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BERICHT/129: Die Online-Enzyklopädie Wikipedia (UNESCO heute)


UNESCO heute 1/2008 - Zeitschrift der Deutschen UNESCO-Kommission

Die Online-Enzyklopädie Wikipedia

Von Arne Klempert


Der Erfolg der Wikipedia ist eigentlich ein Betriebsunfall. Denn ursprünglich sollte die offene Wiki-Plattform bei ihrem Start 2001 nur dazu dienen, mehr Menschen die Mitarbeit an Entwürfen für das Online-Lexikon "Nupedia" zu ermöglichen. Die Artikelentwürfe sollten anschließend den Redaktionsprozess von Nupedia durchlaufen, vergleichbar zu denen klassischer Enzyklopädien. Das Experiment Wikipedia entwickelte dann aber eine unerwartete Eigendynamik. Allein in den ersten sechs Monaten entstanden 6.000 Artikel, rund 250 mal so viele wie bei Nupedia jemals fertiggestellt wurden: Sie brachte es auf ganze 24 veröffentlichte Beiträge.

Die Wikipedia hat heute über 700.000 Artikel allein in deutscher Sprache; insgesamt kommt die freie Enzyklopädie mit ihren rund 200 Sprachausgaben auf über zehn Millionen Artikel. Und das alles ohne zentrale Redaktion. Das Projekt basiert allein auf dem Engagement freiwilliger Autoren, vom Schüler bis zum Professor. Auch eine zentrale Kontrollinstanz sucht man vergeblich. Die Gemeinschaft der Autoren entscheidet nicht nur über Umfang und Inhalt einzelner Artikel, sie legt auch die Regularien fest und übernimmt die Qualitätskontrolle. Aktuell zählt die deutschsprachige Wikipedia rund 10.000 Benutzer mit mehr als fünf Bearbeitungen im Monat. Immerhin 1.000 Benutzer kommen monatlich auf stolze 100 Änderungen.

Mitarbeiten kann jeder, der möchte. Nicht einmal eine Anmeldung ist notwendig, um Änderungen an Artikeln vorzunehmen oder neue Inhalte beizusteuern, die sofort und ohne Prüfung veröffentlicht werden. Was auf den ersten Blick als Mangel erscheint, ist einer der Grundpfeiler für den riesigen Erfolg der Wikipedia. Einerseits erlaubt diese radikale Offenheit zwar, dass Artikel beliebig verschlechtert werden können, andererseits ist sie wesentliche Voraussetzung dafür, dass Fehler auch schnell wieder korrigiert werden und jedermann mit seinem Wissen zu dem Projekt beitragen kann.

Seit Anfang Mai experimentiert die Wikipedia mit einem modifizierten Ansatz, den sogenannten "gesichteten Versionen". Dabei werden alle Artikeländerungen von der Community auf Vandalismus überprüft. Die Leser sollen dann künftig entscheiden können, ob sie die jeweils neueste Version oder die zuletzt gesichtete sehen wollen. Wenn sich das Experiment bewährt, soll es später noch um eine inhaltliche Prüfung erweitert werden. Editierbar bleiben die Artikel weiterhin für jedermann.

Bei dieser denkbar breit angelegten Möglichkeit zur Beteiligung bleiben Konflikte natürlich nicht aus. So kommt es regelmäßig vor, dass zwei Autoren unterschiedliche Vorstellungen über den Inhalt eines Artikels haben und Änderungen gegenseitig immer wieder rückgängig machen. Solche "Edit-Wars" (oder auch "Bearbeitungskriege") werden in aller Regel umgehend von einem der rund 200 freiwilligen Administratoren mit einer vorübergehenden Sperrung des Artikels beendet. Diese Sperre dient nicht dazu - wie häufig angenommen - eine Version als Wahrheit festzulegen. Vielmehr sollen damit lediglich die Streitparteien gezwungen wer den, sich auf der zum Artikel gehörigen Diskussionsseite mit Argumenten auf eine möglichst neutrale Formulierung zu verständigen.

Bei stark polarisierenden Themen können diese Diskussionsseiten leicht ein Vielfaches der Länge des zugehörigen Artikels einnehmen, manchmal auch ohne dass man sich am Ende auf eine Version verständigt hat. Aber selbst wenn dies der Fall ist, gibt es keine Gewähr dafür, dass diese auch Bestand hat. Denn Unbeständigkeit ist ein prägendes Element in der Wikipedia. Oft ist es gerade die Meta-Ebene, die die Wikipedia zu einem so interessanten Nachschlagewerk macht. Die Diskussionsseiten und die ebenfalls öffentlich abrufbaren früheren Artikelversionen liefern die komplette Entstehungsgeschichte eines Artikels mit. Das Ringen um die Wahrheit findet hier in aller Öffentlichkeit statt, und jeder kann daran aktiv teilnehmen.

Der radikal offene Ansatz macht auch die atemberaubende Geschwindigkeit erst möglich, in der Wikipedia-Artikel an aktuelle Ereignisse angepasst werden. Als Kardinal Joseph Ratzinger zum Papst gewählt worden war, dauerte es zum Beispiel nur wenige Minuten, bis die relevanten Artikel in den wichtigsten Sprachen aktualisiert waren. Kein Verlag könnte es sich leisten, eine so große Menge von Mitarbeitern rund um die Uhr und rund um den Erdball in Bereitschaft zu halten. Für die ehrenamtlich arbeitende Wikipedia-Community ist es jedoch ein Leichtes.

Die Motivation der freiwilligen Autoren ist nicht zuletzt deshalb so hoch, weil es sich bei der Wikipedia um ein Projekt ohne kommerzielle Interessen handelt. Betreiberin ist die eigens zu diesem Zweck gegründete gemeinnützige Wikimedia Foundation. Sie verzichtet ganz bewusst auf Werbung zur Finanzierung des kostenlosen Online-Angebotes und verlässt sich fast ausschließlich auf Spenden. Den weitaus größten Anteil machen dabei Kleinspenden bis 50 Dollar aus.

Weit wichtiger für den Fortbestand von Wikipedia ist aber nicht Werbe-oder Gebührenfreiheit, sondern ein Freiheitsbegriff, der der Allgemeinheit den Umgang und die Weiternutzung der Inhalte für alle denkbaren Zwecke dauerhaft sicherstellt. Die "GNU Lizenz für freie Dokumentation" verlangt dafür unter anderem die Nennung von Urhebern, der Lizenz selbst und dass von freien Inhalten abgeleitete Werke wiederum nach den gleichen Bedingungen frei bleiben. Gerade diese Freiheit ist eine Besonderheit. Die Zukunft des Nachschlagewerkes ist damit nicht einer Organisation ausgeliefert, sondern liegt in den Händen der Gesellschaft als Ganzes.


Arne Klempert ist Geschäftsführer von Wikimedia Deutschland - Gesellschaft zur Förderung Freien Wissens e.V.


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Quelle:
UNESCO heute, Zeitschrift der Deutschen UNESCO-Kommission
Ausgabe 1/2008, S. 41-42
Herausgeber: Deutsche UNESCO-Kommission e.V.
Redaktion: Colmantstraße 15, 53115 Bonn
Tel.: 0228/60 497-0, Fax: 0228/60 497-30
E-Mail: sekretariat@unesco.de
Internet: www.unesco.de, www.unesco-heute.de

UNESCO heute erscheint halbjährlich.
Bezug frei.


veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Juli 2008