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VORWÄRTS/1343: Das Schweigen brechen


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 41/42 vom 7. Dezember 2017

Das Schweigen brechen

von Sabine Hunziker


Dank dem Hashtag #metoo ist in kurzer Zeit eine Protestbewegung gegen sexuelle Übergriffe entstanden. Gewalt an Frauen betrifft nicht nur Hollywood und Weinstein, sondern ist auch in der Schweiz ein Problem und für viele Frauen bitterer Alltag.


Eine Sekunde lang zögerte Laurie Penny, als sie am 26. Oktober 2017 im Frauenraum zum Reitschuljubiläum zusammen mit dem Publikum über die aktuelle Lage des Feminismus debattierte. Eine männliche Person aus der Masse hatte die Frage gestellt: "Was hältst du davon, dass zig UserInnen im Internet den 'Gefällt-mir'-Button drücken, wenn ein neuer Beitrag mit Berichten über Geschehnisse auf #metoo erscheint?" Nach einer genervten Schnappatmung wechselte Penny kurz angebunden nach einigen wenigen Sätzen das Thema - allerdings nicht ohne den Hinweis zu machen: Der Kampf für Rechte kann und darf überall und in vielen Formen passieren. Ansonsten: No comment. Laurie Penny verliert hier mit dem "Mann als sozialem Phänomen" langsam die Geduld.


Ausmass des Problems

Der Hashtag #metoo (auch ich) ist in aller Munde, jedeR redet mit und das ist auch gut so! Warum? 2006 wurde der #Me-too-Hashtag von der Aktivistin Tarana Burke auf der Plattform MySpace als Teil der Grassroots-Kampagne um Ermächtigung durch Empathie unter afroamerikanischen Frauen, die von sexuellen Übergriffen betroffen sind, gegründet. Burke verwendete den Titel "me too" nach der Begegnung mit einem 13-jährigen Mädchen, das bereits zu diesem Zeitpunkt Erfahrungen mit Missbrauch gemacht hatte. Im Oktober 2017 rief die Schauspielerin Alyssa Milano nach einem Vorfall Frauen zur Nutzung des Hashtags me-too als Bewusstseinskampagne auf, um so auf die Allgegenwärtigkeit des Problems aufmerksam zu machen: "Wenn alle Frauen, die sexuell misshandelt oder missbraucht wurden, 'me too' als Status schreiben würden, könnten wir den Leuten eine Einsicht in das Ausmass des Problems geben." Als am 15. Oktober Milano den ersten Tweet mit dem Hashtag machte, wurde dieser mehr als 200.000 Mal auf Twitter verwendet - am Folgetag waren es bereits über eine halbe Million. Auf Facebook verwendeten innerhalb der ersten 24 Stunden 4,7 Millionen BenutzerInnen diesen Hashtag. Mehr als zehntausend Personen antworteten auf den Ursprungstweet, darunter Promis wie: Patricia Arquette, Björk, Lady Gaga, Monica Lewinsky, Evan Rachel Wood oder Reese Witherspoon. Auch Männer zogen nach. Schauspieler wie Terry Crews und James Van Der Beek schilderten eigene Erfahrungen mit Belästigung. Der Hashtag #HowIWillChange (Wie ich mich ändern werde) entstand, wo Personen ihr missbräuchliches Verhalten gegenüber Frauen bestätigen, bereuen und Änderung versprachen.


Harvey Weinstein ist überall

Plötzlich brechen überall Diskussionen auf rund um sexuelle Belästigung, Vergewaltigung und Missbrauch in der Musikindustrie, in der Wissenschaft und in der Politik - an Orten wo man Übergriffe kaum erwartet hat. Mehrere Politikerinnen, darunter die US-Senatorinnen Heidi Heitkamp, Mazie Hirono, Claire McCaskill und Elizabeth Warren, berichten über ihre Erfahrungen. Skandalerschüttert ist neu auch die Nobelpreis-Akademie: Ein hochrangiger Kulturfunktionär soll über Jahre Frauen an der Schwedischen Akademie belästigt haben. Die Zahl der betroffenen Personen steigt täglich - das wahre Ausmass ist aber wohl noch nicht ersichtlich. Es scheint nur die Spitze des Eisberges offengelegt worden zu sein. Auch Geschichten über Menschen, von denen Belästigung und Übergriffe ausgingen, mehren sich: Der berühmteste Fall ist wohl der US-amerikanische Filmproduzent Harvey Weinstein, der von Dutzenden Frauen der sexuellen Belästigung, der sexuellen Nötigung oder der Vergewaltigung beschuldigt wird. Hier wurde die schon oben beschriebene und betroffene Schauspielerin Alyssa Milano aktiv. Harvey Weinstein ist überall - es gibt seither pausenlos Erzählungen von Frauen, die von anzüglichen Bemerkungen in der Schule, an der Universität, im Beruf, auf der Strasse berichten; von Grabschern auf der Tanzfläche und der Angst allein auf dem Nachhauseweg im Dunkeln, von Männern, die sie gegen ihren Willen berührten, verbal erniedrigten, ihre physische Stärke oder hierarchische Autorität ausnutzten. Betroffene tauschen sich aus, sprechen sich Mut zu und die Allgemeinheit ist einfach nur eines: schockiert über das Ausmass, die Zahl der Fälle und Art und Weise der Übergriffe.


Nachhaltigkeit ist unklar

Das war der Beginn von #metoo im Netz - es hat sich in kurzer Zeit zu einer Massenbewegung entwickelt und ist nun sogar real auf der Strasse anzutreffen: Ende Oktober gingen in Paris Tausende DemonstrantInnen auf die Strasse, um gegen sexuelle Übergriffe zu protestieren. Nicht nur in Frankreich, heute wird #metoo in mindestens 85 Nationen genutzt. In nicht englischsprachigen Staaten sind alternative Varianten des Hashtags gängig.

Durch solche Resonanz wird die Allgemeinheit gezwungen zu handeln. Reagiert haben Behörden oder Firmen bereits teilweise und entliessen Personen oder erstellten Massnahmepläne, wo sich Betroffene in Zukunft Hilfe holen können. Missbrauch und sexuelle Gewalt wird Tagesthema: Bei der Wahl zur Miss Peru sprachen die Favoritinnen nicht über ihre Masse, sondern über Morde und Sexismus. Über die Nachhaltigkeit dieser schnellen Reaktionen auf #metoo dürfen wir gespannt sein - wichtig ist aber vor allem das Sichtbarmachen des Problems: "Wenn eine Betroffene nach Verjährungsfrist Namen nennt: Dann wirft man ihr vor, ein Leben und eine Familie zu zerstören (und wo sind die Beweise?). Wenn sie keine Namen nennt: Dann glaubt man ihr nicht. Fazit: Wer spricht, wird jedenfalls angegriffen. Kein schönes Signal." Kritische Stimmen machen sich breit, natürlich vor allem von Seiten der VertreterInnen des Patriarchats. Nachrichten wie "Frauen, die sich auf traditionelle Art nach oben geschlafen haben, definieren das 20 Jahre später als Vergewaltigung. (#metoo)" oder "Linke Sexismusdebatte und #metoo nerven! Wir sollten eher über zunehmende sexuelle Übergriffe durch Asylbewerber reden. #AfD (#metoo)" zeugen davon. Plötzlich wollen alle mitsprechen - die Jagd nach der Story beginnt. Ihre Übergriffe oder Erfahrungen erzählend, sind Frauen auch im Netz nicht geschützt vor ChauvinistInnen: "Frauen, die mich als frigide und asexuell bezeichnen, da ich im Rahmen der Me-too-Debatte dafür plädiere, dass man sich einfach im Zweifelsfall gegenseitig fragt, ob ein Kuss okay ist. Ich bin so müde." Linke kritisieren, dass auf sozialen Medien keine ernsthafte Debatte möglich ist, das Thema und die Kraft der sich dahinter befindenden Bewegung bald besetzt und verfremdet wird. Einzelne Opfer haben sich in einem globalen Chor vereint, der im Moment zwar an Kraft gewinnt, aber dann wieder verpuffen wird und Betroffene alleine lässt: #metoo als vulgär-therapeutischer Reflex, der auf 140 Zeichen verfasst ist und Schikanierungen und Traumatas teilt. Sogar Tarana Burke ist etwas kritisch eingestellt: ursprünglich waren Übergriffe auf People of Color (Nicht-Weisse) Thema der Kampagne und nun stehen weisse (Elite-)Frauen aus Hollywood im Zentrum. Burke unterstützt die Bewegung dennoch.


In unserer Kultur?

Im Film "Baise moi" von Virginie Despentes ist die Hauptperson Opfer einer Vergewaltigung. Der Film wurde später mit der Kategorie "X" freigegeben, was einem faktischen Verbot gleichkam - solche Filme durften noch in den wenigen vorhandenen "Spezialkinos" für Pornos gezeigt werden. Warum? Die betroffene junge Frau wird von Männern vergewaltigt und dies ist Auftakt zu einer blutigen Reaktion gegen alles und jeden. Ihr Bruder schimpft vorher noch, dass sie an der Vergewaltigung selbst schuld sei. Die junge Frau versucht, möglichst jede Erinnerung an die erlittene Vergewaltigung innerlich zu verschütten.

Nach der Veröffentlichung des Romans lernte Despentes immer wieder Frauen kennen, die ihr persönlich erzählten, dass sie vergewaltigt geworden sind. Das geschah so häufig, dass sich die Autorin daran zu stören begann und langsam glaubte, dass die Frauen sie vielleicht anlogen. "Das liegt in unserer Kultur, seit der Bibel und seit der Geschichte von Joseph in Ägypten wird die Aussage einer Frau, durch die ein Mann der Vergewaltigung bezichtigt wird, nur bedingt für bare Münze genommen." Endlich gestand sich Virginie Despentes ein: Es passiert andauernd. Früher hat man geraten: Behalte es für dich, du bist selber schuld. Es ist besser für dich, sonst findest du niemals wieder einen Mann. Heute hört man vielleicht die Aussage: Ich bin vergewaltigt worden oder ich habe sexuellen Missbrauch erfahren und so und so ist es passiert. Was man jedoch auch heute niemals hören wird, ist: Ich habe Frau Soundso vergewaltigt, es ereignete sich an diesem Tag und so waren die Umstände. Das Wort "Vergewaltigung" in den Mund zu nehmen fiel auch Virginie Despentes anfangs nicht leicht, die als Jugendliche selber vergewaltigt wurde. Die wenigen Male, als sie sich dieses Monstrum von der Seele reden wollte, umging sie das Wort mit "angegriffen, "eingekesselt" oder "hatte Riesenstunk". Man verschweigt das Wort lieber wegen den Dingen, die sich dahinter verbergen - im Lager der Opfer wie auch im Lager der Angreifer. Beidseitiges Schweigen im gegenseitigen Einverständnis - so heisst das. Nun ist das Schweigen gebrochen. Weiterer Effekt dieser neuen Aussprache ist: Die Berichte zeigen, dass viele Frauen (und Männer) eine Me-too-Liste mit sich herumtragen.


Eine Menschenrechtsverletzung

Schluss mit Einverständnis: Frauen und Männer sprechen über ihre Erfahrungen. Laurie Penny meinte noch: "Es tut sicher weh, Sexist genannt zu werden." Ja, das tut es - und wohl noch mehr, wenn man mit dem Begriff Vergewaltiger bezeichnet wird. Das gegenseitige Einverständnis bröckelt immer mehr und man kann von #metoo keine unmögliche Revolution erwarten, bloss den Bruch dieses Schweigens, der in Etappen passiert und noch weiter gehen wird. Sicher ist, dass die betreffenden Frauen keine Therapie suchen im Netz, sondern einfach nicht mehr bereit sind, die Wörter zu umgehen und endlich Verstecktes offen legen. Aufspringen auf #metoo tun Organisationen und Gruppen, die schon immer zum Thema gearbeitet haben und nun durch die Sensibilisierung durch die Medien wieder das Interesse vieler an ihrer Arbeit und den Angeboten erfahren. Gerade am 25. November, am internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen, haben bekannte NGOs neue Kampagnen auf #metoo abgestimmt. Darunter ist #sprechenwirdarüber. Schweizer Menschenrechtsorganisationen, Fachstellen, Selbstverteidigungsvereine und weitere Organisationen organisierten während sechzehn Tagen vielfältige Aktionen gegen Gewalt an Frauen. Gewalt an Frauen betrifft nicht nur Hollywood und Weinstein, sondern ist auch in der Schweiz ein Problem und für viele Frauen bitterer Alltag - so ein Hinweis der Kampagne. Nicht allen Menschen ist bewusst, dass Gewalt an Frauen eine Menschenrechtsverletzung ist.

Laurie Penny, im Frauenraum Bern. So voll ist der Raum, dass die Gewissheit aufkommt, dass feministische Kämpfe Zukunft haben. Die Autorin selbst, die auf einem Sofa auf der Bühne über dem Menschenmeer vor ihr sitzt, wird später bei einem Interview meinen, dass es noch nicht klar ist, was genau die Kampagne rund um #metoo wirklich bewirken kann. Wir sind an einem zu frühen Punkt der Debatte.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 41/40 - 73. Jahrgang - 7. Dezember 2017, S. 9
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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vorwärts erscheint 14-täglich,
Einzelnummer: Fr. 4.-
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Probeabo: 4 Ausgaben gratis


veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Dezember 2017

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