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VORWÄRTS/1543: 48 Jahre Pannenbetrieb


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 41/42 vom 20. Dezember 2019

48 Jahre Pannenbetrieb

von Damian Bugmann


Heute, am 20. Dezember 2019, wird der Reaktor des AKWs Mühleberg im Berner Seeland ausser Betrieb genommen, nach unzähligen Pannen und Abschaltungen wird er endgültig abgeschaltet. Nach einem langen zähen Kampf ist es das erste Schweizer Atomkraftwerk, das stillgelegt wird.


Eine Milliarde soll der Rückbau, 1,5 Milliarden sollen Entsorgung und Endlagerung nach offiziellen Angaben kosten. Gewiefte bürgerliche Interessenvertreter*innen haben noch nicht genug: Sie arbeiten immer noch propagandistisch an einer Trendwende, indem sie die "Kernkraft" als umwelt- und klimafreundliche Alternative zu den fossilen Energieträgern verkaufen wollen. Am 1. Juli 1971 ging der Pannenreaktor Mühleberg erstmals ans Netz, am 28. Juli kam es zu einer Explosion und einem Brand im Maschinenhaus. Das AKW konnte erst ein Jahr später in Betrieb genommen werden. Auch weiterhin musste in regelmässigen Abständen abgeschaltet, geflickt und nachgebessert werden.


Vertuschte Filterpanne

Am 26. April 1986 kam es im ukrainischen AKW Tschernobyl zu einem Super-GAU, die Radioaktivität verteilte sich über weite Bereiche Europas, dabei war sie auch in Mühleberg messbar. Am 11. September 1986 entwichen dem AKW Mühleberg durch defekte Filter über den Kamin grössere Mengen radioaktiver Aerosole. Trotzdem die Messstationen der Kommission zur Überwachung der Radioaktivität (KUER) im Gelände seit dem 11. September eine überaus deutliche Erhöhung der Radioaktivität registriert hatten, beschwichtigten die AKW-Betreiber, es sei nichts in die Umgebung gelangt. Die Messungen des Physikers André Masson, der seit Jahren mit eigenen Geräten beobachtete, förderten das Ausmass der Filterpanne an den Tag: In der näheren Umgebung des AKWs waren die Radioaktivitätswerte in der Luft etwa bis zur Tschernobyl-Spitze angestiegen, im Gegensatz zu Tschernobyl aber blieben sie über Monate oben. Die KUER aber errechnete, der Radioaktivitätsausstoss mache etwa 60 Prozent des erlaubten Maximalwerts aus, bei dessen Überschreitung das AKW hätte abgestellt werden müssen. Die Bernische Kraftwerke AG (BKW) versuchte zu vertuschen und verstrickte sich in heillose Widersprüche.


Demos und Blockaden

Die Tschernobyl-Katastrophe 1986 mobilisierte: Die Gewaltfreie Aktion Bern (GAB) und die neu entstandene Gruppe "Aktion Mühleberg stillegen" (AMüs) sensibilisierten und mobilisierten. Am 30. August 1986 wurde an einer Kundgebung mit rund 1000 Teilnehmer*innen der Ausstieg aus der Atomenergie und die sofortige Stilllegung aller Atomanlagen gefordert. Am 17. Oktober folgte in Mühleberg eine Teilblockade der AKW-Zufahrt, Ende Dezember eine Blockade aller Zufahrtsstrassen, in Bern wurden unter Transparenten Tausende von Flugblättern verteilt. Trotz Tschernobyl Super-Gau und verstärkter Mobilisierung kam es nicht zum gewünschten Atomausstieg. An einer Grossdemo im August 1987 richtete man sich deshalb gegen die Nachrüstung des AKWs Mühleberg.

Anlässlich einer nationalen Abstimmung am 23. September 1990 zum Atomausstieg wurde eine Moratoriumsinitiative mit 54,5 Prozent angenommen. Die gleichzeitig vorgelegte Initiative zum Atomausstieg wurde mit einer Zustimmung von 47,1 Prozent knapp abgelehnt. Der Kanton Bern sagte im Februar 1992 in einer konsultativen Abstimmung Ja zur Abschaltung von Mühleberg. Der Bundesrat ging aber auf das Resultat der Abstimmung nicht ein und bewilligte am 14. Dezember 1992 den Weiterbetrieb des AKW Mühleberg mit einer Leistungserhöhung um zehn Prozent.


Risse im Kernmantel

1996 beschloss die BKW, angesichts der Entdeckung vieler Risse im Kernmantel bei den Jahresinspektionen seit 1990 und der von den Gegner*innen geschaffenen Publizität, den Kernmantel mit vier Zugankern behelfsmässig zu sichern. Das Komitee "Verein Bern ohne Atom" (BoA) forderte in einer 1998 eingereichten Initiative die Abschaltung von Mühleberg bis spätestens Ende 2002 und den Verzicht auf den Bau eines weiteren AKWs. Die Initiative wurde 2000 von der bernischen Stimmbevölkerung mit 64,3 Prozent Nein abgelehnt. Tschernobyl lag weit zurück, die Atom-Lobby war wieder erstarkt und versprach sichere Reaktoren westlicher Bauart. Auch die Initiative zur Verlängerung des Atom-Moratoriums scheiterte 2003.


Verseuchter Bielersee

Als die BKW im Januar 2005 kurz vor der Inkraftsetzung des neuen Kernenergiegesetzes ein erneutes Gesuch um unbefristete Betriebsbewilligung einreichte, wehrte sich Fokus Anti-Atom, die Nachfolgeorganisation von AMüs, vergeblich. Ihr Hinweis auf ein Wachstum der Risse im Kernmantel wurde in den Medien prominent aufgenommen. Die Organisation sammelte in einem Monat 1900 Einsprachen, darunter 14 von direkten Anwohner*innen des AKWs und 25 aus der Evakuierungszone 2, untermauert durch eine Studie des Öko-Instituts Darmstadt. Ungeachtet dessen und der Volksabstimmung im Mühleberg-Nachbarkanton Waadt, bei welcher sich die Bevölkerung mit über 64 Prozent der Ja-Stimmen klar dagegen stellte, gab das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat (ENSI) 2009 die unbefristete Betriebsbewilligung. Im Sommer 2013 wurden hohe Konzentrationen von radioaktivem Cäsium-137 aus dem AKW im Bielersee gefunden. Im selben Jahr beschloss die BKW die Stilllegung. Die Stimmung hatte sich gewendet, sogar Bundesrätin "Atom-Doris" Leuthard hatte 2011 die Energiewende und den (nicht terminierten) Atomausstieg verkündet.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 41/42 - 75. Jahrgang - 20. Dezember 2019, S. 1
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Januar 2020

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