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VORWÄRTS/1544: Unser tägliches Gift


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 41/42 vom 20. Dezember 2019

Unser tägliches Gift

von Florian Sieber


In den letzten Monaten häuften sich Berichte zu mangelhafter Wasserqualität in der Schweiz. Ausgerechnet hier, wo so viel Wert auf die hohe Trinkwasserqualität gelegt wird, mussten einige Gemeinden Warnungen ausgeben. Die Trinkwassersituation ist aber kein Zufall: Sie hängt mit unserem Wirtschaftssystem zusammen.


Die schlechten Neuigkeiten kamen Schlag auf Schlag auf Schlag. Erst hiess es Ende Oktober, dass in jeder achten Aargauer Gemeinde das Hahnenwasser mit zu hohen Werten des Fungizids (Mittel gegen Pilze) Chlorthalonil verschmutzt sei, das bei Tierversuchen für eine Häufung von Nierentumoren bei Mäusen und Ratten sorgt.

Welche Gemeinden konkret betroffen seien, wurde nicht bekannt gegeben. Dann kam im November im Blick die Meldung, dass Bundesrat Parmelin den Wasserforscher*innen vom ETH-Institut EAWAG (Eidgenössische Anstalt für Wasserversorgung, Abwasserreinigung und Gewässerschutz) einen Maulkorb verordnen wollte, als diese in einer Studie Handlungsbedarf bei der Trinkwasserqualität attestierten. Den Abschluss bildete Anfang Dezember die Gemeinde Schnottwil in Solothurn. Dort wurden ständig steigende Nitratwerte im Wasser gemessen. Diese sind zwar noch knapp unter den Grenzwerten, die kontinuierliche Zunahme veranlasste den Gemeinderat dazu zu handeln, bevor es zu spät ist.


Verdünnt trinkbar

Im Gespräch mit dem vorwärts erklärt Andi Bryner, Medienverantwortlicher der EAWAG, woher die plötzliche Häufung von Meldungen zur Wasserqualität in der Schweiz kommt: "Vor allem im Sommer/Herbst 2019 gab es viele Medienberichte über die mangelhafte Wasserqualität, weil gewisse Pflanzenschutzmittel und deren Abbauprodukte von der EU neu als potentiell gefährlich eingestuft wurden." Gemeint ist vor allem das Fungizid Chlorthalonil. Dem Mittel, dass schon seit den 1960ern auf dem Markt ist, wurde darum im April 2019 von der EU die Zulassung entzogen. In der Schweiz lässt ein von Bundesrat Parmelin angekündigtes Verbot des Stoffs auf sich warten. Manche Gemeinden, beispielsweise Villmergen im Kanton Aargau, mussten reagieren, indem sie Wasser mit zu hoher Konzentration an Pflanzenschutzmitteln mit weniger belastetem Wasser mischten. Der Gemeinderat von Villmergen bittet derweil die örtlichen Landwirte, nicht mehr mit Chlorthalonil zu spritzen. Insgesamt 30 Tonnen des Stoffs wurden bis dato jährlich in der Schweiz versprüht. Bei einer Gewässerkontrolle in der Ostschweiz mit 300 Trinkwasserproben im Juni waren zehn Prozent der Proben zu hoch mit dem Fungizid belastet. Damals hiess es, im Herbst komme dann schon ein Verbot des Stoffs.


Saure Städter

Die Auswirkungen der Landwirtschaft auf das Ökosystem sorgen schon länger für Aufsehen. In den 1960er Jahren war es vor allem der Bodensee, der wegen seiner immer schlechter werdenden Wasserqualität Sorgen bereitete. Damals war es Phosphat aus Düngemitteln, das die Wasserqualität fast bis zum Kippen ruinierte. Und der Bodensee war kein Einzelfall. Mit dem Bau grosser Kläranlagen und teilweise mit der Belüftung von Gewässern konnte die Wasserqualität aber wieder gehoben werden, oft bis auf Trinkwasserniveau. In der Gegenwart ist es besonders der Zusammenhang zwischen Pflanzenschutzmitteln und dem Bienensterben, der beunruhigt. Als im Oktober ein von der Landi verkauftes Pflanzenschutzmittel, mit einem anderen, nicht mehr in der Schweiz zugelassenen Stoff versetzt verkauft wurde, sorgte dies für den Tod von dutzenden Bienenvölkern im Aargau. Mehrere Millionen Bienen starben. Für manche linksliberalen Städter ist klar: Würden die Bauern* einfach in Bio-Qualität produzieren, wäre alles gut. So fallen Parteien wie die SP dann doch in die Klientelpolitikfalle, die sie sonst einer SVP vorwerfen und rufen nach geringeren Subventionen für Landwirt*innen. Doch die Probleme, die zur Zerstörung der Umwelt und zur Belastung unseres Trinkwassers führen, sind grösser, als die individuelle Uneinsichtigkeit jener Bauern*, die nicht von der Bio-Landwirtschaft leben.


Planwirtschaft statt fauler Lösungen

Woran es in der Landwirtschaft krankt, zeigt aber die Erklärung, die der Bauernverband zur Trinkwasserinitiative abgab, recht deutlich. Die Initiative, die die Einstellung von Direktzahlungen an Landwirt*innen verlangt, die mit Pestiziden und prophylaktischem Einsatz von Antibiotika produzieren, wird vom Verband mit der Begründung abgelehnt, dass durch den Verzicht auf Pestizide massive Ernteausfälle zu erwarten seien. Die Produktivität würde um 20 bis 40 Prozent sinken und die Preise steigen. Doch auch wenn es so klingt: Es wird nicht zu wenig produziert. Bereits heute werden grosse Teile der Ernte schlicht weggeworfen da die Grossverteiler angeben, dass diese zu gross oder mit der falschen Form nicht gekauft würden.

Im Agrarsektor besteht eine eigentliche Überproduktion, die absolut typisch für den Kapitalismus ist. Der Konkurrenzdruck ist massiv. Das lässt sich auch an der Zahl der landwirtschaftlichen Betriebe ablesen. Im Jahr 2000 waren es 70000, heute sind es noch 50000. Um in der Konkurrenzsituation bestehen zu können, müssen Landwirt*innen eine Massenproduktion an Landwirtschaftsprodukten organisieren, um pro Stück billiger zu produzieren und so die Konkurrenz unterbieten zu können. Ein erbarmungsloser Kampf um das Bestehen auf dem Markt beginnt, der ohne Pestizide, die Ernteausfälle durch Schädlinge oder Unkraut kalkulierbar machen, kaum stemmbar ist. Das haben auch die vielleicht wohlmeinenden Initiant*innen der Trinkwasserinitiative nicht begriffen. Durch das Ansetzen bei den Subventionen werden vor allem jene Produzierenden getroffen, die in kleinem Rahmen produzieren. Eine Konzentration auf dem Markt, mit noch grösseren mächtigeren Produzierenden hätte sicherlich nicht weniger Pestizideinsatz zur Folge - die Planung der Wirtschaft hin zu Nachhaltigkeit und Allgemeinwohl sowie weg von Überproduktion und Profit aber schon.

Nach Redaktionsschluss erreichte den vorwärts die Nachricht, dass Chlorthalonil in der Schweiz die Zulassung verliert.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 41/42 - 75. Jahrgang - 20. Dezember 2019, S. 3
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Januar 2020

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