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VORWÄRTS/1156: Kaltland


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 45/46 vom 18. Dezember 2015


Kaltland

Von Patricia D'Incau


Es wird Winter auf der "Balkanroute". Täglich passieren hunderte Menschen auf ihrer Flucht das Durchgangslager Dobova in Slowenien. Eine Erinnerung.


Es ist erstaunlich, wie still es sein kann, an einem Ort, an dem sich mehrere hundert Menschen aufhalten. Zu Beginn ist es mir nicht aufgefallen. Als wir gekommen sind, waren sie gerade abgeholt worden. An den Bahnhof gefahren, an dem ein Zug auf sie gewartet hat. Dort sind sie ausgestiegen, aus grauen, verwitterten Bussen. "Lauft, lauft, lauft!" hat eine tiefe Stimme geschrien, und die Menschen sind über den Kies geeilt.

Er hat gewusst, dass der Zug warten würde, denn nur aus einem Grund war er da. Um die Menschen wegzubringen aus Slowenien. Und trotzdem hat er geschrien, der Polizist. Es gehe um Macht, erfahren wir später von Neja, einer Helferin im Lager. Darum, sich dauerhaft zu behaupten, gegenüber den Organisationen, die vor Ort sind - das UNHCR, das Rote Kreuz, Slovenska filantropija, zu denen Neja gehört - und gegenüber den Menschen, die sich für kurze Zeit auf dem kleinen Asphaltplatz aufhalten; diesem Dorf aus Plastikzelten, das an der Landstrasse zwischen dem slowenisch-kroatischen Grenzübergang und dem 750-Seelendorf Dobova liegt.


Warten

Es ist dunkel. Dunkel und kalt. Rauchend sitzen wir auf einer Holzbank und versuchen, die Minustemperaturen zu ignorieren, die langsam durch unsere Körper schleichen.

Hinter uns tritt Neja aus dem kleinen roten Zelt des Roten Kreuzes. "Sie kommen", sagt sie und wir folgen ihr quer über den Asphaltplatz, gehen durch ein braunes Zelt mit Polizeispalier weiter in ein weisses, in dem HelferInnen hinter einer langen Theke bereitstehen, um Essen zu verteilen. Grüne Plastikkisten stapeln sich an der Wand, darin liegen abgepackte Säckchen. Zwei Stück Brot und ein Aufstrich, ein Apfel und ein Fläschchen Wasser. Nichts Warmes, nur Milch noch und Fisch. Fisch in Dosen, denn er ist billig. Ich werde ihn verabscheuen, später, weil er überall sein wird, dieser süssliche, stechende Geruch. In den feuchten Holzböden der grossen weissen Zelte, in denen die Menschen untergebracht werden; in den grauen Wolldecken, die sie um sich legen, zum Schutz vor der kalten Nacht.

Irgendwann hören wir den Bus kommen, sechshundert Menschen stellen sich in eine Reihe und nehmen das Essen entgegen. Wir grüssen, stehen bereit, wenn jemand Verletzungen hat, Wunden oder Erfrierungen, Kinder in den Armen oder Gepäck in den Händen; obwohl viele nicht viel mehr an Kleidung haben als das, was sie am Leib tragen.

Wir werden ihnen etwas Warmes bringen können, aber später. Nach der Registration, den Fotos und Fingerabdrücken. Nachdem sie das grosse weisse Zelt erreicht haben und die hunderten grauen Decken, unter denen der Holzboden bald verschwindet. "Lasst sie ankommen. Gebt ihnen einen Moment", sagt Neja.


Kleidung

Meine Hände greifen in die Kiste und ziehen ein paar Schuhe heraus. Sie sind aus braunen, feinmaschig zusammengewobenen Lederbändern. Es sind Sandalen. Sandalen im Winter. Ich werfe den Schuh zurück und wühle weiter, finde etwas aus grobem Stoff. Das wird gehen, denke ich und eile aus dem Kleiderlager.

Eine Zeitlang wiederholt sich diese Prozedur. Hin und her zwischen den Zelten. Mit Stiefeln in der Hand für das kleine Mädchen mit den braunen Locken, einem kleinen blauen Anorak für das schlafende Baby, ein paar neue Hosen für den jungen Mann mit zerrissenen Jeans. Immer wieder zurück ins Kleiderlager und immer wieder fallen mir dünne Jacken und T-Shirts in die Hände; warme Kleidung geht schnell aus. Schuhe für Männer gibt es nur noch wenige. Und irgendwann werde ich mich mit dem Gedanken abfinden müssen, dass wir es auch hier nicht schaffen werden, alle für die Weiterreise in den Winter zu rüsten.


Die "Balkanroute"

Wenn die Menschen in Dobova ankommen, sind es bereits mehr als 2000 Kilometer seit Griechenland, dem ersten sicheren Hafen nach dem Seeweg über die Türkei. Immer wieder ertrinken Menschen bei dieser Überfahrt; für diejenigen, die es schaffen, markiert das hellenische Festland den Beginn eines Weges, der zwar weniger tödlich, aber nicht minder entbehrungsreich ist: Die "Balkanroute".

Von Athen über Mazedonien nach Serbien und über Kroatien und Slowenien führt der Weg, doch immer wieder endet die Flucht in einer Sackgasse. Grenzen werden geschlossen, Busse und Züge eingestellt, Menschen in überfüllten Lagern festgehalten, mit Blendgranaten und Schlagstöcken traktiert, wenn sie durchzubrechen versuchen. Auf der Suche nach neuen Wegen waten sie durch Sumpf und Wasser, schlafen in Wäldern, Strassengräben oder Zelten. Als "Vorhof zur Hölle" hat UNHCR-Sprecherin Melita Sunjic die Route einmal bezeichnet.


Stille

"Mittlerweile bin ich froh, dass ich hier gelandet bin", sagt ein Helfer aus Deutschland in die Dunkelheit, wieder auf der Holzbank, wieder vor dem Zelt des Roten Kreuzes. Er erzählt von Kollegen, die an anderen Orten an der Route im Einsatz sind. Einer, er ist eigentlich Fotograf, arbeitet auf Lesbos. "Er hat mir gesagt, er würde sich darauf freuen, wieder einmal ein Kind zu sehen, dass er nicht tot aus dem Meer holt", erzählt der junge Mann neben mir. Ein anderer sei in Serbien, an einem Ort, der nichts weiter ist, als ein umzäuntes morastiges Feld, auf dem die Menschen stunden-, manchmal tagelang darauf warten müssten, registriert zu werden. "Dort gibt es nichts, nicht einmal Wasser", sagt er. Wenigstens das gibt es in Dobova. Ein Minimum an Infrastruktur; ein Minimum an Versorgung.

Als ich gehe, fällt es mir auf. Es ist still. Obwohl sechshundert Menschen, dicht an dicht, in dem grossen weissen Zelt liegen. Es ist immer still hier. Es ist die Erschöpfung.

*

Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 45/46 - 71. Jahrgang - 18. Dezember 2015, S. 11
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft vorwärts, PdAS
und ihre Deutschschweizer Sektionen
Redaktion: Vorwärts, Postfach 2469, 8026 Zürich
Telefon: 0041-(0)44/241 66 77,
E-Mail: redaktion@vorwaerts.ch
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vorwärts erscheint 14-täglich,
Einzelnummer: Fr. 4.-
Jahresabo: Fr. 160.-, reduziert (AHV, Stud.) 110.-
Probeabo: 4 Ausgaben gratis


veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Januar 2016

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