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VORWÄRTS/1432: "Bis die Asylsuchenden frei sind"


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 01/02 vom 24. Januar 2019

"Bis die Asylsuchenden frei sind"


R-esistiamo/Sosf. Ein neues antirassistisches Kollektiv im Tessin will gegen das Grenzregime und die Politik der Ausgrenzung kämpfen. R-esistiamo bildete sich im letzten Frühjahr um den Kampf um die Schliessung des menschenunwürdigen Bunkers von Camorino.

R-esistiamo ist ein Kollektiv von Personen, die sich alle auf ihre Art aktiv gegen Rassismus und Grenzen und für die Solidarität mit MigrantInnen einsetzen. Der Name vereinigt die beiden Worte Resistenza = "Widerstand" und esistiamo = "wir leben". Das Kollektiv trägt den Kampf gegen die schweizerische Migrationspolitik ganz konkret auf das Territorium des Kantons Tessin. Es will das wahre Gesicht aus Repression, Ausbeutung und Segregation zeigen, das sich hinter der Maske der freundlichen Aufnahme verbirgt - mit dem Ziel, diese enorme Geldmaschine zu stoppen. Das Tessin als Grenzregion unter der Dominanz der Lega ist ganz klar ein Territorium, wo diese Politik erprobt und verfeinert wird. Der Kanton ist ein recht eigentliches Zukunftslaboratorium in einem Klima von Abschottung und Feindseligkeit allem Andersartigen gegenüber. Im Tessin wird an der Grenze gestorben: Karan wurde in Brissago von einem Polizisten erschossen, Diakité starb in Balerna auf einem Zugwaggon an einem elektrischen Schlag, D. ertrank in Maroggia im See.

Das Kollektiv will die wichtigsten institutionellen Player und das ganze Räderwerk anprangern, die dafür sorgen, dass dieses System funktioniert: das Staatssekretariat für Migration (SEM), die repressiven Instanzen (Polizei, Grenzwacht, private Sicherheitsfirmen), die politischen Parteien, die das unterstützen, und all die Firmen und Organisationen, die einen geordneten Ablauf sicherstellen, das SRK, die Caritas, die ORS und viele andere. Es will Verbindungen aufbauen zu AktivistInnen in der übrigen Schweiz und in Italien, weil die Solidarität durch die Überwindung von Grenzen stärker wird. Es ermöglicht den Austausch mit und zwischen den in den Tessiner Zentren untergebrachten Personen, um die Isolation zu durchbrechen und die in unserem Kanton fest verankerten Vorurteile und Klischees abzubauen.

Gegen die Bunker

Die Geschichte von R-esistiamo beginnt im Frühjahr letzten Jahres, als sich eine Gruppe von BürgerInnen zusammenfand, um im Tessin ein klares Zeichen zu setzen: Es gibt eine antirassistische Bewegung, die Solidarität zeigt mit den Menschen, die isoliert werden, die die Repression des rassistischen Schweizer Migrationswesens zu spüren bekommen, deren Rechte verletzt werden, wie dies im Zivilschutzbunker von Camorino geschieht. Einige Mitglieder der Gruppe konnten diese Unterkunft besuchen. Mit eigenen Augen und durch die Erzählungen der jungen Männer, die tagtäglich diese unwürdigen Zustände aushalten müssen, haben sie die Bedingungen in unterirdischen und engen Räumen wahrgenommen.

Die Entscheidung des Kantons, Menschen mit traumatisierender Vergangenheit hier festzuhalten, ist nicht akzeptabel. Die Männer werden ständig überwacht und haben keinen persönlichen Freiraum, was schnell zu einer Verschlechterung des Gesamtzustandes dieser Personen führt. Wasser- und Luftqualität sind mangelhaft, die Räume sind eng und die Temperaturen zu hoch. Es gibt zu wenig Duschen. Und das Problem der Bettwanzen, das schon vor Monaten bemängelt wurde, ist noch immer nicht gelöst. Man fragt sich, warum es Freiwilligen, BesucherInnen und FreundInnen nicht gestattet ist, in die unterirdischen Räume zu gehen, um mit den Flüchtlingen in Kontakt zu treten. Zutritt haben nur die Sicherheitskräfte, die wenigen und zudem selten anwesenden VertreterInnen des Roten Kreuzes, die Verantwortlichen des Kantons und der Mahlzeitendienst. Ansonsten darf keine zivile Person in den Bunker um festzustellen, was sich dort abspielt. R-esistiamo verlangt die definitive Schliessung dieser Anlage und wird nicht Ruhe geben, bis dieses Ziel erreicht ist. Es bleibt noch viel zu tun, umso mehr als in der Gemeinde Balernal/Novazzano ein neues Bundeszentrum geplant ist.

Einfach Mensch sein

Das Kollektiv hat Tage der Solidarität mit den MigrantInnen, offene Diskussionen und Protestaktionen veranstaltet. Mittlerweile hat es sich so weit konsolidiert, dass es für den 27. Oktober zu einer friedlichen antirassistischen Demo in Bellinzona aufrufen konnte, an der über 400 Personen teilgenommen haben. Begleitet von Reden und Tanzeinlagen hat sich der Demozug ständig vergrössert und schliesslich die Hauptstrassen blockiert. Die Demo endete vor dem Regierungsgebäude mit dem Appell, den Kampf weiterzuführen, bis die Asylsuchenden frei sind von den Einschränkungen und dem Horror, der sich hinter dem Begriff "Aufnahme" versteckt, frei, ein würdiges Leben aufzubauen, frei, einfach nur Mensch zu sein. Das Recht, über das eigene Leben bestimmen zu können, ist ein Grundrecht. Es muss unabhängig vom Ausweis oder vom Ort der Herkunft für alle gelten.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 01/02/2019 - 75. Jahrgang - 24. Januar 2019, S. 4
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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vorwärts erscheint 14-täglich,
Einzelnummer: Fr. 4.-
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Probeabo: 4 Ausgaben gratis


veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Februar 2019

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