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VORWÄRTS/1384: Noch unterwegs - die MEGA


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 19/20 vom 31. Mai 2018

Noch unterwegs: die MEGA

Von Georg Fülberth


Für das Studium der Lehren von Marx und Engels ist die MEGA unabdingbar. Die Marx-Engels-Gesamtausgabe war nach dem Untergang der DDR gefährdet, konnte gerettet werden und wird bis heute fortgesetzt.


Als Friedrich Engels 1895 starb, war der wissenschaftliche Nachlass von Karl Marx noch weitgehend unerschlossen. Gewiss: nach dessen Tod war 1885 der zweite und 1894 der dritte Band des "Kapital" erschienen. Aber das waren nur Teile aus der ungedruckten Textmasse. Engels wies Eduard Bernstein und Karl Kautsky in Marx' Handschrift ein, damit sie seine Herausgebertätigkeit fortsetzen konnten. Es erschienen die "Theorien über Mehrwert", bereits früher publizierte Schriften wurden neu aufgelegt. In der Sowjetunion erschienen ab 1927 14 Bände einer Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA). Der Nachlass von Marx und Engels befand sich im Eigentum der SPD und konnte im Faschismus in die Niederlande und auch dort vor dem Zugriff der deutschen BesetzerInnen gerettet werden. Er befindet sich heute im Internationalen Institut für Sozialgeschichte (IISG) in Amsterdam.


Die Vorläufer

In der Sowjetunion und in der DDR erschienen Gesammelte Werke der beiden Begründer des Historischen Materialismus. Es handelt sich um die berühmten blauen Bände der Marx-Engels-Werkausgabe (MEW), an der eine ganze Generation linker Intellektueller sich gebildet hat. Die russische und die deutsche Version waren Studien-, keine historisch-kritischen Ausgaben. Sie lieferten korrekt wiedergegebene Schriften, aber ohne Nachzeichnung der Textgeschichte, von Vorstufen und handschriftlichen Varianten. Diese Konzentration allein auf den Inhalt erleichterte die Lesbarkeit und diente dem Zweck, möglichst grosse Teile des Werks in relativ kurzer Zeit einem breiten Publikum zugänglich zu machen.

Als die MEW abgeschlossen war, stand eine Kohorte von noch jungen WissenschaftlerInnen der DDR bereit, die sich bei dieser Art der Edition qualifiziert hatten. Auf sie konnte Walter Ulbricht zurückgreifen, als er 1962 bei Chruschtschow eine historisch-kritische Gesamtausgabe anregte. So entstand die "MEGA zwei". Ab 1975 erschienen pro Jahr zwei bis drei Bände. Mit dem Untergang der DDR war die MEGA gefährdet. Eine internationale Initiative von WissenschaftlerInnen setzte sich für ihre Fortführung ein. In einem Gutachten befand in der Bundesrepublik der liberale Philosoph Dieter Henrich, dass die bisherigen Bände den wissenschaftlichen Editionsstandards in höchstem Masse entsprachen.


Der Neuanfang

Ab 1992 konnte die MEGA im Wesentlichen unverändert erscheinen, jetzt unter dem Dach der Internationalen Marx-Engels-Stiftung in Amsterdam, finanziert vom Akademienprogramm der Bundesrepublik und der deutschen Länder. Eine Bedingung für das Fortbestehen war eine entpolitisierende Akademisierung: Marx und Engels als Teil der deutschen Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts wie z. B. Alexander von Humboldt und die Brüder Grimm.

Die Marx-Engels-Gesamtausgabe umfasst vier Abteilungen. Jeder Band besteht aus zwei Teilbänden. Der erste enthält den edierten Text, der zweite den Apparat: Varianten, Korrekturen, Erläuterungen. In der ersten Abteilung erscheinen - mit Ausnahme des "Kapital" - sämtliche Bücher, Broschüren, Artikel und Reden von Marx und Engels, die zu deren Lebzeiten veröffentlicht worden sind, hinzu kommen die Vorstufen, spätere Bearbeitungen und die von den beiden selbst vorgenommenen Übersetzungen. Mittlerweile sind hier 22 von 32 Bänden erschienen. Die zweite Abteilung (15 Bände) umfasst "Das Kapital". Sie ist inzwischen als Druckversion abgeschlossen. Die fünfzehn Bände der zweiten Abteilung werden künftig die Grundlage für die Erforschung des "Kapital" bilden. Ein wichtiger Ertrag liegt seit Dezember 2017 vor: Marx hat den ersten Band des "Kapital" 1867 veröffentlicht, die zweite, deutlich veränderte Auflage brachte er 1872 heraus. An der nachfolgenden französischen Übersetzung hat er selbst mitgewirkt und erklärt, dass künftige Ausgaben sich danach richten sollten. Durch Eintragungen in Handexemplare und weitere Mitteilungen gab er ausserdem Hinweise für eine spätere Version letzter Hand. Zu dieser kam er nicht mehr. Eine noch nicht einmal zur Hälfte erledigte Baustelle ist die dritte Abteilung: sämtliche Briefe von und an Karl Marx und Friedrich Engels. Von den geplanten 35 Bänden sind erst 14 erschienen. Es stehen also noch 21 Bände aus. Sie sollen nicht mehr gedruckt, sondern nur noch als Digitalisate veröffentlicht werden. Ähnlich sieht es mit der vierten Abteilung - Manuskripte und Exzerpte - aus. Bislang sind 14 von 32 Bänden erschienen. Hier werden nur noch die Exzerpte zur Agrochemie und die "Londoner Hefte" 1850-1853 (Vorarbeiten zu den "Grundrissen") gedruckt werden. Alles andere soll ausschliesslich im Netz erscheinen.


Die Nutzbarkeit

Die sich so abzeichnende Digitalisierung der MEGA verspricht Vorteile: Der grösste wird die sehr erweiterte Zugänglichkeit sein. Künftig wird für die MEGA open access gelten, nicht nur für die folgenden digitalen "Bände", sondern hoffentlich auch für Scans früherer Druckausgaben. So lassen sich Fehler leichter beheben. Sind die erst einmal gedruckt, sind sie allenfalls in einer späteren Auflage wieder zu reparieren. Anders steht es mit einer digitalen Ausgabe. Hier kann ein Scan gelöscht und korrigiert ersetzt werden.

Aufgabe einer historisch-kritischen Ausgabe ist es, Texte in ihrer originalen Form unter Kenntlichmachung ihrer verschiedenen etwaigen Veränderungen so im Buchdruck wiederzugeben, dass die BenutzerInnen sich die jeweilige von den UrheberInnen (hier: Marx, Engels und ihre KorrespondenzpartnerInnen) erstellte Fassung zu erschliessen vermögen. Jetzt kann man das direkt im Netz sehen, aber mit Mühe: Marx' Handschrift ist schwer leserlich, die sogenannte "Deutsche Schrift" auch anderer Autoren (darunter Engels-') ist heutigen (und wohl auch künftigen) LeserInnen nicht mehr geläufig. Umstellungen von Zeilen und ganzen Textblöcken bilden auf den Scans ebenfalls oft einen Wirrwarr. Also sind Transkriptionen, Varianten- und Korrekturenverzeichnisse weiterhin sinnvoll. Denkbar ist, dass in Zukunft Links von einer Stelle auf eine andere verweisen können und so eine Art Lotsenfunktion übernehmen.

In den Erläuterungen der Apparate zu den einzelnen Bänden werden zeitgeschichtliche Anspielungen entschlüsselt. Dieser Service bleibt, soll aber auf das unmittelbar Sachdienliche beschränkt werden. Wo Marx, Engels und ihre BriefpartnerInnen auf andere Schriften, darunter Zeitungsartikel, und noch unveröffentlichte Handschriften hinweisen, werden diese in Archiven und Bibliotheken aufgesucht und mit ihren bibliografischen Angaben bzw. Signaturen verzeichnet. In wachsendem Mass stehen sie jetzt ihrerseits schon im Netz, das wird sich fortsetzen.

Es gibt Risiken. Zum Beispiel: Was geschieht, falls irgendwann einmal die Netz-Infrastruktur zerstört werden sollte? So empfiehlt es sich, von jedem digitalen Band ein paar analoge Exemplare anzufertigen und zu archivieren. Insgesamt kann dem Fortgang der MEGA eine gute Prognose gestellt werden. Frühere BearbeiterInnen aus den Jahren bis 1989/91 blieben so lange in verschiedenster Weise eingebunden, dass kein Bruch entstand und Kontinuität gewahrt blieb, bis eine neue WissenschaftlerInnen-Generation allmählich eintreten konnte. Für korrekte Edition ist so gesorgt. Was politisch aus dem Werk von Marx und Engels werden wird, ist ohnehin keine Sache der Philologie.


Online:
http://telota.bbaw.de/mega/
https://search.socialhistory.org/Record/ARCH00860/ArchiveContentList

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 19/20 - 74. Jahrgang - 31. Mai 2018, S. 12
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
und ihre Deutschschweizer Sektionen
Redaktion: vorwärts, Postfach 2469, 8026 Zürich
Telefon: 0041-(0)44/241 66 77,
E-Mail: redaktion@vorwaerts.ch
Internet: www.vorwaerts.ch
 
vorwärts erscheint 14-täglich,
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Probeabo: 4 Ausgaben gratis


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Juni 2018

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