Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

WIDERSPRUCH/028: Verteidigung der Arbeitnehmerrechte in Europa


Widerspruch 57 - 2. Halbjahr 2009
Beiträge zu sozialistischer Politik

Verteidigung der Arbeitnehmer/innenrechte in Europa
Für eine gewerkschaftliche Offensive(1)

Von Paul Rechsteiner


Seit Ende 2007 hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) vier neue Urteile gefällt, die, wenn man sie näher betrachtet, nicht weniger als eine fundamentale Wende des Europaprojekts einleiten (Urteile "Viking", "Laval", "Rüffert" und "Luxemburg" des EuGH(2)). Worum geht es? Die Grundverträge der EG/EU waren Wirtschaftsverträge zur Herstellung eines Binnenmarkts. Arbeitsrechtliche Regeln enthielten sie nur wenige, mit Ausnahme derjenigen, welche die Nichtdiskriminierung als Voraussetzung der Personenfreizügigkeit gewährleisten. Mit den neuen Urteilen hat der EuGH als europäische Superinstanz alles umgedreht, wovon die Länder, die Öffentlichkeit und die Gewerkschaften bisher ausgegangen waren: dass sich die massgebenden arbeitsrechtlichen Bestimmungen unter Einschluss der Gesamtarbeitsverträge nach den nationalen Regeln, den sogenannten Vor-Ort-Regeln, richten.

Bisher war es selbstverständlich, dass die Staaten Regeln, beispielsweise soziale Normen zum Schutz der Löhne und der Arbeitsbedingungen erlassen können, die dann für alle gelten, die in diesem Land arbeiten. Und dass die Gewerkschaften Gesamtarbeitsverträge (GAV) abschliessen können. Einzige Bedingung im internationalen Verhältnis war und ist die Nichtdiskriminierung. GAV, Arbeitskämpfe und Submissionen waren unter dem Vorbehalt der Nichtdiskriminierung kein Thema für die EU. Unbestritten hatten die Beschäftigten und ihre Gewerkschaften das elementare Recht, ihre Löhne und ihre Gesamtarbeitsverträge notfalls mit Kampfmassnahmen zu verteidigen.


Binnenmarkt über Arbeitsrecht

Nun soll nach den neuen Urteilen des EuGH alles anders sein. Die Binnenmarktfreiheiten sollen jetzt über allem stehen. Der Kern der Entscheide besteht im Vorrang der kommerziellen Freiheiten vor den Arbeitsrechten. Die kommerziellen Freiheiten werden damit zu eigentlichen Super-Grundrechten, quasi mit Überverfassungsrang. Damit hat der EuGH genau das Projekt für massgebend erklärt, welches mit Bolkenstein(3) politisch gescheitert war. Diese politisch nicht legitimierte Neuformulierung der Grundlagen der Integration durch das Gericht kommt einer eigentlichen Usurpation, einer Anmassung von Kompetenzen gleich. Besonders gefährlich ist sie, weil es in der EU keine Instanz über dem EuGH gibt. Ökonomisch führen die Urteile zu einer Strategie des systematischen Lohndrucks.

Denn nichts anderes als institutionalisiertes Lohndumping ist es, wenn
a) nicht mehr das Lohnniveau und die Arbeitsbedingungen am Leistungsort massgebend sein sollen;
b) Einschränkungen der kommerziellen Freiheiten durch soziale Normen (GAV, Gesetze etc.) nur dann zugelassen werden, wenn sie die Binnenmarktfreiheiten nicht beeinträchtigen;
c) Arbeitskampfmassnahmen gegen Lohnsenkungen und Lohndruck (also Massnahmen zur Verteidigung der Lebensbedingungen) nur zulässig sind, wenn diese die kommerziellen Freiheiten nicht stören.

Diese "neoliberale Radikalisierung der Binnenmarktfreiheiten" (Scharpf) gegen bisher selbstverständliche soziale Errungenschaften fällt hinter alles zurück, was im EU-Projekt bisher galt. Und weil sie durch die Rechtssprechung herbeigeführt wird, erfolgt sie an jeder demokratischen Einflussnahme vorbei. Die Binnenmarktfreiheiten werden so zu Waffen der neoliberalen Politik umgeschmiedet, zu Lohndrückerfreiheiten, für eine Politik der Lohnsenkung und zur Zerstörung sozialer Errungenschaften. Die neuen Urteile des EuGH sind somit ein Angriff auf die Löhne und die Gewerkschaften, der in der Konsequenz ebenso folgenreich ist wie die politische Wende zum Neoliberalismus durch Reagan und Thatcher. Und dies ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, in dem der Neoliberalismus und der Monetarismus weltweit gescheitert sind. Und inzwischen allen klar geworden sein sollte, wohin die Politik der systematischen Senkung der Reallöhne in den USA in den letzten 25 Jahren geführt hat. Wenn die Leute zu wenig verdienen, um davon leben zu können, helfen auf die Dauer auch die Kredite auf Häusern und die Studiendarlehen nichts. Die politische Strategie des Lohndrucks ist selbstmörderisch: volkswirtschaftlich genauso wie gesellschaftlich und sozial.

Wer verstehen will, was jetzt abläuft, muss bis in das 19. Jahrhundert, in den frühen Kapitalismus zurückblenden. Damals, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, erzwang die Ausbeutung der arbeitenden Menschen erste arbeitsrechtliche Beschränkungen und die Gründung von Gewerkschaften als Selbsthilfeorganisationen der Arbeiter. Jede Sozialgesetzgebung, jede Arbeitsrechtsnorm, von der Abschaffung der Kinderarbeit bis zur Beschränkung des Arbeitstags, und erst recht die Lohnregelungen mussten gegenüber den Marktfreiheiten durchgesetzt werden. Arbeitsrechtliche Regeln sind immer eine Beeinträchtigung der Marktfreiheiten. Die menschliche Arbeit ist keine Ware.

Genau um solche Grundfragen geht es heute wieder. Die arbeitenden Menschen mussten immer durch das Arbeitsrecht und durch soziale Schutznormen vor den kommerziellen Freiheiten geschützt werden. Wenn das nicht mehr verstanden und respektiert wird, sind die ganzen Errungenschaften der sozialen Bewegungen, der Arbeiterbewegung, des Sozialstaats gefährdet. Ein solcher Kapitalismus führt zurück in die Barbarei.


SGB engagiert sich im Europäischen Gewerkschaftsbund EGB

Wegen der gewaltigen Tragweite dieser Urteile, und weil die Reaktion des EGB darauf ungenügend und ratlos war, haben wir vom Schweizerischen Gewerkschaftsbund uns im Sommer 2008 entschieden, dem etwas entgegenzusetzen, auch wenn es machtpolitisch zunächst vermessen erscheinen mochte, als gewerkschaftliche Dachorganisation eines kleineren Nicht-EU-Landes auf europäischer Ebene etwas bewegen zu wollen. Weil wir aber Teil der europäischen Gewerkschaftsbewegung (und des EGB) sind und die Entwicklungen in der EU faktisch und über die bilateralen Verträge auch Auswirkungen auf die Schweiz haben, entschlossen wir uns, aktiv zu werden. Die von uns in der Schweiz durchgesetzten flankierenden Massnahmen zur Personenfreizügigkeit beruhen darauf, dass die Arbeitsbedingungen in der Schweiz ("vor Ort") massgebend sind. Das heisst: Für Arbeiten in der Schweiz müssen Schweizer Löhne bezahlt werden. Es gehört zum Konzept der flankierenden Massnahmen, dieses Prinzip gegen Angriffe von innen (z.B. den Vorschlag des Bundesrates, im Entwurf für ein neues Gesetz über das öffentliche Beschaffungswesen bei den Arbeitsbedingungen auch das Herkunftsprinzip statt das Leistungsortsprinzip zuzulassen) und von aussen, wie den Druck auf die 8-Tage-Voranmeldefrist im Entsendegesetz,(4) zu verteidigen.

Der Vorstand des SGB verabschiedete am 3.9.2008 ein Positionspapier zur "Stärkung der Arbeitnehmerrechte in Europa" zuhanden des jährlichen Seminars der Spitzen der europäischen Gewerkschaften, das Ende September 2008 in London stattfand, und zuhanden des Vorstands des EGB vom Oktober 2008. Das Positionspapier nahm eine knappe Analyse der Ausgangslage nach den Urteilen des EuGH vor und begründete die Forderung an den EGB, das Prinzip "Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort" offensiv wieder aufzunehmen und auf dieser Basis Druck auf die EU-Institutionen auszuüben. Analog zur erfolgreichen Strategie des SGB, die am Davoser Kongress von 1998 beschlossen worden war, schlugen wir vor, die Respektierung der Arbeitnehmer/innenrechte als Voraussetzung dafür zu erklären, dass die europäische Gewerkschaftsbewegung den Binnenmarktprozess weiter unterstützt. Dafür müsste eine Strategie auf europäischer wie auf nationaler Ebene entwickelt werden. Wir schlugen zudem vor, die nationalen Regelungen zum Schutz der Beschäftigten gegen die Logik der neuen arbeitnehmerfeindlichen Urteile des EuGH offensiv zu verteidigen.


Obwohl wir wussten, dass es nicht einfach sein wird, das Thema überhaupt auf die Agenda des EGB zu setzen, haben die seitherigen konkreten Erfahrungen illustriert und bestätigt, wie schwierig es ist, auf europäischer Ebene eine wirksame Strategie zur Verteidigung der Arbeitnehmer/innenrechte zu erarbeiten. Dass die aktuelle Finanz- und Wirtschaftskrise alle anderen dringlichen Themen in den Hintergrund geschoben hat, erklärt nur zu einem Teil die Schwierigkeiten. Vorrangig verantwortlich für das bis heute nicht zufriedenstellende Zwischenresultat unserer Bemühungen ist die Funktionsweise des EGB.

Die Schwierigkeiten setzten ein mit der Obstruktion vonseiten des gegenwärtigen Generalsekretärs des EGB, des aus dem Umfeld von "New Labour" stammenden John Monks, das Papier entgegenzunehmen und zu traktandieren. Das allein wirft schon Fragen zur Funktionsweise des EGB auf und ist jedenfalls ein schlechtes Zeichen für die Transparenz und die Gewerkschaftsdemokratie auf dieser Stufe. Auch wenn wir dieser Obstruktion dadurch begegnen konnten, dass wir das übersetzte Positionspapier den Gewerkschaftsbünden der anderen europäischen Länder direkt zustellten, musste bisher immer dafür gekämpft werden, damit das für die europäischen Gewerkschaften doch zentrale Thema überhaupt diskutiert werden konnte.(5)


Streikrecht in Gefahr

Die bisherigen Erfahrungen aus den Diskussionen über die mit dem SGB-Positionspapier aufgeworfenen Fragen sind nicht weniger zwiespältig. Obschon die Reaktionen der Gewerkschaftsbünde verschiedener Länder und vor allem einiger europäischer und internationaler Branchensekretariate sehr positiv waren und wir namentlich durch die Führungsebene der gewichtigen deutschen Gewerkschaften offensiv unterstützt wurden, blieben angemessene Reaktionen des federführenden EGB-Sekretariats bis heute aus. Antworten in der Form diplomatischer (und in einer Bittsteller-Sprache formulierter) Briefe an die EU-Ratspräsidenten und die EU-Kommission waren und sind keine adäquate Reaktion auf die epochale Herausforderung, vor der die europäischen Gewerkschaften stehen.

Immerhin können jetzt nach einigen Monaten in einer Art Zwischenbilanz eine Reihe von Hindernissen genannt werden, die sich auf der Ebene des EGB einer offensiven gewerkschaftlichen Politik entgegenstellen. Vor allem sind einige Argumentationsfallen deutlich sichtbar geworden, die für die gewerkschaftlichen Handlungsmöglichkeiten von fataler Konsequenz sind und die zuerst offen thematisiert werden müssen. Eine erste Falle besteht in der Selbsttäuschung über die Tragweite der durch die Urteile des EuGH herbeigeführten Wende. Wenn die Urteile als "Unfall" (wie Unfälle im Leben und in der Rechtssprechung halt vorkommen) bezeichnet werden, dann wird der Eindruck erweckt, dass das Leben nach diesen Urteilen so weitergeht wie zuvor bzw. die rechtlichen Grundlagen der Gewerkschaftpolitik unverändert gelten. Das trifft nicht zu.

Wenn erste Kommentare aus der Küche des EGB die Urteile zwar kritisieren, sie aber gleichzeitig dafür loben, dass der EuGH das Streikrecht anerkannt habe, dann täuschen diese Kommentare über den wahren Charakter der Urteile hinweg, die in dieser Frage kein Fortschritt, sondern ein epochaler Rückschritt sind. Der EuGH hat sich mit dem Streikrecht nicht beschäftigt, um ihm auf europäischer Ebene ein besonderes Gewicht zu verleihen, sondern um dieses Grundrecht massiv einzuschränken, das heisst den kommerziellen Binnenmarktfreiheiten zu unterwerfen. Wenn die Selbsttäuschung über die Urteile anhält, ist auch keine offensive gewerkschaftliche Strategie gegen diesen fundamentalen Angriff auf die Rechte der Arbeitnehmer/innen (und der Gewerkschaften) in Europa möglich. Verabschiedet werden muss eine nicht nur in Teilen der Linken, sondern auch in Teilen der Gewerkschaften verbreitete Illusion, dass alles, was auf die europäische Ebene gehoben wird, ein Fortschritt sei. Falsch wäre natürlich auch die gegenteilige Annahme; es braucht immer eine genaue Analyse der konkreten Konstellation.

Eine zweite Argumentationsfalle liegt in der in vielen Diskussionen auf europäischer Ebene spürbaren Angst, dass eine offensive gewerkschaftliche Politik, die den binnenmarktgesteuerten Integrationsprozess nur unter der Bedingung der Wahrung der sozialen Interessen mitträgt, dem Rechtspopulismus und dem Nationalismus Vorschub leiste. Das ist nur schon deshalb falsch, weil Gewerkschaften, die nicht mehr bereit und in der Lage sind, die Interessen der Beschäftigten, die sie organisieren, zu verteidigen - und zwar vor Ort, wo diese arbeiten, wo sie wohnen und leben -, ihre Existenzberechtigung verlieren. Wenn etwas dem Rechtspopulismus und dem Nationalismus Vorschub leistet, dann ist es das neoliberal radikalisierte Binnenmarktprojekt, das auf die sozialen Interessen keine Rücksicht nimmt - und nicht die Kritik an dieser antisozialen Entwicklung. Das A und O der gewerkschaftlichen Politik muss es sein, die sozialen Interessen auch im Integrationsprozess offensiv zu verteidigen. Und am Anfang einer glaubwürdigen und selbstbewussten Gewerkschaftspolitik steht die Notwendigkeit, die Realität nicht besser darzustellen, als sie tatsächlich ist.


Internationale Solidarität gefragt

Eine dritte Argumentationsfalle hat sich erst im Laufe der Diskussionen der letzten Monate gezeigt. Der Vorschlag, sich für eine europaweite Kampagne zur offensiven Verteidigung des Arbeitnehmerschutzes auf den Slogan "Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort" - oder alternativ wenigstens auf eine Parole gegen Lohn- und Sozialdumping, verbunden mit der Verteidigung der Arbeitsrechte - zu verständigen, wurde vom Generalsekretär des EGB, unterstützt von der Präsidentin, zunächst bekämpft. Der Generalsekretär führte dabei unter anderem das Argument ins Feld, dass eine solche Parole das gewerkschaftliche Europa spalte, weil die osteuropäischen Gewerkschaften respektive ihre Mitglieder damit indirekt für Sozialdumping verantwortlich gemacht werden könnten. Auf den Punkt gebracht, heisst das nichts anderes, als dass sich die Verteidigung des höheren Lohnniveaus in den Ländern des Westens gegen die Menschen in den neuen EU-Ländern richte.

Das ist vielleicht die politisch fatalste Argumentationsfalle, weil sie deutlich macht, dass es oft am elementarsten Verständnis der Prinzipien der Migration in gewerkschaftlicher Perspektive fehlt, oder dass diese Prinzipien vergessen worden sind. Warum kamen Italiener oder Spanier in die Schweiz oder nach Deutschland? Doch nicht, um für süditalienische oder südspanische Löhne zu arbeiten. Und wenn ein polnischer Handwerker in Deutschland arbeitet, dann doch nicht, um mit einem polnischen Lohn abgefertigt zu werden. Die Verteidigung der Löhne und Arbeitsbedingungen vor Ort liegt doch nicht nur im Interesse der Beschäftigten der sogenannten Hochlohnländer. Sondern genauso im Interesse jener, die aus Ländern mit einem tieferen Lohnniveau emigrieren. Die Verteidigung des Lohnniveaus vor Ort, verbunden mit einer Politik der Nichtdiskriminierung, ist die gemeinsame Basis für eine wirksame Interessenvertretung der Beschäftigten unter den Bedingungen der Personenfreizügigkeit mit Ländern und Regionen mit unterschiedlichem Lohnniveau. Es spricht im übrigen ja für sich, dass es nie Arbeitnehmer/innen waren, welche die Prozesse in Gang setzten, die zu den neuen EuGH-Urteilen führten. Hinter den Prozessen standen durchweg Wirtschafts- und Arbeitgeberinteressen aus den sogenannten Hochlohnstaaten, mit der klaren Absicht, die Löhne zu drücken. Diese Interessenlage ist uns aus der Schweiz bestens bekannt.


Was zu tun ist

Auf die neoliberale Herausforderung durch die neuen Urteile des EuGH gibt es nur politische Antworten. Voraussetzung wirksamer politischer Gegenstrategien sind aber klare Positionen und entsprechende Kampagnen der Gewerkschaften. Dafür müssen die Diskussionsprozesse auf der Stufe des EGB vorangetrieben werden, trotz der bisher zwiespältigen Erfahrungen. Die Fragen, um die es geht, und die Interessen der Beschäftigten, die akut bedroht sind, sind zu wichtig, als dass sie der bürokratischen Funktionsweise der Apparate überlassen werden können.

Damit sich etwas ändert, muss die Debatte aber auch in die Verbände und Bünde der verschiedenen europäischen Länder hineingetragen werden. In den Gewerkschaften als sozialen Bewegungen muss die Verteidigung der Löhne und der Arbeitsbedingungen vor Ort als unverzichtbare Basis gewerkschaftlicher Arbeit zum Ausdruck gebracht und geltend gemacht werden. Eine Gewerkschaftsbewegung, die sich auch in europäischen Zusammenhängen als Bewegung von unten versteht, kann und wird dafür sorgen, dass die europäische Gewerkschaftsbewegung aus der Subalternität im Europa-Projekt endlich hervortritt und sich den Respekt verschafft, der bei diesen grossen Herausforderungen im Interesse der arbeitenden Menschen nötig ist. Die Offensive für die Verteidigung der Löhne gegen Lohndruck und Lohndumping muss schliesslich im Zusammenhang mit den anderen Kampagnen für soziale Rechte gesehen werden. Dazu gehört die Mindestlohnkampagne genauso wie die Kampagne für die Gewerkschaftsrechte, d.h. das Recht, sich in Gewerkschaften zu organisieren und gewerkschaftlich zu betätigen.

Übrigens ist Obama in den USA unter anderem mit dem Versprechen gewählt worden, die Gewerkschaftsrechte durch den sogenannten EFCA ("Employee Free Choice Act") zu stärken. Die historische Schwächung der Gewerkschaften und des Rechts, sich in Gewerkschaften zu organisieren, war in den USA der neoliberalen Ära seit Reagan eine entscheidende Voraussetzung dafür, dass die Reallöhne der arbeitenden Menschen stagnierten und sogar gesenkt werden konnten. Die Stärkung der kollektiven Rechte ist ein Schlüssel für eine sozialere Entwicklung. Nicht von ungefähr war der EFCA der Grund für die Supermarktkette Walmart, massiv in den Wahlkampf gegen Obama zu investieren.

Wenn nicht alles täuscht, wird die Fähigkeit der europäischen Gewerkschaften, eine offensive und überzeugende Antwort auf die durch die Urteile des EuGH provozierte neoliberale Radikalisierung des Europaprojekts zu finden, eine Schlüsselfrage zukünftiger Gewerkschaftspolitik sein: nicht nur für die Beschäftigten und die Gewerkschaften in Europa, sondern für die künftige Entwicklung des Europaprojekts überhaupt.


Paul Rechsteiner, 1952, Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes / SGB, St. Gallen


Anmerkungen:

(1) Dieser Beitrag fusst auf einem Referat, gehalten an der "Oltener Tagung" vom 17. Januar 2009.

(2) Rs. C-438/05, Viking, Urteil vom 11.12.2007, Rs. C-341/05, Laval, vom 18.12.2007, Rs. C-346/06, Dirk Rüffert, Urteil vom 3.4.2008 und Rs. C-319/06, KOM gegen Luxemburg, Urteil vom 19.6.2008. Zur Einschätzung dieser Urteile vgl. auch Martin Höpner: Integration durch Usurpation. Thesen zur Radikalisierung der Binnenmarktintegration. WSI-Mitteilungen 8/2009.

(3) Der ehemalige niederländische EU-Kommissar Bolkenstein wollte mit der Dienstleistungsrichtlinie u.a. festlegen, dass private Dienstleistungsunternehmen bei Aufträgen im Ausland ausschliesslich die Bestimmungen ihres Heimatlandes einhalten müssen und nicht diejenigen des Ausführungsortes. Das EU-Parlament hat dann diese Richtlinie zwar verabschiedet, aber wesentlich zugunsten der Arbeitnehmerrechte verändert.

(4) Deutschland, Österreich und die EU-Kommission hatten auf die Schweiz Druck gemacht, um zu erreichen, dass sich Firmen, die in der Schweiz tätig sein wollen, nicht mehr an die im Entsendegesetz vorgeschriebene 8-Tage-Anmeldefrist halten müssen.

(5) Ende April 2009 kam es nach vielen weiteren Debatten endlich dazu, dass die Leitungsorgane des EGB den Grundsatz "Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort" programmatisch übernahmen. Keine geringe Rolle spielten dabei die Vorgänge um die Raffinerie Lindsay in Grossbritannien. Bis heute war der EGB aber nicht in der Lage, auch eine wirksame Strategie zur Durchsetzung dieser zentralen Forderung vorzuschlagen. Die Aktualität dieser Forderung hat sich, wie eine Fachtagung des SAH vom 19. November 2009 zum Thema "Sozialpartnerschaft in der Schweiz und in Mittel- und Osteuropa" gezeigt hat, inzwischen auch in mittel- und osteuropäischen Ländern manifestiert, wenn beispielsweise chinesische Arbeiter polnische Autobahnen bauen.


*


Hinweis auf weitere Artikel der aktuellen Ausgabe:

WIDERSPRUCH 57 - 2. Halbjahr 2009

Staat und Krise
Finanzmarktkrise, Staatsinterventionismus,
Green New Deal; Staaten in Afrika;
Geschlechtergerechtigkeit; Staatsleitbilder und
marktliberaler Diskurs; Finanz- und Steuerpolitik;
Kritische Arbeitssoziologie; Post-Neoliberalismus;
Deglobalisierung - Strategie von unten;
Arbeitnehmer/innenrechte in Europa

E. Altvater, H. Melber, B. Sauer, H.-J. Bieling,
D. Lampart, W. Vontobel, J. Wissel, K. Dörre,
U. Brand, H. Schäppi, P. Rechsteiner

Diskussion
M. Vester: Wirtschaftlicher Pfadwechsel
P. Oehlke: Soziale Demokratie und Verfassungspolitik
C. v. Werlhof: Post-patriarchalen Zivilisation
W. Völker: André Gorz' radikales Vermächtnis


WIDERSPRUCH 57:
Staat und Krise
208 Seiten, Fr. 25.-, Euro 16.-,
im Buchhandel oder bei
WIDERSPRUCH, Postfach, CH-8031 Zürich.
Tel./Fax 0041 (0)44 273 03 02
vertrieb@widerspruch.ch, www.widerspruch.ch


*


Quelle:
Widerspruch 57 - Beiträge zu sozialistischer Politik
29. Jahrgang, 2. Halbjahr 2009, S. 115-121
Herausgeber: Widerspruch, Postfach, 8031 Zürich, Schweiz
Bestelladresse: Tel./Fax 0041 (0)44 273 03 02
E-Mail: redaktion@widerspruch.ch
Internet: www.widerspruch.ch

Widerspruch erscheint halbjährlich.
Einzelheft: 25 Franken / 16 Euro
Jahresabonnement (2 Hefte): 40 Franken / 27 Euro
(zzgl. Porto und Versand)


veröffentlicht im Schattenblick zum 4. August 2010