
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Einzelnummer: Fr. 4.-
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Probeabo: 4 Ausgaben gratis


veröffentlicht im Schattenblick zum 10. September 2015

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