Schattenblick → INFOPOOL → MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE


VORWÄRTS/1329: Kino als Träger einer Bewegung - 100 Jahre Oktoberrevolution


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 35/36 vom 26. Oktober 2017

Kino als Träger einer Bewegung

von Sabine Hunziker


Am 27. August 1919 erliess Lenin das Dekret über "die Zusammenarbeit der Filmindustrie und der Fotounternehmen". Es war der Startschuss für eine von kommunistischen Ideen geprägte Filmproduktion, die sich "zur wichtigsten aller Künste" entwickelte und zwar mit dem Anspruch, auch Wahrheit zu sein.


Noch unter dem letzten Zaren hatten einzelne RegisseurInnen das Potenzial des Films als neue Kunstgattung ausgelotet. Ab 1908 entstanden "Die Ehre der Flagge", "Totentanz", "Die Gefangenen vom Kaukasus" und "Die Elendsviertel von St. Petersburg" von Protasanow, Wolkow und Gardin. Nach der Oktoberrevolution 1917 wurden bald fast alle Kinotheater geschlossen: einige ProduzentInnen, RegisseurInnen, SchauspielerInnen und TechnikerInnen emigrierten in die Filmzentren im Ausland, nach Berlin, Paris oder Hollywood. Anatoli Wassiljewitsch Lunatscharski, von 1917 bis 1929 Kommissar für Unterricht und Volksaufklärung, meinte später, dass mit der Revolution die höchst mittelmässige zaristische Filmkunst geendet habe. Krieg und Hunger vermochte sie nicht zu überstehen.


Das Leben zeigen

Der 27. August 1919 steht als offizieller Geburtstag des Sowjetfilms fest: Lenin erliess das Dekret über "die Zusammenarbeit der Filmindustrie und der Fotounternehmen mit dem Kommissariat für Unterrichtswesen und Volksaufklärung" (siehe unten). Mit diesem Beschluss erhielten die seit dem Krieg nur in losen Zusammenhängen arbeitenden Filmschaffenden neue Legitimation und Förderung, so wurde die "siebte Kunst" in der jungen Sowjetunion zur meist geförderten Sparte und zugleich "national". Lenin gab dem Film grosse Aufmerksamkeit, und eine von kommunistischen Ideen geprägte Produktion begann. Sowjetische Wirklichkeit meinte nun "sozialistischen Realismus". Realität wurde geschaffen und zwar mit Propagandatruppen, bestehend aus jungen Kameraleuten und RegisseurInnen, die durchs Land reisten. Sie zeichneten nicht nur die Geschehnisse an der Kriegsfront auf, sondern auch das Leben der Bevölkerung, die in der Revolution kämpfte.


Bis in die entlegene Provinz

Es wurde mit diesem realistischen Dokumentarstil in Form von Wochenschauproduktionen bewusst ein Gegensatz zum Kostümstil der Zarenzeit geschaffen, der auch in späteren Spielfilmproduktionen wieder aufgenommen wurde. Die Revolution war nicht nur ein politisches Ereignis, sondern es passierten auch Veränderungen hinter der Kameralinse in Richtung einer "optischen Revolution des Auges". Das so zusammengestellte Filmmaterial gelangte ab 1918 auf Propagandazügen auch in entlegene russische Provinzen. Die auf Schienen portablen Kinos fürs Volk befanden sich in diesen Eisenbahnwagen, bemalt mit Motiven der Revolution - auch der damals noch junge Kandinsky hatte daran mitgearbeitet. Neben dem Filmvorführungsraum, der zugleich auch Vortragssaal war, enthielten die Wagen je eine Druckerei, in der regelmässig ein Propagandabulletin erarbeitet wurde, sowie eine Bibliothek. Das Kino zog auch in kommunistische ArbeiterInnen- und Jugendclubs in Städten und Dörfern, so dass an vielen Orten Projektor und Leinwand vorhanden waren, um Revolutionsfilme abspielen zu können.


Ausdruck der Realität

Nach dem Ersten Weltkrieg begannen sich drei Avantgardeteams zu bilden. Bei der Arbeit wurden die FilmemacherInnen immer wieder mit dem Problem der Ressourcenknappheit konfrontiert, jeder Meter Film war kostbar. Die Gruppen hatten grosse Bedeutung für den späteren Revolutionsfilm, und auch das Ausland konnte von den Erfahrungen der Experimente profitieren. Das "Experimentierlaboratorium" entwickelte das Prinzip der Montage als "Ausdruck der Realität". Lew Kuleschow veränderte den erst mit langsamem Tempo und langen Einstellungen erzählenden Film mit Aktion, Dynamik und Exzentrik. Bewegungen wurden dabei verkürzt und nur spannende Passagen gezeigt. So konnte die Filmsprache mit dem anfänglichen Aneinanderreihen von zeitlich langen andauernden und statischen Szenen in eine dynamische Montage von kurzen und rhythmischen Einstellungen verändert werden. Verschiedene Varianten waren möglich: beispielsweise mehrere Bilder nacheinander gezeigt, um so verschiedene Aktionen als eine Handlung wahrnehmen zu können. Der "Effekt" war entstanden.

Die "Filmnarren" um Dsiga Wertow experimentierten mit dem "mechanischen Objektivismus". Als Maschinenauge ist die Kamera die beste Garantie für die objektive Wahrheit. Mit der "Montage an sich", die kein Drehbuch, kein Atelier und keine SchauspielerInnen benötigt, wird lediglich die reproduzierte Realität gezeigt. Erfahrungen die mithalfen, diese Technik auszubauen, wurden während der Dreharbeiten der "Kino-Prawda" gemacht. Die Gruppe um "Die Fabrik des exzentrischen Schauspielers" betonte die Schauspielerpersönlichkeiten und die hergestellten Szenen. Es ging nicht mehr um Reproduktion der optisch erfassbaren Realität, sondern die Gruppenmitglieder gestalteten und überwanden sie sogar. Möglichkeiten des Trickfilms wurden teilweise miteinbezogen.


Mittel der Agitation

Der Film als "Hauptträger der Revolution", so betitelte Lunatscharski 1918 diese Kunstproduktion. Lenin bekräftigte später: "Der Film ist für uns die wichtigste aller Künste." Ein Grund dafür war auch der grosse Anteil des Analphabetismus unter der Bevölkerung, so dass visuelle Künste gut als Informationsquelle genutzt werden konnten. Lunatscharski selber wurde mit dem Wiederaufbau und Ausbau der Filmproduktion beauftragt. Die Förderung von 1920 bis 1930 liess die anfänglichen Filmexperimente reifen, kurbelte die Produktion an und die Filmindustrie blühte auf. Geschaffen wurde eine breite industrielle Basis, es bildeten sich schon bald ein Syndikat der Filmschaffenden und die Produktion lief spätestens nach 1923 an. 1924 wurden bereits 41 Spielfilme gedreht und besondere Leistungen stachen heraus.

Sergei Michailowitsch Eisenstein drehte seinen ersten Film "Streik", dem 1926 der heute wohl bekannteste Film der Sowjetunion folgte: "Panzerkreuzer Potemkin. Die Produktion "Die Mutter" von Wsewolod Illarionowitsch Pudowkin war eine weitere Filmperle. Es entstand eine Vielfalt in den Sparten Komödien, Western, Abendteuer und Science-Fiction-Filme, Autorenfilme oder Kassenschläger. Nach 1929 wurden bereits über 140 Spielfilme gedreht und die Zahl der Kinos war auf 24.000 gestiegen.

Am 13. Parteikongress 1924 stand fest: "Der Film ist das stärkste Agitationsmittel für die Massen. Wir müssen es in die Hände nehmen." Nach 1931 veränderte sich aber die Filmindustrie in der Sowjetunion, denn der Tonfilm wurde eingeführt. Mit dem Ende des Stummfilms musste eine neue Filmsprache gefunden werden, die den Sowjetfilm stark inhaltlich und formal verändern würde. FilmkennerInnen meinen noch heute, dass das Niveau der Pionierzeit in den späteren Jahren allgemein nicht mehr erreicht wurde.


Mehr als "nur" Film

Nur die Anfangszeit der Sowjetunion konnte die Bedingungen schaffen, welche die Produktion von "Panzerkreuzer Potemkin" überhaupt zuliessen. Erste Filme in der Pionierzeit waren formalistisch, alles in allem durch ihre einfache Art begrenzt - auch weil viele technische Möglichkeiten fehlten. "Streik" begeisterte vor allem durch die Pracht der experimentellen filmischen Verfahren. Oftmals konnte aber dieses Vorgehen bei anderen Produktionen nicht vollständig begeistern: die RegisseurInnen standen noch nicht fest auf ihren Beinen, so Wsewolod Illarionowitsch Pudowkin (Filmregisseur, Schauspieler und Filmtheoretiker). Das intensive Studium bei der Arbeit ergab Erkenntnisse, dass die Qualität des Films nicht nur von Begabung ihrer MitarbeiterInnen abhing; sondern auch von der ideologischen Vorbildung. Auch die Analyse des im Westen produzierten Films floss mit ein: VertreterInnen des Kapitalismus streuten der Filmwelt eine Handvoll Gold in die Augen und es galt nun das Kino den Händen der SpekulantInnen zu entreissen. Gerissene UnternehmerInnen schaufelten Gewinn, in dem sie Menschen mit rührseligen, minderwertigen Geschichten zum Weinen brachten. Der russische Film hingegen war nicht nur Film, sondern wollte zugleich auch Wahrheit sein: ohne Kitsch, ohne Hermache und ohne viel technische Spielerei.


Jeder für alle

Der Schriftsteller André Gide bestätigte, dass die Sowjetunion kein stärkeres und besseres Propagandamittel hatte als ihre Filme. Intensive, ansteckende Gefühle in den Geschichten und eine kraftvolle überzeugende Arbeit, bei dem alle Involvierten nicht füreinander, sondern miteinander arbeiteten. Jeder für alle, so das Motto. Er ergänzte jedoch, dass Sowjetfilme, die in Frankreich zu sehen sind, in erster Linie Kampffilme waren. Sie alle haben einen tragischen Inhalt, obwohl sie mit dem Sieg enden. Auch waren Filme zugänglich, welche die Arbeit der Menschen mit Maschinen darstellt und den Zeugnissen des industriellen Fortschritts. Am Schluss seines Kommentars ergänzte der Schriftsteller, dass er sich auch nach Zeiten in der Sowjetunion sehnte - jenseits des harten und schmerzlichen Kampfes -, in denen neben dem Aufbruch auch Freude oder Verspieltheit mehr Raum einnehmen können.


LENIN: DAS FILM-DEKRET

Am 27. August 1919 erliess Lenin das Dekret "Über die Zusammenarbeit zwischen der Filmindustrie, Fotounternehmen und dem Kommissariat für Unterrichtsaufklärung und Volksaufklärung":

1. Handel und Industrie fotografischer und kinematografischer Produkte sind auf allen Gebieten der UdSSR gesamthaft dem Volkskommissariat für Unterrichtswesen und Volksaufklärung angegliedert, sowohl in Bezug auf ihre Organisation als auch in Bezug auf Befugnisse und Verteilung der Mittel und des technischen Materials.

2. Zu diesem Zweck ist das Volkskommissariat ermächtigt:
a) alle speziellen fotografischen und kinematografischen Unternehmungen sowie Foto- und Filmindustrie im Ganzen in Übereinstimmung mit dem obersten Rat der Nationalökonomie zu nationalisieren.
b) Fotografische und kinematografische Unternehmungen, Waren, Materialien und Instrumente zu requirieren.
c) Für die Rohstoffe und die Fabrikate dieses Gebietes feste und begrenzte Preise aufzustellen. -
d) Handel und Industrie von Foto und Kinematografie zu kontrollieren.
e) Dem gesamten Handel und der gesamten Industrie foto-kinematografischer Erzeugnisse Verordnungen aufzuerlegen, die sowohl für die Unternehmungen und die Einzelnen als auch für die sowjetischen Anstalten gültig sind, soweit sie foto-kinematografische Gebiete betreffen.

*

Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 35/36 - 73. Jahrgang - 26. Oktober 2017, S. 11
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
und ihre Deutschschweizer Sektionen
Redaktion: vorwärts, Postfach 2469, 8026 Zürich
Telefon: 0041-(0)44/241 66 77,
E-Mail: redaktion@vorwaerts.ch
Internet: www.vorwaerts.ch
 
vorwärts erscheint 14-täglich,
Einzelnummer: Fr. 4.-
Jahresabo: Fr. 160.-, reduziert (AHV, Stud.) 110.-
Probeabo: 4 Ausgaben gratis


veröffentlicht im Schattenblick zum 9. November 2017

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang