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VORWÄRTS/1355: Frei ist, wer seine Freiheit braucht


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 03/04 vom 1. Februar 2018

Frei ist, wer seine Freiheit braucht

von Sabine Hunziker


Fast pünktlich zum Jubiläum des Landesstreiks von 1918 erscheint ein Buch zur jüngsten Geschichte des Streiks in der Schweiz. "Streik im 21. Jahrhundert" listet Arbeitskämpfe im neuen Jahrhundert auf. Es erklärt den Arbeitskampf und fordert dazu auf, für seine Rechte zu streiken.


Es gab Streiks in allen Branchen. Die Präsidentin der Gewerkschaft Unia, Vania Alleva, und Unia-Gewerkschaftssekretär Andreas Rieger haben eine Sammlung von Beiträgen über Streiks bei Spar, Zeba Zentralwäscherei und bei der Primula AG, der privaten Spitex, herausgegeben. Mit dieser Darstellung wird dem helvetischen Mythos vom Arbeitsfrieden - oft von sogenannten ArbeitgeberInnen gestützt - klar widersprochen.


Durch Verfassung geschützt

Leider sind die VerfasserInnen der Textsammlung nicht auch die Streikenden selbst, sondern HistorikerInnen, JournalistInnen oder GewerkschafterInnen. Zwar werden Betroffene zitiert, doch das Herausgeberteam hat eine wertvolle Chance vergeben und die Perspektive der Basis vernachlässigt. Umso spannender ist der Analyseteil am Schluss des Buches mit Interviews und dem Einbezug europäischer Kämpfe mit Ausblick in die nähere Zukunft. Solide Dokumentationsarbeit der Vergangenheit und informative Zusammenfassungen zur schweizerischen Streiksituation zeichnen "Streik im 21. Jahrhundert" aus - auch weil das Thema nicht oft aufgenommen wird.

Nach einer Periode mit eher wenig Streiks haben Arbeitskämpfe heute wieder zugenommen. Im Jahr 2000 wurde das Streikrecht in der Bundesverfassung verankert und damit die Legitimität des Arbeitskampfes gestärkt. Besser so, denn die sogenannten Sozialpartnerschaften sind perfider denn je geworden. Streiks werden im 21. Jahrhundert wieder wichtiger, weil die Zahl der KapitalistInnen wächst, die gar nicht bereit sind, an den Verhandlungstisch zu kommen und sich überhaupt mit den Anliegen der Streikenden auseinanderzusetzen. Noch immer gibt es Branchen, die mit keinem GAV geschützt sind. Dass es überhaupt zu einem Streik kommt, entscheidet die "subjektive" Perspektive der ArbeiterInnen. Entlassungen, Lohnkürzungen und Verschlechterung der Arbeitsbedingungen müssen erst als "nicht weiter tragbar" wahrgenommen werden. Ein Kollektiv soll sich finden, um in einen kämpferischen Prozess zu kommen. Gut ist auch die Unterstützung durch eine Gewerkschaft mit ihrer Infrastruktur und ihrem Know-how.

Aufgerüstet haben die KapitalistInnen in letzter Zeit und drohen mit Hausfriedensbruch oder Nötigung, denn sie versuchen wie schon seit eh und je, Arbeitskämpfe zu kriminalisieren. Es gibt Unternehmen, die mit ihren AnwältInnen Belegschaft und Gewerkschaften einschüchtern. Ein Beispiel ist das Verbot von Zutritt zu Baustellen und Betrieben für Gewerkschaften. Schwierig, dieser Macht als Einheit entgegenzutreten, da der sogenannte Arbeitsmarkt sehr fragmentiert ist. Die Arbeiterschaft hat unterschiedliche Hintergründe und soll sich doch für den Streik formieren.


Wissen und Erfahrung verloren

Gefahr droht auch dadurch, dass das Kräfteverhältnis sich drastisch zugunsten der KapitalistInnen verschoben hat, und der Bewegung geht das historisch gewachsene Streikwissen immer mehr verloren. Streikerfahrungen müssen also wieder aktualisiert werden, weil ArbeiterInnen der letzten Generationen kaum starke kollektive Erfahrungen gemacht haben und so die Kraft des kollektiven Handelns kaum kennen. Zwar gibt es ab und zu Reaktionen gegen Ungerechtigkeit und Ungleichheit in der Arbeitswelt, doch passieren diese oft auf individueller Ebene. Trotzdem kann es passieren, dass kleine und defensive Streiks ohne die Beihilfe von Gewerkschaften beginnen. Grundsätzlich sollte auch jeder Streik aus basisdemokratischen Prozessen heraus entstehen.

Die Streikversammlung entscheidet, wann ein Streik beginnt oder welche Forderungen gestellt werden. Aus der Sicht von Gewerkschaften müssen demokratisch gefällte Streikentscheide mit einer professionellen Führung umgesetzt werden - das ist der Sinn der Gewerkschaftsorganisation, den kollektiven Handlungswillen effizient zu organisieren und zu unterstützen. Gewerkschaften sind hier in der schwierigen Situation von "folgen und trotzdem führen", steht im Buch. Alle kollektiven Ambitionen und Maximalforderungen werden selten erreicht, oft wird ein Teilerfolg erstritten in Form einiger Arbeitsplätze oder Mittel für den Sozialplan. Grundsätzlich gilt: Mit einem Streik ist mehr zu erreichen, als wenn man nichts getan hätte.


Internationale Mobilisierung

Parallel zur verfassungsmässigen Verankerung des Streikrechts im Jahr 2000 hat sich die Praxis in der Schweiz sehr vielfältig entwickelt. International betrachtet ist die Schweiz streikarm geblieben. Denn nur frei ist, wer seine Freiheit braucht. Streik ist ein Grundrecht der Beschäftigten, ihrer Organisationen und der Gewerkschaften. Wichtig ist, seine Rechte zu kennen. Der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) hat dazu 2006 eine Erklärung verfasst, die im Internet u.a. auf humanrights.ch abrufbar ist. Mit klaren Worten wird hier auf den Punkt gebracht, was spätestens seit dem Generalstreik 1918 klar ist: "Das Streikrecht gehört zu den elementaren Rechten in einer Demokratie: Es beinhaltet nichts anderes als das Recht der Lohnabhängigen, sich nonfalls mit dem Kampfmittel des Streiks kollektiv zur Wehr zu setzen." Der Streik ist dafür verantwortlich, dass KapitalistInnen und ArbeiterInnen sich auf einer ähnlicheren Ebene begegnen können: Einzelnen ArbeitnehmerInnen gegenüber diktiert der Kapitalist die Arbeitsbedingungen. Mit dem Recht, sich in einer Gewerkschaft organisieren zu können, gilt das Streikrecht als eine Art Gegengewicht zur wirtschaftlichen Macht der KapitalistInnen. Laut SGB-Erklärung sollen KapitalistInnen merken, dass sie auf die Arbeitsleistungen der ArbeiterInnen angewiesen sind. Dass dies in der Realität nicht immer der Fall ist, tut nichts zur Sache. Interessant ist das Grundsatzpapier allemal.

Schweizer Streiks sind international eingebettet unter anderem mit transnationalen Rechten, der Sogwirkung anderer Arbeitskämpfe oder der Verschiebung von Kapital. Trotz dieser komplexen Welt ist die Macht der Beschäftigten grösser als ihnen bewusst ist. Ein Streikbuch muss eine Art Handlungsbuch sein - mit der Aufzeichnung, dass vieles möglich ist, und mit der insgeheimen Aufforderung, von seinem Recht Gebrauch zu machen - dies ist hier gelungen.


Vania Alleva, Andreas Rieger (Hrsg.):
Streik im 21. Jahrhundert.
Rotpunktverlag, 2017. 168 Seiten, 25 Franken.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 03/04 - 74. Jahrgang - 1. Februar 2018, S. 6
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
und ihre Deutschschweizer Sektionen
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E-Mail: redaktion@vorwaerts.ch
Internet: www.vorwaerts.ch
 
vorwärts erscheint 14-täglich,
Einzelnummer: Fr. 4.-
Jahresabo: Fr. 160.-, reduziert (AHV, Stud.) 110.-
Probeabo: 4 Ausgaben gratis


veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Februar 2018

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