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VORWÄRTS/1413: Taumel der Westeuphorie


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 31/32 vom 4. Oktober 2018

Taumel der Westeuphorie

von Damian Bugmann


Die Berlin-Blockade und die Luftbrücke 1948/49 sowie der Fall der Mauer 1989: Die publikumswirksamen Inszenierungen dieser Ereignisse in allen Medien befeuern bis heute das Freiheitsgefühl und den Antikommunismus einer konsum- und wettbewerbstrunkenen Gesellschaft und Politik.


Der Fall der Mauer, Deutschland erinnert sich etwa so an den 9. November vor 29 Jahren: Die Mauer fällt, die Schlagbäume gehen auf, alle lieben sich und teilen den Taumel der Westeuphorie. Die früher angeblich unerbittlichen DDR-GrenzerInnen strahlen, werden umarmt, BRD-Fahnen tauchen auf, die bösen KommunistInnen haben ausgespielt. Wie im US-Actionfilm ist der Feind kaltgestellt, die Welt befreit und öffentliche wie private Probleme sind gelöst. Konsumismus statt Kommunismus, Wettbewerb statt Wohlfahrt. Champagnerbad - jedeR kann jetzt reich und ein Star werden in künstlichen Paradiesen: So sieht der Höhepunkt der Emotionen im Sat 1-Spielfilm-Zweiteiler "Wir sind das Volk - Liebe kennt keine Grenzen" von 2008 aus. Toppen kann die überbordende Rührung nur noch die boulevardeske Familienzusammenführung am Schluss des Films. Spätestens jetzt greifen ZuschauerInnen zu den Papiertaschentüchern, für die bei der TV-Erstaufführung selbstverständlich ein Werbespot an geeigneten Stellen eingeschoben wurde.


Propaganda-Mythen

Kapitalismus und Liberalismus brauchen und lieben solche Ereignisse. Die helfen bei der weiteren Konditionierung der grossen Mehrheit der UntertanInnen, die keinen guten Faden an DDR, UdSSR, Kuba finden dürfen. Gemäss gleich nach dem Zweiten Weltkrieg gemachten Umfragen befürwortete eine Mehrheit der deutschen Bevölkerung die Planwirtschaft und sah in ihr mehr Vorteile für alle. Da war Handlungsbedarf in der Systemkonkurrenz für den Kapitalismus angesagt. Der Marschallplan 1947, das Einpumpen von Geld und Waren in die deutsche Wirtschaft, und publikumswirksame Events wie die Rosinenbomber-Luftbrücke waren wichtige Elemente des antikommunistischen Wirtschafts- und Propagandakriegs und der Umerziehung der Bevölkerung.

Ganz schön emotional malt die antikommunistische Propaganda in allen Medien die Ereignisse von 1948/49 um die von Sowjetunion, USA, England und Frankreich besetzte Hauptstadt Berlin. Der westliche Mythos zeigt auf der einen Seite die edlen, selbstlosen FreiheitskämpferInnen (für Unternehmer- und Konsumfreiheit), auf der anderen Seite die finsteren Sowjets, die mit der Berlin-Blockade die Bevölkerung erpresserisch aushungern und damit die Stadt an sich reissen wollten und überhaupt nur Lust gewinnen würden durch die Unterjochung der ganzen Welt unter dem Vorwand, soziale Gerechtigkeit zu bringen. Zu dieser antikommunistischen Mythenbildung gehörte auch das Sat 1-Melodram "Die Luftbrücke - nur der Himmel war frei" von 2005.


Freie Luftkorridore

Wie ganz Deutschland war Berlin in vier Besatzungszonen eingeteilt, die Stadt lag mitten im sowjetischen Teil. 1945 waren den westlichen Stadtkommandanten drei Luftkorridore von je etwa 32 km Breite zwischen den westlichen Besatzungszonen und Berlin schriftlich zugesichert worden. Die Nutzungsregeln erlaubten militärischen und zivilen Flugzeugen der Besatzungsmächte, die Korridore zu jeder Tageszeit und ohne vorherige Benachrichtigung der anderen Alliierten zu nutzen. So konnte die Luftbrücke der Westallierten zur Versorgung Westberlins mit Lebensmitteln, Waren und Brennstoffen nach dem Scheitern der Währungsreform und den Abwehrmassnahmen der sowjetischen Zone am 24. Juni 1948 sofort aufgenommen werden.

Die Sowjetunion wollte ein einziges Deutschland, die drei Westalliierten bevorzugten eine Teilung, damit der grössere Teil Deutschlands kapitalistisch und liberal bleibe. Der Alliierte Kontrollrat konnte sich im März 1948 nicht auf eine überfällige, für alle Besatzungszonen geltende Währungsreform einigen, der sowjetische Militärgouverneur verliess den Rat, am 16. Juni teilten die WestlerInnen den Sowjets mit, dass sie für ihre Zonen die Geldumstellung vornehmen würden. "Mit diesem Manöver wurden die Ersparnisse der Volksmassen weitgehend vernichtet und so die Kriegsschulden der Hitler-Faschisten auf die Werktätigen abgewälzt", schreibt das Online-Magazin "Rote Fahne News". "Der Zustrom der nun wertlosen Reichsmark in den sowjetischen Sektor Berlins hätte die Wirtschaft in der sowjetischen Zone ruiniert, und dagegen mussten Sofortmassnahmen ergriffen werden: Der Personen- und Warenverkehr von den westlichen Besatzungszonen nach Westberlin wurde unterbunden und eine Währungsreform für die sowjetische Zone verfügt. Die Westmächte wurden wegen des Bruchs des Potsdamer Abkommens zum Abzug aus Berlin aufgefordert."


Westlicher Machtanspruch

Die sowjetische Verwaltung bot erfolglos die Versorgung der Westberliner Bevölkerung mit Lebensmitteln an, denn die symbolische Versorgung durch die Luftbrücke reichte nirgends hin. Über 100.000 WestberlinerInnen versorgten sich - entgegen der antikommunistischen Propaganda - an Verkaufsstellen im sowjetischen Sektor. SPD-Bürgermeister Ernst Reuter dichtete empört dagegen an: "Nur Familie Schimpf und Schande kauft ausser Lande". Die Sowjetunion wollte nicht weiter die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit dem Westen aufs Spiel setzen und die westliche Gegen-Blockade - das Embargo hochwertiger Technologie und der Handelsboykott - schadete der Wirtschaft. Am 12. Mai 1949 beendete die sowjetische Seite die Blockade der Verkehrswege zu Land und Wasser, die WestlerInnen aber verlängerten die Luftbrücke. Erst am 30. September 1949 lieferte der letzte "Rosinenbomber" auf dem Tempelhofer Flughafen zehn Tonnen Kohle als letzte Manifestation des westlichen Machtanspruchs in diesem Theater.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 31/32 - 74. Jahrgang - 4. Oktober 2018, S. 10
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Oktober 2018

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