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VORWÄRTS/1333: Kommunismus neben Kommerz


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 37/38 vom 9. November 2017

Kommunismus neben Kommerz

von Tarek Idri


Zehn Tage verbrachten junge Kommunistinnen aus der Schweiz in Russland, um an den 19. Weltfestspielen der Jugend und Studierenden teilzunehmen. Das antlimperialistische Festival war von der Regierung in eine Karrieremesse verwandelt worden. Trotzdem trafen sich hier auch linke Jugendgruppen aus der ganzen Welt.


Am 14. Oktober flogen wir nach Moskau. Bei der Ankunft am Flughafen Domodedovo, der gut eine Stunde ausserhalb der Innenstadt von Moskau liegt, trafen wir bei der Passkontrolle auf die vietnamesische Delegation, die uns zahlenmässig weit übertraf. Unsere Delegation aus dem Umfeld der Partei der Arbeit und der Kommunistischen Jugend bestand insgesamt aus genau einem Dutzend Leuten. Die VietnamesInnen hatten alle bereits ihre eigenen Uniformen an, später in Sotschi waren sie damit gut unterscheidbar von den restlichen TeilnehmerInnen in Grellgelb. Am Flughafen gab es einen Stand der Weltfestspiele, wo uns die ersten motivierten "Volunteers" in Empfang nahmen und uns das Taxi zur Unterkunft organisierten. Draussen war es kalt, kälter als in der Schweiz, allerdings lagen die Temperaturen noch oberhalb des Gefrierpunkts. Im grossen Taxi, in dem wir alle Platz fanden, wurden sozialistische Lieder angestimmt, während draussen im Dunkeln die gigantischen Wohnblocks von Moskau aus der Sowjetzeit vorbeizogen. "So löst man das Wohnungsproblem", merkte jemand an.

Wir fuhren in den Westen des inneren Moskaus zu einem gepflegten Apartment in einem weniger gepflegten Gebäude, wo der Grossteil der Delegation die zwei Nächte in Moskau verbringen würde. In der Nähe befand sich ein Einkaufszentrum. Der Prunk, die internationalen Luxusmarken, die kapitalistische Einöde machten hier noch einmal deutlich, dass der Sozialismus aus Russland verschwunden war. Wir fanden einen Laden, wo wir Vorräte kauften und erste Erfahrungen mit der russischen Währung machten.


Auf dem Roten Platz

Am Sonntagmorgen versammelte sich unsere Gruppe vor dem Lenin-Mausoleum auf dem Roten Platz. Es befindet sich an der Kremlmauer, an der eine Vielzahl von sozialistischen Persönlichkeiten begraben liegt, darunter Clara Zetkin, John Reed und auch Stalin. Bevor wir ihnen unseren Respekt zollten, mussten wir aber ein drängendes Problem lösen: Viele von uns hatten noch keine Rubel dabei. Wir machten uns deshalb auf die Suche nach einer Wechselstube. Dabei machten wir die Entdeckung, dass direkt am Roten Platz auch ein Geschäft von Louis Vuitton stand. Ein Sakrileg! Später reihten wir uns in die schier endlose Schlange vor der Nekropole an der Kremlmauer ein. An den Denkmälern und Grabplatten standen Namen auf Namen, die meisten für uns nicht identifizierbar, da nur auf Kyrillisch. Schliesslich das Mausoleum: Lenin lag klein und unecht als Ausstellungsstück in seinem gläsernen Sarg. "Kleiner als gedacht" und "entwürdigend" wurde in unserer Gruppe gemurmelt. Zum Ende noch die Büsten der Staatsoberhäupter der Sowjetunion. Sich grinsend mit erhobener Faust neben der Stalin-Büste ablichten zu lassen, war dabei ein beliebtes Fotosujet.

Mit der berühmten Moskauer Metro ging's weiter Richtung Neue Tretjakow-Galerie, wo wir sowjetische Kunst bewundern konnten: Uns beeindruckte die abstrakte, kubistische Malerei der Avantgarde. Strenger die Bilder des Sozialistischen Realismus; ein Höhepunkt dabei war der übergrosse "Lenin im Smolny" von Isaac Brodski. Gleich bei der Galerie befindet sich der Skulpturenpark, auf dem die ausrangierten Statuen und Denkmäler der Sowjetzeit ihre Rente fristen. Später, als wir noch das Zentralmuseum der russischen Streitkräfte besuchen wollten, mussten wir feststellen, dass es gerade geschlossen wurde. Pech gehabt! Ein paar Leute aus der Gruppe kletterten aber noch am Panzer vor dem Museum herum und zumindest konnten wir einige Militärgeräte der Roten Armee, die im Hinterhof des Museums ausgestellt waren, aus der Ferne betrachten. Den Abend liessen wir in einem echt sowjetischen Restaurant, in dem niemand ein Wort Englisch sprach, bei Borschtsch und Schaschlik ausklingen.


Endlich: Weltfestspiele

Am nächsten Tag ging es weiter nach Sotschi. Endlich würden auch für uns die Weltfestspiele beginnen. Bei der Landung wurden wir ziemlich durchgeschüttelt, da ein starker (und kalter) Wind blies, der einige Tage anhielt. Sotschi hat eigentlich ein subtropisches Klima, das Palmen und viele mediterrane Pflanzen wachsen lässt; durch den Wind war davon nichts zu spüren. Wir kamen in Sotschi an, als das Festival bereits am Laufen war. Der Startschuss für die 19. Weltfestspiele war bereits am Samstag in Moskau, vor unserer Ankunft in Russland, mit einer bunten Karnevalparade gegeben worden. Die offizielle Show zur Eröffnung des Festivals hatte am Sonntag im Olympiastadion stattgefunden. Das Gastgeberland hatte sich dabei mit einer farbenprächtigen Show präsentiert. In seiner Ansprache hob der Präsident des Weltbundes der Demokratischen Jugend (WBDJ), Nicolas Papademitriou, die Bedeutung des diesjährigen Festivals hervor. Es finde statt in dem Land, dessen Menschen mit der Oktoberrevolution "vor 100 Jahren die Geschichte der Welt verändert und im Zweiten Weltkrieg den Faschismus besiegt" hätten. Nachfolgend eröffnete der russische Präsident Wladimir Putin dann offiziell das Festival und rief die Jugend dazu auf, die Welt zum Besseren zu verändern. Politisch blieb er zurückhaltend. Schon hier hatte sich gezeigt, dass, wie die Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend (SDAJ) treffend bemerkte, in Sotschi zwei Festivals stattfinden würde. Ein internationales Treffen für die kommunistischen und antiimperialistischen Jugendorganisationen und ein kommerzielles Festival für den übergrossen Rest der TeilnehmerInnen. Diese waren auch die Zielgruppe der Eröffnungsfeier und des von staatsnahen Unternehmen wie der Sberbank gesponserten Programms.


"Participants" und "Volunteers"

Aber auch unsere Delegation kam in den Genuss gewisser Annehmlichkeiten, die Russland den Gästen in Sotschi unter Aufwendung vieler Ressourcen bereitstellte. Vom Adler-Flughafen wurden wir mit einem Shuttle-Bus zu unserer Unterkunft im riesigen Hotelkomplex Barkhatnyye Sezony direkt an der Küste des Schwarzen Meers gebracht. Dass der Komplex für die Olympischen Winterspiele 2014 aufgebaut wurde, liess sich an der Bauqualität erahnen. Vieles sah jetzt noch unfertig aus und wird es wohl bleiben. Aber darüber wollen wir uns nicht beschweren, schliesslich waren wir hier kostenlos untergebracht. Uns standen kleine Apartments zur Verfügung mit eigener Küche, die wir zu dritt oder zu viert belegten. Alle Schweizer Teilnehmenden, mehrheitlich unpolitische StudentInnen, aus Karrieregründen anwesend, waren in einem Gebäude untergebracht. Uns wurde eine Freiwillige zugeteilt, die uns am ersten Tag bis in den Olympischen Park, wo das Festival vonstatten ging, begleitete.

Vom Hotel aus fuhren regelmässig Busse zum Olympischen Park. Nach dem Check-In im Hotel ging es direkt raus zum Festival. Die Dimensionen waren beeindruckend. Nun wurde uns auch endlich bewusst, wie viele Menschen an den Weltfestspielen teilnahmen.

Die Uniformen wurden mehrheitlich in einem kreischenden Gelb kombiniert mit Lila gehalten. Insgesamt waren sie schön unförmig und neutral, damit alle, unabhängig von Geschlecht und Religion, etwas damit anfangen konnten. Die Masse teilte sich auf in die gelben "Participants" und die blau gekleideten "Volunteers", die an jeder Ecke und überall lächelnd herumstanden und versuchten, die TeilnehmerInnen zu animieren. Von den Freiwilligen gab es vermutlich fast so viele, wie es Teilnehmende gab.


Die "Rote Zone"

Der zentrale Treffpunkt für die politisch interessierten FestivalteilnehmerInnen war die "Rote Zone" im ersten Stockwerk des Medienzentrums, eines der vier für die Olympischen Winterspiele erbauten Gebäude. Dutzende Veranstaltungen fanden während dem Festival dort statt. Die Themen reichten von "Prekarisierung und Arbeitslosigkeit der Jugend und wie diese bekämpft werden können" über "Solidarität mit der Kubanischen Revolution und der Widerstand gegen die Wirtschaftsblockade" bis hin zu "Die Rolle der Sowjetunion bei der Bekämpfung des Nazifaschismus. Bei dieser Diskussion waren sich die ZuhörerInnen und RednerInnen einig, dass der sozialistische Staat zum einen Hauptziel der deutschen Aggression, zum anderen aber auch massgebliche Kraft bei der Zerschlagung des Hitler-Faschismus war. Doch die Geschichte werde umgeschrieben und die historische Bedeutung der Sowjetunion in bürgerlichen Ländern revidiert. Dazu werde diese im Sinne der Totalitarismustheorie auf eine Stufe mit Nazideutschland gestellt. Hauptmotiv dafür sei Antikommunismus, denn der erste Staat unter Kontrolle der arbeitenden Klasse solle gerade wegen seines anderen Charakters aus den Geschichtsbüchern getilgt werden. Widerspruch dagegen sei nötig, unterstrich ein Mitglied des russischen Komsomol aus Nowosibirsk, der sich zu Wort meldete. Der Kampf um die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg sei auch darum weltweit eine wichtige Aufgabe der Jugend.


Kritik am Festival

Das Festival gab selber auch Anlass zu Diskussionen unter den JungkommunistInnen und AntiimperialistInnen. Alexander Batow, Mitglied des Revolutionären Komsomol aus Russland, erklärte: "Es wird zwar damit geworben, dass das Festival vom WBDJ ausgerichtet wird, doch tatsächlich ist diese Veranstaltung prorussisch, proimperialistisch und ganz im Sinne der russischen Regierung. Man versucht, dem einen progressiven Anschein zu geben, doch alles hier wird von der russischen Regierung und ihren FunktionärInnen kontrolliert." Der Unmut über das Festival als Ganzes war auch in unserer Gruppe zu spüren (siehe "In den Händen des Klassenfeindes" auf Seite 9). Zu Recht, neben der Kommerzialisierung und Militarisierung waren die politischen AktivistInnen auch Schikanen durch die Behörden ausgesetzt. Bei der Kontrolle am Eingang wurden persönliche Gegenstände, aber auch harmloses Propagandamaterial konfisziert. Österreichische GenossInnen wurden auf dem Festivalgelände festgehalten, ihre Pässe wurden fotografiert und an unbekannte Stellen weitergeleitet. Grund seien Sticker und Flugblätter der KJ Österreichs gewesen, auf denen eine Umverteilung des Reichtums gefordert wurde. Auch unsere Delegation war von Konfiskationen betroffen.


Schikane und Reaktionäre

Der schlimmste Vorfall stiess einem Mitglied der Kommunistischen Jugend Serbiens zu. Als er am Flughafen eintraf, wurde er von russischen Beamten abgefangen. Sie zwangen ihn, ein Papier zu unterzeichnen, mit dem er bekundete, Russland gar nicht besuchen zu wollen. Danach drängten sie ihn gewaltsam in eine Maschine nach Belgrad. Ein weiterer Fall war die Delegation der Sahrauis aus Algerien. Das Flugzeug, mit dem sie anreiste, erhielt keine Landeerlaubnis. Also musste es über Sotschi abdrehen und nach Algerien zurückkehren. Die Schikanen begannen teils schon mit der Anmeldung zum Festival. Der russische Revolutionäre Komsomol konnte nur 15 Delegierte nach Sotschi schicken. Zwei Wochen vor Beginn der Festspiele wurde ein Grossteil der Interessierten von der Teilnahme ausgeschlossen, in den meisten Fällen grundlos. Es werden politische Motive vermutet. Von der deutschen SDAJ hatten sich 30 Leute angemeldet, am Schluss konnten 13 kommen.

Der WBDJ kritisierte neben den Schikanen auch, dass "reaktionäre Elemente" durch die Anmeldung übers Internet an den Weltfestspielen teilnehmen konnten. Bestätigt war die Anwesenheit von Mitgliedern der israelischen Likud-Partei, der türkischen AKP und Vatan Partisi, der österreichischen FPÖ, Einzelpersonen der "Identitären Bewegung". Der ehemalige Aussenminister im Kabinett von Berlusconi durfte über "Gesellschaft und Weltpolitik" diskutieren. Der russische Faschist Wladimir Schirinowski konnte eine Hetzrede halten, bis er von GenossInnen aus Lateinamerika aus dem Saal vertrieben wurde.


Protest organisiert

Mitte der Woche fand ein erster Höhepunkt für unsere Gruppe statt. 36 kommunistische Jugendgruppen organisierten zusammen eine Veranstaltung, an der die Oktoberrevolution vor hundert Jahren geehrt wurde. Jeannot Leisi, der für die Kommunistische Jugend Schweiz sprach, nutzte die Gelegenheit, um zu einer Demo am Freitag aufzurufen. Mit den GenossInnen des Norwegischen Kommunistischen Jugendverbands planten wir einen Protest, der die Entwicklung der Weltfestspiele zu einem Event anprangerte, der von KapitalistInnen und UnterdrückerInnen angeführt wird. "Zum ersten Mal sponsern grosse Banken Bildungsveranstaltungen; organisieren Rüstungskonzerne und multinationale Unternehmen Veranstaltungen, um die Jugend von morgen in die Irre zu führen; nehmen faschistische Organisationen offen an den Weltfestspielen teil und verbreiten ihre gefährliche Ideologie", heisst es im Flugblatt, das am Freitag auf der Demo durch das Medienzentrum verteilt wurde. In den Tagen davor hatten einige Mitglieder unserer Delegation unermüdlich alle Stände der politischen Organisationen abgeklappert, um sie für die Demo zu mobilisieren. Letztlich konnten wir Leute von der türkischen StudentInnenorganisation DÖB, dem Revolutionären Komsomol sowie Gruppen aus Indien, Bangladesch und Venezuela zum Mitmachen animieren und zogen mit etwa 50 Leuten durch das Medienzentrum. Am Samstag flogen wir mit gemischten Gefühlen ab und blieben für eine Nacht in St. Petersburg. Während unserem kurzen Aufenthalt sahen wir den Winterpalast, schlenderten durch den Newski-Prospekt und standen vor dem Panzerkreuzer Aurora, der sich bis heute am Ufer der Newa befindet. Auf dem Weg zum Flughafen fanden wir noch eine riesige Statue von Lenin, was unserer Reise einen würdigen Abschluss verlieh. Alles in Allem wird unser Abenteuer in Russland für uns unvergesslich bleiben.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 37/38 - 73. Jahrgang - 9. November 2017, S. 8-9
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
und ihre Deutschschweizer Sektionen
Redaktion: vorwärts, Postfach 2469, 8026 Zürich
Telefon: 0041-(0)44/241 66 77,
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Internet: www.vorwaerts.ch
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. November 2017

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