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VORWÄRTS/1377: Ein Manifest gegen den Umweltkollaps


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 15/16 vom 26. April 2018

Ein Manifest gegen den Umweltkollaps

von Tierrechtsgruppe Zürich


Der schwedische Marxist Andreas Malm führt in seinem neusten Buch "The Progress of this Storm" durch Irrwege der aktuellen postmodernen Theorien zu Natur und Gesellschaft. Im historischen Materialismus sieht er hingegen den letzten Ausweg, um die drohende Klimakatastrophe zu verstehen und ihr endgültig Einhalt zu gebieten.


Der Humanökologe Malm führt uns in seinem 231 Seiten starken Band durch ein Dickicht von Begriffen, Vorstellungen und regelrechten Hirngespinsten. In der Krise einer sich erwärmenden Welt, deren Ursprung im fossilen Kapitalismus liegt, gesellen sich zur globalen Katastrophe ihre ideologischen Reflexe und Verklärungen. Unterschiedliche Strömungen postmoderner Theorien liefern dafür verschiedene Ansätze.


Natur existiert nicht?

Der Konstruktivismus des britischen Geografen Noel Castree lässt keine von Gesellschaft unabhängige Natur zu - es gibt schlicht und ergreifend keine, da sie als Idee und Begriff "komplett gesellschaftlich konstruiert sei". Steven Vogel spinnt den Faden noch weiter und verkündet mit Bezug auf den US-amerikanischen Umweltaktivisten Bill McKibben das Ende der Natur. Wo letzterer die jüngste Entwicklung des Klimawandels im Blick hatte, hat für Vogel die Natur "aufgehört zu existieren, als der erste Mensch in ihr erschienen ist". Dagegen hält Malm, dass durch gesellschaftliche Arbeit die Natur zwar von verschiedener Seite her beeinflusst und auch verändert wird. Das heisst jedoch nicht, dass sie nicht existiert. Sie hat vor uns existiert, tut es jetzt und wird es auch in Zukunft noch. Ohne diese Einsicht sei es nicht möglich, die natürlichen Vorgänge, die mit dem Klimawandel verbunden sind, angemessen verstehen und darauf reagieren zu können.

Der Hybridismus schlägt sich mit solchen Fragen gar nicht erst herum: Es sei unwichtig, ob Natur gesellschaftlich konstruiert oder schon lange inexistent ist, da es unmöglich sei, "Natur und Gesellschaft auseinanderzuhalten, weil sie ein und dasselbe sind". Vordenker dieser Strömung ist unter anderem Bruno Latour, der die Akteur-Netzwerk-Theorie mitbegründet hat. Im Prinzip setze sich die Realität aus Hybriden zusammen, wodurch Ebenen wie Natur und Gesellschaft undurchschaubar miteinander verwebt werden und somit keine klare Differenzierung mehr zulassen. Als fundamentale Erkenntnis folgt daraus: "Vermischt zu sein, heisst identisch zu sein." Hier bemängelt Malm, dass es durch diese Vermischung ebenfalls unmöglich werde, die gesellschaftlichen Verhältnisse und die natürlichen Ursachen, die den Klimawandel anfeuern, zu identifizieren. Der Hybridismus sei "der theoretische Spiegel zum homogenisierenden Bulldozer des Kapitals".


Notwendigkeit der Revolution

Die unterschiedlichen, wissenschaftlichen Ausschweifungen kommentiert Malm mit einer stellenweise gnadenlosen, polemischen Ideologiekritik und kommt zum Schluss: Nur in einer Gesellschaft, die auf Grundlage der rastlosen Akkumulation von Mehrwert jedes noch so kleine Stück Natur in Profit verwandelt, kann die Idee Fuss fassen, die Natur besitze keine von ihr unabhängige Existenz.

Den diversen, idealistischen Ansätzen und ihren Spielarten stellt Malm den "sozialistischen Klimarealismus" entgegen. Darin vereint er Grundsätze des historischen Materialismus und naturwissenschaftliche Grundlagen der Klimaforschung mit der Einsicht in die Notwendigkeit eines revolutionären Umbruchs, um den Klimawandel aufzuhalten. Natur und Gesellschaft, ihre Unterschiede und die historisch bestimmten Verhältnisse, die Menschen zur Natur einnehmen, kehren zurück auf die Bühne. Nur mit dieser Theorie gerüstet kann der Klimawandel effektiv bekämpft werden. Schuld an der Naturzerstörung haben nicht falsche Ideen, sondern die herrschende Klasse, die Chefetagen der Öl- und Kohlekonzerne und ihre politisch-strategischen VollstreckerInnen in Justiz und Kultur.


Unumkehrbares Elend

Nach neusten Ergebnissen aus der Klimaforschung wird es von Tag zu Tag wahrscheinlicher, dass auch sofortige, drastische Eingriffe in die globalen, klimaschädlichen Handlungen der Energiekonzerne gewisse Entwicklungen nicht mehr werden verhindern können. Dazu gehören: Anstieg von Meeresspiegel und Höchsttemperaturen, Wassermangel, zunehmendes Aussterben von Spezies und endgültiges Verschwinden vieler Gletscher. Erste Opfer davon werden nicht die dafür Verantwortlichen sein, sondern die unterdrückten Klassen in der Peripherie des kapitalistischen Systems. Ebenso drastisch ist die Auswirkung auf Tiere, die bereits von geringen Veränderungen ihrer Umgebung unmittelbar eingeschränkt werden. Malm erkennt erfreulicherweise auch diesen Aspekt mit historisch-materialistischer Genauigkeit: "Die Bären, Vögel, Nagetiere und Schmetterlinge wären Teil der Glücklichsten auf dieser Welt, wenn die reichsten acht Personen morgen enteignet würden." Auch die Tiere warten auf die Befreiung von Profitmaximierung und Klassenherrschaft - insbesondere, möchte man hinzufügen, da die gesellschaftlichen Verhältnisse für sie doch bisher nur Vertreibung, Gefangenschaft und Abschlachterei in den Schlachthöfen bedeuteten.


Ein Schritt zurück, zwei Schritte vorwärts

Das Buch schliesst mit einem Ausblick auf notwendige, praktische Ziele einer ökosozialistischen, revolutionären Bewegung. In Anbetracht der bereits verpassten Stabilisierung der atmosphärischen CO2-Konzentration auf 350 ppm (der aktuelle Wert liegt bei ungefähr 410 ppm) komme zur Begrenzung des Klimawandels nur Folgendes in Frage: keine weitere Extraktion von fossilen Brennstoffen und somit keine weiteren Emissionen. Damit einhergehen müsse die komplette Entkarbonisierung - also Umstellung in Richtung eines niedrigeren Umsatzes von Kohlenstoff - der globalen Wirtschaft. So könne man in diesem Fall vom Fortschritt für die Menschen, die Tiere und das globale Klimasystem gegen den kapitalistischen Fortschritt sprechen; der Fortschritt nimmt unter den aktuellen Umständen die Gestalt verschiedener Formen des Zurückgehens an. Zurück zu nicht-fossilen Energieträgern, zurück zu tieferen Konzentrationen von CO2.

Der Weg dahin führt notwendigerweise zur frontalen Auseinandersetzung mit den Interessen der Gas-, Kohle- und Ölkonzerne. Die dafür nötige politische Praxis benötige Malm zufolge eine theoretische Grundlage (den sozialistischen Klimarealismus), eine hohe Militanz und das Moment der Panik. Entgegen den Stimmen von gewissen Linken, dass progressive Politik nicht apokalyptisch und auf die Katastrophe fixiert sein darf, plädiert Malm für das Gegenteil. Schaue man sich die aktuellen Fakten aus der Klimaforschung an, so sei Panik angebracht. Es gilt aber, nicht in der Panik zu verharren. Seid panisch, erkennt die Dringlichkeit - dann entscheidet euch für eine der zwei Optionen: Entweder wir entschliessen uns zum Klassenkampf gegen die kapitalistische Naturzerstörung oder wir lehnen uns zurück und schauen zu, wie alles den Bach runtergeht.


ANDREAS MALM: THE PROGRESS OF THIS STORM. VERSO BOOKS, LONDON 2018. 19,50 FRANKEN.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 15/16/2018 - 74. Jahrgang - 26. April 2018, S. 15
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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Internet: www.vorwaerts.ch
 
vorwärts erscheint 14-täglich,
Einzelnummer: Fr. 4.-
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Probeabo: 4 Ausgaben gratis


veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Mai 2018

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