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Z/164: Ökonomische Krise und politischer Wandel in Griechenland


Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung Nr. 91 - September 2012

Ökonomische Krise und politischer Wandel in Griechenland

Von Jannis Milios



1. Die Nationalwahlen vom 6. Mai und 17. Juni 2012

Die Nationalwahlen vom 6. Mai 2012 in Griechenland haben gezeigt, dass sich die politische Szene des Landes in einem Prozess der radikalen Umstrukturierung befindet (s. Tabelle 1).

Tabelle 1: Ergebnisse der Nationalwahlen in Griechenland (in 
 Prozent)
Parteien
Okt. 2009
Mai 2012
Juni 2012
ND
SYRIZA
PASOK
ANEL
KKE
XA
DEMAR
LAOS
Parteien <3 Prozent
 33,47
  4,60
 43,92
 -
  7,54
 (0,29)
 -
  5,63
 (4,84)
 18,85
 16,78
 13,18
 10,61
  8,48
  6,97
  6,11
 (2,90)
(19,02)
 29,66
 26,89
 12,28
  7,51
  4,50
  6,92
  6,26
 (1,58)
 (5,98)


Die beiden seit dem Fall der Junta (1974) regierenden Parteien, die konservative Nea Demokratia (ND) und die sozialdemokratische PASOK haben dramatisch an Einflusse und zusammen knapp 50 Prozent der Stimmen verloren (Maiwahlen).

Die Koalition der Radikalen Linken (SYRIZA) vervierfachte dagegen ihr Wahlergebnis (von 4,6 Prozent auf 16,78 Prozent). In allen Arbeitervierteln der Großstädte des Landes wurde SYRIZA die stärkste Partei und erreichte im Schnitt Ergebnisse von ca. 25 Prozent der Stimmen.

Die rechtsradikale LAOS, die seit November 2011 Teil der Koalitionsregierung unter dem Bankier Papademos zusammen mit PASOK und ND war, blieb unter der 3,0 Prozent-Grenze und verfehlte damit den Einzug ins Parlament. Die faschistische Gruppe Goldene Dämmerung (Chrissi Avgi: XA) erzielte einen enorme Zuwachs und kam von 0,29 auf 6,97 Prozent.

Zwei neue Parteien, die aus Spaltungen existierender Parteien entstanden sind, konnten einen gewissen Einfluss unter den Wählern erlangen: Die "Unabhängigen Griechen" (ANEL) lehnten die Austeritätsagenda der ND und der Papademos Regierung ab und gründeten im Februar 2012 eine eigene Partei. Die Demokratische Linke (DEMAR) wurde von der "rechten" Fraktion der SYRIZA gegründet und trat im Juni 2010 aus der SYRIZA aus.

Alle kleineren Parteien, die die 3 Prozent-Grenze für den Einzug ins Parlament nicht erreicht haben, kamen zusammen auf den relativ hohen Anteil von 19,02 Prozent.

Obwohl die drei Parteien ND, PASOK und DEMAR bei den Maiwahlen eine Mehrheit im Parlament von 168 der 300 Abgeordneten hatten, bildeten sie keine Regierung, sondern verkündeten Neuwahlen für den 17. Juni 2012. Die Ergebnisse der Maiwahlen brachten somit keine Legitimationsbasis für die bisher regierenden Parteien und ihre Verbündeten. SYRIZA, die die Massenbewegungen der Werktätigen und Arbeitslosen für mehrere Jahre unterstützt hatte, hätte eine solche Regierung ohne weiteres destabilisieren können.

Die Wahlen vom 17. Juni waren ein Kampf zwischen "dem System" auf der einen Seite (bestehend aus den bisher regierenden Parteien, den Massenmedien. den Großunternehmern, die ihren Beschäftigten mit Entlassung drohten, falls sie für SYRIZA stimmten, der deutschen und anderen europäischen Regierungen usw.), und SYRIZA auf der anderen Seite.

"Das System" behauptete, dass im Falle eines Sieges von SYRIZA eine ökonomische Katastrophe und der Austritt Griechenlands aus der Eurozone die unvermeidliche Folge wäre. Die Verunsicherung der Wähler war also ihrer hauptsächliches politisches Ziel. Unter dem Druck und der Dynamik von SYRIZA verständigten sich die zwei bisher regierenden Parteien, ND, PASOK, aber auch die DEMAR, über die Notwendigkeit einer zukünftigen allmählichen Abschwächung der Austeritäts- und Kürzungspolitik. SYRIZA kämpfte dagegen für die sofortige Annullierung aller Austeritätsmaßnahmen der letzten Jahre, den Anstieg der Staatseinnahmen durch stärkere Besteuerung von Großvermögen und Gewinnen, um den Staatshaushalt auszugleichen, für eine Reform des Staates und die Bekämpfung der Korruption, und andererseits für eine Neuverhandlung der Staatsschulden mit den EU-Behörden und dem IWF nach dem Vorbild der Vereinbarung über die bundesrepublikanische Staatsschuld im Jahre 1953.[1] Gleichzeitig verteidigte SYRIZA das Programm der Europäischen Linken für eine radikale Reform der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) und der Architektur der Eurozone. Die Kommunistische Partei Griechenlands (KKE), die eine sektiererische Politik der separaten eigenen Kundgebungen und Streiks verfolgte, beschrieb das Programm von SYRIZA als unrealistisch im Rahmen des Systems des Privateigentums über die Produktionsmittel und lehnte alle Vorschläge von Seitens der SYRIZA für die Bildung einer großen Koalition aller linken politischen Kräfte ab.

Am 17. Juni kam es zu einer Polarisierung der Wähler zwischen ND und SYRIZA, was vor allem auf Kosten der ANEL, der KKE und der kleineren Parteien ging, die bei den Mai Wahlen die drei Prozent Grenze nicht erreicht hatten (s. Tabelle 1). Der knappe Sieg der ND über SYRIZA hatte deutliche Klassenmerkmale - die wohlhabenderen Mittelschichten und die Angehörigen der herrschenden Klassen haben massiv für die ND gestimmt -, war aber auch ein Ergebnis der massiven Beeinflussung der Wähler. Folgende Resultate sind charakteristisch für das Verhalten der Wähler: Bei der Altersgruppe 18-24 Jahre kam SYRIZA auf 37 Prozent und die ND nur auf 11 Prozent der Stimmen, während bei der Altersgruppe "mehr als 65 Jahre alt" das Bild umgekehrt war: ND 48 Prozent, SYRIZA 13 Prozent.[2]

Das Wahlergebnis vorn Juni erlaubte den drei Parteien der neoliberalen Ordnung, ND, PASOK und DEMAR, eine Koalitionsregierung zu bilden. Die Wirtschaftskrise und die sich verschärfenden Klassenauseinandersetzungen, die den politischen Umbruch der Mai- und Juni-Wahlen hervorgerufen haben, werden auch die (Un)Fähigkeit der neuen Regierung bestimmen, die neoliberale Agenda der Umverteilung von Reichtum und Herrschaft zugunsten der herrschenden Klassen fortzusetzen.


2. Wirtschaftskrise und Austeritätspolitik: Die Krise als
Gelegenheit für die kapitalistische Offensive

Die globale kapitalistische Krise ist wahrscheinlich die größte seit dem zweiten Weltkrieg. Jedoch ist die Krise des griechischen Kapitalismus tiefer als in den meisten europäischen bzw. entwickelten kapitalistischen Ländern. Der kumulative Rückgang des Bruttoinlandprodukts seit 2008 beträgt 20 Prozent in konstanten Preisen, was die größte Rezession seit dem 2. Weltkrieg bedeutet. Die offizielle Arbeitslosigkeit stieg von 8,5 Prozent in 2007 auf 22,5 Prozent im Juli 2012. Die Bruttokapitalinvestitionen gingen auf das Niveau von 1996 zurück.

Die herrschenden Klassen versuchen die Ausbeutung der Arbeitskraft zu erhöhen und den Sozialstaat abzubauen, um die Last der Krise auf die Schultern der Arbeiterklasse und der Selbständigen abzuwälzen. Die Löhne wurden zwischen 2010 und 2012 im Durchschnitt um 20 Prozent gesenkt, was ihre reelle Kaufkraft betrifft. Ca. 33 Prozent der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze.

Es scheint, dass die Regierenden und ihre Berater sich verschätzt haben, was Ausmaß und die Dauer der Krise betrifft. Am Anfang glaubte man, dass die Krise international 2010 zu Ende gehe und infolgedessen auch Griechenland auf den Wachstumspfad zurückkehren und seine Staatsfinanzen in den Griff bekommen würde. Der "Gewinn der Krise" wäre die Abschaffung jeglichen Schutzes der Arbeit, die Demontage der Sozialversicherungssysteme und die Privatisierung öffentlichen Eigentums gewesen, die im und mit dem Schock der Krise durchgesetzt werden konnten.

Die Situation änderte sich als sich zeigte, dass es sich nicht um eine Bankenkrise handelte, sondern um eine echte Wirtschaftskrise (d.h. um eine Überakkumulationskrise). Der Einbruch der Staatseinnahmen aufgrund der verminderten Wirtschaftstätigkeit und die Unmöglichkeit, infolge der Arbeitslosigkeit, der Rettungsaktionen für die Banken und der Zinszahlungen für die öffentlichen Schulden die Staatsausgaben entsprechend zu vermindern, ließen das Haushaltsdefizit auf fast 15 Prozent des BIP anwachsen.

Bis Ende 2009/Anfang 2010 gab es noch Möglichkeiten, einen Ausweg aus der Fiskalkrise zu finden. Die Zinsen für griechische Staatsanleihen waren noch niedrig und die zweite Bankenkrise noch nicht ausgebrochen. Eine schnelle Steuerreform, die hohe Einkommen, große Vermögen - wenn nötig in konfiskatorischer Höhe - und den Luxuskonsum entsprechend den Bedürfnissen der Staatsfinanzen belastet hätte, hätte zu einer Lösung geführt.

Jedoch hatten bürgerliche Kräfte andere Pläne. Schon als Oppositionsführer hatte Giorgos Papandreou Gespräche mit dem damaligen IWF-Direktor Strauss-Kahn über eine Intervention des Fonds in Griechenland geführt. Kurz nach seinem Wahlsieg sprach er öffentlich von der "maroden" griechischen Wirtschaft und der Unfähigkeit des griechischen Staates, die Krise zu meistern.

Die internationalen Märkte hatten daraufhin das Investitionsrisiko in griechische Wertpapieren als hoch bewertet, worauf deren Zinssätze in die Höhe schossen. Kurz danach wurde das Memorandum über die so genannte Stabilisierungshilfe zwischen der "Troika" aus IWF, EZB und EU-Kommission und der griechischen Regierung unterschrieben.

Seit Mitte 2011, als sich die Schuldenkrise der Staatsfinanzen auf Grund der Rezession und des Beharrens auf einer Steuerpolitik der permanenten Entlastung des großen Kapitals verschärfte, verhandelte die Troika mit der griechischen Regierung und mit Banken und Fonds über einen Schuldenerlass ("Haircut") in Höhe von 100 Milliarden Euro seitens des "privaten Sektors" und ein neues Kreditpaket in Höhe von 130 Milliarden Euro von der Troika. Die Voraussetzung für das zweite Kreditpaket war ein neues Sparprogramm, das unter anderem die Verminderung des Mindestlohns von 751 auf 585 Euro, d.h. um 22 Prozent enthielt.


3. Vom dynamischen Wachstum zur Rezession

Die akute Krise des griechischen Kapitalismus ist nicht entstanden weil es ihm an Dynamik gefehlt hätte oder weil er vom deutschen bzw. "Nordeuropäischen" Kapitalismus niederkonkurriert worden wäre. Ganz im Gegenteil ist die heutige Krise gewissermaßen ein Resultat der spezifischen Dynamik, die der griechische Kapitalismus im Rahmen der Eurozone erlangte. Die Intensität der Krise ist im Zusammenhang mit drei Faktoren zu erklären.

• Die neoliberale Politik, die die griechischen Regierungen der vergangenen Jahrzehnte verfolgten, wies selbst extreme Besonderheiten auf;

- die Intensität der globalen Überakkumulationskrise und der Bedeutungszuwachs der Finanzmärkte wurden von den griechischen Regierungen unterschätzt. Sie wirkten im Lande als starke Disziplinierungsmechanismen;

- die Struktur der Eurozone, die eine schnelle Konvergenz des Entwicklungsniveaus der EU-Länder begünstigte, verstärkte auch Asymmetrien, die das Euro-Gebäude verletzlich machen.


3.1. Hohe Staatsschulden als Ausdruck der Klassenpolitik

Der griechische Kapitalismus entwickelte sich mit sehr hohen Wachstumsraten während der anderthalb Jahrzehnte vor Beginn der Krise. Im Zeitraum 1995-2008 erlebte Griechenland einen realen Anstieg des Bruttoinlandsprodukts in Höhe von 61,0 Prozent, Spanien von 56,0 Prozent und Irland von 124,1 Prozent, ganz im Gegensatz zu dem, was mit den höher entwickelten europäischen Volkswirtschaften geschah. Das BIP-Wachstum im gleichen Zeitraum betrug 19,5 Prozent für Deutschland, 17,8 Prozent für Italien und 30,8 Prozent für Frankreich.

Jedoch schwankte die Staatsschuld Griechenlands während dieser ganzen Periode um die 100 Prozent des BIP, d.h. sie blieb prozentual fast konstant. Das war das Ergebnis einerseits einer ständigen Verminderung der Steuerkoeffizienten für Großunternehmen und -vermögen und andererseits der graduellen Abschaffung der Kontrollmechanismen gegen Steuerhinterziehung, auf dessen Basis ein Klassenbündnis zwischen Großkapital und den Mittelklassen errichtet wurde.

Wenn in Griechenland die Besteuerung des Kapitals in der Höhe des europäischen Mittelwerts gelegen hätte, dann hätte der Staat zwischen 1998-2008 zusätzlich 95 Milliarden Euros eingesammelt. Fast die Größe des 1."Hilfspakets". Dann wäre Griechenland mit einem Schuldquotienten zum BIP von 88 Prozent statt 115 Prozent in die Krise gegangen.


3.2. Die Krise als "Hebel" für eine Umstrukturierung der Gesellschaft zugunsten der Interessen des Kapitals

Die bürgerlichen Parteien und insbesondere die seit Oktober 2009 regierende "sozialistische" PASOK haben die Krise unterschätzt und sie vor allem als eine Chance für Maßnahmen betrachtet, die alle bürgerliche Regierungen in den letzten 20 Jahren durchzusetzen versuchten, die jedoch ständig am Widerstand der Betroffenen scheiterten.

Kurz nach der Verabschiedung des 1. Memorandums äußerten Regierungsvertreter, dass die Troika - wenn es sie nicht gäbe - erfunden werden müsste. Noch heute nehmen bürgerliche Politiker und Journalisten in öffentlichen Äußerungen eher am Tempo der Maßnahmen Anstoß als an deren Inhalt.

Nach allen Informationen wurde das Troika-Programm zum größten Teil von griechischen Politikern bzw. Unternehmerverbänden geschrieben. Die griechische Regierung sowie die EU-Behörden haben alle Mittel genutzt, um die Bedingungen für die Unterzeichnung und Durchsetzung des Programms zu schaffen. Diese Schlussfolgerung bekräftigt auch der Athener Staatsanwalt für Wirtschaftskriminalität. Er hat eine Untersuchung eingeleitet, die klären soll, ob 2010 auf Druck von Eurostat und der griechischen Regierung das griechische Amt für Statistik Zahlen gefälscht hat, damit ein höheres Staatsbudgetdefizit herauskommt - um auf diese Weise leichter Sparmaßnahmen durchsetzen zu können.

Die prekäre Lage eines ständig wachsenden Teils der Bevölkerung gefährdet allerdings auch die Stabilität der bürgerlichen Macht und insbesondere der politischen Institutionen, auf die sie sich stützt.


3.3. Neoliberale Strategien und die Struktur der Eurozone

Der Euro hat ein strategisches Ziel, das von den herrschenden Klassen in der gesamten Eurozone angestrebt wird: Die Liberalisierung des Waren- und Kapitalverkehrs und die Intensivierung der Konkurrenz zwischen den Einzelkapitalen als Mittel, um die Arbeitskraft "elastischer" zu machen und die Umstrukturierung ökonomischer und politischer Verhältnisse zu Gunsten des Kapitals zu erreichen. Diese Europäische Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) bringt eine extreme Variante der internationalen Konkurrenz hervor, die auf der ständigen "Anpassung" der Arbeit beruht.

Es ist weithin bekannt, dass die Liberalisierung des Kapitalverkehrs in Verbindung mit festen Wechselkursen (oder besser einer einheitlichen Währung) notwendigerweise den Verlust über die Kontrolle der Geld- und Kreditpolitik nach sich zieht. Damit werden wirtschaftliche Verhältnisse geschaffen, die die traditionelle Wohlfahrtspolitik zerstören. Dass die Produktivität schneller steigt als die Reallöhne, ist die Voraussetzung, die gewährleistet, dass die Kapitalakkumulation fortgesetzt werden kann.

Der Binnenmarkt hat also alle europäischen kapitalistischen Systeme im Klassenkampf gegen die Arbeiterklasse begünstigt. Jedoch hat er auch eine typische Asymmetrie zwischen den europäischen Sozialformationen geschaffen, die dem ähnelt, was in der Geschichte des Kapitalismus die "holländische Krankheit" genannt wurde: Diejenigen Länder, die im internationalen Vergleich eine überdurchschnittlich hohe nationale Profitrate und daher auch überdurchschnittliche Wachstumsraten erzielten (und das ist vor allem bei Irland, Griechenland und Spanien der Fall), wurden gleichzeitig mit einer positiven Kapital- und einer negativen Handelsbilanz konfrontiert.

Die Symbiose von Volkswirtschaften mit unterschiedlichem Entwicklungsniveau unter der gleichen Währung (und derselben Geldpolitik) hat in einem hohen Maße die unterschiedlichen Wachstumsraten und die Profitabilität beeinflusst. Das relativ schnelle Wachstum der so genannten "Peripherie" (zusammen mit dem moderaten Wachstum des so genannten "Zentrums") reduzierte deutlich die Entwicklungskluft zwischen den europäischen Staaten und Regionen.

Gleichzeitig wurden die höheren Wachstumsraten in den "peripheren" EU-Volkswirtschaften sowohl von einer schnellen Senkung der Kosten von inländischen Anleihen und einem deutlichen Zustrom ausländischer Ersparnisse (in verschiedenen Formen) begleitet. Dies verursachte anhaltende Überschüsse in der Kapitalbilanz. Die gleichzeitigen Defizite in den Leistungsbilanzen spiegeln genau diese Erhöhung der Binnenmarktnachfrage und den Zufluss von ausländischen Investitionen (insbesondere Portfolio-Investitionen) wider.

Diese Art der Symbiose im EU-Binnenmarkt ist instabil und anfällig für eine Neubewertung des finanziellen Risikos seitens der Geldmärkte. Aus der Wirtschaftskrise resultierte also ein Stopp der Kapitalströme nach Griechenland und den anderen "Risikostaaten", die jetzt die Zahlungsbilanzdefizite hauptsächlich durch Anleihen finanzieren müssen.

Was ich hier betonen möchte ist folgendes: Die Widersprüche, die sich durch die Krise verschärft haben, sind eher soziale Konflikte als Staats- bzw. nationale Konflikte. Wenn Merkel dem griechischen Premierminister Ratschläge erteilt oder ihn ermahnt, dann versucht sie nicht die Vorherrschaft Deutschlands über Griechenland zu erreichen, dann arbeitet sie vielmehr an der Durchsetzung eines Konzepts, das den Klasseninteressen der griechischen und der europäischen Bourgeoisie entspricht.


4. Massenmobilisierungen, linke Alternativen und die abnehmende Legitimität der bürgerliche Parteien

In den ersten März-Tagen 2010, als die Regierung mit der Zahlungsunfähigkeit drohte, war die Bevölkerung schockiert. Außerdem protestierte die Gewerkschaftsführung nur sehr zurückhaltend und zeigte sich unwillig, die Lohnabhängigen zu mobilisieren. Erst langsam bildete sich Widerstand, vor allem als das Ausmaß der Einschnitte bekannt wurde (die bei weitem nicht so drastisch waren wie das, was in den Jahren 2011 und 2012 folgte). Erst im Mai 2010 kam der Widerstand mit Massendemonstrationen und Streiks richtig in Gang.

Bei einer der größten Kundgebungen im Athener Stadtzentrum wurden Brandsätze gegen ein Bankgebäude geworfen; vier Menschen, die sich darin aufhielten, kamen im Feuer um. Dies hat sich für lange Zeit auf die Mobilisierung ausgewirkt. Abscheu oder auch Angst hielt viele Menschen von der Teilnahme an weiteren Demonstrationen ab.

Ein Höhepunkt der Bewegung waren - nach ägyptischem und spanischem Vorbild - die Besetzungen öffentlicher Plätze in den meisten griechischen Städten. Parallel gab es tägliche Auseinandersetzungen in Betrieben, in den Schulen und Hochschulen, in den Wohnvierteln, usw. Auf den besetzten Plätzen blieben ganze Nächte lang oft Tausende, die heftig und lang über Fragen der Wirtschaftspolitik, über Demokratie, über den Charakter der EU und der Währungsunion diskutierten; es wurden Fachleute bestellt, die Referate hielten, über die dann diskutiert wurde - nach strengen Regeln, ohne Zwischenfälle oder Streit. Besonders kontrovers wurde die Frage der parlamentarischen Arbeit diskutiert. Es fanden tatsächlich Lernprozesse statt. Abgeordnete und Funktionäre der Linken lernten, dass sie sich nicht einfach hinstellen und den Menschen sagen konnten, wo es lang geht. Sie konnten aber auch über die Notwendigkeit der parlamentarischen Arbeit diskutieren und viele davon überzeugen, dass diese Sinn und Zweck hat. Inzwischen ist es so, dass sich praktisch nur noch Politiker der Linken öffentlich zeigen können.

Ergebnis der Protest- und Widerstandsbewegung war, dass die Regierung praktisch zweimal gestürzt wurde. Im Juni 2011 nahm der Ministerpräsident allerdings seinen Rücktritt nach sechs Stunden zurück, als klar wurde, dass keine Koalition gebildet werden konnte und dass bei Wahlen die bürgerlichen Parteien auf ein historisches Tief absinken würden. Fünf Monate später war es dann soweit. Nachdem am 28. Oktober Demonstranten in mehreren Städten die Militärparade zum griechischen Nationalfeiertag verhindert hatten, verkündigte Papandreou ein Referendum über das Abkommen mit der Troika an. Das sollte im Januar oder Februar statt finden. Viele Politiker seiner Partei, darunter auch Minister, verweigerten ihm die Gefolgschaft, ein Minister erklärte sogar, dass dieses Referendum (das doch sein Ministerpräsident verkündet harte) nicht stattfinden werde.

Das Referendum hatte Erpressungscharakter: Wenn Ihr nicht zustimmt, gehen wir pleite, und es können keine Renten mehr bezahlt werden. Das implizierte die unwahre Behauptung, dass die griechischen Steuereinnahmen nicht für die laufenden Ausgaben reichen würden. Sie reichen aber durchaus, wenn man aufhört, die Staatsschuld zu bedienen und die Militärausgaben um 20 Prozent kürzt. Wie auch immer, auch so war der Ausgang des Referendums ungewiss - daher die Aufregung in der Regierungspartei, aber auch in Brüssel, Berlin und Paris. Merkel und Sarkozy forderten, das Referendum mit der Frage des Verbleibs Griechenlands in der Eurozone zu verbinden oder überhaupt abzusagen. Nun war klar, dass die Regierung nicht mehr weiter konnte, und es wurde die Dreiparteienkoalition aus PASOK, Nea Demokratia und Rechtsaußen (LAOS) gebildet. Bei der Ernennung des neuen Ministerpräsidenten, des Bankiers Papademos, wurde eindeutig die Geschäftsordnung des Parlaments verletzt. Aber auch die (erfüllte) Forderung der Troika an alle Regierungsparteien, sich schriftlich für alle Zukunft auf den Sparkurs der Troika zu verpflichten, schränkt die parlamentarische Demokratie ein, weil die innerparteiliche Willensbildung nicht mehr frei ist und die Wähler keine echte Alternative mehr haben werden. Diese Methode wurde auch in Irland, Portugal, Spanien und Italien angewandt - sie ist die institutionelle Absicherung der TINA (There Is No Alternative)-Doktrin. Diese Situation hat eine politische Krise verursacht, die das bürgerliche Parteiensystem in Griechenland erschütterte.

Als die Schuldenkrise des Staates sich fortsetzte, wurde ein zweites "Hilfepaket" für Griechenland verabschiedet, unter der Bedingung weiterer Austeritätsmaßnahmen gegen die Lohnabhängigen. Am 12. Februar 2012, dem Tag der Verabschiedung des "Pakets" im griechischen Parlament, hatten 400.000 bis 500.000 Menschen in Athen gegen die Koalitionsregierung demonstriert. Selbst die brutale Gewalt der Polizei konnte bis spät in der Nacht die Demonstrationen nicht auflösen.

Bei allen Massenmobilisierungen waren immer die Mitglieder und Kader der SYRIZA präsent. Sie haben alle solidarischen Initiativen bzw. solche für demokratische Prozesse und direkte Demokratie unterstützt, an allen öffentlichen Diskussionen teilgenommen, gegen die nationalistischen Losungen des Austritts Griechenlands aus der Eurozone [3] oder des Boykotts der deutschen Importe in Griechenland usw. argumentiert. Präsent auf öffentlichen Plätzen waren aber auch die XA-Leute, die versucht haben, die Gefühle des Fremdenhasses, des Nationalismus und des Rassismus unter den Leuten zu verbreiten.


5. Die Perspektive einer Regierung der Linken bleibt offen!

Die Krise hat schnell die politische Szene verändert. Die Wahlen haben der bürgerlichen Koalitionsregierung Legitimation verschafft, aber nur auf der Basis des Versprechens, dass die Austeritätspolitik in absehbarer Zeit gestoppt wird. Wenige Wochen nach den Wahlen wurde aber klar, dass die neue Regierung der alten neoliberalen Politik der reaktionären Umstrukturierung der Gesellschaft treu bleibt.

In dieser labilen politischen Situation sind verschiedene Möglichkeiten denkbar: Ein Aufstand wie im Dezember 2008, aber vielleicht mit stärkerer Teilnahme der Arbeiterklasse, oder eine Regierung der Linken.

Griechenland ist so stark in sein internationales Umfeld - d.h. vor allem in die EU - eingebunden, dass ein nationalstaatlicher Ausweg aus der Krise kaum möglich ist. Insofern, aber auch aus Gründen linken Selbstverständnisses, ist auch eine linke Politik nur in einem europäischen Rahmen möglich, d.h. sie bleibt zwar nationale Politik, weil die Nationalstaaten Politik betreiben, sie muss aber die europäische Dimension mit einbeziehen, vor allem die Vernetzung des europaweiten Widerstands und seine Einbindung in eine europäische Perspektive.

Für die Linken kann das Ziel nichts weniger sein als eine massive Bewegung gegen Neoliberalismus und Kapitalismus, zur Transformation der griechischen und europäischen Gesellschaft auf der Basis der sozialen Interessen der Bevölkerung und der Solidarität.


Anmerkungen

[1] Sie dazu das ökonomische Programm der SYRIZA:
http://www.left.gr/article.php?id=2406
http://www.scribd.com/doc/96840147/THE-ECONOMIC-PROGRAM ProzentCE Prozent9C ProzentCE Procent95-OF-SYRIZA-EKM.

[2] SYRIZA wurde in allen Altersgruppen bis zu den 54-Jährigen stärkste Partei, bei älteren Wählern überwog die ND.

[3] S. Christos Laskos, John Milios und Euclid Tsakalotos, "Austreten oder nicht? Über kommunistische Dilemmata in der Euro-Krise", in: Express, Zeitung für sozialistische Betriebs und Gewerkschafftsarbeit, 4/2012 und 5/2012,
http://www.labournet.de/diskussion/eu/wipo/euro_dilemmata1.html und
http://www.labournet.de/diskussionl/eu/wipo/euro_dilemmata2.html.

*

Quelle:
Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung Nr. 91,
September 2012, Seite 34 - 42
Herausgeber: Forum Marxistische Erneuerung e.V. und IMSF e.V.
Redaktion: Postfach 500 936, 60397 Frankfurt/M.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Dezember 2012