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VORWÄRTS/1523: Ich wollte ein Fenster aufstossen


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 33/34 vom 18. Oktober 2019

Ich wollte ein Fenster aufstossen

von Sabine Hunziker


Aktivist*innen des Frauen*streiks 2019 bezogen sich auf feministische Autor*innen - von Laurie Penny, über Margarete Stokowski bis zu Simone de Beauvoir. Etwas vergessen gegangen ist Iris von Roten, die ein schweizerische Version zu "Das andere Geschlecht" geschrieben hat. Das Buch hat bis heute kaum an Aktualität verloren.


"Hier ist das Buch, das ich mit zwanzig Jahren gerne gelesen hätte, aber nicht fand", so beginnt das Buch "Frauen im Laufgitter - offene Worte zur Stellung der Frau" von Iris von Roten. Die 5 Kapitel und rund 600 Seiten umfassende Schrift analysiert nicht nur die Situation der Frau in der Gesellschaft, sondern fordert gleichzeitig rechtliche, wirtschaftliche, soziale und politische Gleichstellung der Geschlechter, sowie persönliche und sexuelle Selbstbestimmung der Frau*. Ein 1958 nicht einfach publizierbares Werk, dessen Aktualität erst nach dem Tod der Autorin 1990 wirklich wahrgenommen wurde. Trotz allem macht "Frauen im Laufgitter" Iris von Roten zu einer der wichtigsten Pionier*innen bezüglich Frauen*rechten der Schweiz.


Aus lauter Liebe?

Mit scharfem Blick erkannte sie reaktionäre Weiblichkeitspropaganda und deren Illusionen, in einer Zeit in der Wirtschaftswachstum und steigender Wohlstand das Land prägten: "Jede Zeit hat ihre Lieblingsillusionen, eine der gehätscheltsten unseres Jahrhunderts ist die moderne Frau, die beruflich gleichberechtigte unabhängige und erfolgreiche Frau. Vermeintlich soll der Frau von heute weite Gebiete offenstehen, sie soll im Gegensatz zu ihrer Grossmutter in jedem Beruf und jeder Stellung tätig sein." Von Roten schrieb, dass der Glaube da ist, dass Frauen "aus lauter Liebe heiraten, wann und wen sie wollen". "Der modernen Frau zur Seite steht der fortschrittliche Mann, erfüllt von bewunderndem Staunen ob dem stolzen Schwan, der aus dem hässlichen Entlein geworden. Seit langem habe er seinen Kopf von Vorurteilen befreit und die Gleichberechtigung der Geschlechter im Leben der Familie, der Wirtschaft und des Staates langsam, aber sicher Platz greifen lassen." Die Autorin löste diese Illusion vorzeitig auf und meinte: "Die Wirklichkeit aber sieht manchenorts, und in der Schweiz ganz besonders, anders aus."


Zu revolutionär, um gemacht zu werden?

Als Iris Meyer 1917 in Zürich geboren, besuchte sie zuerst das Gymnasium, um dann Rechtswissenschaften zu studieren. In der Zeit rund um ihre Promotion lernte sie Peter von Roten kennen, den sie später heiratete. Nach dem Studienabschluss arbeitete Meyer als Journalistin und Redaktorin bei verschiedenen Zeitschriften, um später nach der Heirat mit Peter von Roten in der gemeinsamen Anwaltskanzlei mitzuarbeiten. Während ihrer Berufstätigkeit wurde Iris von Roten immer wieder mit vielen Hindernissen konfrontiert, die eine fortschrittliche Frau* in ihrem Berufsfeld zu erwarten hatte.

Nach einem Studienaufenthalt in den USA 1948 beschloss sie, sich intensiver mit der Stellung der Frau* in der Gesellschaft auseinander zu setzen und ein Buch darüber zu schreiben. Dieser Entschluss fiel in eine Zeit, als sich auch andere Frauen* begannen, mit dieser Thematik auseinander zu setzen. So erschien beispielsweise "Das andere Geschlecht" von Simone de Beauvoir 1949. Nach ihrer Rückkehr aus den USA zog Iris von Roten zu ihrem Mann nach Basel, wo beide ein Advokatur- und Notariatsbüro eröffneten. Beide lebten nach dem Auslandjahr auch hier in einer offenen Beziehung und die Autorin musste keiner der klassischen weiblichen Verpflichtungen wie Hausarbeit und Kinderfürsorge nachkommen. Vielmehr konzentrierte sie sich auf ihr Buch, dass bei den Verlagshäusern nur auf mässiges Interesse stiess.


Doppelte Emanzipationsstrategie

Als 1952 die Tochter Hortensia zu Welt kam, war die vollständige Mutterrolle keine Option. Ihr Vorschlag von Krippen, welche Mütter entlasten könnten, war für viele Menschen in der Schweiz undenkbar. Im September 1958 erschien "Frauen im Laufgitter" und löste heftige Reaktionen aus. Von Roten beschrieb darin Missstände wie Benachteiligung in der Berufswelt in Form beispielsweise schlecht bezahlter Arbeit oder Care-Arbeit, die vorherrschende männliche Geschlechtsmoral die den Frauen* selbstbestimmte Sexualität abspricht oder die politische Rechtslosigkeit der Frauen* in der Demokratie als Paradoxon. Von Rotens doppelte Emanzipationsstrategie, so beschreibt es Elisabeth Joris im Nachwort von "Frauen im Laufgitter", mit der beruflich-wirtschaftlichen und einer sexuell-erotischen Ebene war für diese Zeit für einen grossen Teil der Bevölkerung zu weit gegangen. Obwohl sich die Situation der Frauen* in Vergleich zu den 1950er Jahren verbessert hat, bleibt diese Analyse des Geschlechterverhältnisses aktuell. Grundsätzliche Themen und Fragestellungen haben sich bis heute nicht verändert.


Schweiz als finstere Provinz für Feminismus

Richtig gesehen hatte die Autorin, dass ihr Buch revolutionär war, aber dennoch bitter nötig. In Zeiten des sogenannten "Kalten Krieges" wurde jede grundsätzliche Veränderung mit kämpferischer Haltung als Unterwanderung kommunistischen Ursprungs etikettiert und dementsprechend im Kern abgewürgt. Selbst die Arbeiter*innenbewegung befand sich in einer Tiefphase, denn die Gewerkschaften hüteten den so genannten Arbeitsfrieden. Nicht erstaunlich ist es, dass viele Rezensionen negativ ausfielen, so dass die Publikation schnell zum Skandalbuch wurde. Die Autorin musste künftig mit den vielen verletzenden Angriffen leben. Auf öffentliche Unterstützung oder eine sachliche Debatte konnte Iris von Roten vergeblich hoffen. Anders als in Frankreich rund um "Das andere Geschlecht" war in der Schweiz keine vergleichbare Debattenkultur vorhanden, sondern ein konservativer Geist, der bis weit in die sechziger Jahre dem Denken der geistigen Landesverteidigung verpflichtet blieb. Sogar der Bund Schweizerischer Frauenorganisationen BSF distanzierte sich von "Frauen im Laufgitter", weil sie sich vor negativen Folgen für die erste eidgenössische Abstimmung über das Frauenstimm- und Wahlrecht fürchteten. Ablehnung und Anfeindung hatte zur Folge, dass sich Iris von Roten zurückzog und sich fortan Reisen, Malerei und Literatur widmete. Ihr Fazit war nach einem Zitat in der Publikation "D'Studäntin kunnt": "Ich wollte ein Fenster aufstossen."

Als sie 1990 ihr Leben durch Freitod beendete, war dies eine indirekte Folge eines Autounfalls, bei dem die Unfallverletzung wieder erwarten wenig heilte. Zum 100. Geburtstag von Iris von Roten hatte 2017 die eidgenössische Kommission für Frauenfragen EKF eine Ausgabe ihrer Zeitschrift "Frauenfragen" mit dem Titel "Vorbilder, Modèles, Modelli" Iris von Roten gewidmet, die unter anderem Vorlage für diesen Artikel war. Doch das war erst der Anfang: Eva Granwehr vom Sekretariat der Eidgenössische Kommission für Frauenfragen (EKF) sagt, dass eine französische Übersetzung von "Frauen im Laufgitter" derzeit in einer Kooperation von Hortensia von Roten und der EKF erarbeitet wird.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 33/34 - 75. Jahrgang - 18. Oktober 2019, S. 7
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
und ihre Deutschschweizer Sektionen
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Telefon: 0041-(0)44/241 66 77,
E-Mail: redaktion@vorwaerts.ch
Internet: www.vorwaerts.ch
 
vorwärts erscheint 14-täglich,
Einzelnummer: Fr. 4.-
Jahresabo: Fr. 160.-, reduziert (AHV, Stud.) 110.-
Probeabo: 4 Ausgaben gratis


veröffentlicht im Schattenblick zum 16. November 2019

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