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VORWÄRTS/1549: Überwachungsstaat ist Realität


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 41/42 vom 20. Dezember 2019

Überwachungsstaat ist Realität

von Damian Bugmann


Der Fichenskandal brachte 1989 bis 1991 das Spitzelwesen, die Gesinnungsschnüffelei und die Registrierwut von Bundespolizei, Militärdepartement und den Kantonen ans Licht. Trotz einer breiten politischen Bewegung und einem grossen Medienecho wurde die Schnüffelei nicht verboten und abgeschafft, sondern gestärkt und ausgebaut.

Am 26. November 1989 zeigte die GSoA-Volksinitiative "Für eine Schweiz ohne Armee und für eine umfassende Friedenspolitik" eine verbreitete Stimmung in der Bevölkerung, die die überrumpelten Militärköpfe stark unterschätzt hatten: 35,6 Prozent hatten Ja gestimmt, fast 70 Prozent der Stimmberechtigten waren zur Urne gegangen. Zwei Tage später lag der Bericht der parlamentarischen Untersuchungskommission (PUK-EJPD) vor, präsidiert vom ehrgeizigen jungen Anwalt und SP-Nationalrat Moritz Leuenberger. Er zeigte, dass die politische Polizei ohne gesetzliche Grundlagen über Jahrzehnte hunderttausende Bürger*innen und zahllose "staatsgefährdende" Organisationen, Gruppierungen und Medien ausspioniert und die Ergebnisse auf 900.000 Karteikarten, sogenannten "Fichen", und dazugehörenden Dossiers notiert hatte.

Sowohl bei der Bundespolizei (BuPo) als auch in den Kantonen wurde das Erschnüffelte sorgfältig archiviert und weitergegeben - an ausländische Geheimdienste, andere Amtsstellen und Arbeitgeber. Bald wurden auch Spezialdateien bekannt. Der Ergänzungsbericht der PUK listete sie auf: eine Verdächtigenkartei (etwa 10.000 Personen), eine Verdächtigenliste (rund 390 Personen, die im Mobilmachungsfall unter Polizeiaufsicht gestellt oder interniert worden wären), eine Extremisten- und Terroristenkartei, eine Kinderkartei, eine Homosexuellenkartei, eine Älplerkartei, eine Jura-Separatistenkartei und eine Fotosammlung mit Aufnahmen von über 126.000 Personen.


Wanzen, Spitzel, Postkontrollen

Ausspioniert und registriert wurden linke Parteien und Politiker*innen, Gewerkschafter*innen, in sozialen Bewegungen Engagierte, Schriftsteller*innen, Kultur- und Medienschaffende, Migrant*innen, Menschenrechtsvereinigungen wie die Demokratischen Jurist*innen oder Amnesty International, aber auch zahlreiche Leute, die Geschäftskontakte in die ehemaligen Ostblockländer pflegten oder Bildungsreisen nach China unternahmen. Beschafft wurden die Daten mit Telefonüberwachungen und Postkontrollen, Verwanzen von Versammlungsräumen, Befragungen von Nachbar*innen, Arbeitgeber*innen und Bekannten, Kontrollen von Postcheckkonten und Zeitungsabos, Foto- und Videoaufnahmen und dem Einsatz von Spitzeln. Zwei Drittel aller Fichen betrafen Ausländer*innen. Die rechtsextreme Szene war kaum im Fokus des Staatsschutzes.

Ein weiterer Fichenskandal flog ebenfalls im Jahr 1989 in der BRD auf: Die Bundeswehr bespitzelte seit langem systematisch und unterhielt Fichen und Dossiers über tatsächliche und vermeintliche Linksextremist*innen und Gegner*innen von Bundeswehr und Nato-Doktrin: die Grüne Petra Kelly, der Physiker und Friedensforscher Carl Friedrich von Weizäcker, die Schriftstellerin Christa Wolf und viele, viele mehr. Die Bespitzelung und Registrierung der rechtsextremen Szene aber war acht Jahre vorher eingestellt, die Archive waren im Februar 1989 vernichtet worden. Überwachung, Fichierung und Berufsverbote zeigten sich auch hier als wichtiges Herrschaftsinstrument von Bourgeoisie, Kapital und Imperialismus.


Der "Strahlungsgürtel der PdA"

Als umfangreichste Schweizer Fichen erwiesen sich jene des langjährigen PdA-Präsidenten Jean Vincent und des Zürcher PdA-Aktivisten Theo Pinkus. Eine im Dezember 1990 von der WoZ publizierte Liste der Codes in den Fichen zeigt, dass unsere Partei für die BuPo eine wichtige Staatsfeindin war: Code Nummer 3 stand für PdA und KPS sowie Personen und zahlreiche Organisationen in ihrem "Strahlungsgürtel". Unterkategorien waren unter anderen Parteimitglieder (Code 300.2), Einschlägige Medien (300.50) und Filme (300.54), PdA-Veranstaltungen (302) sowie Aktivitäten im "Strahlungsgürtel" der PdA (300.8) mit zahlreichen politischen Gruppen und den linken Journalisten Jürg Frischknecht (300.8/716) und Niklaus Meienberg (300.8/738).

Im Januar 1990 wurde in der Schweiz das Komitee "Schluss mit dem Schnüffelstaat" gegründet. Vor dem BuPo-Gebäude an der Taubenstrasse in Bern protestierten jeden Mittag von der Überwachung betroffene Gruppierungen und Personen. Die erste Ausgabe der Komitee-Zeitung "Fichen Fritz" erschien im Februar in einer Auflage von 300.000 Exemplaren und wurde in der ganzen Schweiz gelesen. Sie enthielt den Aufruf zur Demonstration am 3. März und einen Musterbrief für Ficheneinsichtsgesuche. In der Kulturszene und in der Mitte-Links Politszene gehörte es damals zum guten Ton, das Anlegen von Fichen skandalös zu finden. Sogar der neoliberale und grün angehauchte LdU-Nationalrat Franz Jaeger und der rechtsliberale Hippie-Hochstapler Chris von Rohr empörten sich im "Fichen Fritz" Nr. 1 vom Februar 1991.


Grossdemo und Kulturboykott

Am 3. März 1990 folgten über 35.000 Menschen dem Aufruf des Schnüffelkomitees und demonstrierten in Bern. Sie forderten die Abschaffung der Schnüffelpolizei, ein Recht auf vollständige Akteneinsicht und eine PUK 2 für das Eidgenössische Militärdepartement (EMD). Mehr als 500 Kulturschaffende verurteilten den Überwachungsstaat und schlossen sich dem Boykottaufruf gegen die 700-Jahr-Feiern zur Gründung der Eidgenossenschaft von 1291 an. Der breite Protest und zahlreiche Medienberichte zeigten Wirkung: Der Bundesrat musste seine ursprüngliche Absicht, alle Akten zu vernichten, zurückziehen. Vorerst wollte er - mit einer äusserst kurzen Frist - nur Einsicht in die Fichen gewähren, die viel umfassenderen Dossiers sollten geheim bleiben. Sogar der Blick druckte einen Muster-Einsichtsbrief ab, bis zum 31. März 1990 verlangten über 350.000 Menschen ihre Fichen.

Der Nationalrat lehnte eine Motion der SP zur Abschaffung der Politischen Polizei mit 123 gegen 60 Stimmen ab. Im März 1990 beschloss das Parlament eine zweite PUK zur Durchleuchtung des EMD, nachdem publik geworden war, dass der militärische Nachrichtendienst (UNA) eine eigene Kartei betrieb, in der auch zivile Personen registriert waren. Das Komitee "Schluss mit dem Schnüffelstaat" präsentierte im April das in kurzer Zeit erarbeitete Buch "Schnüffelstaat Schweiz" und lancierte die Unterschriftensammlung für die Volksinitiative "S.o.S - Schweiz ohne Schnüffelpolizei", die am 14. Oktober 1991 eingereicht wurde und - nach nicht enden wollenden taktischen Verzögerungen - am 7. Juni 1998 endlich dem Stimmvolk zur Abstimmung vorgelegt wurde. Das Anliegen, die politische Polizei abzuschaffen, fand nur gerade 24,9 Prozent Zustimmung.


Geheimarmee und CIA

Die PUK-EMD präsentierte am 23. November 1990 ihre Ergebnisse: Schockierend waren vor allem Erkenntnisse über die Geheimarmee P-26 und einen geheimen ausserordentlichen Nachrichtendienst P-27. Beide militärische Strukturen hatten auch zivile "Aufgaben". Sie wurden durch den britischen Geheimdienst MI6 ausgebildet. Die Medien (allen voran die damals noch linksliberale "Weltwoche") spürten die Bunker der P 26 und P 27 auf und enttarnten ihre Chefs. EMD-Vorsteher Bundesrat Kaspar Villiger löste wenig später beide Organisationen auf und vernichtete trotz Protest und ungestraft sämtliche Namenslisten. Die PUK-EMD empfahl unter anderem eine klare Trennung der zivilen und militärischen Nachrichtendienste, letztere sollten keine Informationen mehr über Personen und Organisationen im Inland beschaffen dürfen.


Der Staat als Bremser

Das Fichen-Einsichtsverfahren lief sehr harzig und unbefriedigend. Zahlreiche Einträge und Namen waren mit schwarzen Balken zensuriert. Viele Fichierte reichten beim Ombudsmann Arthur Haefliger Beschwerde ein. Der erste Fichenbeauftragte, Walter Gut, war für die rigorose Zensur verantwortlich. Er verweigerte zunächst die Einsicht in die "Terroristenfichen" sowie in die Fichen der Telefonabhörungsberichte.

Die WoZ deckte 1991 auf, dass der Bundesrat die Einsicht in die Staatsschutzdossiers aus Kostengründen drastisch einschränken und möglichst viele Akten vernichten wolle. Nach heftigen Protesten, insbesondere von Historiker*innen, lehnte das Parlament den entsprechenden Bundesbeschluss ab. Das Bundesgericht entschied, dass kantonale Überwachungsakten Bundesakten seien und die Kantone daher grundsätzlich keine Einsicht in ihre Fichen und Dossiers gewähren dürfen. In der Folge vernichteten einzelne Kantone ihre Staatsschutzakten, andere gewährten zensurierte Einsicht. Ein separater Untersuchungsbericht über die Telefonabhörungen und Zollkontrollen (Bericht Righetti) stellte zwar fest, dass diese Fichen in vielen Fällen illegal waren, zur Rechenschaft wurde aber niemand gezogen.


Digitalisierte Effizienz

Der Nachrichtendienst des Bundes (NDB) und die BuPo überwachen und fichieren offensichtlich bis heute vermeintliche und wirkliche "linke Organisationen und Personen" und verweigern laut grundrechte.ch in bester Tradition meist das gesetzlich garantierte Auskunftsrecht über registrierte Daten. Bespitzelung und Fichierung wurden nie abgeschafft, dafür wurden sie ausgeweitet, digitalisiert und effizienter gemacht.

Der Begriff "Fichen" als Produkte der Grundrechte verletzenden Sammlung von Daten über Bespitzelte, vor allem linke Organisationen und Menschen, vermeintlich Gewalttätige oder Menschenrechtsaktivistinnen wie Anni Lanz und Lisa Bosia Mirra, ist fester Bestandteil des kollektiven Vokabulars der schweizerischen Öffentlichkeit geworden. Regelmässig fliegen neue Datensammlungen auf, sei es über Fahrende (2009) oder Teilnehmende an Anti-Wef-Kundgebungen. Der Esprit der Geistigen Landesverteidigung ist geblieben, die Menge der gesammelten Daten nimmt laufend zu, aber "Fichen" will man sie nicht mehr nennen: Nach dem vor allem durch Polizeigewalt glänzenden G20-Gipfel in Hamburg forderte 2018 Beat Rieder im Ständerat erfolgreich Gefängnisstrafen für Landfriedensbruch und "Ausreisesperren für potenzielle Gewaltextremisten". Die einschlägigen Namensregister seien keine Fichen, verwedelte der Oberwalliser CVP-Mann damals, sondern "die üblichen Unterlagen der Strafbehörden mit Informationsabklärungen der Gefahrenabwehr."

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 41/42 - 75. Jahrgang - 20. Dezember 2019, S. 11
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Januar 2020

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